Topographien der Globalisierung
Band II
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Topographien der Globalisierung, Band II: (Ewa Wojno-Owczarska (Warschau))
- Kanake, Deutschtürke, Bürger mit Migrationshintergrund – ein Beitrag zur Diskussion über Identitäten deutscher Bürger: (Anna Warakomska (Warschau))
- Zur Darstellung der Flüchtlingsschicksale im polnischen Kinderbuch – eine Analyse zweier Fallbeispiele: (Ewelina Kamińska-Ossowska (Stettin))
- Das Fremde und seine Widerspiegelung in der deutschen Sprache im 20. und 21. Jahrhundert: (Józef Wiktorowicz (Warschau))
- Bruno Schulz: ein deterritorialisierter Literat aus Drohobycz: (Kevin Mitrega (Wien))
- Arbeit, Zeit, Traum: Ingeborg Bachmanns Traumgeschäft mit einer Skizze zur Topographie seiner literarischen Nachbarschaft: (Karin Wolgast (Kopenhagen))
- „Es gibt Städte, die brauchen keine Literatur: Sie sind Literatur…“. Einige Bemerkungen darüber, warum bei Fiston Mwanza Mujila alle Wege ins Tram 83 führen: (Ewelina Michta (Warschau))
- Vulnerabilität und/oder Resilienz? Die Darstellungen des Umgangs mit Wasserphänomenen bei Horst Bienek und Hans Niekrawietz: (Petra Buchta-Bartodziej (Kattowitz))
- Der ambivalente Charakter des Peer-Review-Verfahrens und die Vermessung im Wissenschaftsbetrieb: (Bożena Chołuj (Warschau / Frankfurt an der Oder))
- Weder Nationalismus noch Kosmopolitismus. Fichtes „Reden an die deutsche Nation“: (Manfred Gawlina (München))
- „Der Geschichtenhändler oder Der Wettkampf der Dichter“ (Ausschnitte aus Kapitel 2.: Salim und Seine Königliche Weißheit): (Stanisław Strasburger (Berlin / Warschau / Granada))
- Über Autorinnen und Autoren dieses Bandes
- Reihenübersicht
Ewa Wojno-Owczarska (Warschau)
Einleitung: Topographien der Globalisierung,
Band II
Die Hauptziele der Kooperation im Rahmen des Projekts Topographien der Globalisierung / Topographies of Globalization, dem sich Wissenschaftler und Schriftsteller aus allen Teilen der Welt angeschlossen haben, fasst die folgende Kurzbeschreibung im Humboldt-Netzwerk zusammen: „In unserem Projekt […] konzentrieren wir uns auf die Darstellungsmöglichkeiten unterschiedlicher globaler Probleme in der Literatur weltweit. Das Hauptaugenmerk richtet sich zum Ersten auf die ökonomischen Grundlagen der menschlichen Existenz in Zeiten der Globalisierung und die problematische Lage des Einzelnen in den neoliberalen Staaten, zum Zweiten auf die Frage der nationalen Identität im Zeitalter der Globalisierung. Die Reflexion über ökonomische und politische Krisen und deren Auswirkungen, wie Arbeitslosigkeit und Migration, wird als wichtiger Teil des Globalisierungsdiskurses gesehen. Auch die Folgen des Klimawandels und des internationalen Terrorismus werden zunehmend als ein Realität gewordenes Katastrophenszenario dargestellt. Diese komplexe Problematik wird vor dem Hintergrund der literarischen Katastrophendiskurse erläutert. Das Projekt hat das Ziel, die Reflexion über globale Probleme in unterschiedlichen Kulturkreisen zu vergleichen“.1 Die Fülle der in den Bänden Topographien der Globalisierung I und II publizierten Texte weist auf die Unerschöpflichkeit des Themas hin. Forscher aus unterschiedlichen Ländern zeigen in ihren Arbeiten auf, welche Bereiche durch die Globalisierung beeinflusst werden, welchen Einfluss diese Veränderungen auf das menschliche Leben haben und wie die Künstler im 20. und 21. Jahrhundert diese Entwicklungen sehen.
Die in der vorliegenden Monographie versammelten Beiträge sind eine Präsentation von Ergebnissen unterschiedlicher Forschungsdisziplinen und Werken von Schriftstellern diverser Nationalitäten, die das breite Spektrum der Globalisierungsdiskurse betonen. Die Autoren erkennen viele Herausforderungen für die Entwicklung von Wissenschaft und Kunst weltweit. Die Texte, die die vorliegende Monographie eröffnen, widmen sich dem Problem der Identitätsfindung der „zweiten Generation“ von Flüchtlingen, dem Schaffen von Dichtern mit Migrationshintergrund und dem Fluchtmotiv in der Literatur. ←7 | 8→
Anna Warakomska analysiert in ihrem Artikel das Bild von Bürgern türkischer Herkunft in Deutschland und das ihrer Nachkommen in der von ihnen verfassten Literatur. Auch mit ihrem bikulturellen Hintergrund verstünden sie sich immer häufiger als Deutsche, während die Aufnahmegesellschaft sie vorwiegend als Bürger mit sog. Migrationshintergrund wahrnehme. In den Texten der im Laufe von Jahrzehnten zugewanderten Gruppierungen werde besonders häufig die Frage der kulturellen Identität erörtert. Warakomska analysiert in ihrem Beitrag ausgewählte Texte „deutscher Autoren türkischer Herkunft“, Romane wie auch Sachbücher, und reflektiert die Möglichkeit einer hybriden Identität in komplexen Zeiten der Globalisierung. So lösten provokante Publikationen wie Tilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (München 2010) heftige öffentliche Debatten um die Themen „Migrationshintergrund, Integration, Assimilation“ aus. In Anlehnung an Monika Frederkind (Schreiben gegen Vorurteile. Literatur türkischer Migranten in der Bundesrepublik, Berlin 1985) plädiert die polnische Germanistin für eine verstärkte wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Texte, die oft als nicht zum literarischen Mainstream gehörend gewertet würden. Die Autorin stützt ihre Kritik auch auf Zafer Şenocaks Atlas des tropischen Deutschland (Berlin 1992), der die Identitätsprobleme der zugewanderten Bevölkerungsgruppierungen auslotet und zahlreiche „Berührungsängste“ mit den Alteingesessenen in den 1980er Jahren konstatiert. Seine Arbeit interpretiert Warakomska als eine Aufforderung zum generellen Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen. Şenocak betone die „Beschleunigung des globalisierten Lebens“, die die Entwicklung der Identität stark beeinflusse. Zudem lebe die Gesellschaft in einer Ära der Depolitisierung, der „postmodernen Beliebigkeit, der ein neokonservativer Schub folge“, und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit. In seinem Werk In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters (München 2016) verweise Şenocak am Beispiel der ersten türkischen Migranten im Deutschland der 1960er Jahre auf weitere negative Erscheinungen: die Islamophobie und enorme Unterschiede in der Wahrnehmung der Bürger mit Migrationshintergrund in Ost- bzw. Westdeutschland. Im Folgenden geht Warakomska auf Feridun Zaimoglus Roman Kanak Sprak ein (Berlin 1995), der Originalinterviews des Autors mit den Nachfahren von Zugewanderten verwendet. Hier zeigt sie Parallelen auf zu Günter Wallraffs Werk Ganz unten (Köln 1985), das Probleme der Migrantenkinder aufgreife. Im weiteren Verlauf diskutiert der Beitrag Begriffe wie „Deutsch-Türke“, „Bürger mit Migrationshintergrund“, „inter- und transkulturelle Literatur“ und „Migrantenliteratur“, u. a. mit Bezug auf Ilija Trojanows Aussagen über Autoren nicht-deutscher Herkunft, die jedoch in deutscher Sprache schreiben. Solche Künstler bezeichnet der Schriftsteller als „Agenten der Mehrsprachigkeit“. Wenn Menschen nicht-deutscher ←8 | 9→Herkunft nach ihrer Identität suchten, wollten sie nicht unbedingt auf Distanz zu Deutschland gehen, denn die Frage der Zuordnung der eigenen Kultur gehöre zur Selbstverständlichkeit im Leben jedes Menschen, resümiert Warakomska. Auch wenn die Repräsentanten der nächsten Generationen der Migrantenfamilien unermüdlich an ihre Wurzeln erinnert würden, verstünden sie sich häufig als Mitglieder der deutschen Gesellschaft.
Die literarische Abbildung der Assimilation von Flüchtlingen und Vertriebenen wird in zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen diskutiert. Einen interessanten diesbezüglichen Ansatz leistet auch der Beitrag von Ewelina Kamińska-Ossowska. Als Spezialistin auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur beobachtet die Wissenschaftlerin, dass die Themen Flucht und Migration allmählich „literarische Dignität“ in polnischen Kinderbüchern erhalten, im Gegensatz zum deutschen Literaturbetrieb, wo diese Problematik bereits seit vielen Jahren aufgegriffen wird. In der polnischen Kinderliteratur erkennt Kamińska-Ossowska bestimmte Motive als typisch für diese Themenkomplexe. In Kindergarten und Schule bedienten sie stereotype Vorstellungen wie „Bilder von überfüllten Booten“ oder Frauen mit Kopftüchern. Den Lehrkräften sollten sie Hilfestellung leisten, „die Tradition und Kultur“ als fremd empfundener Weltteile zu vermitteln. Die Autorin des Beitrags sieht zudem die Rolle des Internet als „soziales Medium“ positiv, da es einer breiten Öffentlichkeit ermögliche, reale Beispiele von Flüchtlingsschicksalen zu erfahren und dadurch Vorurteile abzubauen. Zu den polnischen Kinderbüchern, die behutsam die Themen Flucht, Migration und die kulturellen Probleme der Assimilation in einem fremden Land aufgreifen, gehört laut Kamińska-Ossowska Zofia Staneckas Text Basia i kolega z Haiti (‚Basia und ein Freund aus Haiti‘). Im Vordergrund steht das plötzliche Aufeinandertreffen der Protagonisten mit dem ungewohnt Fremden anlässlich der Aufnahme eines Flüchtlingskindes in einen polnischen Kindergarten und damit die Hinterfragung von Stereotypen in einer mehrheitlich konservativ eingestellten Gesellschaft. Als besonders aufschlussreich erwiesen sich für die Literaturwissenschaftler jedoch solche Texte, die – die Fluchtproblematik aufgreifend – auf einem realen Hintergrund basieren. Ausführlich geht der Beitrag daher auf Ewa Nowaks Reportage ein, die die Geschichte der Zusammenführung einer nach Norwegen geflüchteten Familie mit ihrem entlaufenen Kater nachempfindet. Das Bilderbuch greife universelle Themen auf wie das Recht eines Kindes auf ein sicheres Zuhause, die rechtlichen Folgen bei der Entscheidung einer Familie zur Flucht wegen eines Bürgerkriegs und die aktuelle Asylpolitik des sie aufnehmenden Landes: „Die Flüchtlinge werden in weitere Orte bzw. Länder geschickt, damit Platz für neue Gerettete gemacht werden kann“. In der Reihe der polnischen Kinderbücher gehe auf das Fluchtmotiv u. a. auch ←9 | 10→Jarosław Mikołajewskis Wędrówka Nabu (‚Wanderung von Nabu‘, 2016) ein. Hier konfrontiere er die Leser mit dem Trauma eines Mädchens namens Nabu wegen der Zerstörung ihres Heimatortes. Texte wie dieser erfüllen laut Kamińska- Ossowska die Aufgabe, junge Leser für die Probleme von Migration und Flucht als Folgen globaler Krisen zu sensibilisieren. Mutig fasse die Titelfigur den Entschluss, trotz großer Gefahren über das Meer zu flüchten. Nabus fiktive Geschichte bezieht sich auf ein nicht näher bestimmtes Herkunftsland. Durch diese „Entlokalisierung des Erzählten“ gewinnt sie laut Kamińska-Ossowska jedoch eine allgemeine Bedeutung und verweist auf die Schicksale zahlreicher Flüchtlingskinder weltweit.
Die Figuren in beiden Kinderbüchern, deren Fluchtbewegungen die Literaturwissenschaftlerin in ihrem Beitrag nachvollzieht, überqueren fremde Landesgrenzen. Die literarischen Gestalten vermitteln den Kindern ein Gefühl für die Topographie der Welt. Auch als positive Vorbilder können die kleinen Protagonisten dienen, da sie in ihrem Überlebenskampf mutig und zielstrebig vorangehen. Kamińska-Ossowska drängt ihre Leser zur Reflexion über die komplexen Probleme unseres Zeitalters, an denen die Migrationswellen einen großen Anteil haben, und lässt keinen Zweifel, dass die Krisen unserer Zeit die globale Gesellschaft betreffen. Die polnischen Kinderbücher machen die Leser schon früh mit den Fragen des Zusammenlebens von verschiedenen Kulturen und einem vorsichtigen Umgang mit Stereotypen vertraut.
Auch der Beitrag von Józef Wiktorowicz geht auf das Thema Fremdheit ein, er konzentriert sich jedoch auf den sprachwissenschaftlichen Aspekt. Der namhafte Forscher und jahrelange Leiter des Germanistischen Instituts der Universität Warschau greift hier die höchst interessante Frage auf, wie in der deutschen Sprache Bevölkerungsgruppen bezeichnet werden, die „von der Mehrheit der Gesellschaft als nicht zur deutschen Nation gehörig empfunden werden“. Für die Analyse des gegenwärtigen Sprachgebrauchs wählt der Humboldtianer exemplarisch Auszüge aus Presseberichten, Originalbriefen, Nachschlagewerken, historischen Abhandlungen und einigen im 20. Jahrhundert erschienenen literarischen Werken, z. B. Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ (1963) und Franz Josef Degenhardts Für ewig und drei Tage (1999). Nicht nur das breite Spektrum der analysierten Texte macht den Wert des Artikels aus. Die Auswahl der vorgestellten Beispiele ist wohl durchdacht, da sich der Autor auf Deutsche, Franzosen und Polen und die sie beschreibenden Bezeichnungen bezieht. Bestimmte Vorurteile gegenüber Fremden wie auch soziale und politische Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg werden laut Wiktorowicz in der deutschen Sprache widerspiegelt. So stellt der Autor z. B. fest, dass die abwertende Bezeichnung „Franzmann“ nur während der beiden Weltkriege, jedoch nicht in Friedenszeiten nachweisbar ←10 | 11→ist. Als interessant erweisen sich auch die Forschungsergebnisse des Sprachwissenschaftlers in Bezug auf die jüngere deutsche Geschichte: „Nach der Wiedervereinigung führten die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen zwischen den Deutschen im Osten und Westen zur Entstehung neuer Bezeichnungen in Bezug auf die Menschen im wiedervereinten Deutschland […]. Das Aufkommen und die allmähliche Verdrängung der Bezeichnungen Ossis, Wessis, Jammerossis, Besserwessis ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Lexik auf die Entwicklung im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich reagiert“. Der Text erweitert unser Wissen über die Entwicklung der deutschen Sprache im Zeitalter der Globalisierung, er lässt uns zudem die eigenen Vorurteile und die Ablehnung des Fremden im Spiegel der Sprache erkennen. Damit leistet der Artikel einen bedeutenden Beitrag in der Debatte um Feindseligkeiten in der Epoche der globalen Migrationsbewegungen, des wachsenden internationalen Terrorismus und des weltweiten Rechtspopulismus: „Man misstraut den Menschen, die anders aussehen, anders sprechen und eine andere Religion haben.“ Die Aussage des Artikels ist insgesamt jedoch positiv: Wie die Analyse zeigt, lässt sich die Zunahme der negativ besetzten Ausdrücke nur in einem bestimmten, von Spannungen geprägten Zeitraum feststellen, und „[w];enn eine friedliche Zusammenarbeit von verschiedenen Volksgruppen existiert, verschwinden allmählich negativ besetzte Ausdrücke“.
Der Wille zu einer solchen Zusammenarbeit scheitert jedoch oft an der Überzeugung, die grenzüberschreitende Kooperation sei fundamental negativ zu werten. Vielfach treibt die Angst um den Verlust von landsmannschaftlichen Traditionen und des eigenen Geschichtsbewusstseins die betroffenen Menschen um. Diese Themen beleuchtet der Beitrag von Kevin Mitrega, der sich einer vergangenen Epoche in der Kulturgeschichte widmet und den Schriftsteller Bruno Schulz als einen „deterritorialisierten“ Literaten vorstellt. Die „Deterritorialisierung“ versteht der Nachwuchswissenschaftler auch „im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari“. Schulz ist laut Mitrega ein Vertreter der „auf Polnisch geschriebenen jüdischen Literatur“, inspiriert von deutschsprachigen Autoren wie Goethe, Rilke und Kafka. Zunächst gehörte der Heimatort des Schriftstellers, Drohobycz, zu Galizien und damit zur Donaumonarchie; nach deren Zusammenbruch und der Gründung der Zweiten Republik Österreich jedoch zur heutigen Ukraine. Das fast vergessene Städtchen habe „als topographische Konstante den Zugang zu Schulz als Autor mitbestimmt“. Mitrega verortet die Figur des Künstlers in der Literaturgeschichte in den Rang eines Vertreters der sog. „kleinen Literatur“. Sein Beitrag reflektiert den Fakt, dass politische Grenzen keineswegs mit kulturellen und sprachlichen kongruent sind. Er ergreift das Wort in der Debatte um die schwer zu klärende Identität von Autoren wie Bruno ←11 | 12→Schulz, die unterschiedliche kulturelle Einflüsse in sich verbinden. Wie Mitrega abschließend bemerkt, sei gerade in unserer Epoche angesichts der vielfältigen Globalisierungstendenzen die Sensibilität gegenüber „Polysemie“ gestiegen, die Bruno Schulz in seinen Werken verwirkliche. Einerseits habe der Schriftsteller seinen Heimatort als „sicheren Hafen“ in der Donaumonarchie betrachtet, wo er als Künstler beste Bedingungen gefunden habe. Auch einige Aufenthalte in Paris, Stockholm und Wien änderten wenig an der Hingabe in seinen Werken an Tradition und Kultur Galiziens. So trage er zwar zur Mythisierung Galiziens bei, andererseits jedoch sei er am Ende des 19. Jahrhunderts mit für ihn beängstigenden Entwicklungen konfrontiert worden: mit den Mechanismen „des um sich greifenden Kapitalismus“ und der damit verbundenen negativen Veränderung in der Mentalität seiner Zeitgenossen. Mitrega sieht den polnischen Autor in seinen Texten als Vermittler der untergegangenen „galizisch[en] Lebenswelt der Jahrhundertwende“. Sein berühmtestes Werk Sklepy cynamonowe (‚Die Zimtläden‘, 1933) schildere jedoch Protagonisten, die sich auf materielle Werte fokussierten. Damit gibt der Text eine Entwicklungslinie vor, die auch in unsere Zeit hinein wirkt.
Die Angst der Bürger vor dem Verlust der finanziellen Existenzgrundlagen gehört auch zu den größten Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Dass vom flexiblen Arbeitnehmer heute die ständige Verfügbarkeit als nahezu selbstverständlich gefordert wird, ist ein wichtiges Thema für moderne Autoren; im deutschsprachigen Raum gehören dazu u. a. Elfriede Jelinek, Ingo Niermann, Ulrich Peltzer, Kathrin Röggla und Urs Widmer. Die extreme Wertschätzung der beruflichen Karriere und des Strebens nach Erfolg in der globalisierten Arbeitswelt bildet auch Ingeborg Bachmann literarisch ab. Die Germanistin Karin Wolgast, Vorsitzende des Dänischen Vereins der Humboldtalumni, analysiert in ihrem Beitrag die Erzählung „Ein Geschäft mit Träumen“ der österreichischen Autorin (Erstveröffentlichung 1978). Der Protagonist des Textes betritt einen imaginierten seltsamen Laden: Dort kann man im Austausch für eine Spanne Lebenszeit Träume erwerben. Der arbeitssüchtige Kunde kann und will die Welt des ständigen Wettbewerbs mit ihren beruflichen Anforderungen nicht aufgeben. Er verliert dennoch seinen Job, da er unter Schlafmangel nicht mehr leistungsfähig ist. Die Bedingungen der globalisierten Arbeitswelt und des neokapitalistischen Marktes bringen in Bachmanns Werk den Durchschnittsbürger in ein Dilemma: Entscheidet er sich für einen gesunden Lebensstil, gehen schnell die Lebensgrundlagen verloren. Effizienz und Flexibilität gewähren jedoch auch keine gesicherte Zukunft: Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen zur Arbeitsunfähigkeit. Bachmann kritisiert, so Wolgast, durch groteske Überzeichnung die Basisstruktur des neokapitalistischen Wirtschaftssystems: „Zeit gegen ←12 | 13→Geld einzutauschen, seine Zeit an den Arbeitsplatz zu verkaufen: Ist das grundlegende Prinzip des kapitalistischen Wirtschaftssystems an sich schon als abstrakt zu bezeichnen, nämlich im bekannten Gegensatz zur Naturalienökonomie, erfährt das abstrakte Tauschprinzip in Bachmanns Erzählung noch eine Steigerung, die zunächst grotesk wirkt“. Ein weiteres Werk der österreichischen Autorin, das Gedicht „Werbung“, führt die dänische Literaturwissenschaftlerin zur Schlussfolgerung, dass es der Schriftstellerin bei dem Phänomen der Kommerzialisierung unseres Lebens auf den Verlust der immateriellen Werte ankomme. Hier spannt Wolgast den Bogen zur Kritik an den wirtschaftlichen Zielen im Zeitalter der Globalisierung. Als deren bestimmendes Merkmal zeige Bachmann in ihren Versen die Durchrationalisierung der Gesellschaft als Folge des Materialismus. Die Werbung treibe die Kunden gezielt in den Kaufrausch; trotzdem behalte der Mensch immer noch eine Sehnsucht nach dem Nichtgreifbaren, Immateriellen, z. B. dem „Bedürfnis nach Liebe“. Globalisierungskritik lasse sich auch in Bachmanns Hörspiel „Der gute Mensch von Manhattan“ (1957) finden. Das Werk parodiert laut Wolgast in Form eines im Text abgebildeten Traums die „tödlich sich auswirkende Megalomanie und Aggression männlicher Führungskräfte, die auf Weltherrschaft ambitioniert sind“. Aber auch die Themen globale Mobilität und Reisefreiheit würden hier berücksichtigt. Wolgasts Beitrag stellt die Texte Bachmanns vor den Hintergrund der Weltliteratur, in der die Rolle der Angestellten literarisch aufgearbeitet wird. Die Auswahl der analysierten Werke bewegt die Leser zur Reflexion über humanitäre Werte in Zeiten des wirtschaftlichen Drucks und fordert sie zur kritischen Evaluierung der eigenen Lebensziele im Zeitalter der Globalisierung auf.
Die Diskussion über positive und negative Folgen der vielfältigen Globalisierungsprozesse mündet regelmäßig in die Frage, warum die weniger Privilegierten und die finanziell Schwächeren von den negativen Folgen dieser Entwicklungen betroffen werden, ohne dass eine globale Lösung der problematischen Situation gesucht wird. Zu diesen negativen Erscheinungen rechnet Ewelina Michta „Arbeitslosigkeit, die Einkommensungleichheit in den Niedriglohnländern, die soziale Ausgrenzung, verschiedene Wirtschaftskrisen, politische Unruhen und ein[en] gewaltige[n]; Prozess der kulturellen Transformation“. Das Schicksal der von Dauerkonflikten verwüsteten Regionen, die u. a. auch wegen Bürgerkriegen bluten, erleiden Länder der Dritten Welt, wie der Kongo und Somalia, die mittlerweile schon als Inbegriff für Menschenrechtsverletzungen stehen. Engagierte Schriftsteller des 21. Jahrhunderts verweisen darauf, dass Probleme dieser Bevölkerungen nicht vereinzelt auftreten und einer globalen Lösung bedürfen. Vor dem Hintergrund postkolonialer Entwicklungen in unserer Zeit stellt Ewelina Michtas Beitrag politische Unruhen vom Standpunkt der unmittelbar ←13 | 14→Involvierten dar. Die Germanistin sieht darin eines der gegenwärtigen Probleme, deren Lösung jedoch auch im Einvernehmen mit der örtlichen Bevölkerung gefunden werden müsse. Im Text Tram 83 des kongolesischen Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila, eines mehrsprachigen Autors, der sich „in drei Kulturen zu Hause [fühlt] – in der afrikanischen, französischen und deutschsprachigen“, werden, so Michta, die Fluchterfahrungen von Individuen und Zwangsmigration als tabuisierte Schattenseiten unseres Zeitalters präsentiert, in dem der Globalisierungsmythos die von Krisen geplagten, ausgebeuteten Weltregionen links liegen lässt. Der Beitrag wirft die Frage auf, inwiefern die Erfahrung des aktuellen Aufenthaltsorts und die Erinnerung an die aufgegebene Heimat die Identität des Menschen determinieren, insbesondere im Zeitalter einer kaum eingeschränkten Mobilität. Michta stellt hier die im Romantitel genannte Bar „Tram 83“ als Ort des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen dar und somit auch als Metapher für die Globalisierung und ihre Folgen. Das Leben der Protagonisten im Zeitalter des Neoliberalismus werde zum „Überlebenskampf“, daher deutet die Autorin Mujilas Roman als „Parabel“ auf die heutige, von der Geldgier des unkontrollierbaren Kapitalismus gesteuerte Welt. In der Zusammenfassung unterstreicht die Literaturwissenschaftlerin, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Migration als Folge politischer Krisen notwendig ist, um Klischees begegnen zu können.
Details
- Seiten
- 206
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631831762
- ISBN (ePUB)
- 9783631831779
- ISBN (MOBI)
- 9783631831786
- ISBN (Hardcover)
- 9783631831120
- DOI
- 10.3726/b17388
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (Januar)
- Schlagworte
- Migration Flucht Mehrsprachigkeit globalisierter Stadtraum Kritik am Neoliberalismus Kritik am Leistungsdruck globalisierte Arbeitswelt kleine Literatur das Fremde
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 206 S., 8 farb. Abb., 40 s/w Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG