Polen im Ersten Weltkrieg
Der Kampf um einen polnischen Staat bis zu dessen Neugründung 1918/1919
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorbemerkung
- Prolog: Polonia partita - Restitutio Poloniae
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs
- I Zwischen Aufstand und Anpassung
- II Nationaldemokaten, Konservative und Liberale sowie Bauernpolitiker
- III Die sozialistischen Parteien
- IV Die Gründung paramilitärischer Formationen
- V Die europäischen Bündnisse
- VI Die internationale Parteinahmen der Polen
- 2. Kriegsausbruch August 1914
- I Die strategischen Pläne der Großmächte
- II Polen und die Kriegsgegner
- III Die polnischen Schützen
- IV Die fiktive nationale Regierung
- V Auf der anderen Frontseite
- VI Die Westmächte und die polnische Frage
- 3. Der Einmarsch in Kongresspolen
- I Kriegspläne und Kriegsbeginn
- II Das Ausrücken der 1. Kompanie
- III Die Einnahme von Kielce
- IV Das Ultimatum an Piłsudski
- V Die Polnische Nationalorganisation
- VI Der internationale Rahmen
- 4. Die Bildung der polnischen Legionen
- I Die deutsche Option
- II Treffen Piłsudski-Ludendorff
- III Abbruch der Beziehungen zur PON durch die Deutschen
- IV Der Zusammenschluss von PON und NKN
- V Österreichs Sorgen um Galizien
- VI Die Formierung der Legionen
- VII Die Erste Brigade
- 5. Die Entscheidung im Osten
- I Rückzüge und Offensiven
- II Die Dezemberreise nach Wien
- III Die Winterschlacht in den Karpaten
- IV Der Durchbruch von Gorlice
- V Die Entscheidung im Osten
- VI Kämpfe der Ersten Brigade
- VII Primat des Politischen
- 6. Die Besetzung Kongresspolens
- I Warschau und die polnische Militärorganisation
- II Die Umorientierung
- III Der Kampf Piłsudski-Sikorski
- IV Das KNP geht auf Distanz
- V Frontwechsel
- VI Winterpause. Die Schlacht von Kostiuchnowka
- VII Der Obristen-Rat
- VIII Die „Legionisierung“ der Legionen
- IX CKN und Nationalrat
- X Piłsudskis Demission
- 7. Die Internationalisierung der polnischen Frage
- I Die russischen Sonderfriedens-Bemühungen
- II Die deutschen Interessen im Osten
- III Die Konzeption von Mitteleuropa
- IV Der Akt des 5. November
- V In Warschau entscheidet sich Polens Schicksal
- VI Auf dem Weg zu einer polnischen Vertretung
- VII Piłsudski und die polnische Wehrmacht
- VIII Nationaldemokratie, die Entente und Russland
- 8. Der Abschied von den Mittelmächten
- I Im Dienst des Provisorischen Staatsrats
- II Die Westmächte und Polen
- III Polen und die russische Februarrevolution
- IV Ohne polnische Bündnisgefährten
- V Die Alliierten und Österreich
- VI Piłsudskis Verhaftung
- 9. Vor der Auflösung der alten Reiche
- I Piłsudskis Platzhalter: Der Konvent
- II Das Nationalkomitee KNP
- III Die polnische Frage nach der Oktoberrevolution
- IV Die Außenpolitik des Konvents
- V Der Regentschaftsrat in Warschau
- VI Die Abtrennung des Cholmer Gebiets
- VII Der Durchbruch bei Rarancze
- VIII Flucht nach vorn
- 10. Die Erhebung der Polen
- I Regierungen in Warschau und Krakau
- II Die Volksregierung in Lublin
- III Versuch einer Regierungsbildung durch das KNP
- IV Das Fiasko der Mittelmächte in Polen
- V Harry Graf Kesslers Mission
- 11. Die Anfänge der polnischen Republik
- I Piłsudskis Rückkehr nach Warschau
- II Das Kriegsende
- III Entwaffnung und Befriedung der Deutschen
- IV Die innere Neuordnung
- V Der Nachbar im Osten
- VI Die Neuordnung des polnischen Militärs
- VII Die Konkurrenten – Józef Piłsudski, Józef Dowbor-Muśnicki, Józef Haller
- VIII Der Ausgleich
- Epilog: Polonia restituta – Die letzte Chance für Polen
- Verzeichnis der Abkürzungen
- Geografisches Namensverzeichnis
- Personenverzeichnis
- Literaturverzeichnis
- Archivquellen und Handschriften
- Einzelveröffentlichungen, gedruckte Quellen und Sammlungen:
- Über den Autor
- Reihenübersicht
1.Am Vorabend des Ersten Weltkriegs
IZwischen Aufstand und Anpassung
In Polen war das Thema der nationalen Unterdrückung seit den Tagen der Aufteilung des polnischen Territoriums unter die drei benachbarten Großmächte Preußen, Russland und Österreich auf der Agenda, aber war auch der Ausweg daraus ein Thema? Die Aufstände von 1830/1831, 1846/1848 und 1863/1864, die mit schmerzlichen Niederlagen geendet hatten, waren schon um 1890 ziemlich entlegenen Datums. Der erste Aufstand war den allermeisten nur noch vom Hörensagen bekannt, und auch der letzte lag zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts schon rund zwanzig Jahre zurück. Aber sie hatten gerade durch die Wiederholung der Niederlagen zu weitergehenden Fragestellungen geführt, die selbstverständlich nie einhellig beantwortet wurden und auch nicht beantwortet werden konnten.
Das Scheitern des Aufstandes von 1863/1864 und das Abschwenken der Industrie- wie Handelsbourgeoisie wie auch des Besitzadels auf konservative Positionen bedeuteten, dass Polen nicht den Weg zu einem Nationalstaat beschreiten konnte, wie ihn Italien in den Jahren 1848–1861 gegangen war. Die nationale Emanzipation war weder im Bürgertum, noch in der Bauernschaft die Parole, mit der es sich unter den Standarten polnischer Staatlichkeit versammeln ließ. Die Träger dieser Losung, des nationalen Gedankens waren gefallen oder saßen in zaristischen Gefängnissen, sie lebten in sibirischer Verbannung oder in der vorrangig französischen Emigration.
Das Paradigma der Nationalaufstände war dem von sozialen und ideologischen Schichtungen, Kämpfen und Konflikten gewichen, an die Stelle der Nationalhelden und Heerführer waren die Parteiführer und Ideologen getreten, sie aber standen keiner Armee vor, der man Befehle erteilen konnte. An ihrer Stelle gaben nun Unternehmer, Industrielle und Grundbesitzer den Ton an.
Die Romantik, deren Kernstück der Aufstands-Mythos darstellte, wurde abgelöst von einer pragmatischen Denkhaltung, die in Polen als „Positivismus“ bezeichnet wird. In ihrem Zentrum stand der schon ältere Gedanke der „organischen Arbeit“, d.h. die Überzeugung, statt einer sofortigen bewaffneten Befreiungsaktion sei ein langer Weg zurückzulegen, Überzeugungsarbeit im Alltag zu leisten. Mithilfe der Hebung des zivilisatorischen Niveaus, eines sich nach 1870 abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwungs, vor allem aber unter Anerkennung der bestehenden fremden staatlichen und gesellschaftlichen Organe – und zugleich ihrer Ausnutzung – sei nach legalen Möglichkeiten zu suchen, um schließlich zumindest Autonomie gegenüber der Fremdherrschaft zu erreichen.
Es war das Programm einer evolutionären Emanzipation, die an die Stelle des Wunsches nach explosiven Aktionen getreten war. Die Protagonisten dieses Programms waren vor allem die vermögenden Schichten der polnischen Bevölkerung, ←23 | 24→die Industrie- und Handelsbourgeoisie, die innerhalb des Russischen Reichs vor allem einen Markt suchten. Es waren aber auch die Vertreter des Besitz- und Hochadels, von denen in allen drei Teilungsgebieten die sich bietenden Möglichkeiten des Status quo erkannt wurden. Es verdient Erwähnung, dass die Teilungen der Jahre 1772, 1793 und 1795 die aristokratischen Rechte des polnischen Hochadels ebenso wenig antasteten wie deren Besitzverhältnisse. Ihre Ländereien verblieben ihnen, ihre Schlösser, ihre Wälder, ihre Felder.
