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Nach der Einsprachigkeit

Slavisch-deutsche Texte transkulturell

von Diana Hitzke (Autor:in)
©2019 Monographie 170 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Postkoloniale Konstellationen lassen sich nicht (mehr) in das Eigene und das Andere, in das Originäre und das Nachgeahmte, in ein Hier und Dort auseinanderdividierenden. Sie sind geprägt von Verflechtungen, Hybri-disierungen und wechselseitigen Aneignungsprozessen. In diesem Band analysiert die Autorin Texte von Jurij Brězan, Irena Brežná, Mascha Dabić, Róža Domašcyna, Olga Grjasnowa, Barbi Marković, Olga Martynova und Aleksandar Tišma. Sie zeigt auf, dass alle Werke sich mit multiplen Zuge-hörigkeiten, Mehrsprachigkeit und Übersetzung auseinandersetzen. Die Texte dekonstruieren Grenzen sprachlicher und kultureller Zugehörigkeit, thematisieren aber auch Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus. Damit beschreiben sie mehrsprachige Welten jenseits von hegemonialer Einsprachigkeit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1. Einleitung. Nach der Einsprachigkeit
  • Vom „Monolingual Paradigm“ zur Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit
  • Muttersprache(n)
  • Warum Einzelsprachlichkeit?
  • Mehrsprachigkeit in der Literaturwissenschaft
  • Sprache statt Nation?
  • Komparatistik und mehrsprachige Philologien
  • Von der Einzelsprachlichkeit zur „Postmonolingual Condition“
  • Literatur und Mehrsprachigkeit – ein Forschungsfeld
  • Zur Gliederung des Buches
  • 2. Aleksandar Tišmas Novi Sad als mehrsprachige und heterogene Stadt vor dem Hintergrund des Holocaust
  • Novi Sad als heterogene und mehrsprachige Stadt
  • Kritik, Gewaltdarstellung und Ambivalenz
  • Mehrsprachigkeit und multiple Identitäten
  • Über das Sprechen in angsterfüllten Situationen
  • Ästhetischer Anspruch und programmatische Ambivalenz
  • 3. „Stalno misliti između svih mogućnosti ljudske glave“ oder „in the queer world of verbal transmigration“. Von Übersetzungsprozessen und Dolmetscherinnen in slavisch-deutschen Texten
  • Translatio und Transkonzepte
  • Übersetzung, Adaption und Zirkulation. Barbara Markovićs Izlaženje
  • Bernhard übersetzen
  • Über Zirkulation
  • Übersetzungen lesen
  • (Un)Sichtbarkeit, (Un)Übersetzbarkeit, Schreiben
  • Ab- und Umschreiben im Kontext der Praktiken der Gegenwartskunst
  • Übersetzung als Transkonzept? Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt
  • Irena Brežnás Die undankbare Fremde und Mascha Dabićs Reibungsverluste
  • Vergleichende Perspektiven auf Marković, Grjasnowa, Brežná und Dabić
  • 4. Raffaels Loggien in St. Petersburg, „my German vacation“ und Gogol’ in Rom. Mehrsprachigkeit und Transkulturalität bei Olga Martynova
  • Manifeste und latente Mehrsprachigkeit bei Martynova
  • Raffaels Loggien in der Ermitage, falsche Sonnenbrillen und Gogol’ in Rom
  • Exkurs: Kopien in Kunst und Kulturgeschichte
  • Die (imaginierte) Eroberung Roms
  • Originale und Kopien postkolonial
  • Gogol’ in Rom und die Bedeutung der Erzählung „Portret“
  • Wider die Einsprachigkeit
  • 5. Sorbische Literatur als verflochtene Literatur
  • Bildungssysteme, institutionelle Verflechtungen, Kontexte des Schreibens und Lesens
  • Zejler und Ćišinski, die lokale und die globale Linie der sorbischen Literatur
  • Sorbisch-deutsche Zweisprachigkeit, hybride Poetiken
  • Róža Domašcynas Zwei- und Mehrsprachigkeit
  • Weltliteratur auf Sorbisch
  • Von anderen Orten erzählen
  • Brücken im Zugwind – sorbisch-deutsche und sorbisch-slavische Verflechtungen
  • Transkulturelle und translinguale Verflechtungen
  • 6. „[W];ono by było hinaše morjo, hdy by njepřiwzało tež wodu rěčki Satkule“. Zur Poetik des Fließens in Jurij Brězans Krabat
  • Postmoderne und postkoloniale Lektüren der Krabat-Romane
  • Vom Inselmotiv zum Wasser der Satkula
  • Wasser, Ströme, Fluss-Texte. Zur Poetik des Fließens in Jurij Brězans Krabat
  • 7. Schluss. Slavisch-deutsche Texte postkolonial
  • Bibliographie
  • Erstpublikationsnachweis

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1. Einleitung. Nach der Einsprachigkeit

Die Gegenwartsliteratur hat eine Reihe von Texten hervorgebracht, die kulturell vielschichtig sind und verschiedene sprachliche, historische und geografische Kontexte miteinander verbinden. Ihre breite Rezeption in der Gesellschaft, die sich in Diskussionen im Feuilleton oder durch das Verleihen von Preisen wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis zeigt, bestätigt ihre Relevanz. Auch wenn transkulturelle Texte in der Forschung durchaus Beachtung finden (Ette 2005; Wanner 2011; Kimmich, Schahadat 2012; Yildiz 2012; Haines 2015), besteht nach wie vor das Problem, dass eine nationalphilologisch orientierte Literaturwissenschaft sich solche Texte nur unter Schwierigkeiten oder mit Widersprüchen erschließen kann. Das auch die literaturwissenschaftliche Ausbildung prägende Verständnis von Philologie als Beschäftigung mit einer Sprache, Literatur und Kultur verstärkt das monolinguale Paradigma (Yildiz 2012) und führt oft implizit zu methodischem Nationalismus (im Sinne von Wimmer, Glick Schiller 2002). Fächer wie die Slavistik oder Romanistik, die sich im Gegensatz zu den sich auf eine Sprache (und ihre Varietäten) fokussierenden Philologien wie Germanistik oder Anglistik mit mehreren Sprachen beschäftigen, haben in dieser Hinsicht einen Vorteil. Die Frage What Is a World? (Cheah 2016) lässt sich aus slavistischer oder romanistischer Perspektive sicher nicht mit Texten beantworten, die alle in derselben Sprache geschrieben sind.1 Daher sind Forschende aus diesen Disziplinen nicht nur in mehreren Sprachen kompetent, sondern ←13 | 14→auch gezwungen bzw. gewohnt, die Welt aus der Perspektive mehrerer Sprachen zu betrachten.

Das vorliegende Buch analysiert Mehrsprachigkeit in verschiedenen Kontexten und konzentriert sich dabei auf slavisch-deutsche literarische Texte. Ganz bewusst werden Mehrsprachigkeit und Transkulturalität als relativ neues, noch weitgehend unkartiertes, aber doch schon etabliertes Forschungsfeld verstanden (vgl. Hitzke 2018a). Einerseits wird durch Migration bedingte Mehrsprachigkeit in den Blick genommen: Olga Martynova schreibt auf Deutsch und Russisch, Barbara Marković auf Serbisch und Deutsch, Olga Grjasnowas Protagonistin Mascha spricht mehrere Sprachen. Andererseits geht es um Texte, die – wie es in der sorbischen Literatur seit 1945 der Fall ist – parallel in zwei Sprachen publiziert werden und deren Autor_innen sich mit der Zwei- und Mehrsprachigkeit auch bewusst auseinandersetzen. Während im Kontext von Migration verschiedene Sprachen und kulturelle Konstellationen aufeinandertreffen, die immer aufs Neue verhandelt werden (müssen), sind mehrsprachige Regionen von einem Mit- und oft auch Gegeneinander geprägt, die sich in einer langen Geschichte und Tradition verorten lassen. Neben der sorbisch-deutschen Lausitz wird Aleksandar Tišmas Darstellung von Novi Sad als mehrsprachige und multikulturelle Stadt analysiert; dabei spielt die traditionelle Vielsprachigkeit in der Habsburgermonarchie eine große Rolle. Die Monografie zeigt, warum es lohnt, diese ganz unterschiedlichen Konstellationen zusammenzuführen. In allen Kontexten sind fünf zentrale Kategorien entscheidend: Mehrsprachigkeit, Intertextualität, Zirkulation, Übersetzung und Verflechtung. Mit diesen fünf Konzepten und ihren jeweils eigenen Implikationen und Erkenntnismöglichkeiten soll ein offenes, flexibles und zugleich präzises begriffliches Instrumentarium als Analyseraster für ganz unterschiedliche Texte in translingualen und transkulturellen Konstellationen dienen. Dabei wird sowohl die textimmanente Ebene als auch die metatextuelle Ebene adressiert.

Mehrsprachigkeit kann in Texten thematisiert werden (z.B. bei Olga Grjasnowa 2012), Texte können aber auch in sich mehrsprachig sein (z.B. bei Róža Domašcyna 1998). Literarische Texte verweisen durch intertextuelle Bezüge auf andere Texte, und durch die grenzüberschreitende Zirkulation von Texten entstehen transkulturelle Rezeptionsprozesse. Übersetzung spielt im Zirkulationsprozess von Texten eine große Rolle, kann aber auch zum Thema der literarischen Texte selbst werden. Von Verflechtung lässt sich sprechen, wenn verschiedene kulturelle Erfahrungen und historische bzw. regionale Kontexte, aber auch unterschiedliche literarische Traditionen miteinander in Verbindung gebracht werden.

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Auf Vorarbeiten zu den einzelnen Phänomenen kann aufgebaut werden: Die Mehrsprachigkeit von Texten ist als Forschungsthema etabliert (vgl. dazu den Abschnitt zu Literatur und Mehrsprachigkeit). Zirkulation und Übersetzbarkeit sind nach David Damrosch (2003) zentral für Weltliteratur. Rebecca Walkowitz hat sich mit dem Phänomen beschäftigt, dass viele Texte in mehreren Sprachen zugleich erscheinen (Walkowitz 2017, 1f.) und dass sie teilweise bereits in Hinblick auf ihre Übersetzung geschrieben werden und sich damit als „born translated“ (Walkowitz 2017, 3, Herv. i. O.) bezeichnen lassen. Die Möglichkeiten einer literarischen Verflechtungsgeschichte hat Annette Werberger (2012) am Beispiel Galiziens diskutiert.

Das vorliegende Buch fokussiert Mehrsprachigkeit, auch wenn für einige der betreffenden Texte Kategorien wie Übersetzung oder Verflechtung plausibler und auch präziser erscheinen mögen. Dennoch soll es hier darum gehen, dass eben nicht nur Texte, in denen offensichtlich anderssprachige Worte, Sätze oder Abschnitte vorkommen, mehrsprachig sind, sondern auch diejenigen Texte, in denen andere Sprachen latent vorhanden sind. Selbst subtile Formen der Überschreitung von Einzelsprachen (so etwa das Vorkommen von Fremdwörtern) oder bloße Sprachreflexivität können prinzipiell im Sinne dieses Phänomens verstanden werden, sollten jedoch nicht zu einer Relativierung des Begriffs Mehrsprachigkeit führen.

Gewinnbringend ist in dieser Hinsicht die von Giulia Radaelli getroffene Unterscheidung zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit (Radaelli 2012). Sie hat folgende Systematik bzw.

[…] drei heuristische Grundkriterien vorgeschlagen, die es erlauben, den jeweils vorliegenden Fall literarischer Mehrsprachigkeit anhand von grundlegenden Unterscheidungen einzuordnen und deskriptiv zu erfassen: Erstens geht es um den Fokus, in dem das mehrsprachige Werk eines Autors betrachtet wird, zweitens um die Wahrnehmbarkeit der im Text enthaltenen Sprachen und um die dadurch jeweils geprägten Formen literarischer Mehrsprachigkeit, drittens schließlich um die Sprachen selbst. (Radaelli 2011, 47)

Wird Mehrsprachigkeit zur Analysekategorie, dann rücken viele Texte, die sich vordergründig eher mit den Kategorien Transkulturalität und Verflechtung, Intertextualität, Zirkulation und Übersetzung beschreiben und analysieren lassen, in den Fokus. Andere Kulturen werden fast immer auch mit anderen Sprachen verbunden, selbst im Falle des Englischen wird die Sprache in lokale Varietäten differenziert. Wenn Texte in andere(n) Sprachen und Kulturen zirkulieren, ist dies relativ offensichtlich der Fall. Weniger offensichtlich können auch intertextuelle Referenzen in transkulturellen Texten auf andere Sprachen ←15 | 16→verweisen (zum Beispiel bei Olga Martynova). Übersetzte Texte deuten vielleicht nicht manifest auf die Sprache hin, auf der sie gründen und die daher latent vorhanden ist, sie tragen aber zumindest in Paratexten den Verweis auf die Sprache, in der sie ursprünglich geschrieben wurden. Eine Betrachtung aus der Perspektive der (Mehr-)Sprachigkeit ist insofern erhellend, als sie es ermöglicht, sich umfassend auf das zu beziehen, was (abgesehen von politischen und ökonomischen Machtverhältnissen) oft die Grundlage kultureller Differenzierung ist, nämlich die Tatsache, dass die Sprache der Anderen nicht verstanden wird.

Im vorliegenden Buch wird die These vertreten, dass Mehrsprachigkeit in zu vielen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent ist, als dass sie weiterhin als Randphänomen behandelt werden kann. Die Präsenz monolingualer Konzepte in Institutionen, aber auch in philosophischen, literarischen oder politischen Entwürfen von Wirklichkeit (und Utopien) muss massiv hinterfragt werden und auf ihre verschwiegenen mehrsprachigen Hintergründe hin untersucht werden. Im Folgenden werde ich mich daher zunächst mit Yasemin Yildiz’ Kritik am „monolingual paradigm“ auseinandersetzen; dann auf der Grundlage von Eva Geulens Verteidigung der „Einzelsprachlichkeit“ von Literatur (auch institutionelle) Alternativen dazu aufzeigen; und schließlich einen kurzen Überblick über das Forschungsfeld, das die Beziehungen zwischen Literatur und Mehrsprachigkeit untersucht, geben und dabei die aus meiner Sicht wichtigsten Fragen zugespitzt darstellen.

Vom „Monolingual Paradigm“ zur Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit

Auch wenn es zunächst kontraintuitiv klingen mag, ist nach Yasemin Yildiz nicht Mehrsprachigkeit, sondern Einsprachigkeit (monolingualism) eine relativ neue Erscheinung. Anders als viele Studien, die damit argumentieren, dass Mehrsprachigkeit durch Globalisierung und Migration verstärkt in unser Bewusstsein gerät, führt Yildiz aus, dass gerade Mehrsprachigkeit weit verbreitet ist, während die Einsprachigkeit historisch betrachtet ein relativ junges Phänomen darstellt (vgl. Yildiz 2012, 2), das sich seit dem 18. Jahrhundert in Europa zunehmend durchgesetzt hat. Dabei geht es ihr nicht nur darum, ein- und mehrsprachige Lebenswelten einander gegenüberzustellen, sondern darum, Einsprachigkeit als ein wichtiges Strukturprinzip („key structuring principle“; Yildiz 2012, 2) herauszuarbeiten.

According to this paradigm, individuals and social formations are imagined to possess one ‚true‘ language only, their ‚mother tongue‘, and through this possession to be organically linked to an exclusive, clearly demarcated ethnicity, culture, and nation. […] The ←16 | 17→pressures of this monolingual paradigm have not just obscured multilingual practices across history; they have also led to active processes of monolingualization, which have produced more monolingual subjects, more monolingual communities, and more monolingual institutions, without, however, fully eliminating multilingualism. (Yildiz 2012, 2f.)

Details

Seiten
170
Erscheinungsjahr
2019
ISBN (PDF)
9783631805152
ISBN (ePUB)
9783631805169
ISBN (MOBI)
9783631805176
ISBN (Hardcover)
9783631802892
DOI
10.3726/b16372
Open Access
CC-BY-SA
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Mehrsprachigkeit Olga Martynova Sorbische Literatur Olga Grjasnowa Postkoloniale Literatur Barbi Marković Aleksandar Tišma Jurij Brězan Übersetzung Verflechtung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 170 S.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Diana Hitzke (Autor:in)

Diana Hitzke studierte Allgemeine und vergleichende Literatur- und Kultur-wissenschaft, Musikwissenschaft und Slavische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Kroatisch an der Justus-Liebig-Universität Gießen und an der Universität Zagreb. Ihre Promotion erfolgte an der Universität Erfurt.

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Titel: Nach der Einsprachigkeit