Loading...

Thomas Selles Musik für Hamburg

Komponieren in einer frühneuzeitlichen Metropole

by Juliane Pöche (Author)
©2019 Thesis 486 Pages
Series: Musica poetica, Volume 2

Summary

Thomas Selle (1599–1663) hatte als Kantor des Johanneums und der Hamburger Hauptkirchen während mehr als zwei Jahrzehnten die einflussreichste musikalische Position in der norddeutschen Metropole inne. Das reiche kulturelle Umfeld mit Theologen, Organisten, Ratsmusikern und Dichtern, mit einem regen Theaterleben und florierenden Bildenden Künsten bot einen idealen Rahmen für den ambitionierten Komponisten. Insbesondere mit seinen neuartigen Passionsvertonungen, die von einer profunden Kenntnis des internationalen Musiklebens zeugen, präsentierte sich Selle in Hamburg als fortschrittlicher Künstler. Basierend auf einer neu erarbeiteten kritischen Edition von Selles eigenhändig zusammengestellten Opera omnia, wird Selles Œuvre erstmals in seiner ganzen Breite erforscht und in der geistigen Landschaft des 17. Jahrhunderts verortet.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • I Einleitung
  • 1. „Selle, Zierde der Musen“ – Das Interesse am Nachruhm
  • 2. „Director Chori Musici“ – Hauptperson des norddeutschen Musiklebens
  • II Musikanschauung in Hamburgs theologischen Kreisen
  • 1. Musik zum Lob Gottes
  • 2. Musik im Jenseits
  • 3. Himmel und Hölle
  • 4. Musik belustigt
  • 5. Musik bewegt
  • 6. „O du güldene Musik!“
  • III „Madrigalia etc. Italorum“ – Selle als Hamburgs Neuerer
  • 1. Der ‚moderne Stil‘ für Hamburg
  • 2. ‚Genere guerriero‘
  • 3. Geistliche Aria für Kammer und Kirche
  • 4. Geistlich vs. weltlich?
  • IV Figuralmusikalisches Theater
  • 1. „in Dialogo“ – Selles Rezeption des dramatischen Madrigals
  • 2. Instrumentale Dramaturgie
  • 3. Musikalische Szenerie
  • 4. Passionen und Historien – Dialoge im Großen
  • V „Himmels=Music“
  • 1. Himmel und Hölle in der Musik
  • 2. „Himmlischer Lobschall“ – Vorgeschmack auf das Jenseits
  • 3. „Tausend himmlische Sänger“ – Selles Passionschöre
  • 4. „lieblichkeit der Harmony“ – Homophonie als ästhetisches Ideal
  • VI Instrumentales Gotteslob
  • 1. Klangeffekte aus der Tastenmusik
  • 2. Orgelsatztechnik und zeitgenössische Violinmusik
  • VII Selle und die Gelehrsamkeit
  • 1. ‚Altes‘ und ‚Neues‘ – Kirchenmusik unter Rechtfertigungsdruck
  • 2. Kontrapunkt als gelehrte Disziplin
  • 3. Kompositorische Meisterschaft – Beweis durch ‚Imitatio‘
  • Nachwort
  • Bibliografie
  • Musikalien
  • Literatur
  • Register
  • Werke Thomas Selles
  • Weitere Personen und Werke

