Das Verhältnis von Buddhismus und Politik in Sri Lanka
Narrative Kontinuität durch Traditionskonstruktion
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Theoretische Überlegungen
- 1.1.1 Die Konstruktion von Geschichte: Hayden WHITE und die Narrativität der Historiographie
- 1.1.2 Tradition: Reflexionen zur Ambivalenz einer Begriffsgeschichte
- 1.1.3 Institutionen und Geltungsgeschichten: Die Funktion von Ordnungen und die Behauptung von Kontinuität
- 1.1.4 Die institutionelle Leerstelle: Aushandlung von Ordnungsstrukturen
- 1.2 Historisch-kritische Einführung40
- 1.3 Forschungsstand: Kategorisierungen zum Verhältnis von Religion und Politik
- 1.4 Material
- 2 Das Verhältnis zwischen Königtum und Saṅgha in vorkolonialer Zeit:
- 2.1 Einleitung
- 2.2 Herrschaftsbeziehungen: Weltliche lokiya und außerweltliche lokuttara Sphären
- 2.3 Die Chroniken Sri Lankas: Der Mahāvaṃsa
- 2.3.1 Asoka: Die „all commodating“ Metanarration
- 2.3.2 Präsident Ranasinghe Premadasas Asoka-Ideologie
- 2.3.3 Duṭṭhagāmaṇī und Vijaya: Die Verteidigung des dhammadīpa
- 2.3.4 Gewaltlosigkeit vs. Opferbereitschaft: Die beiden Metanarrationen im Vergleich
- 2.4 Konzepte von Herrschaft: Das Drei-Dimensionen-Modell
- 2.5 Fazit und Zwischenresümee
- 3 Regierungssysteme im Spiegel triadischer Herrschaftsstrukturen
- 3.1 Einleitung
- 3.2 Koloniale und postkoloniale Regularien zur Verwaltung des Saṅgha
- 3.2.1 Saṅgha-Strukturen
- 3.2.2 Die Verwaltung des Tempelbesitzes
- 3.3 Verfassungspolitik
- 3.3.1 Die Kandyan Convention und der Schutz der „Religion of Boodhoo“33
- 3.3.2 Die Verfassungen des Westminster Systems: „No […] law shall […] prohibit or restrict the free exercise of any religion“78
- 3.3.3 Das präsidiale Regierungssystem: „[I];t shall be the duty of the State to protect and foster the Buddha Sasana“98
- 3.4 Instrumentarien des Staates: Die Buddha-Sāsana-Ministerien
- 3.5 Diskursfeld Vinaya
- 3.6 Fazit
- 3.7 Zwischenresümee
- 4 Aushandlungsprozesse im religiös-politischen Raum
- 4.1 Einleitung
- 4.2 Königsanalogien und Reinkarnationen: Don Stephen Senanayakes Thronverzicht und die Krönung Mahinda Rajapaksas
- 4.2.1 Ministerpräsident D. S. Senanayake (1947–1952)
- 4.2.2 Präsident Mahinda Rajapaksa (2005–2015)
- 4.3 Religiös-politische Ordnungsmuster der „buddhist political culture“
- 4.3.1 Der Disput über die frühen Aktivitäten politischer Mönche
- 4.3.2 Die Mobilisierung politisch aktiver Mönche in den 1950er Jahren
- 4.4 Präsidenten und politische Mönche im historischen Kontext der 1980er und 1990er Jahre
- 4.4.1 Die Jayewardene-Regierung der 1980er Jahre und das Buddha Sāsana
- 4.4.2 Die Kumaratunga-Regierung im Kontext des ‚devolution package‘121 in den 1990er Jahren
- 4.5 „New Kings“: Die Jathika-Hela-Urumaya-Bewegung
- 4.5.1 Legitimationsstrategien der JHU-Mönche138
- 4.5.2 Gegnerische Argumentationsstrategien
- 4.6 Fazit
- 5 Resümee
- 5.1 Einleitung: Maithripala Sirisena vs. Mahinda Rajapaksa
- 5.2 Zusammenfassung des zweiten und dritten Kapitels: Einschreibungen des Königs
- 5.3 Die Institutionelle Leerstelle I: Deutungsrahmen
- 5.4 Zusammenfassung des vierten Kapitels: Diskurs
- 5.5 Die Institutionelle Leerstelle II: Ausblick
- Literaturverzeichnis
1 Einleitung
[…] history does not really happen in the past but must wait until someone narrativizes the past.1
Die vorliegende Arbeit untersucht das Verhältnis von Religion und Politik im zeitgenössischen Sri Lanka anhand vergangener und gegenwärtiger Herrschaftskonzeptionen. Dabei werden vorkoloniale, koloniale und postkoloniale Narrative zum Verhältnis von König und buddhistischem Mönchsorden (Saṅgha)2 untersucht. Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen Kontinuitätskonstruktionen und Brüche, die mit Hilfe theoretischer Konzepte und Modelle wie dem „Drei-Dimensionen-Modell“, jenem Konzept „triadischer Herrschaftsstrukturen“, und in einer historisch-chronologischen Aufarbeitung präsentiert werden. Geleitet von einem Forschungsinteresse an Deutungsstrukturen und narrativen Strategien religionspolitischer Interdependenzen im südasiatischen Kulturraum, stehen im Vordergrund der Analysen Fragen nach den Deutungshoheiten im Konstruktionsprozess von Herrschaftskonzepten sowie deren narrative Muster.
Über die Feststellung hinausgehend, dass es narrative Strategien gibt, werden in der Arbeit ebendiese Narrative als eine Ordnungsstruktur institutioneller Mechanismen zur Stabilisierung und zur Behauptung von Dauer gesehen. Als Form zeitlicher Kontinuitätsherstellung betrachtet, kann nun die Referenz auf ein bestimmtes Muster historischer Narration als Versuch einer Konstruktion von Kontinuität angesehen werden.
Angeregt von Hayden WHITEs3 Abhandlungen zur Historiographie und losgelöst von der Säkularisierungsthese, die den Diskurs zum Verhältnis ←11 | 12→von Religion und Politik entscheidend geprägt hat, stellt die vorliegende Arbeit einen Versuch dar, entlang einer die Kapitel begleitenden Analyse des Forschungsstandes die Thematiken zu Buddhismus und Politik unter besonderem Augenmerk auf ihre Konstruktionen von Kontinuität buddhistischer Herrschaftskonzepte darzustellen. Hierbei sollen Eurozentrismen vermieden werden, die sich nach wie vor in zahlreichen Abhandlungen zu Buddhismus und Politik außereuropäischer Kulturen finden lassen. Diesem Festhalten an europäischen Deutungsstrukturen, die gerade die sozialen Felder Religion und Politik betreffen, und die weitgehend durch die Säkularisierungsthese bestimmt sind, werden diskurstheoretische, postkoloniale und globalgeschichtliche Ansätze entgegengestellt. Den Ansätzen entsprechend wird die Dynamik der Interdependenz besagter Felder als ständiger Aushandlungsprozess scheinbar konkurrierender lokalhistorischer, kolonialer und globaler Wissensbestände dargestellt.
Trotzdem wird formal zunächst zwischen Narrativen der vorkolonialen, kolonialen und postkolonialen Zeit unterschieden, um in jeweils einem eigenen Kapitel deren Geschichtskonstruktionen zu untersuchen und auf ihr jeweiliges Insistieren auf Brüchen oder Kontinuitäten abzutasten. Das dritte Kapitel hat dabei die Sonderstellung, den Übergang gerade in seiner institutionellen Dimension darzustellen, während das vierte Kapitel eher die Diskursebene der Akteure im Blick hat. Die Erkenntnisse dieser Kapitel werden schließlich im Fazit zusammengeführt und dort endgültig mit den Eingangsthesen konfrontiert.
1.1 Theoretische Überlegungen
1.1.1 Die Konstruktion von Geschichte: Hayden WHITE und die Narrativität der Historiographie
In seinen Werken hebt WHITE die Narrativität der Geschichtsschreibung hervor. In seinen Ausführungen zeigt er auf, wie Historiker selbst, im Prozess der Verschriftlichung historischer Ereignisse, diese in ein narratives System fassen und damit ein spezifisches Verständnis von Vergangenheit konstruieren. WHITE wirft damit Fragen zur Abbildung der Wirklichkeit in historiographischen Werken auf, indem er verdeutlicht, nach welchen Mustern im europäischen Raum Geschichte erzählt wird. Auch wenn die Faktizität von Historiographien im Anschluss an WHITE in Frage gestellt ←12 | 13→oder zumindest hinterfragt werden kann, so steht doch nicht die Wirksamkeit von Narration in der Produktion von Wahrheiten außer Frage. Eine der bedeutendsten Chroniken Sri Lankas aus dem 5./6. Jh. kann in der Folge als Komposition verstanden werden, in der ausgewählte historische Ereignisse in einem spezifischen Erzählrahmen zusammengeführt werden. Auf die Spezifika und Kontexte der Narrationen im Mahāvaṃsa wird ausführlicher im zweiten Kapitel eingegangen.
Geschichte als von Narrationen getragenes Konstrukt anzusehen, wirft die Frage nach eben diesen Narrationen auf. Was ist eine Narration? Der Begriff der Narrativität4 wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich weit gefasst und inflationär verwendet, was seine Bestimmung erschwert.
Erzählungen gehören zu unserem Alltag, sie sind „[…] the representation of an event or a series of events.“5 Sie strukturieren Wissen, koordinieren soziales Handeln und sind nahezu in jeder Form sozialer Interaktion zu finden. Wie Dirk JOHANNSEN6 ausführt, sind Narrationen nicht nur als eine Form der Wissensorganisation anzusehen, mit der die Funktion des Erzählens als Strukturierung von Wissen im Vordergrund steht. Vielmehr handelt es sich nach kognitiven und evolutionspsychologischen Ansätzen um eine Strategie, mit der Erfahrungen vermittelt und Zusammenhänge verstanden werden, d.h. wie sich Subjekte selbst und andere definieren. Kurzum, wir erzählen ständig und konstruieren damit anknüpfend an Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN7 unsere soziale Wirklichkeit. Nicht alles, was erzählt wird, hat jedoch Wirkungsmacht. Wie JOHANNSEN verdeutlicht, wird der Begriff der Narration in den Kulturwissenschaften ←13 | 14→mit seiner Verwendung insofern erweitert, als das er nunmehr auf jegliche schriftliche und mündliche Argumentationen verweist – im Gegensatz zu einer ‚klassischen‘ Narratologie8, die den Narrationsbegriff aus einem geschlossenen Textkorpus heraus entwickelt hat und sich vornehmlich mit Strukturen und Wirkmechanismen von Narrationen auseinandersetzt. Die Erweiterung des kulturwissenschaftlichen Begriffs ermöglicht es, Kultur insgesamt als Narration zu lesen und nach Metanarrativen bzw. „Meistererzählungen“9 in kulturellen (religiösen und politischen) Strömungen zu fragen.10 Die Frage nach der Struktur einer Narration beantwortet hiergegen die Narratologie mit einer Unterscheidung zwischen der chronologischen Abfolge (story) von Ereignissen und der Darstellung der Ereignisse (plot). In Folge dessen werden Erzählungen erst mit der Einbettung der Ereignisse in einen strategisch entwickelten Plot, der sich aus dem Verhältnis von Erzähler und Publikum ergibt, wirksam und real. In der Narratologie enthält demnach eine wirksame Erzählung immer auch neben einer Auswahl von Ereignissen eine Einleitung und einen übergeordneten Rahmen. Bei diesem Narrationsbegriff sind Erzählungen geprägt von der Erzählsituation und den Absichten des Erzählers. Dies bedeutet, dass die gleichen Ereignisse zu unterschiedlichen Erzählungen führen können.11 Eine Analyse der Narrationsstrukturen ist somit auch immer eng verbunden mit der Frage nach deren Absicht und Wirksamkeit. WHITE führt hier den Begriff des emplotments12 ein. Mit emplotment bezeichnet er den Sinn gebenden Prozess, eine ausgewählte Abfolge von historischen Ereignissen in eine Narration ←14 | 15→zu überführen, die einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende aufweist. Erst durch eine Narrativierung werden historische Ereignisse – die Vergangenheit – bedeutsam. WHITEs Fokus liegt dabei auf der rhetorischen Verfassung des Textes, denn Fakten können nicht für sich selbst stehen, sie müssen interpretiert und damit in eine Narration überführt werden. Die Interpretation der Fakten folgt bestimmten Genres und wird immer aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus unternommen.13 So sind Narrationen nicht nur eine dem Genre folgende, spezifische Aufarbeitung von vergangenen Fakten, sondern immer auch ein Spiegel der Gegenwart. In der Konsequenz ist Geschichtsschreibung nach WHITE ein poetischer Akt. In Metahistory unterscheidet er zwischen fünf Konzeptebenen im Prozess der Historisierung: „(1) chronicle; (2) story; (3) mode of emplotment; (4) mode of argument; (5) mode of ideological implications.“14 Damit stellt WHITE klar, dass die Narration von Ereignissen immer bestimmten ästhetischen, ethischen und politischen Kriterien unterliegt.15 Entscheidend für die Analyse des Mahāvaṃsa ist, aufzuzeigen, welche Metanarrative zu finden sind, welcher Struktur der Plot, in Whiteschen Sinn verstanden als kulturell relevantes Handlungsschema, unterliegt – der „mode of emplotment“ –, und welche Argumente und deren ideologische Implikationen sich finden lassen. Die Metanarrative des Mahāvaṃsa werden auf ihre Bedeutungszuschreibungen hin untersucht. Im Fokus des zweiten Kapitels stehen somit ←15 | 16→die großen Erzählungen, die so genannten Meistererzählungen und deren Konstruktion und Rezeption. Inwieweit es sich dabei um die Abbildung einer Realität handelt, spielt dabei für die vorliegende Arbeit keine Rolle. So weist JOHANNSEN darauf hin, dass mit der Analyse von Narrationen, deren „[…] spezifische Wirkungsmechanismen, Geltungsansprüche und textinterne Parameter, welche die Rezeption lenken […]“16 aufgezeigt werden können; diese Analyse allerdings „[…] nur bedingt zur normativen Einschätzung des Realitätscharakters und der Authentizität eines Textes innerhalb eines kulturellen Kontextes […]“17 beitragen kann. Die Wirksamkeit narrativer Texte liegt in deren Möglichkeit, Geltungsansprüche zu untermauern. Meine Darstellung der Metanarrative soll verdeutlichen, in welchen Kontexten diese konstruiert wurden und dabei eine Plotstruktur etablierten, in der die Erzählung vom Verhältnis von Religion und Politik bis heute eingebettet wird, sogar bisweilen keine andere Erzählstruktur zugelassen wird. Zur Festigung und Etablierung von Traditionen tragen Narrationen also entscheidend bei.
1.1.2 Tradition: Reflexionen zur Ambivalenz einer Begriffsgeschichte
Traditions are continually negotiated, and shifting. They can never be fully grasped, because individuals and groups are always adapting them to fit personal, historical, and cultural circumstances. They are the ever-shifting foundations upon which religious communities stand.18
Tradition ist nicht statisch oder unveränderlich, gar ursprünglich, sie wird aktiv und aktual konstruiert. Sie wird strategisch eingesetzt, schafft normative Autorität durch Traditionserfindung, indem Vergangenes im Rahmen gegenwärtiger Normen erdacht und dadurch konkurrierende Interpretationen mit der Autorität des Vergangenen konterkariert werden.
←16 | 17→Anlehnend an Kocku VON STUCKRAD, der dafür plädiert, Tradition nicht als etische Kategorie zu verwenden, da: „[f];rom a methodological point of view, it is not sufficient – or, to put it stronger: not possible – to neutrally describe ‚traditions.‘ “19 Und von daher argumentiert, dass „[…] scholars should apply it only with reference to its emic meaning and function.“20 Ich werde im Folgenden ausführen, warum Tradition als etische Kategorie problematisch ist und werde den Begriff „Tradition“ als eine interpretative Kategorie verwenden, mit der soziale, historische und oder religiöse Kontinuität behauptet und Brüche erklärt werden.
Steven ENGLER, der in seinem Artikel „Afterward: Tradition’s Legacy“ eine Unterscheidung trifft zwischen internen und externen Dynamiken von Traditionen, führt als interne Funktionen von Traditionen folgende an:
[…] narrating histories; maintaining perceived continuities in belief, practices and institutions; shaping personal and group identities and roles; structuring social boundaries and hierarchies; legitimizing normative standards; framing rich emotional experiences in the face of phenomena perceived as sacred; and linking these and other functions as a legacy for future generation.21
Die von ENGLER aufgezählten internen Funktionen religiöser Traditionen, unterliegen Aushandlungsprozessen, wie etwa Rituale, Glaubensvorstellungen oder religiöse Schriften, und können daher ebenso gegensätzlich oder im Konflikt stehende Elemente enthalten. Demnach sind Traditionen intern ebenso dynamisch wie auch inkohärent. Die Aufgabe von Traditionen ist, gerade eine Kohärenz, Kontinuität und letztlich Stabilität zu behaupten. Einen entscheidenden Beitrag dazu leisten Narrationen. Anknüpfend an meine Ausführungen zur Narrativität und Geschichtsschreibung soll hier vor allem „Tradition“ in ihrer Funktion als Lieferant für Narrationen und zur Aufrechterhaltung und Behauptung der Kontinuität von Glauben, Praktiken und Institutionen in den Blick genommen werden.
←17 | 18→Aufgrund der Vielfältigkeit in der Verwendung des Traditionsbegriffes ergibt sich die Notwendigkeit, diesen zunächst in seiner historischen Bedeutung und dessen Einordnung im Rahmen verschiedener Theorien zu betrachten. Die Vielfalt von Traditionsbegriffen ergibt sich allein schon aus seiner Einbettung in theoretische Zusammenhänge und historische Kontexte. So kann sich Tradition auf „[…] alle möglichen Formen von zeitlich zusammenhängenden geschichtlichen Zeugnissen, seien sie kultureller, sozialer, institutioneller, literarischer, künstlerischer, religiöser, politischer, ökonomischer oder technischer Art“22 beziehen. Oder, wie Aleida ASSMANN konstatiert, man spricht von Traditionen, wenn sich in der Retrospektive eine Kontinuität von Motiven, Ideen und Topoi ausmachen lässt.23
Etymologisch vom lateinischen Verb tradere – überliefern, übergeben – abgeleitet, bezeichnet es nach ASSMANN die „Weitergabe von Elementen der kulturellen Ausstattung in den Dimensionen des Handelns (Riten, Brauchtum), der Gedanken (Ideen, Lehren), der Gegenstände (Kunstwerke, Monumente) sowie der Texte (religiöse und literarische Überlieferung).“24 Substantiviert aus der lateinischen Rechtssprache kommend meint traditio die Übergabe einer Sache auf rechtlicher Grundlage. Der Wortgebrauch veränderte sich von einer gegenständlich gemeinten Übergabe hin zu einer Bedeutung von Überlieferung kultureller Symbole. Mit dem Begriff der Tradition wird demnach nicht nur auf den Inhalt, das Traditionsmaterial, auf das was tradiert wird, Bezug genommen, sondern auch der Prozess der Übermittlung, die Übergabe oder Rahmung der Überlieferung, mit einbezogen. Eine Unterscheidung trifft ASSMANN zwischen einem schwachen, auf die Vergangenheit zurückgerichteten, die Zusammenhänge erkennenden ←18 | 19→Traditionsbegriff und einem starken, normativen, der vorausschauend Kontinuität herzustellen versucht.25
Im Traditionsbegriff klingen auch immer Gesellschaftsentwicklungen an, die den Begriff bestimmen und bewerten. So trat beispielsweise mit Beginn der Moderne eine Gegenüberstellung von traditionellen und modernen Gesellschaften auf, in der „Tradition“ als Gegenbegriff oder Opposition zu eben dieser Moderne verwendet wurde und damit dessen Bedeutung als antagonistische Relation auch zu anderen Kontexten untermauert. Innovationsabträglich und rückwärtsgerichtet wird Tradition als Gegenmodell einer Moderne entworfen, die aus der aufklärerischen Traditionskritik kommend, ersterer Vernunft und Rationalität habitualisierter Handlungsmuster abspricht. Im Rahmen postmoderner Konzepte erfährt der Traditionsbegriff eine vornehmlich deskriptive Bedeutung. Nicht mehr Wahrheiten, Ursprünge und deren Vermittlung in die Gegenwart oder deren Transformationsprozesse stehen im Vordergrund, sondern, geleitet von der Analyse der Machtinteressen, wird der rein konstruierte Charakter von Tradition angenommen.26
Gregory P. GRIEVE und Richard WEISS stellen aus Sicht der Religionswissenschaft in ihrer Einleitung zum Sammelband Historicizing ‚Tradition‘ Fragen nach der aktiven Konstruktion von Tradition und den Auswirkungen einer unkritischen Nutzung dieser Kategorie. Sie konstatieren, dass die Religionswissenschaft „[…] rarely interrogated tradition as a distinct feature of religious activity“27 und stellen die Frage, warum die Religionswissenschaft Schwierigkeiten hat sich dem Konzept anzunehmen. Sie gehen von der Grundannahme aus, dass religiöse Traditionen soziale Entwürfe sind, die konstruiert werden, um ideologische Absichten zu unterstützen. Zum anderen gehen sie davon aus, dass die wissenschaftliche Analyse von Traditionen an sich ideologisch geleitet sei, so muss nicht nur Tradition an ←19 | 20→sich historisiert werden, sondern auch traditionelle Historiographie problematisiert werden. Ihre Auffassung von Tradition ist dynamisch, eine Verbindung mit der Vergangenheit wird hergestellt. Diese Dynamik spiegelt sich zum einen in der Dauer von Tradition wider. Sie werden nicht statisch und unverändert von Generation zu Generation weitergegeben, sondern unterliegen einem Wandel hinsichtlich ihres eigentlichen Inhaltes und ihrer Interpretation. Zum anderen müssen sie immer in den jeweils gegenwärtigen historischen Kontext eingebettet werden und werden dadurch auf diese zweifache Weise verändert. Der Band will mit Fallbeispielen aus verschiedenen Epochen und Kulturen aufzeigen, wie auf Tradition rekurriert wurde und zugleich eine neue Definition entwerfen, losgelöst von Dichotomien. Tradition als zeitlos und unveränderlich zu begreifen, impliziert die Annahme, dass alles Traditionelle passiv sei und einer dynamischen westlichen Moderne, durch steten Wandel geprägt, gegenüberstehe. Mit dieser Annahme möchte der Sammelband aufräumen, indem der Frage nachgegangen wird, wie Tradition aktiv konstruiert, anstatt passiv empfangen wird. Was mit den Beiträgen gezeigt werden soll, ist, dass: „[…] tradition can be analyzed as a strategic tool of cultural critique.“28 ENGLER konstatiert zudem, dass man sich dem Begriff Tradition am besten durch seine Relation zu anderen Konzepten und Ideen sowie seiner Wirkung in historischen und sozialen Umgebungen nähert.29
Petra GÖTTE arbeitet im Zuge ihrer Überlegungen zu einer reflektierten Neubestimmung des Begriffs „Tradition“, den sie durch benachbarte Begriffe wie Kultur und Gedächtnis in der Forschung zu Erinnerungsprozessen weitgehend abgelöst sieht, drei Verwendungsweisen des Traditionsbegriffs heraus: (1) zur Klärung normativer Fragen, (2) als Gegenbegriff zu Rationalität und (3) die Unterscheidung von erfundenen und echten Traditionen.30 Normative Fragen werden durch Fragen nach einem richtigen ←20 | 21→Gegenstand von Tradition und dessen Weitergabe sichtbar. Dies impliziert die Annahme eines gleichbleibenden, wahren Kerns einer Tradition, der Wahrheiten aus der Vergangenheit bewahrt und in die Gegenwart transferiert. Weitere normative Fragen betreffen den Umgang mit Traditionen und einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit ihnen, was letztlich wiederum Fragen nach richtigen Inhalten und richtigem Umgang mit Traditionen zu beantworten sucht. Als Gegenbegriff zu Rationalität bezieht sich GÖTTE auf Max WEBER und dessen vier idealtypischen Handlungstypen, in denen rationales Verhalten als reflektiertes, einem traditionellen und eher Automatismen unterliegendem Handeln gegenübergestellt wird. In diesem Kontext wird Tradition als Wiederholung oder als unbewusster Mechanismus gedacht und ihr Rationalität abgesprochen. Tradition schaffe eigene Lebenswelten, eigene Wahrheiten und Erklärungsmodelle, die zur Immunisierung gegenüber Kritik entwickelt werden, da Reflexion unweigerlich zur Auflösung der Tradition führen würde. Unter der dritten Kategorie der Verwendungsweisen des Traditionsbegriffes fasst GÖTTE die Unterscheidung zwischen authentischer und erfundener Tradition. Diese Verwendungsweise verweist auf den konstruierten Charakter von Traditionen und richtet den Fokus in der Forschung auf Prozesse der Sinnkonstruktion.31
Aus den von GÖTTE ausgeführten Tradierungspraxen soll nun die Unterscheidung zwischen „erfundener“ und „authentischer“ Tradition aufgegriffen werden, um den Begriff der erfundenen Tradition weiter zu erläutern, da mein Traditionsbegriff auf diesem aufbaut. Seit Eric HOBSBAWMs und Terence RANGERs The Invention of Tradition32 von 1983 werden Traditionen nicht mehr als authentisch und statisch betrachtet, sondern deren Konstruktionscharakter veranschaulicht. Traditionen sind ←21 | 22→hier gesellschaftliche Legitimationen der in die Vergangenheit projizierten rituellen und symbolischen Praktiken der Gegenwart.
‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past.33
Details
- Seiten
- 256
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631803790
- ISBN (ePUB)
- 9783631803806
- ISBN (MOBI)
- 9783631803813
- ISBN (Paperback)
- 9783631803783
- DOI
- 10.3726/b16221
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Oktober)
- Schlagworte
- Mönchspartei Herrschaftskonzepte Kolonialzeit Politische Mönche Verfassungen Regierungspolitik Konflikt Säkularisierung
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 256 S.