Die Rechtsnatur des Interessenausgleichs gem. § 112 I 1 BetrVG
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 – Einleitung
- Kapitel 2 – Grundlagen für das Interessenausgleichsverfahren
- A. Rechtlicher Rahmen
- B. Fallbeispiele
- I. Grundriss und Bedeutung des Interessenausgleichs
- 1. Ausgangssituation
- a) Wirtschaftliche Krise
- b) Digitalisierung und Arbeit 4.0
- 2. Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG
- a) Personalabbau, § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG
- b) Stilllegung oder Verlegung wesentlicher Betriebsteile, § 111 S. 3 Nr. 1 und 2 BetrVG
- c) Grundlegende Änderung der Betriebsanlagen oder der Betriebsorganisation, § 111 S. 3 Nr. 4 BetrVG oder Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden, § 111 S. 3 Nr. 5 BetrVG
- 3. Inhaltliche Regelungen im Interessenausgleich
- a) Durchführung der Betriebsänderung
- b) Qualifizierung der Belegschaft
- c) Regelung eines sozialverträglichen Personalabbaus
- d) Freiwillige Betriebsvereinbarungen
- 4. Zusammenfassung
- Kapitel 3 – Bestandsaufnahme der Diskussion
- I. Vertrag im Sinne der §§ 145ff. BGB
- 1. „Kollektivvereinbarung besonderer Art“
- a) Naturalobligation
- b) Bindungswirkung
- 2. Vertrag eigener Art
- 3. Bürgerlich-rechtlicher Schuldvertrag
- 4. Regelungsabrede
- 5. Betriebsvereinbarung
- a) Normativ wirkende Betriebsvereinbarung
- b) Lediglich schuldrechtliche wirkende Betriebsvereinbarung
- II. Differenzierung im Einzelfall anhand des Rechtsbindungswillens
- III. Tatsächliche Beschreibung
- IV. Zusammenfassung des Meinungsbildes
- Kapitel 4 – Das Meinungsspektrum im Spiegel der Auslegung der §§ 111ff. BetrVG
- A. Der Aussagegehalt des Wortlauts
- I. Die Wortwahl des Gesetzgebers in § 112 I 1 BetrVG
- 1. Das „Zustandekommen“ des Interessenausgleichs
- 2. Der „Interessenausgleich“
- 3. Keine Verwendung des Begriffs der „Einigung“
- 4. Vergleich mit der sonstigen Wortwahl für Absprachen im Betriebsverfassungsgesetz
- 5. Zwischenergebnis
- II. Das Schriftformerfordernis in § 112 I 1 BetrVG
- III. Wortlaut und Tatbestand des Nachteilsausgleichs gem. § 113 BetrVG
- 1. Verbindliche Vereinbarung als Voraussetzung für die Sanktion
- 2. Keine Anzeichen für eine abschließende Regelung
- IV. Zwischenergebnis: Nur Bedingte Aussagekraft des Wortlauts
- B. Systematische Betrachtung
- I. Systematische Probleme im Betriebsverfassungsgesetz
- II. Keine normative Wirkung
- III. Keine Anhaltspunkte in den §§ 112f. BetrVG für eine unvollkommene Verbindlichkeit
- 1. Der Interessenausgleich als Naturalobligation
- 2. Kein einheitlicher „Regelungstyp“ der Naturalobligationen
- 3. Der gemeinsame Nenner der unvollkommenen Verbindlichkeiten
- 4. Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Anordnung für den Interessenausgleich
- IV. Zugrundeliegende Wertentscheidungen
- 1. Die Beteiligung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, §§ 106ff. BetrVG
- 2. Die Berücksichtigung des Verhältnisses von Interessenausgleich und Sozialplan
- 3. Freiwilligkeit und Zwang
- 4. Wertungswiderspruch beim Vergleich zum Interessenausgleich mit Namensliste, § 323 II UmwG, § 125 InsO und § 1 V KSchG?
- a) Inhaltliche Regelung
- b) Aussagekraft bzgl. des Interessenausgleichs gem. § 112 I 1 BetrVG
- 5. Berücksichtigung von Rechtsprinzipien
- a) Das „Konsensprinzip“
- b) Das Prinzip der Vertragstreue
- c) Das Prinzip des Vertrauensschutzes
- 6. Zwischenergebnis
- V. Die Einordnung des § 112 I 1 BetrVG in den Aufbau des Betriebsverfassungsgesetzes
- 1. Die Betrachtung der §§ 111 und 112a BetrVG
- 2. Der Nachteilsausgleich gem. § 113 BetrVG
- a) Abschließende Regelung der Rechtsfolgen des Interessenausgleichs?