| 7 →

I Einleitung

1. „Selle, Zierde der Musen“ – Das Interesse am Nachruhm

Im Mai 1663, kurz bevor der Hamburger Johanneumskantor Thomas Selle am 2. Juli 1663 starb, vermachte er die restlichen Bände seiner privaten Büchersammlung der jungen Hamburger Stadtbibliothek. Schon 1659 hatte er ihr einen Großteil seiner Musikdrucke übergeben.1 Ebenfalls 1663, am 23. März, versah er seine Opera omnia mit einem neuen, endgültigen Datum und ersetzte damit das Jahr 1653, in dem die Arbeit an der handschriftlichen Zusammenstellung seines Gesamtwerks eigentlich bereits abgeschlossen war.2 Selle hatte in der Zwischenzeit noch Veränderungen vorgenommen, und ihm war daran gelegen, dass der Werkbestand so kurz vor seinem Tod auch formal den aktuellen Stand repräsentierte. Schließlich sollte sein kompositorischer Nachlass laut Testament nach seinem Tod ebenfalls an die Hamburger Stadtbibliothek übergehen.3 Bei dieser umfangreichen Schenkung an die Öffentlichkeit mag ihn, wie bereits Jürgen Neubacher vermutete, „der Wunsch geleitet haben, dass sein kompositorisches Schaffen nicht […] in Vergessenheit geraten möge“.4 Dass er es überhaupt in Erwägung zog, sein (geistliches) Gesamtwerk gewissermaßen in einem großen Editionsprojekt zusammenzustellen, spricht umso mehr für diese Vermutung. Die Opera omnia bestehen nicht nur aus Einzelstimmen, sondern auch aus (Tabulatur-)Partituren, die an eine moderne Gesamtausgabe erinnern (Abbildungen 1 und 2). Mit der Erstellung der Stimmbücher wurde möglicherweise schon vor 1646 begonnen.5 Offensichtlich plante Selle zu diesem Zeitpunkt, sein Œuvre in mehreren Teilen zu veröffentlichen, denn bereits 1646 wurde mit Concertuum Latino-Sacrorum ein erster Teil publiziert – laut ← 7 | 8 → Selle selbst ein „Vorläufer der Motetten und aller Konzerte, von denen ich eine große Menge unter meinem Dach habe“ („eximam, opusculum hoc latinum, Motetarum & concertuum omnium, qvorum in pluteo agmen grande adhuc habeo, Prodromum“).6 Zum Druck weiterer Teile kam es nicht, stattdessen wurden in den 1650er Jahren Tabulaturbücher erstellt, die sich als geordnete Abschrift der Stimmbücher erwiesen.7 Die Tabulaturen, die durchaus im Sinne moderner Partituren dem Zweck einer Darstellung aller Stimmen dienen sollten,8 stellen sozusagen die eigentliche Gesamtausgabe dar – sind ihnen doch ausführliche Inhaltsverzeichnisse beigegeben, Fehler der Stimmbücher korrigiert und ein Vorwort vorangestellt, das den Titel Opera omnia erst nennt:

„Lieber Music-Freund, hier findestu in diesen dreyen Tabulatur-Büchern […], abgesetzt in gewöhnlicher teutscher Organisten Tabulatur. Thomae Sellii […] Opera omnia intitulieret, welche er […] selbst componieret. vnd nicht ohne merklichen Nutzen und vieler Gelarter vnd vngelarter Leute applaúsú hin und wieder in Kirchen musicieret hat.“9

Neben zahlreichen Kompositionen aus seiner Hamburger Amtszeit (1641–1663) nahm Selle bereits davor veröffentlichte Werke in die Opera omnia auf, die er dort nun in den Kontext seines Gesamtwerks einreihte.10 Die Tatsache, dass er 281 Werke in diesem „wohldurchdachten Großprojekt“11 zusammenstellte, zeigt, welchen Wert er seinem kompositorischen Schaffen beimaß. In der Verwendung der seit dem Mittelalter in dieser Absicht gebräuchlichen „rühmenden Vokabel opus12 setzte Selle sich selbst ein Denkmal. Mit dem Verweis auf den ‚Applaus‘ von ‚Gelehrten und Ungelehrten‘ rückte Selle zudem die öffentliche Anerkennung seiner kompositorischen Verdienste in den Fokus. Dass er mit der Schenkung seines Nachlasses auch auf posthumen Ruhm spekulierte, liegt auf ← 8 | 9 → der Hand. Zwar kam es nicht zu einer vollständigen Veröffentlichung, doch die systematische Werksammlung in ihrer handschriftlichen Form blieb dank Selles testamentarischer Verfügung bis heute erhalten.13

Abbildung 1: Thomas Selle, Opera omnia, Basso-continuo-Stimmbuch, Ausschnitt14

illustration

← 9 | 10 →

Abbildung 2: Thomas Selle, Opera omnia, Basso-continuo-Stimmbuch, Ausschnitt Tabulatur, Ausschnitt15

illustration

Mit Plänen zur umfangreichen Publikation seiner Kompositionen beschäftigte sich Selle augenscheinlich schon während seiner Zeit als Schulrektor in Wesselburen (1625–1634). In einer größtenteils handschriftlichen Sammlung, die sich heute im Archiv der Katharinenkirche in Salzwedel befindet, lassen sich mehrere Pläne für Veröffentlichungen erkennen.16 Bei diesem Quellenkonvolut handelt ← 10 | 11 → es sich um ein Sammelsurium von eigenen, aber auch einigen fremden Werken, von Teilen aus Drucken und notizartigen Aufzeichnungen, die in Stimmbüchern zusammengebunden wurden. Beigegeben wurde dieser Zusammenstellung ein umfangreiches Register, das eine Übersicht über die teils chaotisch wirkenden einzelnen Bände ermöglicht. Vermutlich hatte Selle hier die verschiedensten Schriftstücke – alte Notizen und Pläne, Drucke, Manuskripte – zusammengefasst. Denkbar ist, dass einiges davon auch als Vorlage für die Opera omnia verwendet wurde.17 Bisher unbekannte Werke, ein verschollen geglaubter Druck18 und ausführliche Aufführungshinweise finden sich in den Bänden ebenso. Als Rektor in Wesselburen plante Selle neben seinen in dieser Zeit ohnehin veröffentlichten Drucken19 beispielsweise die Sammlung Organophonomachia (Abbildung 3), eine Serie von Motetten sowie einen Druck mit Hochzeitskompositionen. Auf eine umfangreichere Erfassung großer Teile seines kompositorischen Schaffens deuten einige schwer datierbare Titelblätter hin (Abbildung 4), die bereits eine große Ähnlichkeit mit den Opera omnia aufweisen (Abbildung 5). ← 11 | 12 →

Abbildung 3: Thomas Selle, Titelblatt zu einer geplanten Sammlung Organophonomachia20

illustration

← 12 | 13 →

Abbildung 4: Thomas Selle, Titelblatt zu einer geplanten Sammlung geistlicher Konzerte21

illustration

← 13 | 14 →

Abbildung 5: Thomas Selle, Opera omnia, Titelblatt des zweiten Teils der Deutschen Geistlichen Konzerte in der Basso-continuo-Stimme22

illustration

← 14 | 15 →

Mit dem Bestreben, das eigene Werk als individuellen schöpferischen Verdienst herauszustellen, reiht sich Selle in eine zeitgenössische Entwicklung ein. In der Renaissance begannen vor allem bildende Künstler – zum Beispiel Albrecht Dürer – vermehrt, ihre Werke zu signieren. Ebenso verfuhr auch ein Hamburger Maler und Zeitgenosse Selles: Gabriel Engels (1592–1654).23 Der Künstler demonstrierte damit den Stolz auf sein eigenes Werk. Und auch Selle wollte mit der selbstbewussten und mit seinem Namen unterzeichneten Gesamtschau seines Schaffens augenscheinlich zeigen, was er in kompositorischer Hinsicht geleistet hatte. Ganz nebenbei hat er auch eine akustische Signatur vieler seiner Werke vorgenommen, indem er sie mit einem einprägsamen Initialmotiv versah. Rund zehn Prozent der Kompositionen der Opera omnia beginnen mit einer harmonischen I-V-I-Verbindung unter häufiger Verwendung oder Abwandlung eines spezifischen Oberstimmenmotivs.24 Es besteht aus einer Aufwärtsbewegung um eine Terz, die auf dem oberen Ton ruht, bevor eine absteigende Achtelkette zur Kadenz und damit zurück zum Ausgangston führt, der zudem die Terz des ersten Akkords bildet (Notenbeispiel 1). ← 15 | 16 →

Notenbeispiel 1: Thomas Selle, Siehe wie fein und lieblich (D1.08), T. 1–325

illustration

Die I-V-I-Verbindung – als Mittel prägnanter Formbildung in instrumentaler Musik26 – schafft dabei einen klar begrenzten Abschnitt am Anfang des Werks, der wie ein Doppelpunkt wirkt. Dieser stellt, wenn vorhanden, immer den unmittelbaren Beginn der Komposition dar, weist dadurch also eine exponierte Stellung auf und ist das Erste, das vom Hörer wahrgenommen wird. Sofern dazu das Motiv oder eine Abwandlung davon Verwendung findet, erklingt es stets in der obersten ← 16 | 17 → Stimme, ist demzufolge gut hör- und als Melodie wahrnehmbar. In allen Fällen bildet eine Sinfonia den Beginn des Werks – die I-V-I-Floskel steht also jeweils am Anfang dieser instrumentalen Eröffnung und ist dadurch in keiner Weise textlich determiniert. Nach dem Erklingen dieser Floskel nehmen die Sinfonien und auch die weiteren Teile der Werke einen ganz unterschiedlichen Verlauf. Der kurze, die Tonart festigende Abschnitt steht vielmehr isoliert am Beginn und prägt dadurch einen spezifischen Wiedererkennungswert aus. Und genau diesen wollte der Komponist womöglich für seine Kompositionen nutzbar machen: Noch bevor das Stück mit dem Einsatz der Singstimmen und des Texts seinen Lauf nimmt, erfasst der Hörer einen bekannten eröffnenden Moment.

Während solcherlei Gedanken bloß Spekulation bleiben können, ist es ein Faktum, dass Selle zur – auch visuellen – Verbindung der Werke mit seiner Person den Opera omnia außerdem ein Bildnis seiner selbst beigab, das zu Beginn des Basso-continuo-Bands in gedruckter Form eingefügt wurde (Abbildung 6). Dieses Porträt hatte Selle wahrscheinlich anlässlich des Abschlusses der Opera omnia 1653 selbst in Auftrag gegeben.27 Es handelt sich dabei um einen Kupferstich Dirk Dircksens, eines angesehenen Hamburger Künstlers. Wie Gisela Jaacks anmerkt, ist es „durchaus nicht selbstverständlich, daß ein zeitgenössisches Bildnis das Aussehen des Hamburger Kantors Thomas Selle festgehalten hat. Das Porträt, das einen einzelnen Menschen als individuelle Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt, war in der Barockzeit noch immer nicht unumstritten“.28 Indem Selle seiner Werksammlung ein Porträt hinzufügte, hob er die eigene Leistung noch deutlicher hervor. Mehr noch: Die Darstellung zeigt ihn selbst bewusst als Gelehrten.29 ← 17 | 18 →

Abbildung 6: Bildnis Selles und handschriftliche Eintragung in den Opera omnia30

illustration

← 18 | 19 →

Übersetzung der Bildunterschrift:

Schon die Darstellung der Person in ovalem Rahmen mit Wappen und Laudatio entsprach der üblichen Gelehrtenporträtierung. Zusätzlich verlieh die „architektonische Rahmung“ eine den Epitaphien vergleichbare Monumentalität, die der dargestellten Person ein ewiges Gedenken verleihen sollte.32 Auch die Kleidung Selles auf dem Bild verkörpert Gelehrten-Status: „Hier präsentiert sich ein in Amt und Würden stehender Gelehrter der alten Schule, der noch auf den Fundamenten der klassischen septem artes liberales aufbauen kann.“33 Eine solche Darstellung wurde üblicherweise mit Hinweisen auf das Berufsfeld verbunden. In dem Bildnis von Selle übernimmt diese Funktion die über dem Oval stehende Notenzeile, die über das Wappen direkt mit der Abbildung der Person verbunden ist. Hierdurch wird dem Betrachter verdeutlicht, dass Selles Gelehrtheit sich explizit in seiner kompositorischen Tätigkeit äußert – zumal auch die Laudatio auf seine „trefflichen Kompositionen“ hinweist und ihn als „Zierde der Musen“ auszeichnet. Eine solche Darstellung ist ebenfalls bestrebt, kompositorisches Vermögen auszustrahlen und den eigenen Ruhm zu befördern, und widerspricht den weit verbreiteten Annahmen gegenüber Kantoren des 17. Jahrhunderts: dem bloßen Komponieren von Amts wegen und der reinen Zweckgebundenheit der Werke unter völliger Abschottung gegenüber außerkirchlicher Kultur oder künstlerischer Interessen.34 ← 19 | 20 →

Über die reine Pflichterfüllung geht Selle offenkundig weit hinaus, wenn er sich selbst als gelehrter Komponist präsentiert und sein Werk für die Nachwelt zusammenstellt. Vielmehr könnte das, was James Haar über Orlando di Lasso sagt, sinngemäß auch für Selle gelten: „He was concerned about the fate of his music – for the sake of the public, as he says, but also, and perhaps more, for his present and future reputation as an artist.“35

Dass Selles musikalische Gelehrsamkeit keine Überhöhung war, wird in Anbetracht seiner umfangreichen Bibliothek, die von einer beispiellosen Repertoirekenntnis zeugt, mehr als deutlich. Die Büchersammlung, deren Zusammensetzung Jürgen Neubacher rekonstruierte36 und die fast vollständig erhalten ist, besteht aus philosophischen Schriften von Boethius und Aulus Gellius, 359 Werksammlungen vokaler und instrumentaler Musik des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts bis hin zu Monteverdis achtem Madrigalbuch, 12 theoretischen Schriften, eigenen Veröffentlichungen, darunter auch 35 Gelegenheitskompositionen, Selles handschriftlichem Traktat Anleitung zur Singekunst und einer Abschrift des Traktats Instrumentum Instrumentorum von Heinrich Grimm.37 Zahlreiche weltliche Vokal- und Instrumentaldrucke belegen Selles Einblicke in jene musikalischen Bereiche, die über die kirchlichen Belange weit hinausgingen. Nachdem er bereits in seiner Jugend das gängige geistliche Musikrepertoire kennengelernt hatte,38 begann er, seine private Sammlung ebenfalls weit vor seiner Zeit in Hamburg aufzubauen.39 Zahlreiche handschriftliche Eintragungen ← 20 | 21 → Selles belegen eindrücklich, dass Selle seine Bibliothek auch intensiv nutzte. Er fügte Alternativtexte, Hinweise zu Aufführungsmöglichkeiten, Verweise auf korrespondierende Bibelstellen, Intavolierungsvermerke, Inhaltsverzeichnisse, Unterstreichungen, Besitzvermerke, Bezifferungen, handschriftliche Stimmen und Korrekturen ein. Vor allem Letzteres zeugt zudem sowohl von Mündigkeit als auch Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Material, und wenn er in Grimms Traktat eine Randbemerkung einfügte, dann ist das nicht nur der Beleg für die intensive Auseinandersetzung mit dieser Schrift, sondern auch für die Fähigkeit, sich gleichsam dazu zu äußern.

Auch die gelehrten Kreise, in denen sich Selle bewegte, sprengten den vermeintlich engen kirchlichen Rahmen seiner Tätigkeit als Kantor. Der Kontakt zu diesen Gesellschaftsschichten Hamburgs entstand wohl vor allem durch seinen Freund, den Dichter, Theologen und Gelehrten Johann Rist, den Selle schon seit seiner Zeit in Wesselburen kannte.40 Um diesen gruppierten sich mehrere Musiker, die seine Liedtexte vertonten – darunter Jacobus Praetorius, Heinrich Scheidemann, Johann Schop, Peter Meier und schließlich, mit der Sabbahtischen Seelenlust und den Neüen Musikalischen Fest-Andachten, Selle selbst. Zugleich brachte ihn diese Freundschaft sicherlich auch in Kontakt mit den Dichtergesellschaften, denen Rist angehörte – beispielsweise dem „Elbschwanenorden“.41 Auch mit dem Dichter Georg Neumark hatte Selle Bekanntschaft geschlossen, widmete er ihm doch „zu sonder Gefallen Lieb Freundschaft“ eine Komposition.42 Und schließlich vernetzte man sich auch mit den bildenden Künstlern. Dirk Dircksen etwa gestaltete nicht nur Selles Porträt, sondern auch Grafiken in den Drucken Rists.43 Den Bereich reiner liturgischer Zweckdienlichkeit seiner ← 21 | 22 → Werke hatte Selle damit längst verlassen. Vielmehr vermitteln seine Opera omnia und das darin enthaltene Porträt ein Selbstverständnis, das nicht nur nach langfristiger Geltung trachtete, sondern auch künstlerisch orientierte Ziele verfolgte, für die er mit seiner Position in Hamburg optimale Bedingungen vorfand.

2. „Director Chori Musici“ – Hauptperson des norddeutschen Musiklebens

Der Stellenwert der Aufführungen von Selles Musik in den Kirchen war in Hamburg exorbitant. 1657 – mitten in Selles Amtszeit – wurde in der Hafenstadt der Musikführer Hamburger Musik veröffentlicht (siehe Abbildung 7), „Eine So woll den Einheimbischen/ als auch den hie ankommenden Außlendischen nütz- und dienliche Anweisung, Welche Zeit/ unnd an was Ort/ man alhier in dieser guten und weltberühmten Stadt Hamburg/ Die herrliche und wolbestalte Musik/ das gantze Jahr durch nach Hertzens-Wunsch vergnüglichen anhören kann.“44 Das Heft diente dem Hamburger Bürger und Besucher zur Information. Durch die Lektüre erfuhr er wie aus einem Veranstaltungskalender, wo und wann in Hamburg Musik zu hören war. Allein die Tatsache, dass ein solcher Musikführer veröffentlicht wurde, lässt darauf schließen, dass die große Anzahl musikalischer Aktivitäten es nötig machte, dem Publikum eine Orientierung in Form einer Broschüre zur Verfügung zu stellen. Das Heft selbst bestätigt die Vermutung: Es listet eine ganze Reihe an Gelegenheiten zum Musikhören auf: Für die jeweiligen Festtage des Kirchenjahrs sind die Zeiten der Gottesdienste, die mit einer reichen Figuralmusik ausgestattet waren, und die Kirchen, in denen diese stattfanden, genannt. So konnte man meist am Vortag in der Vesper und am Festtag selbst in zwei Gottesdiensten Musik hören. Für alle übrigen Gottesdienste heißt es: „Auff die andere (nicht benandte) Sontage/ gehet die Musick nach Ordnung der Kirchen/ von einer zu der andern herumb.“45 Mit der Figuralmusik ging man in Hamburg keineswegs sparsam um, sie bildete vielmehr einen sehr ausgeprägten Bestandteil des Gottesdiensts. ← 22 | 23 →

Abbildung 7: Hamburger Musik, Titelkupfer und Titelblatt46

illustration

Doch nicht nur die Reichhaltigkeit der Kirchenmusik – vor Gründung des Collegium musicum 1660 war die Figuralmusik der zentrale Ort für Musikausübung – lässt sich an diesem Musikführer ablesen, sondern zugleich auch deren ästhetische Wertschätzung. Im eröffnenden Huldigungsgedicht „An den löblichen Anweiser zur Hamburger Musik“ heißt es:

Details

Pages
486
Publication Year
2019
ISBN (PDF)
9783034336741
ISBN (ePUB)
9783034336758
ISBN (MOBI)
9783034336765
ISBN (Hardcover)
9783034336734
DOI
10.3726/b14738
Language
German
Publication date
2019 (May)
Published
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 486 S., 15 farb. Abb., 67 s/w Abb., 190 Notenbeispiele

Biographical notes

Juliane Pöche (Author)

Previous

Title: Thomas Selles Musik für Hamburg