Von Lenau zu «Laibach»
Beiträge zu einer Kulturgeschichte Mitteleuropas
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung
- 1. Lineare und zirkuläre Rezeptionsverläufe im Kontext der Moderne
- 1.1 Nikolaus Lenau in den slawischen Literaturen Mitteleuropas um 1900
- 1.2 Zur widersprüchlichen Rezeption Hugo von Hofmannsthals in der tschechischen Literatur um 1900
- 1.3 Deterritorialisierte Texte: Am Beispiel von Tadeusz / Thaddäus Rittner und Peter Altenberg
- 2. Zwischen Galizien und Wien
- 2.1 Anschreiben gegen den Kanon: Goethe- und Heine-Reskripte der „Moloda Muza“
- 2.2 Das präsente und das absente Wien im Lemberger „Literaturno-naukovyj visnyk“ (1898–1906)
- 2.3 Ivan Franko als Mitarbeiter der „Zeit“
- 2.4 Hugo von Hofmannsthals galizische Implikationen
- 2.5 Von den Schützenliedern zu Vjerka Serdjučka: Konstruktion und Dekonstruktion nationaler Identität im ukrainischen politischen Lied des 20. Jahrhunderts
- 3. Orte der Moderne
- 3.1 Inklusion und Exklusion: Zur Funktionalisierung der Wiener Parkwelten durch slawische Autoren der Donaumonarchie
- 3.2 Das Kaffeehaus – ein (Un-)Ort der slowenischen und kroatischen Moderne
- 4. Korrespondenzen
- 4.1 Josef Svatopluk Machar, Zenon Przesmycki und die Wiener Wochenschrift „Die Zeit“
- 4.2 Briefe österreichischer und deutschböhmischer Autoren an Josef Svatopluk Machar
- 4.3 Wiener An- und Einsichten in Oton Župančičs Briefen an Berta Vajdič
- 5. Im Zeichen der Gegenwart
- 5.1 Austriakische Simulakra in der tschechischen Literatur der letzten Jahrzehnte
- 5.2 Zum Umgang mit dem kakanischen Erbe in der zeitgenössischen ukrainischen Literatur
- 5.3 Dienst am imaginären Vaterland: „Laibachs“ slowanische Hymne
- 6. Methodologische Nachbetrachtung
- Mitteleuropa als Schnittstelle interner und externer Theorieangebote
- 7. Anhang
- 7.1 Bibliographie und Verzeichnis der Internetquellen
- 7.1.1 Primärliteratur
- 7.1.2 Sekundärliteratur
- 7.1.3 Internetquellen
- 7.2 Nachweis der Erstveröffentlichungen
- 7.3 Personenregister
- 7.4 Schriftenverzeichnis von Stefan Simonek
Mary sang und tanzte ein paar Minuten lang inmitten von Balalaika-Spielern, kostümiert
als „ukrainische Prinzessin“, die aber eher aus den Tiroler Alpen zu kommen schien.
Patrick Modiano: Eine Jugend
(Modiano 2014: 107)
Der hier vorgelegte Band umfasst Aufsätze aus den Jahren 2000 bis 2013,1 die in ihrer Summe den bescheidenen Anspruch erheben, als Bausteine einer breiter angelegten Kulturgeschichte Mitteleuropas zu firmieren. Die Gründe für die Verwendung des Begriffs „Mitteleuropa“ (anstatt beispielsweise „Zentraleuropa“) sollten sukzessive aus der Argumentationsführung der einzelnen Beiträge selber hervorgehen und werden jedenfalls im letzten Einzelbeitrag des Bandes in Form einer methodologischen Nachbetrachtung auch auf theoretischer Ebene reflektiert – mit Sicherheit sind sie nicht in einer fehlgeleiteten Nostalgie nach holistischen Vorstellungen einer harmonischen Konstellation von Kulturen zu suchen, die einander zu einem größeren, Bedeutung stiftenden Ganzen ergänzen. Stattdessen stehen neben den diversen, über Kanäle der Rezeption, Literaturkritik oder Korrespondenz laufenden, verbindenden Faktoren der kulturellen Akteure in Mitteleuropa auch Fragen nach Mustern hierarchischer Abstufungen zwischen Zentrum und Peripherie, nach der Deterritorialisierung von Texten zwischen nur scheinbar stabil gesetzten Nationalliteraturen sowie nach Mustern von Ein- und Ausschließung (dargestellt an symbolisch aufgeladenen Orten der Moderne wie Park oder Kaffeehaus). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist für viele slawische Literaturen in Mitteleuropa ein Modus der Erinnerung an die kakanische Vergangenheit der Donaumonarchie zu konstatieren, der zunehmend im Zeichen jener Scheinhaftigkeit steht, die (aus einer ganz anderen Perspektive) auch Patrick Modiano in seinem von Peter Handke ins Deutsche übertragenen Roman Une jeunesse en passant zur Darstellung brachte. Von daher wurde ganz bewusst auch ein Beitrag zur slowenischen Band „Laibach“ an den Schluss dieses Bandes gestellt, operiert das slowenische Kollektiv doch in verfremdend-dekonstruierender Weise mit jenen Modi kultureller Um- und Neucodierung, die für die mitteleuropäischen Autoren der Moderne rund hundert Jahre zuvor etwa in der Rezeption von Nikolaus Lenau als selbstverständliche Elemente einer kulturellen Praxis firmierten, die wesentlich von Pluralität und Mehrsprachigkeit geprägt war. ← 9 | 10 →
Um diese spezifischen kulturellen Konstellationen genauer zu fokussieren, wurden die insgesamt achtzehn für den vorliegenden Band ausgewählten Einzelbeiträge in mehrere, thematisch zusammenhängende Abschnitte gruppiert: Kapitel eins zeichnet am Beispiel eben der produktiven Aufnahme der Gedichte und Poeme, aber auch der tragischen Biographie Nikolaus Lenaus in den slawischen Literaturen Mitteleuropas, der ambivalenten Rezeption Hugo von Hofmannsthals in der tschechischen Literatur um 1900 und der Auseinandersetzung Tadeusz / Thaddäus Rittners mit einer Skizze von Peter Altenberg lineare und kreisförmige Rezeptionswege im Kontext der mitteleuropäischen literarischen Moderne nach. Zusammengenommen ergeben diese verschiedenen Modi der Rezeption ein dichtes Geflecht, das man unter Zuhilfenahme rezenter Theorieangebote der Kulturwissenschaften wahlweise als Netzwerk oder (mit Gilles Deleuze und Félix Guattari) als Rhizom bezeichnen könnte.
Kapitel zwei des Bandes unternimmt dann eine Annäherung an die Verbindungslinien zwischen Wien als einem kulturellen Zentrum der Donaumonarchie und deren östlicher Peripherie in Galizien. Strategien eines „Zurück-Schreibens“ deutscher Klassiker wie Goethe und Heine durch ukrainisch-galizische „minor poets“ wie die Autoren der Gruppe „Moloda Muza“ [Die junge Muse] reflektieren in diesem Zusammenhang kulturelle Hierarchien ebenso wie Hugo von Hofmannsthals Konzeptionalisierung der östlichen Randbereiche der Monarchie oder deren mediale Repräsentation über jene publizistischen Beiträge, die Ivan Franko als der wohl bedeutendste ukrainische Autor aus Galizien über Jahre hinweg für die in Wien herausgebrachte Wochenschrift „Die Zeit“ verfasst hat. Die ukrainischen Schützenlieder aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der ersten Nachkriegsjahre schließlich können gerade auch in ihrer Hypostasierung des Nationalen angesichts der polnisch-ukrainisch-russischen Konflikte als eine Art Epilog auf die Pluralität der Moderne verstanden werden.
Als genuine Orte dieser Pluralität firmieren die Parks und Gärten der Metropole Wien, die an deren spezifische Geographie und an die Dichotomie von Innenstadt und Vorstadt gebunden sind, sowie das Kaffeehaus mit seinen eigenen, zu den Parks und Gärten analogen Mustern von Ein- und Ausschluss, von Innen und Außen, von abgeschlossenen Räumen der Kommunikation Gleichgesinnter und der sozialen Realität der Großstadt außerhalb dieser heterotopischen Gegen- und Rückzugsräume; ihnen ist der dritte Abschnitt des vorliegenden Bandes gewidmet. Neben die Tischrunden etablierter Autoren in den Kaffeehäusern und den direkten intellektuellen Austausch im Gespräch tritt im Kontext der Moderne auch in Mitteleuropa der indirekte, medial vermittelte Kontakt in Form von Briefen und Ansichtskarten, dem (wiederum anhand paradigmatischer ← 10 | 11 → Beispiele) Kapitel vier des Bandes gewidmet ist: Während die Korrespondenz zwischen Hermann Bahr, Josef Svatopluk Machar und Zenon Przesmycki sowie die Briefe und Telegramme österreichischer und deutschböhmischer Autoren an Machar überwiegend der literarischen Profession der Beteiligten geschuldet sind (ein zentrales Thema der Korrespondenz zwischen Machar, Przesmycki und Bahr sind eben die Beiträge für Bahrs Wochenschrift „Die Zeit“), reichen jene Briefe, die der slowenische Lyriker Oton Župančič mehr als zehn Jahre lang aus Wien an seine Verlobte Berta Vajdič geschrieben hat, passagenweise tief in den Bereich des Privaten hinein.
Im Kontext postmodernen Schreibens schließlich eröffnen sich für die slawischen Literaturen Mitteleuropas Modi der Erinnerung, die (wie am Beispiel der tschechischen Literatur aufgewiesen) im Zeichen einer zunehmenden Unwirklichkeit stehen. Aus dieser heraus resultiert eine Darstellung der Donaumonarchie als Simulakrum im Sinne Jean Baudrillards, das nicht auf die Rekonstruktion einer vorangegangenen kulturgeschichtlichen Epoche abzielt, sondern diese vielmehr als Kulisse inszeniert. Für die westukrainisch-galizischen Autorinnen und Autoren der 1990-er Jahre hingegen bot der literarische Rückgriff auf die Donaumonarchie eine Möglichkeit, diesen (über literarische Mittel der Postmoderne laufenden) Erinnerungsmodus gegen die als nivellierend und kollektivistisch empfundene Sowjetzivilisation in Stellung zu bringen. Der zuvor bereits erwähnte, eigens für diesen Band verfasste Beitrag zur slowenischen Band „Laibach“ kann vielleicht auch als abschließender Kommentar zu all jenen zuvor veranschaulichten künstlerischen Praktiken des Um-, Neu- und Zurückschreibens verstanden werden, die für die plurale kulturelle Konstellation in Mitteleuropa insgesamt verantwortlich waren – dabei werden jene Identität und Nationalbewusstsein stiftenden Diskurse, die etwa die ukrainischen Schützenlieder des Ersten Weltkriegs prägen, von „Laibach“ durch eine ambivalente Annäherung an das jeweilige, von Nationalhymnen bis hin zu banalen Popsongs reichende Material nicht von außen herausgefordert, sondern durch eine bewusste Überidentifikation vielmehr von innen heraus unterminiert.
Über Titel und Untertitel des hier vorgelegten Bandes eröffnet sich ein Bogen, der chronologisch vom 19. bis in das 21. Jahrhundert reicht und der (ausgehend von den Forschungsschwerpunkten des Verfassers) die Kulturgeschichte Mitteleuropas von der österreichischen wie den slawischen Literaturen her fokussiert, wobei der Schwerpunkt diesbezüglich auf der ukrainischen, tschechischen und slowenischen Literatur liegt. Bisweilen greifen einzelne Beiträge auch vergleichend über den im Untertitel des Bandes angesprochenen, engeren mitteleuropäischen Rahmen hinaus – Vjerka Serdjučka oder Oksana Zabužko etwa haben mit ← 11 | 12 → der mitteleuropäischen Dimension der ukrainischen Kultur nur wenig zu tun, bieten aber jeweils die Kontrastfolie zu den westukrainischen Schützenliedern des Ersten Weltkriegs beziehungsweise zur postmodernen Wiederaufnahme des kakanischen Erbes in der westukrainischen Literatur der 1990-er Jahre. Gleichzeitig soll dieses bewusste Hinausgreifen aber auch die prinzipielle Dynamik und Flexibilität der Konzeption von Mitteleuropa veranschaulichen, die eben aufgrund dieser Beweglichkeit Grenzüberschreitungen in verschiedensten Formen ermöglicht (der Umstand etwa, dass die deutschen Übersetzungen von Zabužkos Romanen und Essays in einem österreichischen Verlag erscheinen, mag in diesem Zusammenhang mindestens als Randnotiz Erwähnung finden).
Die in diesen Band aufgenommenen Aufsätze geben die jeweiligen Erstveröffentlichungen in der Regel nicht eins zu eins wieder, vielmehr wurden diese teilweise um längere Passagen gekürzt oder auch erweitert, einzelne kürzere Beiträge wurden zu neuen, umfangreicheren Abschnitten zusammengezogen oder erhielten neue Titel. Die Begründung für diese Modifikationen liegt primär im Bestreben, die bei Aufsatzsammlungen kaum vermeidbaren inhaltlichen Redundanzen und Überschneidungen so weit es geht zu minimieren und den Band auf diese Weise wenigstens einen Schritt weit in Richtung Monographie zu bewegen (bei einigen für die jeweilige Argumentation unabdingbaren Primärzitaten insbesondere von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal ließen sich Wiederholungen freilich nicht gänzlich umgehen); daneben wurden in den Beiträgen gegenüber den Erstveröffentlichungen vereinzelt fachliche Korrekturen vorgenommen. Eine durchgehende Aktualisierung der Beiträge in Bezug auf den jeweiligen Stand der Forschung konnte insofern nicht geleistet werden, als dies passagenweise eine völlige Neufassung der betroffenen Texte bedeutet hätte. Auch hier wurden lediglich punktuelle Ergänzungen vorgenommen; als wesentliche Veröffentlichungen der letzten Jahre, die aus dem erwähnten Grund nicht in den Band eingearbeitet wurden, seien an dieser Stelle stellvertretend etwa Moritz Csákys Studie Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa (2010) oder Alenka Jensterle-Doležals Monographie Avtor, tekst, kontekst, komunikacija. Poglavja iz slovenske moderne [Autor, Text, Kontext, Kommunikation. Kapitel aus der slowenischen Moderne] aus dem Jahr 2014 angeführt.
Abschließend möchte ich mich bei Sylvia Richter (Wien) für die gewissenhafte Erstellung der Druckvorlage dieses Bandes sowie bei Gertraude Zand (Wien) bedanken, die einen Großteil der hier versammelten Beiträge vor der jeweiligen Erstveröffentlichung durchgesehen hat.
Stefan Simonek
Wien, im August 2015
1 Vgl. auch den Nachweis der Erstveröffentlichungen der einzelnen Beiträge in Abschnitt 7.2 des Bandes.
1. Lineare und zirkuläre Rezeptionsverläufe im Kontext der Moderne
1.1 Nikolaus Lenau in den slawischen Literaturen Mitteleuropas um 1900
Ein übergreifender komparatistisch ausgerichteter Blick auf die slawischen Literaturen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts belegt augenfällig die kontinuierliche und intensive Aufmerksamkeit, der sich Kunst- und Lebenstext1 von Nikolaus Lenau erfreuten. Diese Aufmerksamkeit griff (natürlich mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) über die Epochengrenzen von Romantik, Realismus und Moderne hinweg und resultierte in einer ständigen Verschiebung und Modifizierung des über Kritiken, Übersetzungen und intertextuelle Verweise in den eigenen lyrischen bzw. essayistischen Texten generierten Lenau-Bildes, das im Rückgriff auf den österreichischen Autor die jeweils eigene ästhetische Position legitimieren sollte. Auffällig an diesem Prozess ist dabei nicht nur die zeitliche Kontinuität der Lenau-Rezeption in den slawischen Literaturen, die niemals gänzlich abriss, sondern auch der Umstand, dass sich immer wieder zentrale Autoren der diversen Stilformationen mit Lenaus Werk auseinandergesetzt haben. So existiert z. B. in der Tradition der russischen Literatur ein romantischer, über die Nachdichtungen Vasilij Žukovskijs und Fedor Tjutčevs generierter Lenau, ein Lenau im Zeichen des kritischen Realismus (vgl. die Übersetzungen Michail Michajlovs und Aleksej Pleščeevs), ein präsymbolistischer Lenau über Aleksej Apuchtins Nachdichtung des ersten Schilflieds und ein ausgeprägt symbolistischer Lenau in Valerij Brjusovs und Konstantin Bal’monts Übertragungen der Schilflieder. Ein ähnlich kontinuierliches Bild bis zur Moderne der Jahrhundertwende bietet auch die tschechische Literatur mit Namen wie Jan Pravoslav Koubek (er veröffentlichte 1850 einen in Gedichtform gehaltenen Nachruf auf den kurz zuvor verstorbenen Lenau), Václav Bolemír Nebeský, Rudolf Mayer, Jan Neruda, Jaroslav Vrchlický und Josef Svatopluk Machar.2
Sucht man nun nach einer Erklärung für diese anhaltende und intensive Rezeption Lenaus in den slawischen Literaturen, so mag die Mehrdimensionalität von Lenaus Kunst- und Lebenstext als mögliches Interpretationsmuster dienen: Lenaus Dichter-Imago und seine literarische Produktion waren in mehrfacher Weise von einem Moment des Unentschiedenen und Ambivalenten geprägt, das es (ähnlich wie im Falle der Rezeption Heinrich Heines in den slawischen ← 15 | 16 → Literaturen) ermöglichte, denjenigen Aspekt zu aktualisieren, der mit der jeweils eigenen ästhetischen Position kompatibel war und diese affirmierend bestätigen konnte; dafür bot sich ein in sich gebrochenes Rezeptionsangebot aufgrund seiner Mehrdimensionalität in stärkerem Maße an als eine Rezeptionsvorgabe, die von einer einheitlichen Struktur geprägt war. Die erste der drei diesbezüglichen Oppositionen betrifft die Positionierung von Lenaus Werk an der Epochengrenze von Spätromantik und Vormärz bzw. Biedermeier. Lenaus Werk lässt sich als Beleg für das Auseinandertreten von deutscher und österreichischer Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehen, da die österreichische Literatur viel länger von den Traditionen der Aufklärung (in Form des Josephinismus) und des Klassizismus geprägt war als die deutsche, dafür aber keine Hochromantik kannte. Das literarische Umfeld, in das der junge Lenau hineinwuchs, kannte also keine eindeutige ästhetische Dominante – die daraus resultierende Multivalenz von Lenaus Texten (die eben auch als Rezeptionsangebot an die slawischen Literaturen funktionierte) wurde konsequenterweise von Clemens Brentano, einem Vertreter der deutschen Hochromantik, 1839 als unorganisch und künstlerisch defizitär abqualifiziert:
Lenau ist eine schöne Anlage, aber halb unreif, halb überreif, halb getrocknet, halb kandiert, halb abdestilliert, halb veressigt, halb ohne Naht, halb geflickt; einige Lieder sind schön, in den meisten nur einige Zeilen; er dichtet, wie ein Mensch schreibt, der aus den verschiedensten Vorschriften schreiben gelernt hat.
(Zit. nach Gibson 1989: 272)
Aus der ganzheitlich motivierten Perspektive des deutschen Romantikers stellen sich Lenaus Texte als Halb-Produkte dar, die implizit auf die literaturhistorische Position ihres Autors an der Nahtstelle (vgl. Brentanos Metapher) divergierender Stilformationen und auf die in ihnen zu beobachtende Kombinatorik verschiedener künstlerischer Ansätze verweisen.
Neben dieser literaturgeschichtlichen Opposition von Romantik versus Vormärz steht die Uneindeutigkeit nationaler Zuordnungen in Bezug auf Lenaus Biographie, die zwischen Ungarischem, Slawischem und Österreichischem (das von Seiten slawischer Autoren über das Moment der Sprache fast ausschließlich als Deutsches wahrgenommen wurde) pendelte und Lenaus Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur immer nur als relativ und bedingt erscheinen ließ. Lenaus Herkunft aus dem Banat (sein Geburtsort liegt heute in Rumänien), seine deutsch-ungarische Mutter, seine Schulzeit in Pest, sein Studium in Wien und Pressburg auf der Ebene des Lebenstextes und der wiederholte Rückgriff auf ungarische Motive in seiner Lyrik (vgl. etwa Die Heideschenke, Der Räuber im Bakony oder Mischka an der Marosch) sowie die Darstellung der Hussitenkriege ← 16 | 17 → in der Romanzenfolge Johannes Ziska auf der Ebene des Kunsttextes schwächen indirekt Lenaus Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Kultur ab und versehen diese Zugehörigkeit mit einem Zug des Zufälligen. Dieses Oszillieren nationaler Attribuierungen als Spezifikum von Lenaus Biographie wurde bereits 1854 von Anastasius Grün am Schluss seiner Lebensgeschichtlichen Umrisse hervorgehoben, die die von ihm edierten vier Bände von Lenaus Werken einleiten:
Verschiedene Nationalitäten können auf Lenau als einen der Ihrigen Anspruch erheben; Herkunft und Name seiner Familie weisen auf slawische Voreltern, durch Geburt und die erste Erziehung gehört er dem Magyarenlande, durch Bildung, Gesinnung und Herzenswahl dem Deutschtum an. Es hat somit tiefliegende Wurzeln, dass sich sowohl in seinem persönlichen Charakter, als in dem seiner Schriften diese drei Nationalitäten abspiegeln.
(Grün 1854: 86)3
Die von Grün angeführte Multinationalität von Lenaus biographischem Hintergrund wurde von Rudolf Borchardt noch 1926 in der von ihm herausgegebenen Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie bestätigt; der Band enthält auch einige Gedichte Lenaus, die vom Herausgeber als „grossartige [sic] und noble Bewegungen einer fremdländischen Seele, und eine Ehre für deutsche Worte und Verse, sie empfangen zu haben und aufzubewahren“, bezeichnet werden (zit. nach Gibson 1989: 296). Diese immer wieder hervorgehobene Bedingtheit eindeutiger nationaler Zuordnungen bot auch den Ansatz für einen der wesentlichen Züge des allgemein slawischen Lenau-Bildes, der gerade von jenen slawischen Schriftstellern, die Untertanen der Donaumonarchie gewesen sind, nicht zuletzt als implizite Absage an kulturelle Herrschaftsansprüche von österreichischer Seite her mehrmals aktualisiert wurde – für das Herauslösen Lenaus aus dem als antagonistisch gewerteten Fremden (also der deutschsprachigen Kultur) und die Reklamation Lenaus für das Eigene (also das Slawische). Lenau wird gewissermaßen als ‚Krypto-Slawe‘ gesehen und so in die eigene kulturelle Tradition integriert.
Als dritte, für die intensive Rezeption Lenaus in den slawischen Literaturen mitverantwortliche Opposition tritt (ähnlich wie im Falle Heines) das Nebeneinander von Lenau als Natur- und Stimmungslyriker (vgl. etwa die Schilf- oder die Waldlieder) auf der einen und Lenau als politischer Dichter auf der anderen Seite hinzu. War für die weitere Evolution der deutschsprachigen Lyrik ← 17 | 18 → bis hinauf zu Rilke, Heym und Trakl vor allem Lenaus innovative Metaphorik in seiner Natur- und Stimmungslyrik maßgebend, berücksichtigte die slawische Seite daneben in analogem Ausmaß immer auch den Lenau der Albigenser oder des Savonarola, einen Lenau mithin, der in seinen Texten auch explizite Kritik an politischer Unterdrückung artikulierte. Ein augenfälliges Beispiel für diesen bipolaren Rezeptionsprozess4 bietet eine zentrale zeitgenössische enzyklopädische Quelle im Kontext der Monarchie, nämlich das tschechische Ottův slovník naučný [Ottos wissenschaftliches Wörterbuch]. Im entsprechenden, von erkennbarer Sympathie getragenen Artikel wird einerseits auf Lenaus enge Bindung zur Natur hingewiesen, die sich u. a. in den Schilf- und den Waldliedern zeige, andererseits aber die Albigenser als dessen berühmtestes Werk gesehen. Interessant ist hier auch die Differenzierung von Deutsch als kulturellem und Österreichisch als staatlichem Begriff, wenn es heißt, dass Lenau der wichtigste deutsche Lyriker Österreichs („nejznamenitější německý lyrik rakouský“) aus der Epoche des Vormärz gewesen sei (Slovník 1900: 847–848).
Eine auffallend ähnliche Charakteristik Lenaus unter Einschluss eben der beiden zuvor erwähnten Differenzierungen bietet auch der ukrainisch-galizische Autor Ivan Franko, in dessen umfangreichem Werk Lenau auf ganz verschiedene Weise in Form von Kritiken, Übersetzungen, brieflichen Erwähnungen, intertextuellen Anspielungen und autobiographisch perspektivierten Referenzen in den Erzählungen präsent ist.5 Franko, der mit seiner Übersetzung des Gedichts Am Grabe eines Ministers gerade den politischen Dichter Lenau hervorhob, veröffentlichte 1902 in Nr. 20 der Lemberger Monatsschrift „Literaturno-naukovyj visnyk“ [Literarisch-wissenschaftlicher Bote], an der Franko seit ihrer Gründung 1898 in zentraler Funktion mitarbeitete, eine rund zwei Seiten umfassende Würdigung Lenaus anlässlich von dessen hundertstem Geburtstag. Auch hier wird Lenau analog zum tschechischen Lexikon als einer der besten österreichisch-deutschen Poeten der Epoche vor 1848 bezeichnet („odnoho z čil’nych avstro-nimec’kych ← 18 | 19 → poetiv z doby pered 1848 rokom“), Lenaus Naturlyrik findet ebenso Erwähnung wie Ziska, Savonarola oder die Albigenser, aus denen laut Franko der Geist glühenden Protestes gegen die Knebelung der freien Meinungsäußerung spreche (Franko ZT: XXXIII/295). Auch die zuvor erwähnte Tendenz, Lenau aus dem deutschsprachigen kulturellen Kontext herauszulösen und in einen anderen (slawischen bzw. ungarischen) hineinzustellen, ist in Frankos Würdigung zumindest indirekt vorhanden: Lenau hat nämlich Franko zufolge in die deutsche Lyrik eine frische Melodie eingebracht, die von ungarischer und slawischer Melancholie inspiriert sei (ibid.).
Neben dem Rückgriff auf diese Standard-Topoi der Lenau-Rezeption bei den Slawen um 1900 sticht in Frankos Aufsatz vor allem eine Formulierung hervor, die besonders deutlich belegt, über welche diskursiven Strategien das Werk Lenaus in den ästhetischen Epochenkontext der Moderne eingebaut wird. In Bezug auf Lenaus Relevanz für die Gegenwart vermerkt Franko nämlich: „U slavnij trijci Lenau – Gril’parcer – Anastazij Grin Lenau reprezentuje te, ščo najbil’še pidchodyt’ do sučasnosti, – m”jakist’, nervovist’, nastrij, […]“ (ibid.) [Vom berühmten Dreigestirn Lenau – Grillparzer – Anastasius Grün repräsentiert Lenau das, was am besten zur Gegenwart passt – Weichheit, Nervosität, Stimmung.]6 In Frankos Charakterisierung stehen gezählte vier Termini in direkter Folge, die für das ästhetische Selbstverständnis der Jahrhundertwende von zentraler Bedeutung sind: Der Hinweis auf den Konnex zur Gegenwart lässt sich mit dem Begriff der Moderne ebenso in Relation bringen wie die Weichheit mit der impressionistischen Darstellungstechnik in Literatur und Malerei bzw. der Willenlosigkeit und Indifferenz der literarischen Helden, Nervosität und Stimmung schließlich stehen direkt als Schlüsselbegriffe der Epoche.
Reichhaltiges Belegmaterial in dieser Hinsicht bieten etwa die Programmschriften von Hermann Bahr, mit dem Franko über seine kontinuierliche Mitarbeit an der von Bahr mit herausgegebenen und in Wien herausgebrachten Wochenschrift „Die Zeit“ auch direkt verbunden war. Zu erwähnen wären hier etwa Bahrs Aufsatz Die Moderne aus dem Jahr 1890, in dem das über die Nerven laufende Moment des Sensitiven als ein wesentlicher Zug der neuen künstlerischen Richtung eingefordert wird: „Wir wollen alle Sinne und Nerven aufthun, gierig, und lauschen und lauschen“ (Bahr 1891: 3). Noch augenfälliger sind die Übereinstimmungen mit Bahrs Aufsatz Die Décadence aus dem Jahre 1891, in dem jene drei Begriffe, mit deren Hilfe Franko Lenaus Werk in das ← 19 | 20 → Paradigma der Moderne eingliedert (also das Nervöse, die Stimmung und die Weichheit, die hier als Indifferenz präsent ist), miteinander kombiniert werden:
Nicht Gefühle, nur Stimmungen suchen sie [die Vertreter der Décadence] auf. Sie verschmähen nicht bloss die äussere Welt, sondern am inneren Menschen selbst verschmähen sie allen Rest, der nicht Stimmung ist. Das Denken, das Fühlen und das Wollen achten sie gering und nur den Vorrath, welchen sie jeweilig auf ihren Nerven finden, wollen sie ausdrücken und mittheilen.
(Bahr 1894: 20–21)
Die anhand dieser Textprobe eindeutig ablesbare Perspektivierung Lenaus in Richtung Moderne gerade über die Begrifflichkeit Hermann Bahrs überrascht, wenn man sich Frankos spezifische Funktion bei der Genese der Moderne in der ukrainischen Literatur Galiziens vor Augen hält: Franko bündelte in seinem 1896 veröffentlichten Gedichtband Ziv”jale lystja [Welkes Laub] zwar eine Vielzahl von literarischen Motiven der Moderne (beginnend vom Titel des Bandes) und bot der jüngeren Künstlergeneration der Lemberger Gruppierung „Moloda Muza“ [Die junge Muse] damit einen Ausgangspunkt zur breiteren Entfaltung dieser Ansätze in deren eigenen Gedichtsammlungen, lehnte aber die ideologischen Komponenten der Moderne, wie Gleichgültigkeit sozialen und ethischen Fragen gegenüber, ebenso entschieden ab wie die organisatorische Ausdifferenzierung der neuen Richtung (dies zeigt sich u. a. in Frankos heftiger Zurückweisung der „Moloda Muza“ als Vereinigung bei gleichzeitiger künstlerischer Anerkennung einzelner Mitglieder außerhalb ihrer Gruppenzugehörigkeit). So kam es zur paradoxen Situation, dass einer der heimlichen Begründer der Moderne in der ukrainischen Literatur gleichzeitig einer ihrer heftigsten Opponenten gewesen ist. Gerade diese gespaltene Position lässt sich nun am Beispiel von Hermann Bahrs Aufsatz Die Décadence besonders deutlich demonstrieren, hat ihn Franko doch bereits 1891 (also im Jahr seines Erscheinens) zum Anlass genommen, sich kritisch mit der Dekadenz auseinanderzusetzen. Frankos in polnischer Sprache verfasster Aufsatz Z dziedziny nauki i literatury [Aus dem Gebiet von Wissenschaft und Literatur] bietet eine polemisch gehaltene Paraphrase zentraler Gedanken aus Bahrs Programmschrift, die hier einer ironischen Kritik unterzogen wird. Dabei übernimmt Franko genau die oben zitierte Passage Bahrs in seinen polnischen Text und fügt den (in seinem gesamten Bedeutungsumfang offenbar nicht adäquat zu übertragenden) deutschen Begriff „Stimmung“ seiner polnischen Übersetzung der Passage ergänzend hinzu ← 20 | 21 → (Franko ZT: XXVIII/163).7 Franko zieht also genau jenen Abschnitt aus Bahrs Aufsatz, den er 1891 noch zurückgewiesen hat, mehr als zehn Jahre später 1902 dazu heran, um Lenaus Aktualität im Zeichen der Moderne zu unterstreichen. Die Würdigung Lenaus mit Hilfe einer von Hermann Bahr übernommenen Begrifflichkeit lässt sich unter diesem Blickwinkel als ein weiteres Indiz für Frankos ambivalente und widersprüchliche Haltung der Moderne gegenüber interpretieren.
Dass Lenaus Werk auch für die ukrainische Moderne im eigentlichen Sinne von Interesse gewesen ist, zeigt weiters der Gedichtband Z teky samoubyjcja [Aus der Mappe eines Selbstmörders], mit dem der einundzwanzigjährige Petro Karmans’kyj, späterhin eines der zentralen Mitglieder der „Moloda Muza“, im Jahre 1899 seinen literarischen Einstand gab. Karmans’kyjs Debüt weist ganz eindeutig spätromantisch-epigonale Züge auf und ist unverkennbar bestrebt, seine künstlerische Legitimation durch eine Vielzahl intertextueller Verweise in unterschiedlichste Richtungen, u. a. zu Schopenhauer, Dante, Mickiewicz, Byron, Tolstoj oder zur Bibel, zu erlangen. Karmans’kyj greift in diesem Band ganz in der Tradition von Frankos8 drei Jahre zuvor erschienenem Welken Laub zu einer Herausgeberfiktion und präsentiert die nachgelassenen Tagebuchaufzeichnungen des im Titel erwähnten Selbstmörders, dessen Persönlichkeit in einer in Prosa gehaltenen Einführung skizziert wird. Um die Verwandlung des jungen Mannes zu veranschaulichen, der nach der Bekanntschaft mit einem Mädchen sein Dasein als misogyner Einzelgänger aufgibt, zu neuer Fröhlichkeit findet und ← 21 | 22 → sogar erotische Gedichte schreibt, werden mit Heine und Lenau bezeichnenderweise jene beiden literarischen Autoritäten bemüht, auf deren teilweise unter parallelen Parametern erfolgende Rezeption zuvor bereits hingewiesen wurde:9 „Na joho stolyku ležav bez vpynu otvorennj [sic] Hejne ta Ljenau“ (Karmans’kyj 1899: 5) [Auf seinem Tischchen lagen ständig ein aufgeschlagener Heine und ein Lenau]. Nikolaus Lenau bewährt sich hier also in seiner legitimierenden Funktion des anerkannten Schriftstellers für den beginnenden Lyriker der ukrainisch-galizischen Moderne.10
Über Ivan Franko ergibt sich eine Verbindungslinie zu Josef Svatopluk Machar, einem zentralen Vertreter der tschechischen Moderne, den Franko 1893 in Wien persönlich kennenlernte. Machar lebte als Bankbeamter in materiell abgesicherten Verhältnissen gezählte dreißig Jahre lang bis zum Auseinanderbrechen der Donaumonarchie in Wien, wobei die Stadt und ihre Bewohner in seinen Gedichten und Essays stets extrem negativ gezeichnet werden.11 In Machars Texten steht Wien als die semiotische Sphäre des Fremden und des Anderen, dem die schreibende Instanz nicht angehört und zu der sie eine negierende und außerhalb angesiedelte Position einnimmt. Von Interesse für Machars Auseinandersetzung mit Nikolaus Lenau ist die umfangreiche Artikelfolge Vídeň [Wien], die in regelmäßigen Folgen von Jänner bis Mitte Juni 1903 in der Zeitschrift „Čas“ [Die Zeit] erschien. Machars Interesse gilt hier vorwiegend politischen Fragen sowie der Darstellung des Wiener Alltagslebens mit seinen Heurigenbesuchen und Wochenendausflügen, während das Wiener Kulturleben nur peripher beleuchtet wird – was insofern nicht verwunderlich ist, als aus der despektierlichen Sicht Machars heraus die Begriffe „Wien“ und „Kultur“ ohnehin nicht miteinander kompatibel sind. Konsequenterweise ist diesem Aspekt urbanen Lebens auch lediglich ein einziges (nämlich das achte) Kapitel gewidmet, das eigentlich nicht mehr als einen Pflichtsprung darstellt und mit der Bemerkung eröffnet wird, das geistige Leben Wiens könne so wie das Leben dort insgesamt nur in ← 22 | 23 → Form des Phäakentums seine Verwirklichung finden. Es verwundert nun nicht weiter, dass Lenau anders als in den späteren Textzeugnissen Machars, wo sich ganz unmittelbare, autobiographisch motivierte Bekenntnisse vor allem zum Lebenstext Lenaus finden, hier in diesem spezifischen, negativen Wiener Kontext lediglich neutral erwähnt wird: Lenau, so liest man hier, wäre einst in Wien in Mode gewesen („Lenau byl sice kdysi v modě“ [Machar 1904: 173]). Die Einbettung Lenaus in das abgelehnte Wiener Umfeld, so scheint es, hat Machar gar keine andere Wahl als diese distanzierte Darstellung gelassen.
Einen ganz anderen Zugang zu Lenau bietet dann Machars zuerst 1906 in der Prager Zeitschrift „Besedy Času“ [Gespräche der „Zeit“] veröffentlichtes und zwei Jahre später in die Sammlung Veršem i prosou [In Vers und Prosa] aufgenommenes, zwei Druckseiten umfassendes Gedicht U hrobu Lenauova12 [Am Grabe Lenaus]. Um die Spezifik von Machars Beschäftigung mit Lenau in diesem Text aufzuzeigen, lohnt zunächst ein Blick auf das Gedicht mit dem Titel Na Kahlenbergu [Auf dem Kahlenberg] aus der Sammlung Tristium Vindobona (1893), das die negative Axiomatik der Sphäre Wiens im Werk Machars deutlich hervorstreicht. Der Blick des lyrischen Subjektes fällt hier vom Kahlenberg aus zum einen auf das Fremde, also auf die zurückgewiesene Stadt, die sich in der Tradition des Motivs der femme fatale als üppige Frau von zweifelhafter Schönheit zu Füßen des Berges hinbreitet („a město obrovské jak žena luzných vnad / tu na něm zhýřile leží“ [Machar 1893: 18]), zum anderen schweift er nach Norden in Richtung des Eigenen, nämlich der am Horizont erahnbaren und in der Phantasie aufgerufenen tschechischen Heimat („A já, […] / k severu obracím zraky, / tam v dálce našedlé tkví moje kořeny / za lesy, horami, mraky“ [19]).13 ← 23 | 24 → Aus dieser Verteilung der semiotischen Räume resultiert der Umstand, dass Machars positiv markierte Auseinandersetzung mit Lenau keinesfalls innerhalb der Sphäre von Wien erfolgen kann; Machar trennt folglich das Umland von Wien als positiven Gegenpart zur Stadt von dieser ab, nimmt seine Referenz an Lenau aus der Sphäre der Stadt heraus und stellt sie in den ländlich markierten Raum außerhalb Wiens hinein.
Das Grab Lenaus befindet sich nämlich nicht in Wien, sondern am Weidlinger Friedhof in Klosterneuburg,14 gerade auf der Rückseite des Kahlenbergs, der die abgelehnte Sphäre der Stadt auf diese Weise außer Sichtweite rückt. Machar verleiht diesem (von den reinen Entfernungen her kaum relevanten) Gegensatz im Sinne seiner Axiomatik nun geradezu groteske Dimensionen, indem er gleich zu Beginn seines Gedichtes den Weidlinger Friedhof, der rund zwanzig Gehminuten vom Ufer der Donau entfernt ist, im Schoße der Alpen positioniert („Je malý hřbitov v alpském klínu“ [Machar 1908: 34]). Gerade diese weitab jeglicher geographischer Realität angesiedelte Positionierung unterstreicht aber die Distanz zum Raum der Stadt und ermöglicht es dem lyrischen Subjekt in Folge, mit der verehrten Dichterpersönlichkeit ein Gespräch zu eröffnen – ein Gespräch, das direkt auf die eigene Vergangenheit des lyrischen Subjektes Bezug nimmt und in der Form des Vokativs „lásko“ den verstorbenen Dichter im Zeichen der persönlichen Anteilnahme direkt apostrophiert:
Lenau… Lenau…
Líto mi jaksi, že jsem opustil tě,
melancholická lásko mladosti mé (35).
[Lenau… Lenau…
Irgendwie tut es mir leid, dass ich dich verlassen habe,
Details
- Seiten
- 431
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653063011
- ISBN (MOBI)
- 9783653955705
- ISBN (ePUB)
- 9783653955712
- ISBN (Hardcover)
- 9783631668863
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06301-1
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Februar)
- Schlagworte
- slawische Literaturen Jung-Wien Donaumonarchie Mehrsprachigkeit Moderne literarische Wechselbeziehungen
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 431 S.