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Theologie und Antisemitismus

Das Beispiel Martin Luthers

von Andreas Pangritz (Autor:in)
©2017 Monographie 570 Seiten

Zusammenfassung

Martin Luthers Judenfeindschaft ist berüchtigt. Ihr Zusammenhang mit zentralen Themen seiner Theologie ist jedoch umstritten. Die Antisemitismusforschung wiederum hat sich bisher nur wenig für theologische Wurzeln der Judenfeindschaft interessiert. Die Untersuchung führt beide Perspektiven zusammen:
Luthers Schrift «Von den Juden und ihren Lügen» (1543) wird nicht nur im Blick auf die darin zum Ausdruck kommende Judenfeindschaft analysiert, sondern auch auf ihren theologischen Gehalt hin befragt. Dadurch verschärft sich das Problem: Der Antisemitismus ist im Zentrum der Theologie des Reformators verankert, in der Christologie und in der Rechtfertigungslehre. Diese Erkenntnis führt zu einer Sicht auf Luthers Theologie, in der diese selbst zum Problem wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I) Einleitung
  • 1. Zur Aktualität der Fragestellung
  • 2. Von Luther zu Hitler?
  • 3. Leitfragen und Gliederung
  • II) Das Thema ‚Luther und die Juden‘ in der Forschung. Ein Panorama
  • 1. Der Pionier: Reinhold Lewin (1911)
  • 2. Der umkämpfte Weg in die Katastrophe der NS-Zeit
  • Ferdinand Cohrs (1928)
  • Eduard Lamparter (1928)
  • Walter Holsten (1932 und 1936)
  • Theodor Pauls (1939)
  • Herbert Hug (1942)
  • 3. Im Zeichen von Restauration und Neuanfang
  • Albrecht Oepke (1947/1950)
  • Ernst Wolf (1951)
  • Wilhelm Maurer (1953)
  • Karl Kupisch (1953/1960)
  • Léon Poliakov (1955)
  • 4. Kritische Neuaufbrüche
  • Martin Stöhr (1960/1961)
  • Aarne Siirala (1964)
  • Eleonore Sterling (1966)
  • Kurt Meier (1967/68)
  • 5. Erste Bilanz und kritische Vertiefung
  • Johannes Brosseder (1972)
  • Peter Maser (1973)
  • 6. Im Zeichen der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden
  • Klaus Deppermann (1981)
  • Heiko A. Oberman (1981 und 1983)
  • Leonore Siegele-Wenschkewitz (1985)
  • Bertold Klappert (1985)
  • Ernst Ludwig Ehrlich (1985)
  • 7. Mit Luther gegen Luther: Martin Brecht (1987)
  • 8. Konzentration auf Luthers Bibelhermeneutik und -exegese
  • Volker Stolle (2000)
  • Peter von der Osten-Sacken (2002)
  • 9. Konzentration auf Luthers Spätschriften
  • René Süss (2005/2006)
  • Hans-Martin Kirn (2005 und 2010)
  • Anselm Schubert (2010)
  • 10. Zum aktuellen Stand der theologischen Forschung
  • Thomas Kaufmann (2011 und 2014)
  • Dorothea Wendebourg (2015)
  • 11. Neuere außertheologische Perspektiven
  • Dietz Bering (2014)
  • Norbert Mecklenburg (2015)
  • Micha Brumlik (2015)
  • Matthias Morgenstern (2016)
  • 12. Zwischenbilanz
  • III) Martin Luthers Rechtfertigungslehre und ihre Probleme
  • 1. Zu Luthers Rechtfertigungslehre
  • 1.1. Von den guten Werken (1520)
  • 1.2. Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520)
  • 2. Antijudaistische Strukturen der Rechtfertigungslehre
  • 2.1. Altes und Neues Testament
  • 2.2. Der Mensch zwischen Gott und Teufel
  • 2.3. Gesetz und Evangelium
  • 2.4. Die reformatorischen Exklusivpartikel
  • 2.5. Lutherische Bekenntnisschriften
  • 3. Zwischenbilanz
  • IV) Antisemitismus bei Martin Luther?
  • 1. Zum Begriff ‚Antisemitismus‘
  • 2. ‚Antisemitismus‘ oder ‚Antijudaismus‘?
  • 3. Christlicher Antisemitismus
  • 4. Antisemitismus bei Luther
  • V) Martin Luthers Lügen über die Juden
  • 1. Frühphase: Traditioneller Antijudaismus
  • 1.1. Die Dictata super Psalterium (1513–1515)
  • 1.2. Ein Brief an Georg Spalatin (1514)
  • 1.3. Die Vorlesung über den Römerbrief (1515/16)
  • 1.4. Der Kommentar zum Galaterbrief (1519)
  • 1.5. Die Operationes in Psalmos (1519–1521)
  • 1.6. Zwischenbilanz
  • 2. Intermezzo: Evangelisch-missionarische Hoffnung
  • 2.1. Die Magnifikat-Auslegung (1521)
  • 2.2. Vom ehelichen Leben (1522)
  • 2.3. Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (Mai 1523)
  • 2.4. Das Schreiben an Bernhard Gibbignensis (1523)
  • 2.5. Zwischenbilanz
  • 3. Verschärfung: Antijüdische Zuspitzung der reformatorischen Theologie
  • 3.1. Wider die himmlischen Propheten (1525)
  • 3.2. Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken (1527)
  • 3.3. Die Begegnung mit drei jüdischen Gelehrten
  • 3.4. Vier tröstliche Psalmen an die Königin zu Ungarn (1526)
  • 3.5. Die Galaterbrief-Vorlesung (1531/35)
  • 3.6. Zwischenbilanz
  • 4. Spätphase: Evangelischer Antisemitismus
  • 4.1. Die Zurückweisung Josels von Rosheim (1537)
  • 4.2. Der Brief Wider die Sabbather (1538)
  • 4.3. Zur Genesis-Vorlesung (1535–1545)
  • 4.4. Von den Juden und ihren Lügen (1543)
  • 4.4.1. Zu Komposition und Inhalt
  • 4.4.2. Zur Einleitung
  • 4.4.3. Zum ersten Kapitel: Lügen gegen die Lehre oder den Glauben
  • 4.4.4. Zum zweiten Kapitel: Gegen die Messiaserwartung der Juden
  • 4.4.5. Zum dritten Kapitel: Lügen gegen die Personen
  • 4.4.6. Zum vierten Kapitel: Was tun?
  • 4.4.7. Zum Schluss
  • 4.5. Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (1543)
  • 4.5.1. Zur Einleitung und zu Luthers Übersetzung der „Victoria“ des Porchetus
  • 4.5.2. Zum ersten Hauptteil: Vom Schem hamphoras
  • 4.5.3. Zum zweiten Hauptteil: Vom Geschlecht Christi
  • 4.6. Von den letzten Worten Davids (1543)
  • 4.7. Rückblick auf die antisemitische Trilogie des Jahres 1543
  • 4.8. Die Vermahnung wider die Juden (1546) als „theologisches Testament“
  • VI) Antijudaistische Geschichtstheologie in der Wittenberger Reformation
  • 1. Luthers Predigt von der Zerstörung Jerusalems
  • 2. Johannes Bugenhagens Historie von der Zerstörung Jerusalems und der Juden
  • 3. Zwischenbilanz
  • VII) Jüdische Reaktionen auf Martin Luther und die Wittenberger Reformation
  • 1. Zeitgenössische jüdische Reaktionen auf Luther und die Reformation
  • 2. Jüdische Stellungnahmen zu Luther seit dem 19. Jahrhundert
  • VIII) Luther-Apologetik – und kein Ende?
  • 1. „Schlechte Erfahrungen“ mit Juden?
  • 2. Zurücknahme des Vorwurfs vom Christusmord?
  • 3. Dietrich Bonhoeffers Ahnungslosigkeit?
  • 4. „Mit Luther gegen Luther“?
  • 5. Zwischenbilanz
  • IX) Rückblick: Zur Dialektik der Reformation
  • 1. Rechtfertigungslehre und Antisemitismus bei Martin Luther
  • 2. Unter der Suggestion des Antithetischen
  • 3. Thesen: Rechtfertigung – sic et non
  • X) Ausblick: Rechtfertigungslehre ohne Antijudaismus?
  • 1. Alternativen in der theologischen Tradition?
  • 1.1. Zur katholischen Rechtfertigungslehre
  • 1.2. Alternativen bei lutherischen Reformatoren
  • 1.3. Alternativen bei reformierten Reformatoren
  • 2. Alternative Perspektiven auf Paulus
  • 3. Rechtfertigung in alttestamentlicher und jüdischer Perspektive
  • 4. Alternativen in der neueren evangelischen Theologie
  • Literaturverzeichnis
  • Personenregister

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I)  Einleitung

1.  Zur Aktualität der Fragestellung

Wozu noch ein neues Buch über Luther? Brauchen wir noch eine weitere Untersuchung zum Thema ‚Luther und die Juden‘, nachdem in den letzten 15 Jahren doch eine Reihe von kritischen Studien zu dieser Schattenseite des Wittenberger Reformators veröffentlicht worden sind?

Die hier vorgelegte Untersuchung unterscheidet sich von den bisherigen durch ihre systematisch-theologische Perspektive. Im Zentrum steht die Frage nach dem Zusammenhang von Luthers reformatorischer Theologie und seiner Judenfeindschaft. Die bisherigen Untersuchungen zum Thema sind überwiegend historisch-philologisch orientiert. Dies hat zu einer genauen Analyse von Luthers „Judenschriften“ in ihrem historischen Kontext geführt. Die Frage nach einem Zusammenhang der Judenfeindschaft mit dem Zentrum von Luthers Theologie wurde dabei nur gelegentlich gestreift, gelegentlich aber auch in apologetischem Interesse vernachlässigt, wenn nicht gar abgewehrt.

Noch im Jahr 2010 muss Anselm Schubert konstatieren, dass die Forschung sich bisher kaum um „eine Rekonstruktion der impliziten und expliziten Theologie der späten Judenschriften“ Luthers bemüht habe, da sie offenbar davon ausgehe, dass diese Schriften „keine eigentlich theologisch ernst zu nehmende Argumentation aufweisen können“.1 Zwar hat Schubert selbst sich unter dem Stichwort „fremde Sünde“ um eine Erhellung der theologischen Gründe von Luthers Judenfeindschaft bemüht; er hat dies aber zugestandenermaßen nur partiell, nämlich im Blick auf „die Binnenlogik […] der theologischen Struktur“, die der Schrift Von den Juden und ihren Lügen zugrundeliegt, geleistet.2

Als das Herzstück von Martin Luthers reformatorischer Theologie, von dem aus alle anderen Themen ihre Bedeutung erlangen, gilt die Rechtfertigungslehre, die Lehre vom Glauben an die Erlösung des Menschen von Sünde, Tod und Teufel durch Gottes Gnade in Jesus Christus allein, ohne Werke des Gesetzes. Sie ist ← 13 | 14 → in der Lutherforschung geradezu zur „Lehre aller Lehren“ stilisiert worden.3 Ihr entspricht die scharfe Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Luther zur Hauptaufgabe der Theologie erklärt hat.4

Luthers reformatorische Entdeckung von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein, ohne Werke des Gesetzes, ist im Protestantismus als Erfahrung einer großen Befreiung tradiert worden. Seine Rechtfertigungslehre gilt dementsprechend als Ausdruck dieser Befreiungserfahrung. Problematische Züge seiner Theologie wie die offensichtliche Judenfeindschaft wurden lange Zeit als peripher abgetan. Wo sie als Schattenseite der Reformation überhaupt wahrgenommen worden ist, hat man versucht, sie als Inkonsequenz im Rahmen der reformatorischen Theologie zu charakterisieren, die gerade von deren Zentrum her kritisiert werden könne und müsse. Wenn aber die Rechtfertigungslehre „das Zentrum von Luthers reformatorischer Theologie“ ist, in der „alle Topoi auf das engste miteinander verbunden sind“,5 dann muss auch gefragt werden, inwiefern der Antijudaismus „konstitutiv“ mit diesem Zentrum verbunden ist.6 Entsprechend urteilt Thomas Kaufmann, neben der „Varianz“ der „judenpolitischen Optionen“ Luthers sei „die Konstanz seiner vor allem rechtfertigungstheologisch begründeten theologischen Bewertung des Judentums zu beachten“. Das Judentum sei für Luther „[i]n keiner Phase seiner theologischen Entwicklung […] eine religiös akzeptable Größe“ gewesen. „Es galt ihm als Inbegriff ‚werkgerechter‘ menschlicher Selbstüberhebung, offener Feindschaft gegen Gottes ‚klare‘ biblische Verheißungen und unergründlicher göttlicher Verstockung.“7 Insofern sei „der theologische Gegensatz zum Judentum“ als der „Religion der ← 14 | 15 → menschlichen Selbsterhebung und Selbstrechtfertigung gegenüber Gott […] für Luther eine unveräußerliche Identitätsfrage christlichen Wahrheitsbewußtseins gewesen“. Sein Kampf gegen die „verstockte Judenheit“ sei in seiner reformatorischen „Wahrheitsgewißheit“ begründet gewesen.8

Sollte sich aber bestätigen, dass die Feindschaft gegen die Juden ebenso im Zentrum von Luthers Theologie, der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, verankert ist wie die Kritik am ‚Papismus‘ der Römischen Kirche, dann muss darüber hinaus gefragt werden, inwiefern Luthers scharfe Kritik am Judentum zur Entstehung des modernen Antisemitismus beigetragen hat. Es geht dabei nicht um den Versuch, den Reformator – im Sinne der Kontinuitätslinie ‚von Luther zu Hitler‘ – in anachronistischer Weise für Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich zu machen. Wohl aber geht es darum, bei der Erforschung der Ursachen für die Menschheitsverbrechen der Moderne auch Wurzeln in der religiösen Tradition des christlichen Abendlandes zu analysieren, die an der ‚Dialektik der Aufklärung‘ partizipieren.9 Und hier spielt Luthers Theologie gewiss eine prominente Rolle. In Analogie zur Dialektik der Aufklärung, in deren Zentrum nicht zufällig eine Beschreibung der „Grenzen der Aufklärung“ in Gestalt einer Analyse der „Elemente des Antisemitismus“ steht,10 stellt sich also die Frage nach der ‚Dialektik der Reformation‘.

Der niederländische Lutherforscher Heiko A. Oberman hat betont, das Thema „Juden“ sei „keine schwarze Sonderseite“ in Luthers Werk, sondern „zentrales Thema seiner Theologie“.11 Wenn dem so ist, dann muss nach dem Zusammenhang zwischen reformatorischer Theologie und Antisemitismus gefragt werden. Sollte ein solcher Zusammenhang nachweisbar sein, dann würde dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die evangelische Theologie ← 15 | 16 → insbesondere lutherischer Prägung heute darstellen.12 Dieser Herausforderung hätte sich evangelische Theologie gerade auch angesichts der mit großem propagandistischen Aufwand vorbereiteten Feierlichkeiten zum 500jährigen Jubiläum der Wittenberger Reformation im Jahr 2017 zu stellen.13 Mit Recht fragt daher Klaus Wengst, „in welcher Weise mit der in den Aussagen über die Juden zum Ausdruck kommenden Feindschaft theologische Grundaussagen der christlichen Tradition in ihrer Aufnahme und besonderen Ausprägung durch Luther verbunden sind“.14 Und er betont, dass es, was das christlich-jüdische Verhältnis betrifft, im Blick auf Luther „nichts zu feiern“ gebe.15

Wirft man den Blick auf die jüngste Rezeption Luthers, dann ist festzustellen, dass seine Judenfeindschaft heute zumindest im Bereich des offiziellen Luthertums und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) kritisch hinterfragt wird. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg noch anders.16 Das war aber auch vor vierzig Jahren noch anders.17 Seit dem Rheinischen Synodalbeschluss vom 11. Januar 1980 „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ ← 16 | 17 →18 haben die meisten evangelischen Landeskirchen sich auch zur kirchlichen Schuld und Mitverantwortung im Blick auf die Judenmorde des 20. Jahrhunderts bekannt und eingeräumt, dass in dieser Hinsicht auch die nicht zuletzt mit dem Namen Luther verbundene theologische Tradition revidiert werden müsse.

Der Rat der EKD hat sich aus Anlass von Luthers 500. Geburtstag im Jahr 1983 von dessen judenfeindlichen Spätschriften distanziert: „So wichtig Luthers frühe Schrift über die Juden auch noch heute ist, so verhängnisvoll wurden Äußerungen des alten Luther. Niemand kann sie heute gutheißen.“19 Durchaus selbstkritisch hat sich der Lutherische Weltbund aus demselben Anlass geäußert: „Wir Lutheraner leiten unseren Namen von Martin Luther ab, dessen Verständnis des Christentums auch weitgehend unsere Lehrgrundlage bildet. Die wüsten antijüdischen Schriften des Reformators können wir jedoch weder billigen noch entschuldigen.“20 Deutlicher noch wurde die Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ) in ihrer „Erklärung zur Begegnung zwischen lutherischen Christen und Juden“ vom 8. Mai 1990. Sie begnügte sich nicht mit einer Distanzierung von Luthers judenfeindlichen Schriften, sondern nahm in diesem Zusammenhang auch „Grundschemata lutherischer Theologie“ aufs Korn: „Wir dringen darauf, daß in den lutherischen Kirchen nicht nur die antijüdischen Ausfälle des späten Luther mit ihren verheerenden Folgen aufgearbeitet werden […], sondern auch Grundschemata lutherischer Theologie und Lehre wie ‚Gesetz und Evangelium‘, ‚Glaube und Werke‘, ‚Verheißung und Erfüllung‘ ‚Zwei Regimente/Zwei Reiche‘ im Blick auf ihre Auswirkung auf das christlich-jüdische Verhältnis neu überdacht werden. Dafür kann gemeinsame theologische Arbeit mit Juden besonders in der Bibelauslegung wichtig werden.“21

Unter den landeskirchlichen Stellungnahmen sei hier insbesondere auf die Erklärung „Christen und Juden“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern vom 24. November 1998 hingewiesen, wo es heißt: „Es ist für eine evangelisch-lutherische Kirche, die sich dem Werk und Erbe Martin Luthers verpflichtet weiß, unerläßlich, auch seine antijüdischen Äußerungen wahrzunehmen, ihre ← 17 | 18 → theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken. Sie hat sich von jedem Antijudaismus in der lutherischen Theologie zu distanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampfschriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im Blick sein, an denen Luther den Glauben der Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt.“ Daher wird im Blick auf die „Weiterarbeit“ formuliert: „Sowohl Aussagen Martin Luthers als auch bestimmte Ausprägungen lutherischer Theologie haben antijüdische Wirkungen hervorgerufen. Über die notwendige inhaltliche Distanzierung hinaus sind deren Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte zu erforschen und für eine künftige lutherische Theologie im Blick auf das christlich-jüdische Gespräch zu überdenken und zu kritisieren.“22

Wolfgang Kraus hebt im Blick auf solche Erklärungen mit Recht hervor, dass „hier nicht nur eine Distanzierung von Luthers Schriften“ erfolge. Vielmehr werde „nach Grundstrukturen lutherischer Theologie gefragt, die im Zusammenhang der Überwindung von Antijudaismus diskutiert werden müssen“.23

Auch im Zuge der laufenden Reformationsdekade, die de facto zu einer Lutherdekade denaturiert worden ist, haben sich kritische Stimmen im Blick auf Luthers Verhältnis zu den Juden artikuliert. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ging am 21. November 2014 mit einer Erklärung voran, in der es heißt: „Der Gedanke einer bleibenden Erwählung Israels und der Treue Gottes zu seinem Volk blieb Martin Luther unter Berufung auf alttestamentliche israelkritische Passagen verschlossen. In seinen späten ‚Judenschriften‘ hat er dem Judentum den Status als Volk Gottes explizit abgesprochen, indem er auf den s. E. 1500 Jahre währenden Zorn Gottes über das jüdische Volk verweist. Dem widerspricht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau […] nachdrücklich.“24

Erst auf Drängen des Zentralrats der Juden hin hat sich auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland ausdrücklich von Luthers Judenfeindschaft distanziert. In der Kundgebung Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum vom 11. November 2015 heißt es u. a.: „Wir tragen dafür Verantwortung zu klären, wie wir mit den judenfeindlichen Aussagen der Reformationszeit und ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte ← 18 | 19 → umgehen […]. Der Auseinandersetzung mit der Haltung Martin Luthers gegenüber Juden kommt dabei exemplarische Bedeutung zu.“ Die Synode erkennt, dass Luther „zentrale Einsichten seiner Theologie mit judenfeindlichen Denkmustern“ verknüpfte. Sie will „[i]m Vorfeld des Reformationsjubiläums […] an dieser Schuldgeschichte nicht vorbeigehen“, zumal „die judenfeindlichen Ratschläge des späten Luther für den nationalsozialistischen Antisemitismus in Anspruch genommen wurden“. Auch wenn sich keine „[e]infach[n] Kontinuitätslinien“ ziehen ließen, so habe Luther doch „im 19. und 20. Jahrhundert für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen werden“ können. Die Synode stellt fest, dass „Luthers Sicht des Judentums und seine Schmähungen gegen Juden […] nach unserem heutigen Verständnis im Widerspruch zum Glauben an den einen Gott [stehen], der sich in dem Juden Jesus offenbart hat“. Auch entspreche „[s]ein Urteil über Israel […] nicht den biblischen Aussagen zu Gottes Bundestreue gegenüber seinem Volk und zur bleibenden Erwählung Israels“.

Aus alledem folgert die Synode: „Wir stellen uns in Theologie und Kirche der Herausforderung, zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen.“ Dies betreffe „insbesondere die Unterscheidungen ‚Gesetz und Evangelium‘, ‚Verheißung und Erfüllung‘, ‚Glaube und Werke‘ und ‚alter und neuer Bund‘“. In diesem Sinn gebe das Reformationsjubiläum „Anlass zu weiteren Schritten der Umkehr und Erneuerung“.25

Man kann wahrhaftig sagen, dass es sich bei dieser synodalen Kundgebung um einen Durchbruch nach jahrelangem Zögern handelt. Gleichwohl sind auch Schwächen der Kundgebung zu benennen: Offenbar konnte die Synode sich noch nicht dazu durchringen, sich von der organisierten Judenmission eindeutig zu verabschieden.26 Dabei hat der Revisionsprozess lutherischer Theologie längst ← 19 | 20 → schon zu einer selbstkritischen Problematisierung der Judenmission durch deren Trägervereine geführt. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass die Judenmission selbst zum Erbe der theologisch begründeten Judenfeindschaft zu rechnen ist, sofern sie das Judesein der Juden als defizitär betrachtet.27

Auch scheut sich die Synode der EKD weiterhin, bei aller deutlichen Kritik an Luthers Feindschaft gegen die Juden den Begriff „Antisemitismus“ auf den Wittenberger Reformator selbst anzuwenden. Anders als in früheren Äußerungen wird nun zwar ein enger Zusammenhang zwischen Luthers Theologie und seiner Judenfeindschaft eingeräumt, weshalb es nötig sei, auch zentrale Momente reformatorischer Theologie neu zu durchdenken. Aber ist es Zufall, dass bei der Aufzählung dieser Momente ausgerechnet die Stichworte „Christologie“ und „Rechtfertigungslehre“ fehlen? Immerhin waren genau diese beiden Stichworte bereits in der Erklärung „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ der Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg im April 1990 als Punkte genannt worden, die im Blick auf den möglichen Zusammenhang mit Luthers Judenfeindschaft überprüft werden müssten.28

Wie auch immer: Die theologischen Aufgaben sind durch die Synode der EKD benannt worden. Wir wollen uns daran im Folgenden orientieren, wenn wir „zentrale theologische Lehren der Reformation“ im Blick auf ihre judenfeindlichen Implikationen einer kritischen Neubewertung unterziehen. Man kann jedoch nicht sagen, dass über die Forderungen der Synode der EKD bereits Konsens in Kirche und Theologie, insbesondere in der akademischen Lutherforschung, besteht. ← 20 | 21 →

So hat der wissenschaftliche Beirat für das Reformationsjubiläum 2017 eine „Orientierung“ zum Thema Die Reformation und die Juden erstellen lassen, die uns wenig hilfreich erscheint, da sie hinter das in kirchlichen Erklärungen erreichte Problembewusstsein zurückfällt und stattdessen eine Reihe apologetischer Klischees bedient.29 Durchgängig ist das Interesse zu bemerken, jegliche Kontinuität zwischen der Judenfeindschaft Luthers und dem modernen Antisemitismus zu bestreiten. So heißt es zwar: „Die Tatsache, daß Martin Luther im Dritten Reich für den nationalsozialistischen Antisemitismus in Anspruch genommen wurde, macht seine antijüdischen Aussagen zu einer mit seinem Namen auf unabsehbare Zeit verbundenen Hypothek.“30 Dass die antijüdische Hetze des Reformators auch schon als solche, unabhängig von ihrer Rezeption durch die Nationalsozialisten, eine schwere Hypothek für das Luthertum darstellt, kommt den Autoren offenbar nicht in den Sinn. Stattdessen wird seine Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523) überschwenglich gerühmt; sie sei „nichts [!] weniger als revolutionär“.31 Er habe darin „das Konzept des christlich-rechtgläubigen Gemeinwesens prinzipiell infrage gestellt“ und „Potentiale der Duldung religiöser Gegensätze innerhalb eines politischen Gemeinwesens zur Geltung“ gebracht. Dass dies nur taktisch und vorübergehend gemeint war, sofern die „Offenheit der frühen Reformation“ doch „nur auf eine neue, erfolgversprechende Strategie zur Christianisierung der Juden“ zielte, wird von den Autoren bestritten.32 Wenn Luther in der Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) von solchen Potentialen der Duldung offensichtlich nichts mehr wissen wollte, dann führen die Autoren das auf einen Rückfall in „Bibelfundamentalismus“ zurück; „Luthers judenfeindliche Ratschläge“ hätten sich „bis in einzelne Formulierungen hinein an Vorschriften zur Abwehr falscher Religion im Alten Testament“ orientiert. Soll damit etwa suggeriert werden, die Juden seien selbst schuld, da die jüdische Bibel ja selbst fordere, „erbarmungslos ← 21 | 22 → gegen Gotteslästerung einzuschreiten“? Für die Behauptung, Luther habe „sein judenpolitisches Votum von 1543 nicht zu den Maßstäben innerreformatorischer Gemeinschaft gerechnet,“ sondern in dieser Hinsicht „Meinungsvielfalt“ gelten lassen, würde man sich einen Nachweis wünschen.33 Die auf Vertreibung der Juden zielende Abzweckung von Luthers letzter Reise in seine Geburtsstadt Eisleben spricht eine andere Sprache. Für die Autoren scheint es entscheidend zu sein, im Blick auf den „millionenfachen Mord an den Juden“ im 20. Jahrhundert feststellen zu können: „Dieses Verbrechen läßt sich nicht auf Luthers Schrift ‚Von den Juden und ihren Lügen‘ zurückführen, deren Ziel die Vertreibung der Juden, nicht der Massenmord, und deren Argumentation nicht rassepolitisch, sondern religiös motiviert war.“34

Gegenüber der apologetischen Tendenz der vom wissenschaftlichen Beirat des Reformationsjubiläums in Auftrag gegebenen „Orientierung“ behält die Feststellung von Jochen Vollmer recht: Martin Luthers Antijudaismus sei „seit dem Lutherjahr 1983 auf vielfältige Weise thematisiert und beklagt worden“; dies habe aber nicht dazu geführt, dass „die Mitte seiner Theologie, seine Rechtfertigungslehre, in Frage gestellt“ worden wäre.35 Zwar gibt es inzwischen eine Fülle durchaus kritischer Spezialuntersuchungen zum Thema ‚Luther und die Juden‘, von denen aus den letzten Jahren hier nur die Studien von Peter von der Osten-Sacken, René Süss und Thomas Kaufmann erwähnt seien.36 Wirft man jedoch einen Blick in Gesamtdarstellungen von Luthers Leben und Werk, dann wird das Thema in der Regel marginalisiert. Nach dem Zusammenhang von Luthers Theologie mit seiner Judenfeindschaft wird kaum je gefragt. Neueren Darstellungen der Theologie Luthers ist das Thema – mit Recht! – peinlich. Ein angemessener Umgang mit dieser Peinlichkeit gelingt jedoch kaum. Immer wieder setzt sich Apologetik gegenüber der notwendigen Kritik durch. Dafür einige Beispiele: ← 22 | 23 →

In Albrecht Beutels „populartheologische[r] Einführung in Wirkung, Leben und Werk Martin Luthers“37 etwa spielt das Thema ‚Luther und die Juden‘ nur eine marginale Rolle. Beutel gliedert Luthers Leben in vier Perioden: „Lehrjahre“ (1483–1512), „Aufbruch“ (1512–1521), „Entfaltung“ (1521–1530) und schließlich „Bewährung“ (1530–1546). Dabei kann er zentrale theologische Aspekte wie die „reformatorische Einsicht“ in der Periode des Aufbruchs,38 die „Bibelübersetzung“ in der Periode der Entfaltung39 oder das „Bild vom Menschen“ in der Periode der Bewährung40 abhandeln, ohne die Stellung Luthers zu den Juden in diesen Zusammenhängen auch nur zu erwähnen. Erst im Rahmen eines vorletzten Kapitels über „Verhärtungen“, dem nur noch ein Kapitel über die „letzte Reise“ folgt, wird auch unser Thema gestreift. Diese „Verhärtungen des alten Luther“ hätten „vor allem ‚die drei Erzfeinde Christi‘“ betroffen: „Türken, Papst und Juden“.41 Die „landläufige Rezeption“ dieser Verhärtungen neige jedoch zu „Einseitigkeiten“. So werde Luthers Stellung zu den Juden entweder „verharmlost“, indem darauf hingewiesen werde, „Luthers antijüdische Invektiven seien nicht rassistisch, sondern allein religiös motiviert“, als wäre dies „bereits eine zufriedenstellende Erklärung“; oder man ergehe sich „in der hämisch breitgetretenen Zitation einiger ausgesuchter Scheußlichkeiten, die Luther als Ausgangspunkt einer bis zum Holocaust führenden Blutspur zu entlarven scheinen“. Demgegenüber komme es auf „historische Nüchternheit“ an.42 Allerdings lasse auch „die Erinnerung an das allgemein stark judenfeindliche Klima jener Zeit“ Luthers „Ausbrüche“ gegen die Juden „kaum als entschuldbar erscheinen, nur als weniger exzeptionell“.43

Beutels Fazit tendiert dann jedoch selber in die Richtung von Verharmlosung, indem auf die angeblich geringe Wirkung von Luthers Judenpolemik hingewiesen wird: „Man wird nicht sagen können, dass die unmittelbare gesellschaftspolitische Wirkung von Luthers Judenschriften irgend erheblich gewesen sei. Dennoch bleibt es bedrückend, wie engagiert der alt gewordene Luther dieses Thema verfolgt hat und wie dicht Erleuchtung und Verblendung in seinen letzten ← 23 | 24 → Predigten beieinander liegen.“44 Eine Reflexion der theologischen Hintergründe von Luthers Verblendung im Blick auf die Juden sucht man bei Beutel vergeblich.

Auch Bernhard Lohse glaubt offensichtlich, Luthers Theologie angemessen darstellen zu können, ohne überhaupt auf das Thema ‚Luther und die Juden‘ einzugehen.45 Obermans Erkenntnis, dass dies „keine schwarze Sonderseite“ in Luthers Werk, sondern „zentrales Thema seiner Theologie“ sei,46 scheint ihn nicht zu überzeugen. Erst in einem der Darstellung von Luthers Theologie angehängten „Exkurs: Luthers Haltung zu den Juden“ trägt Lohse seine Sicht der Dinge nach.47 Dabei bleibt er weitgehend im traditionellen apologetischen Fahrwasser. So betont er, „daß der Gegensatz zwischen Juden und Christen im 16. Jahrhundert ausschließlich ein religiöser“ gewesen sei; dies gelte „ohne Einschränkung auch für Luther“.48 Dass die Juden von Luther als Vertreter einer „Gesetzesreligion“ angegriffen, mit dem Vorwurf des „Hochmut[s]“ bedacht und als „Anhänger des Antichrist“ diffamiert wurden, habe der „Tradition“ seit Augustin entsprochen. Lediglich „die Zuspitzung des Vorwurfs der ‚Eigengerechtigkeit‘“ mache „die Besonderheit von Luthers Polemik“ aus.49 Mit seinen „harten Vorschlägen“, wie mit den Juden umzugehen sei, habe Luther nur „Anregungen“ aufgegriffen, „die von anderer Seite längst gemacht worden waren“.50 Damit sollten diese zwar „weder relativiert noch entschuldigt werden“. Doch müsse, bevor „selbstkritisch nach den Ursachen und den geistigen Wegbereitern des furchtbaren Antisemitismus“ gefragt wird, „zunächst Verständnis aufgebracht werden für die Voraussetzungen und Begrenzungen, welche in früheren Zeiten gegeben waren“.51

Gleichwohl ringt sich Lohse schließlich dazu durch, „auch theologische Rückfragen an Luthers Argumentation“ zu stellen. Da dieser „sich selbst immer wieder darüber beklagt hatte, daß man ihm römischerseits kein faires Gehör gegeben habe“, sei es „nicht unbillig, von Luther größere Vorsicht gegenüber festgefahrenen Meinungen oder Vorurteilen zu erwarten“. Andererseits habe „das ← 24 | 25 → Bild, welches er sich von der Gesetzlichkeit der jüdischen Religion machte, so gut in seine Polemik gegen die ‚Werkgerechtigkeit‘“ gepasst, „daß ‚die Juden‘ einfach zur Chiffre für den sich selbst rechtfertigenden Menschen wurden“.52 Dies mag so sein; aber macht es das Problem geringer, wenn die Juden zur „Chiffre“ degradiert und so zu höheren theologischen Zwecken benutzt werden? Jedenfalls bleibt Lohses Fazit unbefriedigend: Luther sei „in den Ansichten seiner Zeit befangen geblieben“. Allerdings sei er „über die zeitbedingten Urteile auch nicht hinausgegangen“.53 Dies ist dann doch nichts anderes als eine historische Relativierung des Problems, die auf Verharmlosung hinausläuft. Im Übrigen dürfte es nicht ausreichen, kritische Rückfragen erst in einem angehängten Exkurs zu formulieren, da sie sich so nicht auf die Darstellung der Theologie Luthers auswirken können.

Ulrich Köpf klammert das Problem von Luthers Judenfeindschaft zwar nicht aus seiner Gesamtdarstellung aus,54 doch auch er zeigt eine deutliche Tendenz zur Relativierung des Problems. Dies geschieht einerseits dadurch, dass er die Thematik auf zwei Kapitel aufteilt, die sich in gewisser Weise gegenseitig aufheben: „Luthers frühes Verhältnis zu den Juden (bis 1523)“ und „Luthers späte Judenfeindschaft“.55 Für Luthers frühes Verhältnis zu den Juden gelte, dass es sein „Ziel“ gewesen sei, „die Juden für das Christentum zu gewinnen“.56 Doch schon ab 1526 habe sich Luthers Haltung geändert, bis er sich in den späten Schriften „in eine Wut gegen die Juden“ hineingesteigert habe, „die ihn zeitweise jedes humane Empfinden vergessen läßt“.57 Auf die Frage, was „Luthers Sinneswandel“ veranlasst habe, ergeht sich Köpf andererseits in verharmlosenden Vermutungen. So könnten „persönliche Erlebnisse Luthers Haltung beeinflußt“ haben.58 Auch erwähnt Köpf „die Nachricht […], daß die Juden in Mähren für ihren Glauben warben“, die Luthers „Widerspruch“ herausgefordert habe,59 ohne auch nur anzudeuten, dass es sich hierbei um ein bloßes Gerücht gehandelt haben dürfte. Ganz deutlich wird schließlich die verharmlosende Tendenz, wenn Köpf die von Luther geforderte „scharfe Barmherzigkeit“ gegen die Juden als „Maßnahmen“ ← 25 | 26 → bezeichnet, „die in seiner Zeit durchaus üblich waren“,60 – als würde dies Luthers Judenfeindschaft weniger schlimm machen. Im Übrigen werden auch bei Köpf wichtige theologische Stationen wie die „umstürzende Erkenntnis“ des Reformators von der Rechtfertigung des Sünders behandelt,61 ohne dass ein Zusammenhang mit seiner Stellung zu den Juden erkennbar würde.

Kritischer fällt die Beurteilung von Luthers Stellung zu den Juden bei Volker Leppin aus. Zwar kann auch er Luthers Biographie und Theologie, angefangen von seiner Kindheit bis zu seinem Status als „alter Professor“, darstellen, ohne sein Verhältnis zu den Juden zu erwähnen.62 Erst im letzten Kapitel über Luthers „Lebensende“ kommt Leppin unter der Überschrift „Letzte Wut“ auch auf unser Thema zu sprechen: Hier heißt es, die letzten Jahre seien „auch von massiven Ausfällen geprägt, die den apodiktischen Ton der frühen Jahre noch einmal aufnahmen“. Jetzt habe sich „der Zorn“ jedoch „gegen eine Gruppe“ gerichtet, „deren Rechtssituation noch bedrohlicher war als die der Bauern: die Juden“.63 In einer Art Rückblende erwähnt Leppin, dass Luther 1523 „den Juden zu demonstrieren versucht“ habe, „dass die Erfüllung ihrer messianischen Erwartungen in Jesus Christus gegeben sei, sie nun also sich zu ihm bekehren könnten und sollten“.64 Die theologische Voraussetzung dafür sei die verbreitete Auffassung gewesen, „dass das Judentum die falsche, durch das Christentum obsolet gewordene Religion sei“. Aus dieser „bleibenden theologischen Haltung“ habe der späte Luther Konsequenzen gezogen, die „auf eine Vernichtung der Möglichkeiten zur jüdischen Religionsausübung und eine weitgehende Entrechtung der Juden vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht“ hinausliefen.65 Auch im Vergleich mit anderen Auffassungen zur Zeit Luthers sei dies eine „enge Haltung“ gewesen. „Die Rückschau mit den Erfahrungen des rassischen Antisemitismus“ mache „die Aussagen Luthers schwer erträglich“.66

Alles in allem zeige sich „eine bemerkenswerte Kontinuität“ in Luthers Stellung zu den Juden; für den alten Luther habe wie schon für den früheren „dasselbe Ziel im Mittelpunkt“ gestanden: „die christliche Homogenisierung der Territorien. Nachdem dies nicht durch freiwillige Bekehrung der Juden erfolgt war, hielt er sie […] für verstockt, und im Rahmen der anstehenden rechtlichen ← 26 | 27 → Regulierungen hielt er ihre Vertreibung für die angemessenste Politik“.67 Als theologischen Hintergrund von Luthers antijüdischer Polemik nennt Leppin „die Ablehnung des Christentums und die angebliche Tötung Christi in der Vergangenheit“, für die die Juden „über Generationen hinweg die Blutschuld auf sich geladen haben sollten“. Noch schwerer wiege Luthers „heilsgeschichtliche Einordnung der Juden“, die „als Feinde des Christentums“ gelten, „die nicht erst seit Christi Geburt auftreten, sondern die in gewisser Weise noch grundsätzlicher“ als Papst und Türken „das Wirken Satans seit Anbeginn der Schöpfung“ repräsentieren. „Es war ein großes heilsgeschichtliches Panorama, das hier noch einmal aufblitzte, und das zeigt, wie tief die Polemik gegen Juden in Luthers Theologie verankert war.“68 Angesichts dieser Erkenntnis berührt es jedoch merkwürdig, dass Leppin zuvor Luthers Theologie hat darstellen können, ohne diese Kehrseite auch nur zu erwähnen.

Die Lutherdarstellung von Reinhard Schwarz scheint sich auf den ersten Blick von den bisher genannten darin zu unterscheiden, dass hier Luthers Verhältnis zu den Juden nicht an den Rand gedrängt wird.69 Schwarz geht, nachdem er in Kapitel 1 – Luther als „Lehrer der christlichen Religion“ – den „methodischen Ansatz“ geklärt hat, in Kapitel 2 unter der Überschrift „Die heilige Schrift im reformatorischen Grundverständnis der christlichen Religion“ auf das reformatorische Formalprinzip sola scriptura ein.70 Nachdem hier „Bindung und Freiheit durch das exklusive Schriftprinzip“ und „hermeneutische Konsequenzen“ aus dem Schriftprinzip erörtert worden sind, thematisiert Schwarz ausdrücklich die „Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Religion“, um sich schließlich den „messianischen Verheißungen in Luthers Stellungnahmen zu den Juden“ zuzuwenden. Der Rahmen, in dem Luthers Stellung zu den Juden abgehandelt wird, ist also die Bibelhermeneutik: „Die messianischen Verheißungen des Alten Testaments“ bildeten „das theologische Rückgrat in Luthers Stellungnahmen zum zeitgenössischen Judentum“.71 Dieser Ausgangspunkt ist im Blick auf Luthers Selbstverständnis als Lehrer der Schrift sicher nicht unangemessen, aber er stellt doch eine Verengung der Perspektive dar. Die Gegenüberstellung der Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523) und der Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) läuft darauf hinaus, dass Luther ← 27 | 28 → zunächst „zum Dialog mit den Juden“ habe „anleiten“ wollen,72 während er später ein „christlich-jüdisches Gespräch […] nicht mehr für sinnvoll“ gehalten habe. Habe er zunächst „für soziale Integration der Juden“ sorgen wollen, so empfehle er jetzt „Maßnahmen der religiösen und sozialen Diskriminierung und Ausgrenzung bis hin zur Ausweisung“. Schwarz beruhigt sich aber bei der Feststellung, dass Luthers „Antijudaismus […] jedenfalls noch kein rassistischer Antisemitismus“ gewesen sei, als wäre das Problem damit schon aus der Welt geschafft.73 So kann es kaum überraschen, dass Schwarz schließlich zu dem Ergebnis kommt, Luthers „üble Polemik“ könne einfach „beiseite gelassen werden“, um seine „affirmative Unterweisung in der christlichen Religion“ zu retten.74 Luthers Judenfeindschaft wird so doch wieder zur ‚schwarzen Sonderseite‘ in der Theologie des Reformators erklärt, durch die sich die evangelische Theologie in der Affirmation christlicher Religion nicht weiter beunruhigen lassen muss. So spielt denn auch Luthers Judenfeindschaft für die weitere Darstellung der Lehre Luthers kaum mehr eine Rolle.

Aus dem Strom einer eher apologetischen Behandlung des Themas ‚Luther und die Juden‘ im Rahmen kirchenhistorischer Lutherdarstellungen sticht Thomas Kaufmann heraus: Kaufmann stellt Luthers „Leben im Horizont der Reformation Gottes“ zwar zunächst ohne Berücksichtigung von Luthers Stellung zu den Juden dar,75 kommt im Rahmen seiner Darstellung von Luthers „Theologische[r] Existenz“ dann aber abschließend auf „Luther, seine ‚Feinde‘ und seine Feindbilder“ zu sprechen.76 Mag man diese Reihenfolge fragwürdig finden, da hier – ähnlich wie bei Bernhard Lohse und Volker Leppin – die Darstellung von Luthers Leben und Lehre erst nachträglich problematisiert wird, so gelingt es Kaufmann doch, apologetische Untertöne zu vermeiden. Die „Feindbilder“ Luthers werden von Kaufmann in den Kontext der „apokalyptischen Theologie Luthers“ eingeordnet, deren „Brennpunkt“ zunächst das „Papsttum“, seit 1529 aber auch der „Türke“ gebildet habe.77 Erst ganz zuletzt kommt Kaufmann auch auf Luthers Sicht der Juden als „Schlangengezücht“ und „Teufelskinder“ zu sprechen: „Seine sich obsessiv steigernde Judenfeindschaft, die vor allem in seinem Spätwerk zum Ausdruck kam,“ sei „die dunkle Seite seiner Christusliebe, seines ← 28 | 29 → Rechtfertigungsglaubens, seiner Deutung der Schrift“ gewesen. Dabei betont Kaufmann, dass „Luthers Judenfeindschaft […] kein unwichtiger Nebenaspekt seiner Theologie“ sei. Insbesondere seine „späteren Schriften“ seien „ganz von der Vorstellung durchdrungen, daß die Juden in ihrem Gottesdienst Christus unablässig schmähten und den Christen zu schaden versuchten“.78 Die Juden seien für Luther „zeitlebens der Inbegriff eines verfehlten Gottesverhältnisses“ gewesen, „bei dem der Gläubige durch eigene Gesetzeswerke vor Gott gerecht zu werden versuchte.“ Das Judentum sei für Luther „in keiner Phase seiner Biographie Träger göttlicher Verheißungen“ gewesen; vielmehr habe er im Judentum nur „eine überholte, von Gott selbst aufgehobene Religion menschlicher Selbstrechtfertigung“ sehen können, „die Christus entehrte“.79

In Lutherdarstellungen aus systematisch-theologischer Perspektive ist das Problembewusstsein im Blick auf Luthers Judenfeindschaft keineswegs höher zu veranschlagen als bei den Kirchenhistorikern. Wer etwa die Einleitung in Luthers Theologie von Dietrich Korsch zur Hand nimmt, wird bei unserem Thema enttäuscht.80 Über acht von zehn Kapiteln kommt der Verfasser ohne Erwähnung des Verhältnisses Luthers zu den Juden aus. Erst im vorletzten Kapitel („Jetzt und dann“), in dem Korsch die „evangelische Apokalyptik“ Luthers „vom Grundgedanken der Glaubensgerechtigkeit her analysieren“ will,81 geht er unter der Überschrift „Luthers apokalyptische Sicht der Geschichte“ auf die Problematik ein.82 Sie spielt aber in seiner Gesamtbewertung im zehnten Kapitel („Martin Luther, der evangelische Glaube und die Kultur der Unterschiede“) keine Rolle mehr.83 Vielmehr wird hier Luther als „Theologe der Unterscheidung“ gerühmt und dessen Unterscheidung von forderndem „Gesetz“ und zugesagtem „Evangelium“ als bleibende Errungenschaft der Reformation gepriesen,84 ohne die Frage auch nur zu stellen, wie diese theologische Grundunterscheidung sich zu Luthers Judenfeindschaft verhält.

Zwar bemerkt Korsch, dass „Luthers Verhältnis zu den Juden […] nach den deutschen Massenmorden an den Juden Mittel- und Osteuropas besondere Aufmerksamkeit gefunden“ habe. Gegen das „Stereotyp“, wonach „die Wurzeln des ← 29 | 30 → nationalsozialistischen Antisemitismus bis auf Luther zurückgingen“, legt er jedoch Widerspruch ein: „Der historische Sachverhalt ist ein anderer.“ Wenn man sich „im Nationalsozialismus auf Luther meinte berufen zu sollen“, dann müsse „uns Nachgeborenen gerade dies besonders anstößig“ sein. Für das „historische Verstehen“ sei es zunächst nötig, Luthers Judenfeindschaft in „das Umfeld des spätmittelalterlichen ‚Antisemitismus‘“ einzuordnen, – eine „antijüdische Grundstimmung“, die „nicht nur im ungebildeten Volk“, sondern auch unter „Theologen wie Luthers katholische[m] Hauptgegner, Johannes Eck“ verbreitet gewesen sei.85 Während die mittelalterliche Judenfeindschaft auf die „Alternative […] Bekehrung oder Vertreibung“ abgezielt habe, sei in Luthers „anfänglicher Wahrnehmung der Juden“ davon nichts erkennbar, da er gelernt habe, „die ‚Juden‘ im Evangelium […] als Typus der eigenen Sünde“ auszulegen. Daher sei für ihn „die Möglichkeit“ entfallen, „die eigene innere Bosheit nach außen zu verlagern und auf die Juden zu projizieren“. Aufgrund seiner Überzeugung, „daß die reformatorische Lehre den wahren Sinn der Bibel vollends ans Licht gebracht habe“, habe Luther erwartet, dass die Juden nunmehr „die Geschichte Jesu als Erfüllung der Geschichte ihres Volkes […] verstehen“ könnten und sich „zum Christentum […] bekehren“ würden. Das sei „der Tenor der Schrift […] Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Diese „Hoffnung“ sei jedoch „enttäuscht“ worden.86

Im Blick auf die weitere Entwicklung sieht Korsch das Problem darin, dass Luther „seine christliche Interpretation der Bibel umstandslos als eine auch historisch unwidersprechliche Auslegung aufgefaßt“ habe. „Wenn es sich aber nun herausstellte, daß auch der – vermutlich – argumentativ schlüssige Nachweis, der christliche Glaube sei die Erfüllung seiner jüdischen Vorgeschichte, nicht überzeugte, dann […] war es die überpersönliche Macht des Teufels, die diesen Widerstand motiviert.“ Als sich darüber hinaus „der Eindruck […] verdichtete, daß er sich als akuter, möglicherweise selbst missionarisch auftretender Widerspruch laut artikulierte, legte sich die Annahme nahe, der Teufel habe seinen Angriff auf die Wahrheit des Evangeliums endgeschichtlich intensiviert […]. Es lag […] durch die biblisch-apokalyptischen Bilder und eine lange Tradition die Versuchung bereit […], die Juden unter das ‚Satansvolk‘ zu rechnen.“87

Vor diesem Hintergrund sei „Luthers kritikwürdigste Schrift gegen die Juden Von den Juden und ihren Lügen“ entstanden. Auch in ihr gehe es „zunächst um ← 30 | 31 → Theologie; nämlich um die Rechtmäßigkeit der christlichen Inanspruchnahme der Weissagungen des Alten Testamentes auf Christus – und umgekehrt um die Unschlüssigkeit der begründenden Berufung des gegenwärtigen Judentums auf das Alte Testament“.88 Zwar sei dies nur „eine Wiederholung der […] zwanzig Jahre früher von Luther vertretenen Position“. Jetzt trete aber „die apokalyptische Verschärfung“ hinzu: „Im Zusammenhang des Eindrucks, nun mobilisiere sich der letzte Widerstand des Teufels gegen das Hereinbrechen von Gottes Reich auch vermittels der Juden“, habe Luther „ohne Rücksicht von den Kompendien Gebrauch“ gemacht, „die der spätmittelalterliche Antijudaismus für die Judenpolemik und die Judenpogrome bereitgestellt hat“. Da „das Ende naht“, sollten die Juden „nicht länger in der Lage sein, ihre Lehren unter den Christen zu verbreiten und so diese unter Umständen ins letzte Verderben zu ziehen“. Daher habe Luther der Obrigkeit „eine äußerst restriktive Politik gegenüber den Juden“ empfohlen, „die bis zur Zerstörung der Synagogen und zur Ausweisung der Unbekehrten geht“. Dies habe aber immer noch unter dem „Vorbehalt“ gestanden, „daß es wichtiger ist, den Juden zur Bekehrung zu verhelfen“. Zugleich beruhigt sich Korsch bei dem Gedanken, dass „Luthers Vorschläge“ nur „wenig Widerhall“ gefunden hätten.89 Dass es sich hierbei um eine apologetische Ausrede handeln könnte, scheint er nicht erwogen zu haben.

Korsch kommt zu dem Fazit: „Obwohl Luther von seinen theologischen Voraussetzungen her zu einer Differenzierung zwischen einer existentialen und einer historisch-politischen Auslegung der ‚Juden‘ grundsätzlich in der Lage gewesen wäre, hat ihn seine Positivierung des apokalyptischen Weltendes dazu nicht gelangen lassen, diese Unterscheidung auch wirklich durchzuführen: Er ist, wenn auch mit dem Vorbehalt der Bekehrung, sogar zu den traditionellen Polemiken gegen die Juden zurückgekehrt.“ Von der „Rekonstruktion der Spannung in Luthers Stellungnahmen“ aus sei es „zwingend, Luthers Inkonsequenz zu kritisieren“.90 Das läuft darauf hinaus, Luther mit Luther kritisieren zu wollen. Dahinter verbirgt sich jedoch erneut ein apologetisches Interesse. Denn, so folgert Korsch: „[…] weder hat Luthers – im zeitgeschichtlichen Maße unauffällige [sic] – Judenpolemik eine erkennbare, spezifisch mentalitätsprägende Wirkung besessen, noch hat sich der nationalsozialistische Biologismus selbst daraus gespeist; im Nationalsozialismus hat man sich […] Luthers Äußerungen erst nach der Zerstörung der deutschen Demokratie bemächtigt.“ Das klingt so, ← 31 | 32 → als wäre damit alles gut. Das eigentliche theologische Problem sieht Korsch nicht in Luthers Judenfeindschaft, sondern in der „Versuchung“, die in der „evangelischen Apokalyptik“ lauere, „den Gegensatz Gottes gegen die Sünde historisch-empirisch zu positivieren“. Dies sei „ein sachliches Problem der Reformation überhaupt“.91 Das klingt so, als hätten die Juden eben Pech gehabt, dass Luthers historisch-empirische Positivierung des Zornes Gottes gerade sie getroffen hat. Die Lösung des Problems liegt für Korsch nicht etwa in der Überwindung der theologischen Wurzeln des Antisemitismus bei Luther, sondern – eine Ebene abstrakter – in der Erkenntnis, dass das „evangelische Glaubensbewußtsein“, wie er es versteht, jede „spekulative Geschichtsphilosophie“ verbiete.92 Der „apokalyptisch getönte weltanschauliche Horizont Luthers“, der nach Korsch für die Judenfeindschaft des Reformators verantwortlich ist, sei jedoch „nicht konstitutiv für eine Rezeption seiner Theologie“.93

Letztlich wird Luther von Korsch zum Propheten der Moderne stilisiert. Zwar hätte dieser ohnehin problematische Ansatz die Möglichkeit geboten, unter der Perspektive der „Dialektik der Aufklärung“ auch danach zu fragen, inwiefern Luther den Schattenseiten der Moderne bis hin zum modernen Antisemitismus den Weg bereitet hat. Aber gerade gegenüber der Frage nach einer solchen Kontinuität verwahrt sich Korsch.

Kritischer als die Darstellung von Korsch ist – jedenfalls auf den ersten Blick – die neuere von Hans-Martin Barth, die laut Untertitel beansprucht, eine „kritische Würdigung“ des Reformators zu bieten.94 Sie enthält immerhin bereits im ersten Hauptteil – „Annäherung: Zugänge und Zugangsschwierigkeiten“ – ein Unterkapitel 4.1 „Antisemitismus? Luther und die Juden“.95 Unter systematisch-theologischer Perspektive ist hervorzuheben, dass dieses Unterkapitel mit „[g]egenwartsbezogene[n] Fragestellungen“ einsetzt, unter denen die wichtigste gleich im ersten Satz genannt wird: „Luthers Haltung zum Judentum seiner Zeit kann man heute, insbesondere als evangelischer Christ und Theologe in Deutschland, nicht reflektieren, ohne Auschwitz vor Augen zu haben.“96

Hervorzuheben ist auch, dass Barth die lange Zeit verbreitete und auch heute noch vertretene Behauptung, wonach man „beim jungen Reformator eine ← 32 | 33 → wohlwollende Einstellung gegenüber den Juden“ konstatieren könne, die erst „beim alternden Luther“ in „die Härte der späten Judenschriften“ umgeschlagen sei, ins Reich der Legende verweist: „Seine Grundhaltung blieb wohl die gleiche, wenn auch seine konkreten Vorschläge sich verändert haben.“97 Die Lektüre der Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543), die „für jeden Christen schon immer eine Herausforderung“ bedeutet habe, sei allerdings „nach dem Holocaust […] geradezu unerträglich“.98 Mit Peter von der Osten-Sacken sieht Barth hier „Elemente eines Proto-Antisemitismus“ am Werk.99

Angesichts dieser gerade für einen Liebhaber Luthers erschütternden Diagnose sei, so Barth, „[b]illige Apologetik“ fehl am Platz, aber es müsse doch „der Versuch gemacht werden, irgendwie nachzuvollziehen, wie der Reformator in dieses Fahrwasser geraten konnte“.100 Gegenüber allen psychologischen, biographischen, zeitgeschichtlichen oder soziologischen Argumenten insistiert Barth auf einem theologischen: Luther sei in den Juden Menschen begegnet, „die sich auf die Bibel, jedenfalls deren Alttestamentlichen Teil, mit einer Exklusivität beriefen wie er selbst“, dabei aber „zu ganz anderen Ergebnissen“ gekommen seien.101 Die Frage, wie mit dieser Erkenntnis umzugehen sei, scheint Barth einigermaßen ratlos zu lassen. Auf keinen Fall solle man versuchen, „Luther durch aus der Geschichte gewonnene psychologische oder gar theologische Argumente zu entlasten“. Es bleibe hier „nur das Bedauern und die Klage, dass dieses Unglück passieren konnte“. Zwar wäre der Holocaust „vermutlich auch ohne Luthers antijüdische Schriften durchgeführt worden“; dennoch könne man nicht an der Tatsache vorbeisehen, dass sie „in die Vorgeschichte der Schoah hineingehören“.102

Auch der Hinweis darauf, dass Luthers Antijudaismus „im Wesentlichen religiös begründet ist“ und „mit dem biologistisch begründeten Rassenhass der NS-Verbrecher“ allenfalls am Rande zu tun habe, helfe nicht weiter; denn dann stelle sich „das Problem nach der Friedensfähigkeit christlicher und insbesondere reformatorischer Theologie, ja der Religion überhaupt“. Da sich „Luthers Auseinandersetzung mit dem Judentum […] weitgehend im Medium der Schriftauslegung“ vollzogen habe, stehe heute „die Legitimität einer christlichen Auslegung der Hebräischen Bibel insgesamt erneut zur Diskussion“. Dies führt ← 33 | 34 → zu einer aktuellen Forderung: „Das Unrecht, das Luther dem Judentum angetan hat, muss für evangelische Kirchen die Verpflichtung nach sich ziehen, sich mit jüdischer Theologie so sachlich wie irgend möglich auseinanderzusetzen und Fehlhaltungen und Missverständnisse auszuschließen“.103

Auch die Devise „Mit Luther gegen Luther“ helfe nicht wirklich weiter, denn „einseitige Interpretationen und Idealisierungen konnten und können Luther nicht retten“. Und selbst wenn man sich auf Luthers Haltung von 1523 berufen wolle, dann stelle sich „deutlich die Frage einer Judenmission“, zu der jedenfalls „Christen, die Deutsch, die Sprache der KZ-Schergen sprechen, ja Mitglieder evangelischer Kirchen überhaupt […] angesichts der zwar nicht direkten, aber doch erkennbaren Zusammenhänge zwischen Luther und der Shoah sich nicht […] berufen fühlen“ sollten.104

Barths Ratlosigkeit im Blick auf die Frage, wie mit der Tatsache von Luthers Judenhass in der evangelischen Kirche und Theologie heute umzugehen sei, ehrt ihn. Dennoch bleibt zu fragen, ob es genügen kann, von Luthers „Tragik“ zu sprechen, die darin bestanden habe, dass der Reformator „meinte, im Kampf um die Wahrheit die evangelischen Territorien vor der Gefahr der Infiltration antichristlichen Geistes schützen zu müssen“. Wenn für Luther das Judentum „in seiner von ihm vorausgesetzten Gesetzlichkeit […] die klare und direkte Kontradiktion zur Rechtfertigungsbotschaft“ darstellte,105 dann fällt von hier aus doch auch ein Schatten auf Luthers Verständnis dieser Botschaft. Dies scheint Barth auch einzuräumen, wenn er schreibt: „Die antijüdischen Aussagen Luthers bieten […] einen starken Impuls, auch seine sonstigen Schriften mit äußerst kritischer Aufmerksamkeit zu lesen.“106

In Barths kritischer Darstellung von Luthers Theologie spielt Luthers antijüdische Polemik dann jedoch kaum mehr eine Rolle. So entsteht der Eindruck, als solle durch Einräumung des Problems vorab alles Problematische zunächst aus dem Weg geräumt werden, um anschließend – von der Peinlichkeit befreit – um so unbefangener Luther zustimmen zu können. Jedenfalls hat die kritische Darstellung von Luthers Judenfeindschaft keinerlei Auswirkungen auf die Würdigung von Luthers Rechtfertigungslehre, die dann auch relativ unkritisch ← 34 | 35 → ausfällt.107 Das kann die Lösung des Problems nicht sein, wenn der Anspruch ein ‚kritischer‘ sein soll. Vielmehr muss gefragt werden, wie das benannte Problem sich auf den Rest der Theologie Luthers auswirkt.

2.  Von Luther zu Hitler?

Unser Thema ist offenbar belastet durch eine Reihe von apologetischen Strategien, durch die eine große Zahl theologischer Arbeiten sich bemüht hat, sich die Brisanz des Themas vom Hals zu schaffen. Zu diesen Strategien zählt die Behauptung, Luthers antisemitische Schriften hätten kaum eine Wirkung entfaltet, seien von den Fürsten nicht aufgegriffen worden und hätten daher von den Nationalsozialisten erst wieder ausgegraben werden müssen, um sie freilich missbräuchlich auf ihre ideologischen Mühlen zu leiten. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen müssen, wenn es darum geht, die tatsächliche Wirkung von Luthers Schriften gegen die Juden zu untersuchen.

Hier sei zunächst nur festgehalten, dass Nationalsozialisten und „Deutsche Christen“ sich umstandslos auf Luthers Antisemitismus berufen konnten, auch wenn hier die religiös begründete Judenfeindschaft in einen rassischen Antisemitismus transformiert erscheint. Trotz aller Einschränkungen, die hier gemacht werden müssen, bleibt doch die beunruhigende Frage im Raum, die sich aus der von Karl Jaspers kurz und bündig formulierten These ergibt: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“108

Berüchtigt ist die Äußerung von Julius Streicher, Herausgeber des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer, vor dem Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg am 29. 4. 1946: „Antisemitische Presseerzeugnisse gab es in Deutschland durch Jahrhunderte. So wurde bei mir zum Beispiel ein Buch beschlagnahmt von Dr. Martin Luther.“ Streicher meint hier Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahr 1543; und er fährt fort: „Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der ← 35 | 36 → Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde.“109

Der deutsch-christliche Landesbischof von Thüringen, Martin Sasse, schrieb in der Einleitung zu seiner Edition von Luthers „Judenschriften“, die 1938 unter dem programmatischen Titel Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! erschien: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volke wird zur Sühne für die Ermordung des Gesandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt […]. In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“110

Aber auch ein des Antisemitismus unverdächtiger Theologe wie Dietrich Bonhoeffer sollte hier nicht unerwähnt bleiben, da auch seine Auseinandersetzung mit der antisemitischen Politik des NS-Regimes und der Kirchenpolitik der „Deutschen Christen“ nicht frei war von Anleihen an Luthers theologisch begründete Judenfeindschaft. So heißt es im erst für den Druck hinzugefügten Schlussabsatz des ersten Teils von Bonhoeffers Essay „Die Kirche vor der Judenfrage“ (veröffentlicht im Juni 1933): „Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verlorengegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen muß. ‚Juden sind die ärmsten Leute unter allen Völkern auf Erden, werden hie und da geplaget, sind hin und her in Landen zerstreut, haben keinen gewissen Ort, da sie gewiß könnten bleiben[‘] und [‚]müssen immer besorgen, man treibe sie aus […]‘ (Luther, Tischreden).“111 Indem Bonhoeffer das Luther-Zitat hier abbrechen ← 36 | 37 → lässt, könnte der Eindruck entstehen, Luther habe in dieser Tischrede über „Der Juden Handthierung und Superstition“ (wahrscheinlich Dezember 1532/Januar 1533) sein Mitleid mit den Juden angesichts ihres leidvollen Schicksals zum Ausdruck bringen wollen. Wo Bonhoeffer drei Auslassungspunkte setzt, fährt die Überlieferung jedoch fort, indem sie den Reformator von der Verstockung der Juden reden lässt und schließlich die judenfeindliche Absicht seiner Aussage in der Schlusspointe verdeutlicht: „Aber ihnen geschicht recht und billig also; denn weil sie Christum und sein Evangelium nicht wollen haben, so müssen sie fur Freiheit haben Knechtschaft“ (WA Tr 3, 36). Bonhoeffer rezipiert also Luthers Fluchtheologie, indem er ihr die Spitze abbricht; genauer: er biegt die Spitze um, indem er der Rede vom göttlichen Fluch über Israel in der Fortsetzung seines Essays eine eschatologische bzw. judenmissionarische Pointe gibt: „Aber die Leidensgeschichte dieses von Gott geliebten und gestraften Volkes steht unter dem Zeichen der letzten Heimkehr des Volkes Israel zu seinem Gott. Und diese Heimkehr geschieht in der Bekehrung Israels zu Christus […]. Die Bekehrung Israels, das soll das Ende der Leidenszeit des Volkes sein.“112

Solche Beobachtungen legen die Frage nahe, ob und inwiefern ein Weg ‚von Luther zu Hitler‘ führe. Harry Oelke bemerkt dazu: „Das stärkste Bindeglied zwischen der Lutherdeutung der NS-Zeit und der Nachkriegszeit markierte die These von einer direkten Linie, die kausalchronologisch von Luther über diverse historische Etappen bis zu Hitler führte. Sie ging zurück auf den amerikanischen Historiker William Montgomery McGovern und sein Buch ‚From Luther to Hitler‘, das 1941 in erster Auflage erschienen war […]. Der Brite Peter F. Wiener […] führte die These weiter und machte sie populär.“113 Die durch diese These aufgeworfene Frage ist u. E. bis jetzt nicht befriedigend erörtert worden. ← 37 | 38 →114

In seinem Buch Martin Luther. Hitler’s Spiritual Ancestor hat Peter F. Wiener behauptet, dass „the real roots of National Socialism go down to the reformer Martin Luther, who seems to me more of a political demagogue than a religious reformer, and whose teachings and sayings are the foundations on which later Germany built“.115 „German ‚Kultur‘“ habe „its roots in Martin Luther“, womit zugleich die Differenz zwischen deutscher „Kultur“ und französischer „civilisation“ bzw. eine „difference of atmosphere between France and Germany“ markiert sei.116 Historiker wie Ernst Troeltsch hätten längst bemerkt, dass die Reformation, jedenfalls die deutsche Reformation nicht als „a liberal and progressive movement, gesehen werden dürfe, sondern als „a fatal reactionary period against the greatness of the Renaissance“ gelten müsse.117

Was Luthers Lehre betrifft, stellt Wiener das Prinzip sola fide heraus: „According to Luther, what we do and how we act does not matter in the least. All that matters is our belief.“ Dies widerspreche jedoch dem, was man sonst unter „a truly Christian life“ verstehe, dass wir nämlich „try to commit no sins“.118 Dieser etwas schlichten Auffassung vom Christentum entsprechend wirft Wiener Luther vor allem eine inhumane ethische Lehre vor. Dies betrifft die politische Ethik, wie sich insbesondere in Luthers Haltung im Bauernkrieg gezeigt habe: „Perhaps the one and greatest chance in Germany’s history to have a revolution of the people […] was squashed by Martin Luther.“119 Es betrifft auch die Kriegsethik; vor allem aber betrifft es Luthers Stellung gegenüber den Juden.120

Ein „fairly well-known German refugee Lutheran pastor“ habe behauptet, dass „Luther, the founder of modern freedom, was the first to turn against antisemitism“.121 Dabei habe er sich einiger Zitate aus Luthers Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523) bedient, um zu begründen, dass es die dringendste Aufgabe sei, „to bring the German people back to Luther“. Dem widerspricht ← 38 | 39 → Wiener heftig: „I thought that a Lutheran priest should at least have read Luther […]. For the greatest part of his life Luther was an antisemite of the worst calibre […]. Like all his enemies, the Jews in Luther’s eyes were devils.“122 Den Nachweis, dass Luther einer der schlimmsten Antisemiten gewesen sei, führt Wiener mit Zitaten aus Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543), die auch vom Stürmer nicht übertroffen worden seien.123 Niemals in der Geschichte der zivilisierten Menschheit „have the masses been so incited to persecution and murder as by this ‚Christian reformer.‘“124 Und unter Zitierung von Reinhold Lewin, mit dem die moderne Forschung über unser Thema beginnt, betont Wiener die fatalen historischen Konsequenzen von Luthers Antisemitismus: „,Whoever wants to write against the Jews out of any motive, always believes to have the right to refer triumphantly to the writings of Luther.‘ All future ‚antisemitic decrees had their origin in Luther‘ […].“125 Es sei angesichts dieser Wirkungsgeschichte heuchlerisch, „to make out Luther as a Jew-loving Christian“.126 Stattdessen kommt Wiener zu dem Ergebnis, dass Luther „preached and practised a violent antisemitism and extermination of the Jews which remain unsurpassed even by Hitler“.127 Kurz: „The Lutheran tradition in Germany has produced barbarians and not Christians in our sense […].“128 Daher sieht Wiener sich konfrontiert mit „the great and perhaps impossible task not of producing a German re-education, but a German – the first of its kind – reformation“.129 ← 39 | 40 →

Gewiss ist in Wieners Konstruktion einer geraden Linie von Luther zu Hitler manches verzeichnet und überbelichtet. Die scharfe Polemik ist zweifellos nicht zuletzt der zeitgeschichtlichen Konstellation – am Ende des Zweiten Weltkriegs – geschuldet. Andererseits sollten wir es uns nicht zu bequem machen mit der Zurückweisung der kritischen Frage, die an die Tradition der lutherischen Theologie in ihrer kulturprägenden Bedeutung für Deutschland gestellt wird. Heinz Schilling meint widersprechen zu müssen: „Wer Luther zum Vorfahren Hitlers erklärt, lenkt von entscheidenden kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ab, die zwischen Reformation und Nationalsozialismus liegen und für die andere als der Reformator die Verantwortung tragen.“130 Es sei zwar „verständlich, wenn auch quellenkritische Wissenschaftler die historisch gebotene Unterscheidung zwischen religiös bedingtem Antijudaismus Alteuropas und dem rassistischen Antisemitismus der Moderne beiseite schieben und resümieren: Luther habe statt ‚Güte und Milde […] Hass und Vernichtung der Menschenwürde gepredigt.‘“131 Aber: „Luthers furchtbare Hassreden gegen die Juden mündeten nicht direkt und zwangsläufig in den nationalsozialistischen Holocaust ein.“132 Damit soll offenbar genug gesagt sein.

Dazu ist jedoch zunächst zu bemerken, dass die verbreitete Betonung der „Diskontinuitäten“ zwischen prä-modernem Antijudaismus und modernem Antisemitismus in der historischen Literatur über die Schoa häufig die „geistigen Kontinuitäten, die tatsächlich beide Perioden durchziehen“, verbirgt.133 So ist die These, es führe ein gerader Weg von Luther zu Hitler keineswegs nur von Propagandisten der angelsächsischen Kriegsgegner Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg vertreten worden. Vielmehr konnte die These sich einerseits auf das Selbstverständnis vieler evangelischer Theologen in Deutschland namentlich unter den ‚Deutschen Christen‘, aber auch in der (überwiegend lutherischen) ← 40 | 41 → sog. kirchlichen ‚Mitte‘ bis hinein in die Bekennenden Kirche berufen, die in Hitler den würdigen Nachfolger Luthers als des Propheten der Deutschen sahen.134

Zum anderen gab es auch prominente deutschsprachige Gegner Nazi-Deutschlands, die ihre Kritik an dem Verlauf der deutschen Geistesgeschichte mit der Kontinuitätslinie von Luther zu Hitler untermauerten: „Zwei Stimmen in deutscher Sprache, die Luther ähnlich kritisch beurteilten, gewannen für die deutsche Diskussion ein größeres Gewicht als die angelsächsische Luther-Hitler-These, namentlich Thomas Mann und Karl Barth.“ Thomas Mann zeichnete Luther in seiner Rede über „Germany and the Germans“ vom 29. Mai 1945 in der Library of Congress „als eine Figur der deutschen Geschichte, in der das Beste ‚durch Teufelslist zum Bösen ausschlug‘ […].“135 Karl Barth wiederum veröffentlichte gerade aufgrund seiner „Solidarität mit der Sache der bekennenden Christen in Deutschland“ im Jahr 1945 die Aufsatzsammlung Eine Schweizer Stimme, die seine politischen Stellungnahmen aus der Zeit zwischen 1938 und 1945 enthielt.136 Dort heißt es u. a.: „Es leidet aber das deutsche Volk an der Erbschaft eines besonders tiefsinnigen und gerade darum besonders wilden, ← 41 | 42 → unweisen, lebensunkundigen Heidentums. Und es leidet an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen: an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht, durch den sein natürliches Heidentum nicht sowohl begrenzt und beschränkt als vielmehr ideologisch verklärt, bestätigt und bestärkt worden ist […]. Der Hitlerismus ist der gegenwärtige böse Traum des erst in der lutherischen Form christianisierten deutschen Heiden.“137

Im Übrigen ist zu bedenken, dass Kontinuitäten über die Jahrhunderte hinweg nicht nur von Kritikern Luthers wie Karl Barth, Peter F. Wiener und Thomas Mann behauptet worden sind, sondern bis heute ebenso von Luther-Apologeten konstruiert werden – so etwa, wenn Luther für die gesamte moderne Freiheitsgeschichte in Anspruch genommen wird.138 Wer nach solchen Kontinuitäten fragt, wird die Schattenseiten der Reformation nicht ausklammern dürfen. Mögen die Wege verschlungener sein als sie in Wieners Konstruktion erscheinen, so darf die Frage nach solchen Kontinuitäten doch nicht tabuisiert werden.

3.  Leitfragen und Gliederung

Die hier vorgelegte Untersuchung wird sich demgemäß den folgenden Fragen zuwenden müssen: Ist Luthers Stellung zu den Juden nur ein historisch-abständiges Randproblem seiner Theologie, das bei heutigen Gesprächen zwischen Christen und Juden besser ausgeklammert werden sollte, da es eine Belastung des Dialogs darstellen würde? Oder ist Luthers Polemik gegen die Juden im Zentrum seiner Theologie verankert, so dass sie nicht zurückgenommen werden kann, ohne Rückwirkungen auf die reformatorische Theologie auszulösen? Muss gar über „theologische Judenfeindschaft als Geburtsfehler des Protestantismus“ (Klaus Wengst) geredet werden?

Daraus ergeben sich die folgenden Detailfragen: Wie ist das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in Luthers theologischer Entwicklung hinsichtlich seiner ← 42 | 43 → Einstellung gegenüber den Juden einzuschätzen? Wie verhalten sich Exegese und Dogmatik in Luthers Stellung zu den Juden zueinander? Wie verhalten sich Bibelauslegung, Theologie und Geschichtsspekulation zueinander? Wie stellt sich der Zusammenhang zwischen Rechtfertigungslehre und Judenfeindschaft im einzelnen dar? Liegt das Problem darin, dass Luther das Konzept der Rechtfertigung universalisiert oder eher darin, dass er es engführt? Schließlich: Wie ist Luthers Einstellung gegenüber den Juden von jüdischen Zeitgenossen wahrgenommen worden?

Noch einmal anders gefragt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Luthers zentraler reformatorischer Entdeckung von der Rechtfertigung des sündigen Menschen sola gratia, sola fide (allein aus Gnade, allein durch Glaube) ohne Werke des Gesetzes und seiner feindseligen Stellung zu den Juden oder steht beides – reformatorische Theologie und judenfeindliche Kirchenpolitik – bei ihm eher unverbunden nebeneinander? Wenn es einen inneren Zusammenhang gibt, worin besteht er? Folgt Luthers Judenfeindschaft notwendigerweise aus seiner reformatorischen Entdeckung oder ist sie eher die Folge einer nicht konsequent durchdachten Rechtfertigungstheologie?

Letztlich geht es in systematisch-theologischer Perspektive jedoch darum, den Umgang mit Luther heute einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Sollte es sich nämlich erweisen, dass die Judenfeindschaft nicht losgelöst vom Zentrum reformatorischer Theologie verstanden werden kann, dann fällt damit ein Zwielicht auf die reformatorische Entdeckung selbst. Daraus ergeben sich weitere Fragen, die hier nur angedeutet seien: Wenn Luthers Judenfeindschaft die Folge reformatorischer Inkonsequenz wäre, wie könnte Luthers Stellung gegenüber den Juden vom reformatorischen Ansatz her korrigiert werden? Gibt es eine Möglichkeit, Luthers reformatorische Entdeckung zu bekräftigen, ohne zugleich Luthers anti-jüdische Konsequenzen zu ziehen? Wenn hingegen Luthers Judenfeindschaft mit einer gewissen Notwendigkeit aus seinem reformatorischen Ansatz folgt, wie müsste seine Rechtfertigungslehre korrigiert werden, um antijudaistische Konsequenzen schon im Ansatz zu vermeiden? Anders gefragt: Gibt es eine Möglichkeit, Luthers Kritik an der ‚Werkgerechtigkeit‘ zu folgen, ohne antijudaistisch zu werden? Wie müsste diese Kritik dann formuliert werden? Schließlich: Wenn Luthers reformatorischer Ansatz nicht zu retten wäre, weil er den Antisemitismus als ‚linke Hand‘ benötigt, wie müsste dann stattdessen von ‚Sünde und Rechtfertigung‘, von ‚Glaube und Werken‘, von ‚Gesetz und Evangelium‘ geredet werden?

Wir beginnen mit einem Überblick über die Forschung seit der ersten wissenschaftlichen Studie zum Thema ‚Luther und die Juden‘, der im Jahr 1911 ← 43 | 44 → vorgelegten Dissertation des jüdischen Gelehrten Reinhold Lewin.139 Dabei ist keineswegs Vollständigkeit angestrebt, zumal die Periode bis 1972 durch den katholischen Theologen Johannes Brosseder bereits umfassend aufgearbeitet ist.140 Wir werden uns bei unserer Erörterung der vielfältigen Forschungsbeiträge von der Leitfrage bestimmen lassen, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Luthers Theologie und seiner Judenfeindschaft gesehen wird.

Die beiden folgenden Kapitel werden sich dann jeweils einem Pol der Leitfrage nach dem Zusammenhang von Theologie und Antisemitismus am Beispiel Luthers zuwenden. In einer knappen Skizze sollen zunächst die zentralen Themen der Theologie Luthers umrissen werden, die sich um die Rede von der ‚Rechtfertigung‘ bzw. um die Unterscheidung von ‚Gesetz und Evangelium‘ bündeln lassen. Dabei werden auch die reformatorischen Prinzipien solus Christus, sola fide, sola gratia und sola scriptura zur Sprache kommen. Auch wenn die Darstellung dieser theologischen Themen zunächst unter Absehung ihres möglichen Zusammenhangs mit dem Gegenpol der Judenfeindschaft erfolgt, so werden wir doch gegen Ende des Kapitels auf einige Probleme in dieser Hinsicht primär im Blick auf die lutherischen Bekenntnisschriften hinweisen.

In einem weiteren Kapitel soll dann der Antisemitismus als Gegenpol unserer Fragestellung erörtert werden. Hier werden wir zunächst ganz von Luthers Theologie absehen, um die terminologische Frage zu klären, ob im theologischen Zusammenhang nicht eher von Antijudaismus geredet werden sollte. Die Entscheidung, den Terminus Antisemitismus gerade auch im Blick auf Luthers Judenfeindschaft nicht zu tabuisieren, wird damit begründet, dass andernfalls die Gefahr einer Verharmlosung der Problematik drohen könnte.

Der eigentliche Hauptteil unserer Untersuchung wird sich dann der Entwicklung von Luthers Einstellung gegenüber den Juden zuwenden. Dabei werden nicht nur die sog. ‚Judenschriften‘ berücksichtigt, sondern exemplarisch auch weitere Schriften Luthers wie Predigten und Vorlesungen mit herangezogen, um ein möglichst umfassendes Bild zu gewinnen. Während in der Forschung bislang meist zwischen einem frühen Luther und einem späten Luther unterschieden wird, wobei der frühe dann gelegentlich als ‚judenfreundlich‘ charakterisiert wird, während erst der späte in alters- und krankheitsbedingter Verbitterung zum Judenfeind geworden sei, werden wir – entsprechend der ← 44 | 45 → Leitfrage nach dem Zusammenhang von Theologie und Antisemitismus – insbesondere auf theologische Kontinuitäten achten, die sich durch alle Phasen von Luthers Entwicklung hinsichtlich seiner Einstellung gegenüber den Juden durchhalten.

Im Unterschied zur bisherigen Forschung erscheint es uns am sinnvollsten, diese Entwicklung in vier Phasen zu gliedern: Schon Reinhold Lewin hat darauf hingewiesen, dass bereits der vorreformatorische Luther eine Theologie mit deutlich antijüdischen Akzenten vertreten hat, wie insbesondere seinen frühen Wittenberger Vorlesungen zu entnehmen ist. Erst in einer Mittelphase, die im wesentlichen den Anfangsjahren der Reformation entspricht, habe sich Luthers Haltung – freilich in judenmissionarischem Interesse – aufgehellt. Dafür stehe insbesondere die Schrift Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523), die in der Forschung meist als ‚judenfreundlich‘ bezeichnet und damit doch wohl idealisiert wird. Neben der Frage, wie diese keineswegs mehr dem ‚frühen‘, sondern bereits dem reifen Luther zuzurechnende Schrift einzuschätzen ist, stellt sich die nicht weniger schwierige Frage, wann der Umschlag zu offener Judenfeindschaft bei dem Wittenberger Reformator erfolgt sei. Da dies nach unserer Analyse der Schriften Luthers offensichtlich spätestens 1526, d. h. bereits während des Bauernkriegs oder unmittelbar danach erfolgt ist, schrumpft die Mittelphase, die dem Anfang der Reformation entspricht, auf ein Intermezzo von wenigen Jahren (1521–1523) zusammen. Um den ‚späten‘ Luther aber nicht bereits in der Mitte der 1520er Jahre beginnen zu lassen, fügen wir hier eine Übergangsphase ein, in der zu beobachten ist, wie die reformatorische Theologie aggressiv antijüdisch angeschärft und zugespitzt wird. Die vierte und letzte Phase wird dann am ausführlichsten erörtert. Sie ist insbesondere geprägt durch Luthers antisemitische Trilogie des Jahres 1543, wobei wir unser Hauptaugenmerk der Schrift Von den Juden und ihren Lügen zuwenden werden, deren Hauptpointe in der Vermahnung wider die Juden (1546) als Luthers theologischem Testament noch einmal knapp zusammengefasst erscheint. Über die bisherige Forschung hinaus soll im Blick auf Luthers judenfeindliche Alterswerke nicht nur die hier geforderte antijüdische Praxis thematisiert werden, sondern insbesondere auch nach deren theologischer Begründung gefragt werden, um den inneren Zusammenhang von Theologie und Antisemitismus zu dokumentieren.

An die Erörterung der Entwicklung von Luthers judenfeindlicher Einstellung anhand seiner Schriften werden sich drei exkursartige Kapitel anschließen, deren erstes den Zusammenhang von Geschichtstheologie und Judenfeindschaft bei Luther thematisiert. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung war Luther nämlich keineswegs nur Schrifttheologe. Vielmehr zeigen gerade seine ← 45 | 46 → antijüdischen Schriften immer wieder, wie er die Bibel im Licht geschichtlicher Erfahrung gelesen hat, wobei im Blick auf die Juden die Geschichtsdarstellung des Josephus von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 leitend ist. Hier sieht Luther das gerechte Strafurteil des zornigen Gottes über sein treuloses Volk, das den Erlöser der Welt gekreuzigt habe, am Werk. In diesem Zusammenhang wird auch Luthers engster Vertrauter Johannes Bugenhagen mit seiner Historia von der Zerstörung Jerusalems und der Juden zur Sprache kommen.

Details

Seiten
570
Erscheinungsjahr
2017
ISBN (PDF)
9783631733639
ISBN (ePUB)
9783631733646
ISBN (MOBI)
9783631733653
ISBN (Hardcover)
9783631733622
DOI
10.3726/b11716
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Rechtfertigungslehre Judenfeindschaft Reformation Antijudaismus Christologie Geschichtstheologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 570 S.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Andreas Pangritz (Autor:in)

Andreas Pangritz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Theologie des 20. Jahrhunderts (Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt), Theologie des christlich-jüdischen Verhältnisses.

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Titel: Theologie und Antisemitismus