Diese „realistischen“ Kräfte gab es in Kongresspolen und Galizien ebenso wie im preußischen Teilungsgebiet. Fürst Antoni Radziwiłł war Adjutant preußischer Könige und deutscher Kaiser gewesen; Fürst Ferdynand Fryderyk Radziwiłł saß im Preußischen Herrenhaus und betrieb preußische, nicht aber polnische Politik. Das gilt auch für den Hochadel im Russischen Reich ebenso wie in Österreich.
Auch außenpolitisch schien nichts in Sichtweite, was einer Wiederherstellung eines eigenen Staates der Polen günstig war. Im Dreikaiserbund, der September 1872 in Berlin zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Russland geschlossen wird, waren alle drei Teilungsmächte erneut nach 1815 durch ein internationales Abkommen miteinander verbunden. Irritationen, die vom Berliner Kongress 1878 und vom preußisch-österreichischen Defensivbündnis 1879 ausgegangen waren, wurden im September 1881 bei einem Treffen in Danzig vom deutschen Kaiser und dem russischen Zaren wieder ausgeräumt. Von dieser Seite aus gab es scheinbar keinerlei Hilfe zu erwarten.
Wie verhielten sich nun die Polen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs gegenüber dem Gedanken an einen eigenen Staat und welche Wünsche und Vorstellungen knüpften sie dahin gehend an die beiden feindlichen Lager, als der Krieg ausgebrochen war?
„Einige blieben loyal gegenüber den Teilungsmächten. Andere erwarteten eine Niederlage der Mittelmächte und eine Union mit Russland unter der Ägide der Romanows. Andere, besonders im österreichischen Galizien, behaupteten, ein vereintes Polen sollte sein Schicksal mit dem der Monarchie der Habsburger verknüpfen, die liberaler als Deutschland oder Russland seien und obendrein noch fähig, den Imperialismus der beiden zu bändigen. Wenige wünschten sich ein Polen, das als autonomer Teil des Deutschen Kaiserreichs vereinigt sei. Es gab auch diejenigen, die jegliche Orientierungen verwarfen und behaupteten, die Teilungs-Großmächte müssten unausweichlich im Verlauf des Krieges schwächer werden, und die Polen würden vollendete Fakten unter der Bedingung schaffen, dass sie eigene Streitkräfte besäßen.“1
Daneben gab es noch extrem resignative Stimmen wie Kazimierz Krzywickis, der – von einer pessimistischen Grundstimmung nach den verlorenen Aufständen getragen – nichts anderes forderte, als ein völliges Aufgehen Polens in einer gesamtslawischen Bewegung, weil es seine Rolle als Nation verspielt habe.2 Aber das waren Ausnahmen, der größere Teil derjenigen, die sich vom Aufstandsdenken und der Hoffnung auf ein unabhängiges Polen verabschiedet hatten, blieben den Teilungsmächten gegenüber loyal, und zwei davon waren nicht slawisch.
←24 | 25→Und diejenigen, die gegenüber ihrer Teilungsmacht loyal blieben, führten im Wesentlichen die Politik fort, die sie spätestens seit der Niederlage des Aufstandes von 1863/1864 in Kongresspolen oder seit der Neuordnung der staatlichen Ordnung in der k. u. k.-Monarchie in Österreich 1867 oder was in Preußen vorrangig die Angehörigen des Hochadels seit jeher getan hatten.
Der polnische Hochadel – beispielsweise die Familien der Czartoryski, Drucki-Lubecki, Lubomirski, Potocki, Radziwiłł oder Sapieha – hatte seine Güter, seine politischen Stellungen und Einflüsse zumeist auf mehr als eines der Teilungsgebiete verteilt. So standen sich bei Kriegsausbruch die Verwandten in einander sich bekämpfenden Staaten gegenüber, was jedoch einen späteren politischen Wechsel in Abhängigkeit von der politischen Konjunktur keineswegs ausschloss.
IINationaldemokaten, Konservative und Liberale sowie Bauernpolitiker
Älter als die Parteinahme für eines der beiden Bündnislager in einem heraufziehenden Krieg waren Überlegungen, welchen Rahmen ein künftiger polnischer Staat besitzen sollte. Es gab ein vorrangig ethnografisch begründetes Staatsmodell, das aus – politischen und Bündnisüberlegungen – vor allem Russland gegenüber konzessiv war, indem es im Osten auf historisch polnisches Herrschaftsgebiet verzichtete, um vor allem im politischen, sprich: deutschen Westen – Provinz Posen, Pommern, Westpreußen, Ostpreußen und Oberschlesien – sich territorialen und wirtschaftlichen Gewinn erhoffte.
Das Gegenmodell war das historische begründete Staatsmodell, das in Erinnerung an den Doppelstaat Polen-Litauen ein weit nach Osten – die Grenzen von 1772 im Blick – hinausragendes Staatsgebilde mit föderativer Struktur unter polnischer Führung favorisierte, weil ein ethnografisches Polen, das auf Kongresspolen reduziert wäre, nicht lebensfähig sei. Von den Mittelmächten, vor allem Preußen-Deutschland sei jedoch die Abtretung polnisch dominierter Gebiete am Grenzsaum kaum zu erwarten. Da diese Modelle sogleich eine internationale Parteinahme verlangten, wurde sie vollzogen.
Für die Autonomie innerhalb der fremden Staatsorganismen sprachen sich vor allem zwei politische Lager aus, das der Nationaldemokraten und das der Konservativen und Liberalen. Die Orientierung der Nationaldemokraten ging auf die konspirative Liga Polska (Polnische Liga) zurück. Ihre Aufgabe war bestand im ersten Zeitraum darin, Geld für Truppen für den bevorstehenden nächsten Aufstand zu sammeln, die organische Arbeit zu politisieren und Aktionen in den drei Teilungsgebieten und in der Emigration zu koordinieren. Ihr Ziel war die nationale Unabhängigkeit, die über einen bewaffneten Aufstand erreicht werden sollte.
Der dem Warschauer Jugendverband der Liga angehörende Roman Dmowski wurde 1893 Vorsitzender der Liga, die ihren Namen in Liga Narodowa (Nationale Liga) änderte. Mit Dmowski wurde die Nationaldemokratie zu einem der beiden einflussreichsten politischen Lager in Polen, vor allem im deutschen Teilungsgebiet, ←25 | 26→aber auch in Kongresspolen und in Galizien vorwiegend um Lemberg. Die wenigen Hundert Mitglieder der Liga versuchten, Einfluss über Massenorganisationen und Bildungseinrichtungen, politische Parteien und Zeitschriftenredaktionen auszuüben.
Auch programmatisch sollte sich viel ändern. Anfänglich hatte die Liga sich abgesetzt von den Loyalisten, die Forderung nach Unabhängigkeit erhoben und die Aufstände gegen die russische Herrschaft als patriotische Taten gefeiert. Unter dieser Parole hatte es in Warschau Anfang der neunziger Jahre Demonstrationen gegeben, in deren Folge einige der führenden Vertreter der Liga verhaftet wurden.
Nun setzten die Nationaldemokraten auf die nationale Gemeinschaft als einem gegenüber Vaterland, Staat oder Individuum übergeordneten Wert. Sie beruhte auf dem gemeinsamen historischen und kulturellen Erbe und auf Blutsbindungen. Also waren nicht Staaten wie Russland oder das Deutsche Reich die Gegner, sondern Russen, Deutsche und Juden. Der sozialistischen Bewegung mit den Parolen von Klassenkampf und Internationalität stellten die Nationaldemokraten die nationale Solidarität entgegen. Der katholischen Kirche hingegen waren sie gewogen, wegen ihrer in Hinblick auf Sprache, Kultur und Identität bewahrenden Rolle, auch wenn sie auch die Kirche letztlich lediglich instrumental betrachten sollten.
Die Nationaldemokratie war in allen drei Teilungsgebieten präsent und bis auf Preußen völlig loyal gewesen. In Galizien war sie den Konservativen unterlegen, deren Einfluss bis zum Wiener Hof reichte, ihre Beziehungen blieben regionaler Natur oder speisten sich aus den internationalen Kontakten, die der engere gesamtpolnische Führungszirkel um Roman Dmowski unterhielt. Am stärksten war ihr Einfluss im östlichen Teil Galiziens, wo sie sich die Nationaldemokraten als Teil der Verteidigung polnischer Werte gegen die Ukrainer verstanden, was jedoch Roman Dmowski im russischen Teilungsgebiet, in Kongresspolen, nicht daran gehindert hatte, die panslawische Karte, die vom Zarenhof ausgeteilt worden war, mitzuspielen. Am stärksten waren die Nationaldemokraten jedoch im preußischen Teilungsgebiet, wo sie von der deutschen antipolnischen Politik profitierten.
Von 1895 bis 1900 begründeten die Nationaldemokraten eine Reihe ihrem Wertsystem ergebene Gewerkvereine und Bildungsgesellschaften sowie 1897, zuerst in Kongresspolen, die Demokratisch-Nationale Partei (SND), die nach ihren Bestimmungskürzeln auch „Endecja“ genannt wurde, und anschließend von ihr dominierte Verbände unter der Jugend sowie den Arbeitern und Bauern.
Ihre prorussische Haltung brachte es mit sich, dass in der ersten Duma von 1905 37 polnische Abgeordnete saßen (Nationaldemokraten und konservative Realisten), 1907 dann noch immerhin 14. Sie waren in das politische System des Russischen Reichs fest eingebunden, und wie es ihre zeitweilige Teilnahme an den Panslawischen Kongressen zeigte, waren sie es auch ideologisch. „So wurde ebenfalls festgelegt, dass man zunächst lediglich die Vereinigung aller polnischen Gebiete fordern sollte. Die Parole der Unabhängigkeit hätte nämlich Russland verletzen und es erneut Deutschland annähern können.“3
Die Konservativen hingegen, die ebenfalls in allen drei Teilungsgebieten vertreten waren, besaßen die Meinungsführerschaft in Galizien, insbesondere ihr ←26 | 27→Flügel in Krakau. Sie organisierten sich in Polen als politische Partei erst spät, zur Jahrhundertwende 1899/1900. „… das ging nicht nur aus den Bedürfnissen des polnischen politischen Lebens hervor, sondern auch aus der aktiven Beteiligung der Konservativen an politischen (Spielen), die in den Teilungs-Monarchien stattfanden. Sie engagierten sich – im Rahmen der Möglichkeiten – in der parlamentarischen Tätigkeit, sie waren Anhänger eines Kompromisses mit den Teilungsregierungen. Das ging aus dem sozialen Charakter des Konservatismus hervor, der, um das bestehende soziale Kräfteverhältnis zu erhalten, sich auf die Macht des Staatsapparates der Teilungsmächte berufen musste“, schrieb Jerzy Holzer. 4
Die Konservativen waren in allen drei Teilungsgebieten in legalen Parteien organisiert: In Preußen in der Partei der Nationalen Arbeit (SPN), in Österreich in der Partei der Nationalen Rechten (SPN), in Russland in der Partei der Realpolitik (SPR). Und in allen Teilungsgebieten waren ihre Parteien strikt loyal. Die Polen-Gruppe im Deutschen Reichstag stimmte den Kriegskrediten ebenso vorbehaltlos zu wie die bis Anfang August noch internationalistischen Sozialdemokraten.
Bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte der Konservatismus dominant Gutsherren-Charakter besessen, war auch im österreichischen Teilungsgebiet Vertreter der nationalen Tradition und der klerikalen Relevanz. Zu einem geschlossenen Programm war er nicht gelangt, es sei denn, dass er sich liberalen Tendenzen entgegenstemmte, gegen seine soziale Basis, die Grundherrschaft, zielende Entwicklungen zu verhindern oder zu verlangsamen suchte. Die übergeordneten Werte, die alle Schattierungen verbunden hatten, waren lediglich die polnische, die katholische und die Adelstradition.
Unterschiede gab es zwischen Westgalizien (Krakau) und Ostgalizien (Lemberg). Während im Großraum Krakau und im Teschener Land die fortschreitende Industrialisierung eine Abkehr von festgefahrenen, fortschrittsfeindlichen Mustern möglich machte, die konservative Klientel auch auf das Kleinbürgertum ausgriff, blieb Ostgalizien in althergebrachter grundherrschaftlicher und Agrardominanz befangen.
Die Krakauer Realisten speisten sich zunehmend auch aus dem städtischen Unternehmertum und aus Finanzkreisen, während die ostgalizischen Großgrundbesitzer, die „Podolier“, sich zunehmend nationalistischer Argumente bedienten und die dortige zurückgebliebene Agrarstruktur mit „der Verteidigung des Polentums gegenüber den ukrainischen Bauern“ begründeten, also bei einer rein nationalistischen Argumentation verweilten.5
Die liberale Bewegung hatte, obwohl sie auf eine verhältnismäßig lange Tradition verweisen konnte, ebenfalls erst um 1900 eigenständige Parteien hervorgebracht, die als Polnische Demokratische Partei (PSD) oder als Polnische Fortschrittspartei (PSP) fest in das politische, kulturelle und soziale System der Habsburger Monarchie eingebunden waren. Ihr Zentrum war Krakau, ihre Klientel bildeten das städtische Bürgertum, die Beamtenschaft, Kaufleute, Industrielle und Intelligenzler. Ihre Bindungen waren lockerer Natur, meist gruppierten sie sich um Presseorgane, von denen das bekannteste die Krakauer Zeitschrift Czas (Die Zeit) ←27 | 28→war. Ihre natürlichen Führer waren die Mandatsträger im Abgeordnetenhaus in Wien oder im Landtag in Lemberg. Sie strebten nach der Erweiterung der regionalen Autonomie, nach besseren Bedingungen für die polnische Kultur und die Entwicklung von Industrie und Handel. Im Russischen Reich war ihr loyaler Flügel ebenfalls legal, der als Polnische Fortschrittsvereinigung (PZP) und als Polnische Fortschrittspartei (PPP) auftrat.
Als eine weitere, uns hierbei interessierende Kraft schließlich war die Bauernschaft, die sich anfänglich zumindest kulturell, später und zunehmend auch politisch in der Bauernbewegung organisierte, die eine eigene Identität sowie ein Gefühl ihrer Kraft zu spüren begann. Schließlich arbeiteten 1893 in Kongresspolen 73 % der Bevölkerung im Agrarbereich, im österreichischen Galizien 90,7 %, und noch 1913 bzw. 1910 waren es 68,5 %, bzw. 90,5 %. Von hier wird die Überzeugung verständlich, die Landbevölkerung sei „das Volk“, weshalb sich bis in die Gegenwart die polnischen Bauernparteien in überwältigender Mehrheit nicht als solche, sondern als „Volks“-Parteien verstehen und bezeichnen.
In Kongresspolen verhinderte der zaristische Absolutismus auf dem Land lange emanzipatorische Bewegungen der Bauernschaft überhaupt. Das sollte sich jedoch auch dort nach 1900 ändern. Danach entstanden in Kongresspolen jedoch mehrere kleinere Parteien und Zirkel, so die Gruppe um die Zeitschrift Zaranie (Morgendämmerung), der nationalradikale Nationale Bauernbund NZCh, der sich zwischenzeitlich in den Verband der polnischen Volkes (ZLP) umbenannt hatte, und der von der PPS dominierte Bauernbund (ZCh). Im Dezember 1915 sollte die Vereinigung zur Polnischen Bauernpartei in Kongresspolen erfolgen, die sich später als PSL-Wyzwolenie (PSL-Befreiung) in Konkurrenz zu der ihr gegenüber rechter ausgerichteten PSL-Piast begab.
Als Ursachen für die verschwindend geringe Resonanz der Bauernpolitiker im preußischen Teilungsgebiet müssen die bessere wirtschaftliche Situierung und die solidaristischen Traditionen genannt werden, dennoch ging die erst 1912 gegründete Polnisch-Katholische Volkspartei (PKPL) bei Kriegsbeginn auf eindeutig pro-deutsche Positionen über, was allerdings später zu ihrem Niedergang beitragen sollte.
In Galizien standen die Vorläufer-Zirkel der politischen Parteien entweder unter klerikalem oder nationaldemokratischem Einfluss. Erst 1895 kam es zur Gründung der Bauernpartei SL (Stronnictwo Ludowe), die bereits 1903 das Attribut des Polnischen im Namen verankerte. Die Partei war im galizischen Landtag und im österreichischen Reichsrat vertreten. Nach zwei Sezessionen schlossen sich 1913 die zum rechten Flügel der Bauernbewegung gehörenden Gruppen zur PSL-Piast zusammen, währende der linke Flügel die PSL-Linke (PSL-Lewica) bildete.
IIIDie sozialistischen Parteien
Für die polnische Unabhängigkeit hingegen optierte die politische Linke, wenngleich mit sehr unterschiedlichen Zielvorstellungen. Die ersten sozialistischen Revolutionäre um Ludwik Waryński waren von einem raschen Ausbruch der ←28 | 29→Revolution ausgegangen, und sie erwarteten ihn in mehreren europäischen Ländern zugleich. Damit wurde in Erwartung einer internationalen Revolution eine Geringschätzung der nationalen Frage heraufbeschworen. Den Gegenpol dazu bildeten die nationalen Kräfte, die innerhalb der sozialistischen Bewegung die soziale mit der nationalen Frage verknüpften, und zumeist die Lösung der ersten Frage als Folge der Lösung der zweiten erwarteten.
Als die mit Abstand stärkste sozialistische Partei in Kongresspolen sollte sich die PPS entwickeln, die 1892 bezeichnenderweise noch im Ausland mit einem Programm versehen wurde, auf einer Tagung, zu der die namhaftesten, auf freiem Fuß lebenden Veteranen und jüngeren Vertreter verschiedener kleinerer Gesellschaften eingefunden hatten, um einer einheitlichen Partei den Weg zu ebnen. Nur zwei der Tagungsteilnehmer stammten aus Kongresspolen selbst.
Józef Piłsudski nahm am ersten Parteitag der PPS Juni/Juli 1893 in Wilna als Vertreter der litauischen, d.h. der Wilnaer Organisation teil. Im Oktober des gleichen Jahres wurde er vom Emissär des ZZSP aus London in das Arbeiterkomitee der PPS berufen, im Jahr darauf in das Zentrale Arbeiterkomitee (CKR), eine zwei- bis siebenköpfige Führung der Partei – deren Zahl je nach Verhaftungslage wechselte. Er sollte diesem CKR als einziger ununterbrochen bis zum Jahr 1900 angehören, als schließlich auch er verhaftet werden sollte.
Die Gruppe um Piłsudski trachtete spätestens seit dem Beginn des Jahres 1904 danach, die PPS durch neue Strukturen in und neben ihr zu dynamisieren. Eine paramilitärische Organisation, vom Typ einer Arbeiterwehr und einer Schutztruppe von Demonstrationen einerseits, mit militärischen Formalien wie Tagesbefehlen und Rapporten anderseits, sollte neben der PPS entstehen, aber ihr zu Diensten sein. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, Spitzel abzustrafen und Anschläge zu verüben, eine Straf- und Terrororganisation in einem. Dabei sollte das besondere Augenmerk der sprengtechnischen Abteilung den Symbolen, Denkmälern und Monumenten des zaristischen Systems gelten. Zugleich sollte Geld erbeutet werden, um gefangene Genossen freikaufen – und Waffen für den Aufbau einer künftigen polnischen Armee beschaffen zu können.
Nach der Revolution von 1905 im Russischen Reich, die im russischen Kongresspolen besonders heftige Ausmaße angenommen hatte, bildeten sich in der Sozialistischen Partei Polens, der PPS-Kongresspolen, zwei Flügel heraus: Die Gruppe um Józef Piłsudski, die auf einen politisch-militärischen Entscheidungskampf mit dem Zarenregime optierte, und ihr Gegenflügel, der sich für ökonomischen und ideologischen Kampf aussprach. Vor allem aber zerstritten sich die beiden Gruppen über die Frage der polnischen Unabhängigkeit. Für die PPS-Revolutionäre Fraktion (PPS-FR), unter Piłsudski, war diese das übergeordnete Ziel, für die PPS-Linke (PPS-Lewica) ein nachgeordnetes, wenn nicht gar ein Scheinproblem. 1906 zerfiel die PPS dann in zwei organisatorisch getrennte Flügel, wobei die PPS-Revolutionäre Fraktion bald zum alten Namen zurückkehrte.
Das Aufbrechen von Flügelkämpfen, die Organisierung sich widerstrebender Plattformen innerhalb sozialistischer Parteien ineinander hartnäckig bekämpfende Flügel waren vor dem Ersten Weltkrieg keine Seltenheit, aber eine Spaltung war ←29 | 30→zuvor nur in der russischen RSDRP erfolgt, vier Jahre zuvor und auch organisatorisch nicht konsequent. In Kongresspolen aber gab es bereits seit Langem zwei Parteien mit ähnlicher Genese, Ideologie, Struktur: die PPS und die SDKPiL.
„Den Terminus ‚Revolution‘ benutzten sowohl diejenigen, die ihn als die höchste Form des Klassenkampfs des Proletariats betrachteten, wie auch diejenigen, die unter ihm den bewaffneten Kampf gegen das Zarenregime verstanden. (…) Allein der Begriff des Sozialismus wurde auch sehr verschieden verstanden – von der Formulierung Mickiewicz’s von der sozialen Gerechtigkeit bis hin zur Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus.“6
Im Gegensatz zum Pariser Sozialistenkongress (und der mit ihm entstehenden PPS) gab es einen Teil der sozialistischen Bewegung, der durchaus nicht mit den nationalen Prämissen des neuen Programms einverstanden war. Dieser Gegensatz sollte sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung von ihrer Gründung an ziehen. Und so wurde auch das nächste Ereignis bezeichnet von einem Disput, der die sozialistische Bewegung nicht nur Polen, sondern international Jahrzehnte lang dauerhaft belasten, zu Spaltungen führen und auch nach zwei überstandenen Weltkriegen belasten sollte: das Verhältnis zu den russischen Sozialisten und, dahinter zumeist als eigentliche Streitmasse verborgen, das der Beziehung von internationalem Sozialismus und nationaler Unabhängigkeit.
Frontfrau der Sozialdemokratie Polens und Litauens (SDKPiL) war Rosa Luxemburg, die für kurze Zeit auch in der russischen RSDRP, dann schon bald und ausschließlich in der deutschen SPD ihr Betätigungsfeld gewonnen hatte und vehement gegen die nationalen Aspirationen der polnischen Sozialisten um Piłsudski auftrat. Ihrer Meinung nach konnte ein Volk, das aus einander bekämpfenden Klassen bestand, keine reale Einheit bilden.
Sie hielt die Forderung nach Wiederherstellung Polens für utopisch, gefährlich und anachronistisch zugleich. Schon längst hätten sich die besitzenden Klassen in den drei Teilungsgebieten aufgrund gemeinsamer Interessen mit den Teilungsmächten arrangiert, schon längst besäßen aber auch die Unterdrückten aller Länder und Regionen des Russischen Reichs gemeinsame Interessen, deren Durchsetzung von nationalen Forderungen nur gefährdet werden konnte.
Details
- Seiten
- 350
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (PDF)
- 9783631769829
- ISBN (ePUB)
- 9783631769836
- ISBN (MOBI)
- 9783631769843
- ISBN (Hardcover)
- 9783631765302
- DOI
- 10.3726/b14744
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Januar)
- Schlagworte
- Autonomie Unabhängigkeit Pilsudski Dmowski polnische Legionen Mittelmächte gegen Entente 1918
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 356 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG