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Über die Wandlungsfähigkeit des Grundgesetzes am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare

von Franziska Kramer (Autor:in)
©2017 Dissertation 294 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht die Wandlungsfähigkeit des Grundgesetzes anhand des Phänomens des Verfassungswandels. Dieser Begriff beschreibt die Änderung einer Verfassungsnorm ohne Textänderung. Der Begriff des Verfassungswandels wird in der Staatsrechtslehre seit der Existenz von Verfassungen auf deutschem Staatsgebiet diskutiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die dogmatischen Grundlagen, Ausprägungen und Grenzen des Verfassungswandels unter Geltung des Grundgesetzes als rigider Verfassung. Grenzen dieser Wandlungsfähigkeit ergeben sich dabei vor allem im Hinblick auf die derzeit in Öffentlichkeit und Rechtslehre vieldiskutierte Frage nach der Zulässigkeit der einfachgesetzlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ohne vorherige Änderung von Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Problemstellung
  • II. Stand der Forschung
  • III. Gang der Untersuchung
  • 1. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grundlagen
  • A. Entstehung moderner Verfassungen
  • B. Die Verfassungen der deutschen Geschichte bis 1949
  • I. Reichsverfassung des Deutschen Kaiserreichs von 1871
  • II. Weimarer Reichsverfassung
  • 1. Wesentlicher Inhalt der Weimarer Reichsverfassung
  • 2. Geltung und Rang der Weimarer Reichsverfassung
  • a) Geltung und Rang im Vergleich zur Reichsverfassung von 1871
  • b) Die Zulässigkeit von Verfassungsdurchbrechungen
  • c) Die Zulässigkeit von Verfassungsänderungen jeglichen Inhalts
  • 3. Bindungskraft der Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung
  • 4. Weitere Entwicklung der Weimarer Republik
  • C. Inhalt und Rang des Grundgesetzes
  • I. Wesentlicher Inhalt des Grundgesetzes
  • II. Stellenwert des Grundgesetzes
  • D. Entwicklung des Grundgesetzes seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1949
  • I. Grundgesetzänderungen
  • II. Grundgesetzentwicklung außerhalb der Textänderung
  • E. Verfassungsentwicklung durch Verfassungswandel
  • I. Herkunft des Begriffs Verfassungswandel
  • 1. Entstehung durch Laband
  • 2. Weiterentwicklung durch Jellinek
  • 3. Dogmatisierung durch Dau-Lin
  • 4. Zusammenfassung und Bewertung
  • II. Heutiges Verständnis des Verfassungswandels und sein Vorkommen im Verfassungsrecht
  • 1. Zu den Regeln juristischer Hermeneutik
  • a) Klassische Auslegungsmethode nach Savigny
  • b) Auslegungsmethoden der heutigen Staatsrechtslehre
  • c) Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung nach Cremer
  • d) Methodik des BVerfG?
  • e) Abwägung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden im Hinblick auf die Untersuchung des Verfassungswandels
  • 2. Verfassungswandel und Verfassungskonkretisierung
  • 3. Verfassungswandel und Obsolet-Werden von Verfassungsnormen
  • 4. Verfassungswandel und ungeschriebenes Verfassungsrecht
  • 5. Verfassungswandel und Verfassungsgewohnheitsrecht
  • III. Beispiele für gewandelte Teile des Grundgesetzes
  • IV. Grundgesetzlich vorgegebene Grenzen des Verfassungswandels
  • 1. Der Normtext
  • 2. Der Kerngehalt von Verfassungsnormen
  • 3. Art. 79 Abs. 3 GG
  • 4. Zeitliches Moment – Verfassungskontinuität
  • V. Verfahren und Akteure des Verfassungswandels
  • 1. BVerfG
  • 2. Einfacher und verfassungsändernder Gesetzgeber
  • 3. Gesellschaftliche Anschauungen und Gruppierungen
  • 4. Europäische Akteure
  • a) EuGH
  • b) EGMR
  • c) Ursachen von Verfassungswandlungen
  • F. Ergebnis
  • 2. Kapitel: Die Entwicklung der Rechtsstellung Homosexueller und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften
  • A. Begriff der Homosexualität
  • B. Historischer Abriss
  • I. Antike
  • II. Ausbreitung des Christentums
  • III. Mittelalter
  • IV. Aufklärung
  • V. Deutsches Kaiserreich
  • VI. Weimarer Republik
  • VII. Nationalsozialismus
  • VIII. Zusammenfassung
  • C. Rechtsstellung unter dem Grundgesetz
  • I. Weitergeltung des § 175
  • 1. Übernahme des § 175 in das Strafgesetzbuch der BRD
  • 2. Das Urteil des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 175 StGB
  • 3. Gescheiterte Reformentwürfe der 1960er Jahre
  • II. Sukzessiver Abbau der Strafbarkeit und zunehmende Toleranz
  • III. Das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft
  • IV. Zunehmende Annäherung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe
  • 1. Das Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts
  • 2. Durch die Rechtsprechung initiierte Anpassungen
  • 3. Weiterhin bestehende Unterschiede zur Ehe
  • V. Zwischenfazit
  • 3. Kapitel: Der verfassungsrechtliche Schutz Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften im Wandel
  • A. Schutz über Art. 6 Abs. 1 GG
  • I. Die eingetragene Lebenspartnerschaft als Ehe?
  • 1. Derzeitiger Schutzstand
  • 2. Möglichkeit eines künftigen Verfassungswandels
  • a) Normtext
  • b) Art. 79 Abs. 3 GG
  • c) Kerngehalt von Art. 6 Abs. 1 GG
  • 3. Ergebnis
  • II. Eingetragene Lebenspartnerschaften und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kind als Familie
  • 1. Derzeitiger Schutzstand
  • a) Definition der Familie
  • b) Eingetragene Lebenspartnerschaften mit Kind
  • c) Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kind
  • d) Ergebnis
  • 2. Stand bei Inkrafttreten des Grundgesetzes
  • 3. Vorliegen eines Verfassungswandels
  • III. Ergebnis
  • B. Schutz über Art. 2 Abs. 1 GG
  • I. Derzeitiger Schutzstand
  • 1. Grundrechtstatbestand
  • 2. Grundrechtsschranken
  • a) Einschränkbarkeit von Art. 2 Abs. 1 GG durch das Sittengesetz
  • b) Einschränkbarkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • c) Die sexuelle Orientierung als Teil der Intimsphäre im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • 3. Ergebnis
  • II. Stand bei Inkrafttreten des Grundgesetzes
  • 1. Grundrechtstatbestand
  • 2. Grundrechtsschranken
  • 3. Ergebnis
  • III. Vorliegen eines Verfassungswandels
  • C. Schutz über Art. 3 Abs. 1 und 3 GG
  • I. Derzeitiger Schutzstand
  • 1. Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 GG
  • 2. Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG
  • 3. Grundrechtsschranken
  • a) Rechtfertigungsanforderungen des BVerfG
  • b) Mögliche Rechtfertigungsgründe
  • aa) Ungleichbehandlung Homosexueller
  • bb) Ungleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften
  • cc) Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften
  • i. Art. 6 Abs. 1 GG als Rechtfertigungsgrund
  • ii. Die Förderung potenzieller Familien als Rechtfertigungsgrund
  • iii. Das Kindeswohl als Rechtfertigungsgrund
  • 4. Ergebnis
  • II. Stand bei Inkrafttreten des Grundgesetzes
  • 1. Schutzbereich
  • 2. Verfassungsmäßige Rechtfertigung
  • 3. Ergebnis
  • III. Vorliegen eines Verfassungswandels
  • D. Exkurs: Schutz über EMRK und EU-Grundrechtecharta
  • I. EMRK
  • 1. Schutz über Art. 12 EMRK
  • 2. Schutz über Art. 8 Abs. 1 EMRK
  • 3. Schutz über Art. 14 EMRK
  • II. EU-Grundrechtecharta
  • 1. Schutz über Art. 9 GRCh
  • 2. Schutz über Art. 7 GRCh
  • 3. Schutz über Art. 33 GRCh
  • 4. Schutz über Art. 21 Abs. 1 GRCh
  • III. Ergebnis
  • 4. Kapitel: Ergebnisse und Ausblick
  • A. Ergebnisse
  • I. Verfassungsrechtliche Grundlagen
  • II. Die Entwicklung der Rechtsstellung der untersuchten Personengruppen
  • III. Der verfassungsrechtliche Schutz der untersuchten Personengruppen
  • 1. Art. 6 Abs. 1 GG
  • 2. Art. 2 Abs. 1 GG
  • 3. Art. 3 GG
  • B. Schlussfolgerungen
  • C. Ausblick
  • 5. Kapitel: Vorschläge zur Absicherung des derzeitigen verfassungsrechtlichen Schutzes Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften
  • A. Verfassungsrechtliche Notwendigkeit zur Änderung des Grundgesetzes
  • B. Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes
  • I. Aufnahme des Diskriminierungsmerkmals „sexuelle Orientierung“ in Art. 3 Abs. 3 GG
  • II. Aufnahme gleichgeschlechtlicher Paare in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

← XIV | XV →

Abkürzungsverzeichnis

← XVIII | 1 →

Einleitung

Am 10.05.1957 hat das BVerfG entschieden, dass die Strafbarkeit männlicher Homosexualität nach § 175 f. StGB a.F. verfassungsgemäß sei, da die „gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen das Sittengesetz [verstößt]“.1 Am 17.07.2002 hingegen hat es entschieden, dass das am 01.08.2001 in Kraft getretene Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften (LPartDisBG), mit dem für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ein Institut geschaffen wurde, dass es diesen ermöglicht, eine der Ehe ähnliche rechtliche Bindung einzugehen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.2 Zur Begründung der materiellen Verfassungsmäßigkeit hat das BVerfG insbesondere angeführt, dass das neue Institut nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoße, weil aus der Norm kein Abstandsgebot der Ehe zu anderen, vergleichbar ausgestalteten Partnerschaftsformen folge und dieser keine Einbußen durch ein Institut drohen würden, das sich an einen anderen Personenkreis wende.3 Ein möglicher Verstoß der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft gegen das Sittengesetz wurde in dem Urteil an keiner Stelle mehr erwähnt.

In der Folgezeit hat das BVerfG sukzessive die anfangs bestehenden Ungleichbehandlungen zwischen der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft für verfassungswidrig – weil gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verstoßend – erklärt.4 Zur Begründung führte es jeweils an, dass die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine Benachteiligung anderer Lebensformen nicht rechtfertige, wenn diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar seien. Mit Urteil vom 19.02.2013 hat das BVerfG die gleichgeschlechtliche Partnerschaft, in der Kinder leben, sogar als nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie anerkannt,5 so dass inzwischen lediglich im Bereich der gemeinschaftlichen Fremdadoption noch eine Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe vorliegt. ← 1 | 2 →

I.  Problemstellung

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie ein solcher Wandel in der Rechtsprechung des BVerfG, von der verfassungsrechtlichen Bestätigung der Strafbarkeit (männlicher) homosexueller Betätigung hin zur Anerkennung eines eigenen Rechtsinstituts für homosexuelle Paare unter Ablehnung eines Abstandsgebots zur Ehe unter Geltung desselben Grundgesetzes – mit in diesem Bereich unveränderten Grundrechtsgarantien – vonstattengehen konnte.

Im Umgang mit der Homosexualität hat sich in den letzten Jahrzehnten ein gewaltiger gesellschaftlicher Wandel vollzogen. Während noch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Unsittlichkeit und krankhafte Andersartigkeit homosexueller Betätigung gesellschaftlicher Konsens war, änderte sich dieses Bild in Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Kontakte zwischen erwachsenen Männern im Jahr 1969 zunehmend im Rahmen allgemeiner sexueller Liberalisierungstendenzen. Im Jahr 1994 wurde schließlich mit Aufhebung des noch bestehenden Rumpfs von § 175 StGB a.F., der seit seiner Änderung im Jahr 1969 nur qualifizierte homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, jeglicher Homosexualitätsbezug aus dem Strafrecht gestrichen. Seit dem Jahr 1992 taucht die Homosexualität auch nicht mehr im Krankheitskatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf. Damit hat die Homosexualität ihre Einstufung als Krankheit bzw. behandelbare psychische Störung verloren und wird inzwischen im Allgemeinen als angeborene oder zumindest bereits im Frühkindesalter festgelegte sexuelle Ausrichtung – gleichwertig zur heterosexuellen Ausrichtung – anerkannt.

Es stellt sich daher die Frage, inwieweit diese Änderungen im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu der eingangs beschriebenen Rechtsprechungsänderung des BVerfG beigetragen haben und wie es möglich sein konnte, dass das BVerfG den grundgesetzlichen Garantien ohne textliche Änderung im Hinblick auf die Rechtsstellung Homosexueller und gleichgeschlechtlicher Paare heutzutage eine derart abweichende Bedeutung entnimmt.

In der juristischen Literatur wird die Möglichkeit der Veränderung des normativen Gehalts der Verfassung ohne Änderung ihres Wortlauts unter dem Begriff des Verfassungswandels diskutiert. Die Möglichkeit einer solchen Wandlung der Verfassung ohne Textänderung wird überwiegend anerkannt, wenn auch in unterschiedlicher Reichweite und mit teils abweichender Begriffsbestimmung. Auch das BVerfG geht von der Möglichkeit eines „Bedeutungswandels“ innerhalb der Verfassungsnormen aus.6

Im Rahmen dieser Arbeit soll daher untersucht werden, ob sich im Hinblick auf die Rechtsstellung Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften unter dem Grundgesetz über die Zeit ein Verfassungswandel vollzogen hat, welche grundrechtlichen Gewährleistungen ← 2 | 3 → hiervon betroffen sind und ob in Zukunft mit weiteren Wandlungen der Verfassung in diesem Bereich zu rechnen ist.

II.  Stand der Forschung

Neben einer ganzen Bandbreite von Autoren, die sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes mit dem Verfassungswandel im Allgemeinen auseinandergesetzt haben,7 gibt es auch einige Autoren, die sich speziell mit der Frage nach einem Verfassungswandel im Bereich des Ehe- und Familienrechts beschäftigt haben,8 da dieses seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wohl den umfangreichsten gesellschaftlichen und gesetzgeberischen Änderungen unterzogen war, ohne dass die Verfassung ausdrücklich an diese Veränderungen angepasst worden wäre. Insbesondere nach der Staatsrechtslehrertagung im Jahr 1986, die das Thema „Verfassungsgarantie und sozialer Wandel – Das Beispiel von Ehe und Familie“ gewählt hatte, wurde diese Frage in der Literatur verstärkt behandelt.9

Die Frage nach einem Verfassungswandel im Rahmen des verfassungsrechtlichen Schutzes Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften mit und ohne Kinder hingegen wird – soweit ersichtlich – lediglich beiläufig von einzelnen Autoren ohne vertiefte Beschäftigung mit den dogmatischen Grundlagen und der möglichen Reichweite eines solchen Verfassungswandels behandelt.10 Daher erscheint eine umfassende Aufarbeitung der Thematik erforderlich, um die bestehende Forschungslücke zu schließen.

III.  Gang der Untersuchung

Im ersten Teil dieser Arbeit stehen die verfassungsrechtlichen Grundlagen, die für die im weiteren Verlauf durchzuführende Untersuchung der verfassungsrechtlichen Stellung Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften wesentlich sind – insbesondere die Herkunft und die Bedeutung des Begriffs des Verfassungswandels – im Fokus. Dieser Begriff, der bereits unter Geltung der Reichsverfassung des Deutschen Kaiserreichs von 1871 ← 3 | 4 → entstanden ist, enthielt zwar bereits damals den noch heute gültigen Bedeutungskern der Änderung einer Verfassungsnorm ohne Textänderung, er beschrieb aber wesentlich andere Phänomene der Abweichung vom Verfassungstext als dies heutzutage der Fall ist. Daher sollen diese Unterschiede in einem ersten Schritt herausgearbeitet werden, bevor der Begriff für die heutige Zeit definiert und von anderen Arten der Konkretisierung und Fortbildung der Verfassung abgegrenzt wird. Die auf diese Weise bestimmten Voraussetzungen, Akteure, Verfahren und Grenzen eines Verfassungswandels bilden die Grundlage für den weiteren Gang der Untersuchung.

Um die verfassungsrechtliche Stellung Homosexueller, gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Lebenspartnerschaften heutzutage und in früheren Zeiten bestimmen zu können, bedarf es des Weiteren einiger historischer Hintergründe. Daher werden im zweiten Teil dieser Arbeit im Rahmen einer rechtshistorischen Betrachtung die Rechtstellung der zu untersuchenden Personengruppen in vergangenen Zeiten sowie deren soziologische Ursachen dargestellt. Um einen umfassenden Einblick in die enormen Veränderungen, die sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren in diesem Bereich ergeben haben, zu erlangen und um diese Veränderungen in ihrer gesamten Bedeutung begreifen zu können, soll dafür nicht nur die Rechtsstellung dieser Personengruppen seit Inkrafttreten des Grundgesetzes beleuchtet werden, sondern auch deren Rechtsstellung in den vorangegangenen Jahrhunderten.

Der durch diese Darstellung geschaffene Überblick über die Entwicklungen, die sich im Rahmen der Rechtsstellung Homosexueller und gleichgeschlechtlicher Paare über die Jahrhunderte und Jahrzehnte ergeben haben, sowie deren historische, religiöse, gesellschaftliche, (euro-)politische und rechtliche Grundlagen, kann dann als Grundlage für die im dritten Teil dieser Arbeit durchzuführende Prüfung verwendet werden.

In diesem, sich anschließenden dritten Teil wird die verfassungsrechtliche Stellung der zu untersuchenden Personengruppen umfassend unter allen möglichen, für deren verfassungsrechtlichen Schutz maßgeblichen Grundrechtsgarantien untersucht. Dabei wird zunächst der inzwischen erreichte Schutzstand herausgearbeitet, bevor dieser unter dem Blickwinkel des Verfassungswandels mit der Stellung dieser Personengruppen in den Anfangszeiten des Grundgesetzes verglichen wird. Daneben sollen auch in diesem Bereich in Zukunft noch mögliche Verfassungswandlungen – und deren Grenzen – beleuchtet sowie die Bedeutung der Grundrechtsgarantien auf europäischer Ebene und der europäischen Gerichtsbarkeit für das Entwicklungspotential des Grundgesetzes dargestellt werden.

Nach einer im vierten Teil dieser Arbeit vorzunehmenden Zusammenfassung und Bewertung der gefundenen Ergebnisse, werden diese dann in einem letzten Teil einer rechtspolitischen Beurteilung im Rahmen der Frage unterzogen, inwieweit der festgestellte, heutige verfassungsrechtliche Schutzstand der untersuchten Personengruppen einer ausdrücklichen Festschreibung in der Verfassung bedarf, um vor gegenteiligen Entwicklungen in der Zukunft geschützt zu sein. Als Abschluss dieser Arbeit werden dann die zur Festschreibung dieses Schutzes vorgeschlagenen Änderungen des Grundgesetzes dargestellt.


1 BVerfG vom 10.5.1957 – 1 BvR 550/52 Rn. 167, BVerfGE 6, 389, 433.

2 BVerfG vom 17.7.2002 – 1 BvF 1/01,1 BvF 2/01, BVerfGE 105, 313.

3 Ebd., Rn. 94, 101, BVerfGE 105, 313, 347.

4 So zum Beispiel in: BVerfG vom 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 zur Hinterbliebenenversorgung; BVerfG vom BVerfG vom 21.7.2010 – 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07, BVerfGE 126, 400 zum Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht; BVerfG vom 19.6.2012 – 2 BvR 1397/09, BVerfGE 131, 239 zum Familienzuschlag; BVerfG vom 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07, BVerfGE 133, 377 zum Ehegattensplitting.

5 BVerfG vom 19.2.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09, BVerfGE 133, 59.

6 Erstmals BVerfG vom 1.07.1953 – 1 BvL 23/51 Rn 73, BVerfGE 2, 380, 401.

7 Hierzu ausführlich: 1. Kapitel, E. II. 2. Verfassungswandel und Verfassungskonkretisierung.

Details

Seiten
294
Erscheinungsjahr
2017
ISBN (PDF)
9783631737590
ISBN (ePUB)
9783631737606
ISBN (MOBI)
9783631737613
ISBN (Hardcover)
9783631737583
DOI
10.3726/b12301
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. XVIII, 294 S.

Biographische Angaben

Franziska Kramer (Autor:in)

Franziska Kramer studierte Rechtwissenschaften an der Universität Mannheim und schloss ihr Studium mit ihrer Promotion ab. Sie ist als Rechtsanwältin bei einer renommierten deutschstämmigen Kanzlei im Bereich Restrukturierung, Banking & Finance und Immobilienwirtschaftsrecht tätig.

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