- b) Keine zwingende Aussage erkennbar
- 3. Die Grundlagen für kollektive Regelungen in der Betriebsverfassung gem. § 77 BetrVG
- 4. Zwischenergebnis
- C. Rückschlüsse aus der Historie des Interessenausgleichs
- I. Die Vorgängerregelung im BetrVG 1952
- 1. Inhaltlicher Vergleich der Regelungen
- 2. Der Meinungstand zum Interessenausgleich nach den §§ 72ff. BetrVG 1952
- II. Auswertung der Gesetzesmaterialien zum Betriebsverfassungsgesetz von 1972
- D. Folgerungen aus Sinn und Zweck des Interessenausgleichs
- I. Darstellung von Sinn und Zweck des Interessenausgleichs
- II. Mögliche Folgerungen für die Frage der Rechtsnatur
- 1. Der Schutz der Arbeitnehmer als Primärziel
- 2. Die Vereinbarkeit des Schutzzwecks mit der Annahme einer Naturalobligation
- 3. Die Möglichkeit der Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten für die Betriebsparteien
- 4. Stellungnahme
- E. Verfassungsrechtliche Aspekte
- I. Verfassungskonforme Auslegung der §§ 111ff. BetrVG
- 1. Überblick über das Meinungsbild
- a) Grundrechte und Betriebsverfassung
- b) Beeinträchtigung der Unternehmerfreiheit durch das Interessenausgleichsverfahren
- c) Rechtfertigung des Eingriffs
- d) Zusammenfassung
- 2. Die unternehmerischen Freiheiten in der Verfassung
- a) Kein unantastbarer Kernbereich der Unternehmerfreiheit
- b) Verfassungsrechtlicher Gewährleistungsgehalt der unternehmerischen Freiheiten
- c) Der grundrechtliche Schwerpunkt bei Betriebsänderungen
- d) Zwischenergebnis
- 3. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle von Mitbestimmungsordnungen
- a) Das sog. Mitbestimmungsurteil zum Mitbestimmungsgesetz
- b) Das Urteil zur Montanmitbestimmung in Konzernen
- c) Anhaltspunkte zur betrieblichen Mitbestimmung
- (1) Entscheidungen zur betrieblichen Mitbestimmung
- (2) Übertragbarkeit der Aussagen zur unternehmerischen auf die betriebliche Mitbestimmung
- d) Zwischenergebnis
- 4. Verfassungsmäßigkeit der verbliebenen Auslegungsvarianten
- a) Eingriff in die Grundrechte des Unternehmers aus den Artt. 12 I und 14 I GG
- b) Rechtfertigung
- c) Verhältnismäßigkeit der Auslegungsvarianten zum Interessenausgleich
- (1) Interessenausgleich ohne Bindungswirkung
- (2) Interessenausgleich mit Bindungswirkung
- a. Kein Verstoß gegen das Gebot des Letztentscheidungsrechts
- b. Wahrung der Ausgleichsfunktion
- c. Keine Gefahr der Kumulation der Mitbestimmungsordnungen
- d. Zwischenergebnis
- 5. Zwischenergebnis: Anwendungsbereich der verfassungskonformen Auslegung nicht eröffnet
- II. Verfassungsorientierte Auslegung
- 1. Ausstrahlungswirkung der unternehmerischen Freiheiten
- 2. Optimierte Interpretation im Hinblick auf die unternehmerischen Freiheiten
- F. Die Folgenbetrachtung
- I. Zielgenauigkeit und Effizienz
- II. Gerechtigkeit der Fallentscheidung
- III. Ungewollte Anreize
- IV. Zusammenfassung der Bewertung der Folgenbetrachtung und Entscheidung
- G. Zwischenergebnis
- Kapitel 5 – Der Interessenausgleich im Gefüge des bürgerlichen Vertragsrechts
- A. Voraussetzungen und Grenzen eines Rückgriffs auf das Bürgerliche Recht
- I. Die Einordnung der Betriebsverfassung in die Rechtsordnung
- II. Keine abschließende Regelung im Betriebsverfassungsgesetz
- III. Elementare Grundprinzipien des Bürgerlichen Rechts
- 1. Eigentum
- 2. Privatautonomie und Vertragsfreiheit
- IV. Privatautonomes Handeln der Betriebsparteien?
- 1. Betriebsautonomie
- 2. Abgrenzung zur Privatautonomie
- a) Legitimation der betrieblichen Rechts- und Regelungssetzung
- (1) Die verschiedenen Begründungsansätze
- (2) Stellungnahme
- b) Gegenständliche Begrenzung der Betriebsautonomie
- c) Der Betriebsrat als Repräsentant der Belegschaft
- d) Zusammenfassung der wesentlichen Unterschiede
- 3. Keine Privatautonomie bei der betrieblichen Rechts- und Regelungssetzung
- V. Betriebsautonomie und Vertragsrecht
- VI. Einordnung des Interessenausgleichs in das bürgerlich-rechtliche Vertragsrecht
- 1. Rechtsbindungswillen der Vertragsparteien des Interessenausgleichs
- a) Keine unvollkommene Verbindlichkeit durch Vereinbarung der Betriebsparteien
- b) Weitere vertragliche Regelungen ohne Durchsetzbarkeit
- (1) Unverbindlichkeit
- (2) Sog. „gentlemen agreement“
- (3) Sonstiger Ausschluss des Forderungsrechts
- c) Typologische Betrachtung des Rechtsbindungswillens der Parteien des Interessenausgleichs
- 2. Ergebnis
- B. Schlussfolgerungen für den Interessenausgleich
- I. Rechtsnatur
- 1. Vertragsart
- a) Austauschcharakter des Interessenausgleichs
- b) Dauerregelungen im Interessenausgleich
- c) Der Interessenausgleich als Regelungsabrede
- 2. Zustandekommen und Auslegung
- 3. Abschlussmängel
- a) Fehlende Regelungsmacht der Betriebsparteien
- b) Formmangel
- c) Anfechtung
- 4. Möglichkeiten der Betriebsparteien im Hinblick auf die Rechtsqualität des Interessenausgleichs
- a) Freiwillige, normativ wirkende Betriebsvereinbarung
- (1) Keine entsprechende Anwendung des § 88 BetrVG
- (2) Betriebsautonome Gestaltung des Interessenausgleichs als normativ wirkende Betriebsvereinbarung
- b) Freiwillige, nur schuldrechtlich wirkende Betriebsvereinbarung
- c) Ergebnis
- II. Rechtswirkung
- 1. Erfüllungsanspruch aus dem Interessenausgleich
- 2. Durchsetzbarkeit
- 3. Unterlassungsbegehren
- a) Unterlassungsanspruch gegen die Durchführung der Betriebsänderung vor dem Abschluss des Unterrichtungs- und Beratungsverfahrens des § 111 BetrVG
- (1) Erste Auffassung: Ablehnung des Unterlassungsanspruchs wegen Qualität und Struktur der Beteiligung nach § 111 BetrVG
- (2) Zweite Auffassung: Unterlassungsanspruch als notwendiges Schutz- und Sanktionsmittel aufgrund europarechtlicher Vorgaben
- (3) Stellungnahme
- (4) Dogmatische Herleitung des Unterlassungsanspruchs
- b) Unterlassungsanspruch aus dem Interessenausgleich
- c) Gefährdung des Unterlassungsanspruchs
- d) Zwischenergebnis
- 4. Loslösung
- a) Kündigung
- b) Störung der Geschäftsgrundlage
- 5. Nachwirkung
- Kapitel 6 – Zusammenfassende Thesen
- A. Auslegung von § 112 I 1 BetrVG
- B. Einordnung des Interessenausgleichs
- Literaturverzeichnis
Kapitel 1 – Einleitung
Von der Neuordnung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Nachkriegs- bis zur heutigen Zeit gilt die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft1 und deren Umsetzung in Deutschland als Meilenstein der Wirtschafts- und Sozialpolitik.2 Mittlerweile findet sich auch in der Europäischen Union in Form von Art. 3 III EUV ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft.3 Die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Idee der sozialen Marktwirtschaft kann dabei auch für die Rechtswissenschaft nicht abgestritten werden.4 Unter der sozialen Marktwirtschaft versteht man grundsätzlich und vereinfacht gesprochen die Kombination aus freiem Wettbewerb und sozialem Ausgleich.5 Im Zusammenhang mit arbeitsrechtlichen Fragen steht Letzterer naturgemäß besonders im Fokus. Mittel für den sozialen Ausgleich ist u. a. die betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die im Betriebsverfassungsgesetz niedergelegt ist. Insofern soll der Ausgleich jedoch nicht durch ein Gegeneinander der Betriebsparteien, also Arbeitgeber und Betriebsrat, sondern durch das Miteinander im Interesse des Betriebes erfolgen. Beispielhaft zeigen das auch die Regelungen der §§ 2 und 74 BetrVG.6 Die Betriebsverfassung ist in der Folge als Kooperationsmodell zu verstehen. Diese Kooperation findet sich im Konsens der Betriebsparteien bei betrieblichen Einigungen nach § 77 I BetrVG wieder und dient dabei auch der Konfliktbeseitigung. Die gesetzliche Aufforderung der Betriebsparteien zum Konsens ist auch Folge der wirtschaftspolitischen Entscheidung zur sozialen Marktwirtschaft.7 Auch dem Interessenausgleich gem. § 112 I 1 BetrVG liegt ein Konsens der Betriebsparteien zu Grunde. Das Interessenausgleichsverfahren gehört zu der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten nach den §§ 106ff. BetrVG. Dieser Bereich ist hinsichtlich der gegenläufigen Interessenkonflikte besonders konfliktbehaftet: Der Arbeitgeber muss unternehmerische Entscheidungen nach Maßgabe der Wirtschaftlichkeit treffen, die aber für die Arbeitnehmer den Verlust des Arbeitsplatzes ←17 | 18→mit den dazugehörigen materiellen und immateriellen Nachteilen bedeuten kann.8 Bei Betriebsänderungen steht deshalb im Ergebnis das Veränderungsinteresse des Unternehmers dem Bestandsinteresse der Arbeitnehmer gegenüber.9 Der Interessenausgleich gem. § 112 I 1 BetrVG soll dabei durch die Vereinbarung des Ob, Wann und Wie der Betriebsänderung die Entstehung von wirtschaftlichen Nachteilen für die Arbeitnehmer nach Möglichkeit verhindern.10 Soll der Ausgleich dieser Konfliktlage durch den Interessenausgleich gelingen, muss den Betriebsparteien aber auch die Rechtswirkung der entsprechenden Vereinbarung bekannt sein. Unsicherheit über die rechtliche Verbindlichkeit kann insofern die Konfliktlösung erschweren. Mit der Rechtswirkung hängt unmittelbar aber auch die Rechtsnatur zusammen11, so dass beide Fragen nicht getrennt voneinander behandelt werden können. Zur Rechtswirkung und zur Rechtsnatur des Interessenausgleichs fehlt es aber an einer ausdrücklichen Aussage des Gesetzgebers. Die gesetzliche Grundlage in § 112 I 1 BetrVG ist insofern nicht hilfreich.12 Anders verhält es sich für den Sozialplan, der gem. § 112 I 2 BetrVG dem Ausgleich bzw. der Milderung wirtschaftlicher Nachteile infolge der Betriebsänderung dient. Der Sozialplan hat gem. § 112 I 3 BetrVG die Wirkung einer Betriebsvereinbarung. Die Rechtsnatur und –wirkung des Interessenausgleichs ist dagegen sehr umstritten.13 Aufgrund der rechtspolitischen Brisanz der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten handelt es sich dabei um eine teils sehr ideologisch geführte und weniger dogmatisch geprägte Diskussion.14 Da dieser Streit um die Rechtsnatur des Interessenausgleichs schon lange besteht15, kann es nicht verwundern, dass die an Rechtssicherheit interessierte Praxis den Schwerpunkt ihrer Bemühungen auf den Sozialplan verlagert hat. Die Bedeutung des Interessenausgleichs verblasst daneben in der Praxis und ist den Betriebsparteien nicht so gegenwärtig wie die des Sozialplans.16 Das mag einer der Gründe sein17, warum es um den Interessenausgleich in der rechtswissenschaftlichen Diskussion etwas ruhiger geworden ist18 und die Debatte um dessen Rechtsnatur nicht besonders aktuell erscheint. Daneben ist es sicherlich aber auch so, dass Betriebsänderungen zwar in der Wirtschaft ←18 | 19→zum „Alltagsgeschäft“ gehören, aber in wirtschaftlichen Krisenzeiten noch mehr an Bedeutung gewinnen19 und dementsprechend in wirtschaftlich guten Konjunkturphasen das Interesse an den betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen diesbezüglich geringer ausfällt. Erfahrungsgemäß endet jedoch jede, positive Konjunkturphase irgendwann einmal, so dass diese Thematik in der nächsten Rezession wieder mehr Beachtung finden könnte. Zudem können Betriebsänderungen auch im Hinblick auf die zu erwartenden, dramatischen Umwälzungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung, Stichwort „Arbeit 4.0“20, noch mehr in den Fokus von Rechtswissenschaft und wirtschaftlicher Praxis rücken.21 Die Aufgabe des Interessenausgleichs besteht in diesem Zusammenhang auch darin, die Aufgaben der Umwälzungen durch den Wandel der Arbeit interessengerecht im Sinne der sozialen Marktwirtschaft zu ermöglichen. Im Hinblick auf die vorliegende Debatte um die Rechtsnatur des Interessenausgleichs gilt es zu beachten, dass derjenige, der den politischen Kompromisscharakter eines Gesetzes zum Auslegungsgesichtspunkt erhebt, auf eigenständige dogmatische Überlegungen verzichtet.22 Demensprechend soll, nach der Strukturierung des Meinungsbildes, das Hauptaugenmerk auf einer dogmatischen Einordnung des Interessenausgleichs in die Betriebsverfassung liegen, um die Frage von Rechtsnatur und -wirkung des Interessenausgleichs zu beantworten. Insofern ist auch zu untersuchen, ob der Interessenausgleich die Möglichkeit bietet, betriebliche Konflikte im Zusammenhang mit betrieblichen Änderungen durch einen Konsens der Betriebsparteien im Sinne des sozialen Ausgleichs der sozialen Marktwirtschaft beizulegen.
←19 | 20→1 Grundlegend: Erhard/Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, S. 41ff.
2 Goldschmidt/Wohlgemuth, Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft, Vorwort Seite V, die von einer politisch mittlerweile fast unangefochtenen Leitidee sprechen.
3 Zurückhaltend insofern Callies/Ruffert/Ruffert, Art. 3 EUV, Rn. 38, der darauf hinweist, dass diese Regelung zwar eine soziale Marktwirtschaft vorsehe, es sich dabei aber nicht zwingend um das deutsche Modell handeln müsse.
4 Siehe nur Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, S. 3ff., der die soziale Marktwirtschaft als verfassungsrechtlich festgelegt sieht.
5 Erhard/Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, S. 42f.
6 GK/Franzen, § 2, Rn. 15 der von einem „Partnerschaftsgedanken“ spricht. Kooperation und nicht Konfrontation sei das Leitbild der Betriebspartner.
7 Ähnlich: Kaba, Probleme des Interessenausgleichs, S. 1ff.
8 Fitting, § 111, Rn. 4.
9 Löwisch, RdA 1989, 216 (216f.).
10 ErfK/Kania, §§ 112, 112a, Rn. 1.
11 ErfK/Kania, §§ 112, 112a, Rn. 9.
12 Fitting, §§ 112, 112a, Rn. 43; Richardi/Annuß, § 112, Rn. 41.
13 Siehe zum ausführlichen Meinungsbild unten S. 35ff.
14 Ähnlich auch Schwegler, Interessenausgleich, S. 18.
15 Siehe dazu ausführlich unten S. 85ff.
16 Schwegler, Interessenausgleich, S. 15.
17 Hinzu kommt der Umstand, dass auch die rechtswissenschaftlichen Debatten im Arbeitsrecht gewissen Zyklen folgen und die vorliegende Frage derzeit nicht aktuell erscheint.
18 Schwegler, Interessenausgleich, S. 16 der von einer „stiefmütterlichen“ Behandlung durch die Lehre spricht.
19 Fauser/Nacken, NZA 2006, 1136 (1136); Völksen, RdA 2010, 354 (354). Lobinger, ZfA 2004, 101 (103) spricht von konjunkturellen „Schlechtwetterperioden“.
20 Siehe nur das Weißbuch Arbeit 4.0 des BMAS.
21 Klebe, NZA 2017, 226 (226f.).
22 Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, S. 532.
Kapitel 2 – Grundlagen für das Interessenausgleichsverfahren
A. Rechtlicher Rahmen
Die Regelung des Interessenausgleichs in § 112 I 1 BetrVG befindet sich im sechsten Abschnitt des Betriebsverfassungsgesetz. Dieser Abschnitt handelt von der Beteiligung des Betriebsrats in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Dort werden in den §§ 106–113 BetrVG zum einen der Wirtschaftsausschuss (§§ 106–110 BetrVG) und zum anderen die Rechte des Betriebsrats bei Betriebsänderungen (§§ 111–113 BetrVG) statuiert. Dabei wird von dem sonstigen Konzept der Betriebsverfassung abgewichen, wonach die Mitbestimmung bei dem jeweiligen Entscheidungsträger auf betrieblicher Ebene ansetzt, da Adressat der vorliegenden Regelungen nicht der „Arbeitgeber“ ist, sondern der „Unternehmer“.23 Letztlich ergibt sich hieraus aber kein Unterschied und Arbeitgeber und Unternehmer sind in der Regel identisch.24 Für die vorliegend maßgeblichen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei Betriebsänderungen, ist § 111 BetrVG die Grundnorm25 denn der Weg zum Interessenausgleich ist nur eröffnet, sofern eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG vorliegt. Ist Letzteres jedoch der Fall, so ist gem. § 111 S. 1 BetrVG der Betriebsrat über eine geplante Betriebsänderung zu unterrichten und in eine Beratung einzubeziehen. Des Weiteren sollen im Verlauf der Beratungen der Interessenausgleich (§ 112 I 1 BetrVG) und ggfs. auch der Sozialplan (§ 112 I 2 BetrVG) beschlossen werden. Beide sind schriftlich niederzulegen. Für beide Rechtsinstitute ist nach § 112 II 1 BetrVG auch ein Vermittlungsverfahren mithilfe der Bundesagentur für Arbeit möglich. Der Sozialplan ist gem. § 112 IV BetrVG zudem grundsätzlich über ein Einigungsstellenverfahren erzwingbar, sofern nicht ein Ausnahmetatbestand des § 112a BetrVG eingreift. Das Einigungsstellenverfahren für den Interessenausgleich ist dagegen nicht zwingend ausgestaltet. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt hier nicht die Einigung der Betriebsparteien.26 Allerdings stellt die Anrufung der Einigungsstelle für den Unternehmer eine Obliegenheit dar, weil er ohne Einigungsstellenverfahren keinen ausreichenden Versuch des Interessenausgleichs unternommen hat.27 Unter Umständen kann er dann zu einem Nachteilsausgleich gem. § 113 BetrVG gegenüber den Arbeitnehmern gezwungen sein.28 Der Nachteilsausgleich gem. § 113 I BetrVG normiert die ←21 | 22→individualrechtlichen Rechtsfolgen einer Abweichung des Unternehmers vom vereinbarten Interessenausgleich ohne zwingenden Grund durch einen Anspruch des entlassenen Arbeitnehmers auf eine Abfindung.29 Gem. § 113 II BetrVG können auch andere wirtschaftliche Nachteile des Arbeitnehmers die Ausgleichspflicht des Unternehmers begründen. Nicht zuletzt gelten diese Regelungen gem. § 113 III BetrVG auch dann, wenn der Unternehmer eine Betriebsänderung durchführt, ohne die Vereinbarung eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat versucht zu haben.
B. Fallbeispiele
I. Grundriss und Bedeutung des Interessenausgleichs
Die Einordnung von Rechtsnatur und Bindungswirkung des Interessenausgleichs haben unmittelbare, praktische Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Betriebspartner in der Betriebsverfassung. Eine abstrakte Betrachtung und Bewertung der vorliegenden Frage erscheint damit wenig überzeugend. In der Folge sollen deshalb zunächst einige relevante Fallgestaltungen skizziert werden, um die später folgenden Argumente und Ansichten besser zu illustrieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Maßnahmen der Reformierung und Modernisierung des Unternehmens, um die Chancen des Interessenausgleichs als Instrument der betrieblichen Verständigung aufzuzeigen.30
1. Ausgangssituation
Damit der Anwendungsbereich der Beteiligungsrechte der §§ 111f. BetrVG überhaupt eröffnet ist, bedarf es gem. § 111 S. 1 BetrVG eines Unternehmens, welches regelmäßig mehr als 20 betriebsverfassungsrechtlich wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt und in dem zu dem Zeitpunkt der Entscheidung des Unternehmers eine Betriebsänderung durchführen zu wollen ein Betriebsrat besteht.31
a) Wirtschaftliche Krise
Die Motivation des Unternehmers bzgl. der Betriebsänderung spielt für das Beteiligungsrecht des Betriebsrats grundsätzlich keine Rolle. Eine wirtschaftliche Notlage oder gar die Insolvenz eines Unternehmens als Auslöser für die Betriebsänderung schließen die Beteiligung des Betriebsrats nicht aus.32 Damit ←22 | 23→einhergehende, krisenbedingte Reformmaßnahmen sind gleichwohl der „Klassiker“ der Betriebsänderungsszenarien.33 Der Auslöser ist dabei in der Regel eine wirtschaftliche Schieflage des Unternehmens infolge von Auftragsrückgängen o. ä. aufgrund einer allgemeinen negativen wirtschaftlichen Entwicklung in konjunktureller Sicht. Beispielhaft sei die Finanz- und Schuldenkrise in 2008 und den Folgejahren genannt. Aber auch eine branchen- bzw. unternehmensspezifische Krise, wie z. B. in der Automobilbranche im Zusammenhang mit der Ölkrise in den 1970er Jahren34 oder aktuell die Restrukturierungspläne in der Kraftwerkssparte von Siemens35 kommen hier in Betracht. Hinzu kommen die medial häufig intensiv verfolgten Fälle, in denen Unternehmen Betriebe oder Betriebsteile ins Ausland verlagern, weil sie sich davon aufgrund des niedrigeren Lohn- und Kostenniveaus wirtschaftlichen Gewinn erhoffen.36 In der Vergangenheit war dieses z. B. bei Nokia in Bochum37 oder ZF Friedrichhafen in Gelsenkirchen zu beobachten.38 In der Folge dieser unternehmerischen Krisen werden neben ganzen Betriebsschließungen oder –verlagerungen regelmäßig auch Reform- und Sparmaßnahmen notwendig. Letztere führen häufig zu Personalabbauplänen, da das Personal regelmäßig einen starken Kostenfaktor mit dementsprechend hohem Einsparungspotenzial darstellt. Somit berührt die wirtschaftliche Krise des Unternehmens auch die jeweiligen Arbeitnehmer erheblich, da diese möglicherweise ihren gewohnten Arbeitsplatz verlieren und sich umorientieren müssen.
b) Digitalisierung und Arbeit 4.0
Eine zweite, interessante unternehmerische Situation auf die hier im Zusammenhang mit dem Interessenausgleichsverfahren aufmerksam gemacht werden soll, sind Fallgestaltungen in Verbindung mit dem Schlagwort der „Industrie 4.0“. Darunter versteht man eine vierte industrielle Revolution, ausgelöst durch die Digitalisierung weiter Bereiche des Wirtschaftslebens.39 Die Digitalisierung umfasst ←23 | 24→dabei zum einen die vertikale Vernetzung aller Unternehmensteile und zum anderen die horizontale Vernetzung mit Zulieferern und Kunden zur Optimierung und Modernisierung des (Gesamt-)Unternehmens.40 Diese Vernetzung erfolgt dadurch, dass Produktions- und Informationstechnologien z. B. über das Internet verbunden werden und so die Maschinen direkt miteinander „kommunizieren“.41 Beispiel hierfür ist die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter bei herkömmlichen Industrierobotern, aber auch durch sog. „Exoskelette“42 oder „smarte“ Handschuhe.43 Des weiteren können Produktionsprozesse über große Entfernungen in Echtzeit gesteuert, koordiniert44 und, falls notwendig, optimiert bzw. gewartet werden. Auch die Umstellung in der Automobilindustrie, schwerpunktmäßig nicht mehr Diesel-Motoren, sondern E-Mobilität anzubieten, wird als Teilaspekt angesehen.45 Genauer betrachtet handelt es sich hierbei allerdings um einen regelmäßig stattfindenden Technologiewandel. So handelt es sich z. B. auch bei der Umstellung der ersten Generation von Mobiltelefonen auf „Smartphones“ nicht um eine industrielle Revolution. Vielmehr geht es hier um wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen, die sich neben der Digitalisierung abspielen und deshalb mit dieser in Zusammenhang gebracht werden.46 Zusammenfassend ist der Begriff „Industrie 4.0“ ein Sammelbecken für verschiedenste Themen und Entwicklungen. Auch die Umwälzungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens durch den Erfolg der Plattformökonomie oder die Globalisierung zählen hierzu.47 Zudem sind längst nicht nur die klassischen Industriezweige der Wirtschaft betroffen, sondern auch der Bereich der Dienstleistungen hiervon erfasst.48
Im Zusammenhang mit diesen wirtschaftlichen Umwälzungen sind auch Veränderungen bzgl. der zukünftigen Arbeit zu erwarten.49 Infolgedessen ist auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion das Thema aktuell sehr präsent.50 Berührungspunkte zum Arbeitsrecht bestehen dabei bzgl. des Arbeitsinhalts, der Arbeitsmittel und auch der Arbeitsorganisation.51 Ausgesuchte Themenbereiche sind hierbei das Arbeitszeitrecht, u. a. mit der Frage nach der arbeitszeitrechtlichen ←24 | 25→Beurteilung von ständiger Erreichbarkeit52, aber auch der Beschäftigtendatenschutz, der durch neue technische Möglichkeiten im Rahmen der Digitalisierung, wie z. B. die Kontrolle der Arbeitnehmer durch sog. „Wearables“ u. ä. oder auch die Nutzung von „Big Data“ im Bewerbungsverfahren, gefährdet scheint.53 Zudem droht ein Vordringen von atypischen Beschäftigungsformen, wie z. B. dem Crowd-Working, Fragen statt Frage, ob und inwiefern hierbei die „Beschäftigen“ arbeitsrechtlich zu schützen sind.54 Neben diesen individualrechtlichen Fragen steht aber auch die betriebliche Mitbestimmung im Fokus der Debatte. Die Grundidee der kollektiven Interessenvertretung im Betrieb wird zwar nicht in Frage gestellt, gleichwohl aber die Notwendigkeit von Veränderungen betont.55 Ein relevanter Bereich der betrieblichen Mitbestimmung stellt gerade auch im Zusammenhang mit den bereits genannten arbeitsrechtlichen Herausforderungen sicherlich die Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten über § 87 I BetrVG dar. So sind Überschneidungen zwischen den dort statuierten Mitbestimmungstatbeständen und aktuellen Themen wie der ständigen Erreichbarkeit und der Arbeitszeit56, vermehrter Stress durch Technologieeinsatz und betrieblicher Gesundheitsschutz57, sowie der Datenschutz58 zu beachten. Voraussetzung für die Mitbestimmung ist aber zunächst die Berücksichtigung des Wandels der klassischen betrieblichen und unternehmerischen Organisationsmodelle hin zu sog. Matrixstrukturen und der Dezentralisierung der unternehmerischen Leitungen, die die Arbeit der Betriebsparteien erschweren kann.59 Im Zusammenhang mit der Digitalisierung wird zudem ein hoher Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarf für die Arbeitnehmer gesehen, damit diese den neuen Anforderungen und Technologien gewachsen sind und entsprechend gewandelte Aufgaben und Arbeitsplätze übernehmen können.60 Hierbei sind dann wiederum die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus den §§ 96ff. BetrVG zu beachten.61 Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Digitalisierung die Unternehmer zu Umwandlungen im Unternehmen veranlasst, die sich als Betriebsänderungen darstellen und somit eine Beteiligung des Betriebsrats über die §§ 111f. BetrVG auslösen.62 Die Berührungspunkte zwischen diesen, durch die Umwälzungen der Digitalisierung ausgelösten, Betriebsänderungen und dem Interessenausgleichsverfahren werden in der Folge noch konkreter herausgearbeitet.
←25 | 26→2. Betriebsänderung im Sinne von § 111 BetrVG
Es wurde bereits gesagt, dass die Voraussetzung für die Beteiligung des Betriebsrats über das Interessenausgleichsverfahren ist, dass eine Betriebsänderung im Sinne von § 111 S. 1 BetrVG vorliegt. § 111 S. 3 BetrVG enthält insofern einen Katalog mit Maßnahmen, die als eine solche einzustufen sind. Sofern ein solcher Katalogtatbestand des § 111 S. 3 BetrVG einschlägig ist, sind die „wesentlichen Nachteile für die Belegschaft“, als weitere tatbestandliche Voraussetzung für das Eingreifen des Beteiligungsrechts aus § 111 S. 1 BetrVG, nicht weiter zu prüfen.63
Details
- Seiten
- 214
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631837849
- ISBN (ePUB)
- 9783631837856
- ISBN (MOBI)
- 9783631837863
- ISBN (Hardcover)
- 9783631833940
- DOI
- 10.3726/b17696
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (November)
- Schlagworte
- Kollektives Arbeitsrecht Betriebsverfassungsrecht Betriebsänderungen Mitbestimmung Betriebsrat Betriebsautonomie Interessenausgleich Bindungswirkung
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 214 S.