Kinder- und Jugendliteratur im universitären DaF-Unterricht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Ramona Herz-Gazeau: „Ist das nicht Kinderkram?“ – Warum Kinder- und Jugendliteratur für Deutschlerner an der Universität?
- Bedeutung und Potenzial von Übersetzungen
- Hans-Heino Ewers: Literarische Internationalisierung und die Rolle der Kinder- und Jugendliteratur. Mit Blick auf die Literaturverhältnisse in den deutschsprachigen Ländern
- Julia von Dall’Armi: SprachKulturGrenzen im Soziotop der Nachwendezeit –Übersetzungen von Tschick im universitären DaF-Unterricht
- Kulturvermittlung
- Ramona Herz-Gazeau und Anne Schneider: Migrationsliteratur für Kinder in civilisation-Kursen
- Katrin Link: Der Zweite Weltkrieg in den Sachbüchern „WAS IST WAS“ und „Wieso? Weshalb? Warum?“ – Einsatzmöglichkeiten im civilisation-Unterricht
- Comics und Märchen
- Maike Nicola Johannpeter: Erinnern mit DDR-Comics von Flix bis Budde
- Stefan Sadecki: Drei Perspektiven auf den Anfang der Verwandlung von Franz Kafka in zeitgenössischen Comic-Adaptionen
- Christian Tremmel: Jakob und Wilhelm Grimms Kinder- und Hausmärchen im universitären DaF-Unterricht und der Lehrerbildung in Frankreich
- Praxisbeispiele aus aller Welt
- Anita Andrea Széll und Gabriella-Nóra Tar: Kinder- und Jugendliteratur im rumänischen Germanistikstudium am Beispiel der Klausenburger Erzählakademie
- Shaimaa Ahmed Elsaghir Tawfik: Emil und die Detektive an den Abteilungen für Germanistik in Oberägypten
- Informationen zu den Beitragenden
Ramona Herz-Gazeau
„Ist das nicht Kinderkram?“ – Warum Kinder-
und Jugendliteratur für Deutschlerner an der
Universität?
Anlass für diesen Sammelband war das Fachseminar der Lektoren des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Frankreich, das im Februar 2018 zum diesjährigen Thema „Kinder- und Jugendliteratur im universitären DaF-Unterricht“ unter Leitung der Herausgeberinnen an der Université de Caen (Normandie) stattfand. Der interdisziplinäre wissenschaftliche und handlungsorientierte Austausch, den diese jährliche Fortbildungsveranstaltung bietet, soll die Arbeit der Lektoren als Deutschdozenten an französischen Universitäten bereichern. Neben der intensiven Diskussion über die Unterrichtspraxis hat das Seminar auch gezeigt, dass im Bereich der Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur im universitären Kontext noch großer Forschungsbedarf besteht. (Interdisziplinäre) Veröffentlichungen aus der Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und Fremdsprachendidaktik zeigen, dass sich die Erforschung des Nutzens von Kinder- und Jugendliteratur außerhalb der Arbeit mit Kindern insbesondere in mehrsprachigen Kontexten1 sowie im DaZ-Bereich2 großer Beliebtheit erfreut. Zum Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im universitären DaF-Bereich und der Erwachsenenbildung finden sich bisher nur wenig systematische Forschungsansätze.3
←9 | 10→Im Folgenden soll daher kurz auf die Verortung der Kinder- und Jugendliteratur zwischen Ästhetik und Didaktik und einige damit verbundene Theorien aus der Kinder- und Jugendliteraturforschung eingegangen werden. Im Anschluss wird der universitäre Deutschlerner im In- und Ausland als erwachsener Leser näher bestimmt und die gerade für die Anwendung im Fremdsprachenunterricht interessanten Charakteristika der Kinder- und Jugendliteratur herausgestellt. Lehrende an Universitäten in der Auslandsgermanistik aber auch im deutschen Studiengang Didaktik des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache stehen vor einigen Herausforderungen, wollen Sie mit Kinder- und Jugendliteratur arbeiten. Diese werden in einem dritten Teil kurz dargestellt.
Kinder- und Jugendliteratur zwischen Ästhetik und Didaktik
Schon im Vorwort ihres 1998 herausgegebenen Sammelbandes Kinderliteratur im Unterricht,4 machen Karin Richter und Bettina Hurrelmann auf die Spannungen aufmerksam, die bei der Betrachtung von Kinder- und Jugendliteratur aus literaturwissenschaftlicher und didaktischer Sicht entstehen. Sie mögen einerseits darin begründet liegen, dass dieser Literatur historisch bedingt ein pädagogischer Anspruch inhärent ist, der von der Literaturwissenschaft nur zu gerne ausgeblendet wird und andererseits darin, dass didaktische Überlegungen zur Kinder- und Jugendliteratur deren ästhetischen Gehalt oft vernachlässigen. Malte Dahrendorf kritisiert schon vor mehr als zwanzig Jahren in seinem Beitrag „Überlegungen zur immanenten Didaktik und Pädagogik der Kinder- und Jugendliteratur“, dass die Kinderliteratur als Forschungsgegenstand der einzelnen Disziplinen zu ungenau abgegrenzt wird. Gut zehn Jahre später plädiert Christine Knödler für eine „eigenständige Kinder- und Jugendliteraturkritik“.5 Bettina Hurrelmann fasst das fachliche Dilemma schon 1998 zeitlos zusammen:
Wie stark literarisch-ästhetische Ansprüche sich gegenüber pädagogischen durchzusetzen vermögen oder pädagogische Restriktionen das literarisch Mögliche in der Kinderliteratur einschränken, auch was jeweils als pädagogisch nützlich, angemessen oder ←10 | 11→akzeptabel gilt, ist wie die Art der Spannungsverhältnisse zwischen den beiden „Polen“ eine Sache der gesamtkulturellen, jugendkulturellen – und nicht zuletzt auch der Marktentwicklung […].6
Innerhalb dieser Diskussion sieht sich die Kinder- und Jugendliteratur seit jeher der Frage der Literarizität ausgeliefert. Aus der „Didaktik der Literarizität“ nach Michael Dobstadt und Renate Riedner schöpfen wir für diesen Sammelband auch ein mögliches theoretisches Fundament.
Was macht einen Text literarisch? Laut Michael Dobstadt und Renate Riedner, die an Roman Jacobson anknüpfen, ist Literarizität „ein Merkmal von Sprache, das an eine bestimmte Einstellung des Rezipienten bzw. des Produzenten eines Textes gebunden ist. Es wird dann sichtbar wenn […] [a];uf die sprachliche Oberfläche […], auf den Klang, auf die Zusammenstellung der Worte, die nicht nur nach dem Kriterium der kommunikativen ,Richtigkeit‘ erfolgt, sondern auch (und manchmal vor allem) nach dem Kriterium eines (formalen) Zueinander-Passens [geachtet wird].“7 Nicht nur die formale, textstrukturelle Sprache von Literatur, sondern nach Spinner auch „[d]ie Erzeugung von Empathie [gilt] beim Leser […] in der Literaturtheorie als wesentlicher Aspekt von Literarizität.“8 Er nennt sechs literarische Verfahren, die Empathie unterstützen: Held und Gegenspieler, Lebensgeschichten, Komplikationen und Dilemmasituationen, Narrative Mittel der Innensicht, Räumliche Atmosphäre und Leiblichkeit. Empathie definiert er dabei wie folgt:
Empathie ist möglich, weil man im anderen Menschen bzw. in den literarischen Figuren etwas wiederfindet, was man selbst erfahren hat. Aber zur Empathie gehört auch die Wahrnehmung der „Nicht-Ähnlichkeit“, denn nur dadurch kann Empathie Fremdverstehen und nicht nur Projektion eigener Subjektivität sein; Empathie ist Wiedererkennen von Eigenem und Erfahrung von Andersheit.9
←11 | 12→Empathie-Erfahrung und vor allem Fremdverstehen werden in der Kinder- und Jugendliteraturforschung als wesentliche Ziele der Lektüreerfahrung genannt. Es scheint uns daher unter diesem Blickwinkel durchaus gerechtfertigt, Texte der Kinder- und Jugendliteratur, die diese Erfahrungen möglich machen, als „literarisch wertvoll“ zu bezeichnen. Versteht man Empathie-Erfahrung gemeinsam mit Spinner als „Beitrag zur Entwicklung psychologischen Verstehens“, der „zur Werteerziehung über die literarische Verstehenskompetenz hinausreicht[,]; und damit [als] einen Aspekt allgemeiner Bildung“, so wundert es durchaus, dass „der Aspekt der Empathie in den neuen Abitur-Bildungsstandards der deutschen Kultusministerkonferenz völlig fehlt.“10
Im vorliegenden Sammelband wollen wir diesen Gedanken weiterspinnen. Bildungsauftrag der Universität im In- und Ausland ist es, die Werteerziehung und allgemeine Bildung zu festigen. Für den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache entwickeln Michael Dobstadt und Renate Riedner ausgehend vom Aspekt der Literarizität und einer neuen Sichtweise auf den Fremdsprachenunterricht die „Didaktik der Literarizität“, die wir für unser Anliegen des Literaturunterrichts an der Hochschule als geeignetes theoretisches Fundament betrachten:
Für die Ausgestaltung schulischer (und eigentlich auch universitärer) Lernprozesse gewinnt die Frage nach der Literarizität eine andere Relevanz. […] die bildungspolitische Frage erfordert – ebenso wie die Frage der Vermittlung domänenspezifischer Kompetenzen und Bereitschaften – andere Antworten als die historische. Denn die Herausforderung ist hier einerseits weniger eine analytische, als vielmehr eine normative, die Frage richtet sich darauf, wie in gegenwärtigen und zukünftigen Institutionen in einer Gesellschaft Bildungsprozesse gestaltet werden sollen.11
Ausgangspunkt der Überlegungen der beiden Deutschdidaktiker ist die Tatsache, dass in der gängigen Praxis „die von Weinrich betonte ästhetische Dimension literarischer Sprache, d.h. ihre spezifische Literarizität, kaum eine Rolle [spielt].“12 Sie begründen dies wie folgt: „Dies ist vielleicht auch gar nicht so ←12 | 13→verwunderlich. Denn die ästhetische Sprachfunktion, die auf Verfremdung und Verlangsamung der Wahrnehmung hin angelegt ist, ist mit einem Fremdsprachenunterricht nur bedingt vereinbar, der den Erwerb einer möglichst reibungslosen kommunikativen (Alltags-)Kompetenz zum Ziel hat.“13 Dobstadt und Riedner plädieren für das Festigen einer symbolischen Kompetenz beim Fremdsprachenlerner mithilfe des Einsatzes von literarischen Werken auf allen Niveaustufen,14 was „sich keinesfalls von selbst [versteht] – nicht nur mit Blick auf die Arbeit mit Literatur, die zum Beispiel im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen erst auf der Niveaustufe B2 systematisch vorgesehen ist, sondern auch mit Blick auf eine grundlegende Bestimmung des ,literarischen‘ Zugangs zu Sprache über einen bewussten (auch spielerischen) Umgang mit den Kategorien der ,Form‘ und der ,Uneigentlichkeit‘.“15 Heute müssten DaF-Studierende nicht mehr nur sprachliche Kompetenzen, sondern auch allgemeine inter- bzw. transkulturelle Handlungskompetenzen entwickeln. „Literatur bzw. die ästhetische Funktion von Sprache werden dabei als Mittel eines sprach- und kulturbezogenen Lernens aufgefasst, das nicht mehr den Parametern der gängigen kommunikativen und interkulturellen Konzepte folgt und letztlich auf ein verändertes Verständnis von Fremdsprachenunterricht zielt.“16 Mit diesem Ziel befürworten die Autoren die intensive Beschäftigung mit der Bedeutungsbildung eines literarischen Textes sowie die allgemeine Beschäftigung mit dem „‚symbolic gap between signifier et signified‘ [als] eine[r]; Grundeigenschaft von Sprache“. Es sei „erforderlich, diese Art von Umgang mit literarischen Texten in einen veränderten Fremdsprachenunterricht einzubetten, der diesen Einsichten prinzipiell – und nicht nur in der Arbeit mit Literatur – Rechnung trägt; in der Absicht, sie gezielt für den Spracherwerb fruchtbar zu machen.“17 Wir teilen die Idee, die vor allem in der Literatur auftretenden Bedeutungsschemata als Ausgangspunkt sprachlichen Lernens zu nutzen. Um dem Problem der sprachlichen ←13 | 14→Schwierigkeit entgegenzuwirken, beschäftigen wir uns davon ausgehend mit der Frage, inwieweit Kinder- und Jugendliteratur mit diesem Ziel im Deutschunterricht fruchtbar gemacht werden kann. Den Gedanken von Annette Kliewers in ihrem kritischen Artikel mit dem Titel „In der neunten Klasse liest man doch keine Jugendliteratur mehr. Wider die Konkurrenz zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur“18 weiterführend plädieren wir für die Arbeit mit Kinder- und Jugendliteratur mit dem Leserprofil des erwachsenen Deutschlerners.
Kinder- und Jugendliteratur für den erwachsenen Deutschlerner
Hierbei stoßen wir auf zwei Problemfelder. Zum einen stellt sich die Frage danach, ob Kinder- und Jugendliteratur überhaupt für den erwachsenen Leser geeignet ist. Anschließend sei gerechtfertigt, warum Kinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden sollte.
Wenden wir uns zunächst dem Problem der Adressatenspezifik zu. Hans-Heino Ewers fordert „als erstes […] zwischen der Adressierung eines literarischen Werkes an bestimmte Lesergruppen und dem aus dem Werk selbst hervorgehenden idealen Leser [zu unterscheiden].“19 Heidi Rösch präzisiert in Bezug auf die Bestimmung des Genres Kinder- und Jugendliteratur:
Wie problematisch die Adressatenspezifik als zentrale Kategorie zur Bestimmung des genres ist, zeigt die Unterscheidung zwischen intentionaler und nicht-intentionaler Kinder- und Jugendliteratur. Während intentionale Kinder- und Jugendliteratur für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde, gelangt nicht-intentionale Kinderliteratur durch den historischen Rezeptions- und Vermittlungsprozess, durch Verlagspolitik, und hoffentlich auch durch entwicklungsbedingte Leseinteressen in die Hände von Kindern oder Jugendlichen, ohne explizit für sie geschrieben worden zu sein.20
←14 | 15→Andersherum betrachtet greift auch der Erwachsene zu (vermeintlich) intentionalen Kinder- und Jugendbüchern, ein Phänomen, das heute unter dem Begriff „Crossover“ geführt wird. Dieser Trend hängt sehr stark mit der Vermarktung von Kinder- und Jugendliteratur zusammen: „Auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur treten die Schwenks in der Vermarktung literarischer Werke besonders deutlich hervor. Anzutreffen sind hier sowohl Ausweitungen wie Einschränkungen der ursprünglichen Adressierung, aber auch vollständige Umwidmungen bzw. Umadressierungen.“21 Bücher, die in die Kategorie „Crossover“ fallen, werden auch unter dem, dem Trendbericht Kinder- und Jugendbuch 2010 zufolge, relativ vagen Begriff „All-Age-Titel“ gehändelt:
Der Begriff „All-Age-Bücher“ legt die Vermutung nahe, dass es sich um Bücher für Menschen von 0 bis 99 Jahren handelt. Das ist jedoch ein Trugschluss. Es geht in der Regel um Bücher für Jugendliche und junge Erwachsene, etwa um die Altersgruppe von 12 bis 30. Dass sie im Verkauf seit einigen Jahren dominieren, zeigt ein Blick in die Statistik: Auf der Liste der 20 meistverkauften Bücher von 2002 bis 2009 im Bereich Belletristik finden sich elf All-Age-Titel, das heißt mehr als die Hälfte der Bestseller sind Jugendbücher.22
Die Tatsache, dass heute ein Großteil der Bestseller Jugendbücher sind hat Lena Hoffmann zu einer umfangreichen Studie zum Thema Crossover bewogen.23 Nach der Wegbereitung der Theoretisierung dieses Phänomens durch Hans-Heino Ewers24 und Agnes Blümer25 hat ihre Studie, die der Bestsellerforschung zuzuordnen ist, die textstrukturellen Merkmale von Crossover-Titeln zum Gegenstand und versucht, durch textimmanente Analysen eine eigene „Schreibart der Mehrfachadressiertheit“ auszumachen.
Auch Dietmar Rösler und Emer O’Sullivan gehen in ihren Überlegungen zum Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht auf das „Crosswriting“ ein, das sich auf mindestens drei Phänomene beziehe: Autoren ←15 | 16→die sowohl für Erwachsene als auch für Kinder schreiben; das Umschreiben von Erwachsenenliteratur für Kinder und umgekehrt; sowie die dritte Kategorie der Crossover- oder All-Age-Titel. Laut den Autoren gehören zu dieser Literatur „allerdings weniger Texte, die Kinder plus Erwachsene, als die, die Jugendliche plus Erwachsene ansprechen, z.B. Werke von Jostein Gaarder, J. K. Rowling, Cornelia Funke oder Stephenie Meyer“.26 Solche Crossover-Texte seien „für die Fremdsprachendidaktik von besonderem Interesse, da sie für unterschiedliche Altersgruppen ansprechend sind.“27 Im vorliegenden Sammelband wollen wir uns aber nicht nur mit mehrfachadressierten Jugendbüchern, sondern auch mit dem von Hans-Heino Ewers als solches bezeichneten „doppelsinnigen Kinderbuch“ beschäftigen. Dafür müssen die verschiedenen Rollen des erwachsenen Lesers betrachtet werden:
Erwachsene Leser von Kinder- und Jugendliteratur gibt es in verschiedenen Rollen. Zum einen in ihrer Funktion als Vermittler, die eine Kaufentscheidung oder eine Empfehlung treffen oder einfach überprüfen wollen, was ihre Kinder bzw. Schüler lesen, zum anderen als Vor- und Mitleser, die diesen einen Text nahebringen und mit ihnen genießen wollen. […] Eine Reihe von Kinderbüchern enthält aber auch Elemente, die den Erwachsenen als Leser und nicht nur als Vermittler ansprechen wollen. Bei diesen Texten handelt es sich um sogenannte doppelt- oder mehrfachadressierte Texte, um Texte, in denen sich mehr als ein Adressat oder impliziter Leser ausmachen lässt. Diese mehrfachadressierte Kinderliteratur weist Elemente auf der inhaltlichen oder der Strukturebene auf, die sich nur einem erwachsenen Leser erschließen, die aber nicht die Genießbarkeit der Texte für Kinder unterminieren.28
Laut Ulrike Eder bietet sich „[d];oppelsinnige KJL […] durch ihre mehrdimensionale Leserbezogenheit […] für den Einsatz im Unterricht mit (erwachsenen) DaF-Lernenden besonders an.“29 Das liegt daran, dass „beide Zielgruppen […] diesen Werken […] eine jeweils andere Botschaft entnehmen [sollen].“30 Laut Hans-Heino Ewers eignen sich hier insbesondere „allegorische und parabolische Dichtungsformen, also Bilddichtungen im weiten Sinn des Begriffs.“31 Während Erwachsene hintergründige Botschaften entdecken, bleiben diese Kindern, die ←16 | 17→„auf der Bildebene verharren“, bei der Lektüre verborgen. Auch Eva Burwitz-Melzer formuliert die zentrale Relevanz der mehrfachadressierten Bilderbücher:
Ihre Mehrfachkodierung – z.B. einfach formulierter Text einerseits, komplexe Angebote auf der Bildebene andererseits – wird den zielsprachenunabhängigen kognitiven und ästhetischen Fähigkeiten vieler (junger) erwachsener Lerner gerecht und bietet so eine Möglichkeit, die Kluft zwischen intellektuellem Leistungsvermögen und Anspruch und eingeschränkten sprachlichen Ausdrucksmitteln zu überbrücken.32
Rösler und O’Sullivan fügen den Bilderbüchern mehrsprachige Bücher hinzu und plädieren für den Einsatz der beiden Kategorien für den erwachsenen Deutschlerner, weil sie „mit jeweils zwei Zeichensystemen (visuell-verbal sowie zwei Sprachsysteme) [arbeiten].“33
Was Ewers für die Verwendung „doppelsinniger Kinderbücher“ und ihre Vermarktung fordert, nämlich über das Marketing die „gewinnbringende Lektüre für all die Erwachsenen heraus[zu]stellen, die mit Kindern und Jugendlichen beruflich und privat zu tun haben“34, können wir durch diesen Sammelband nur unterstützen, geht es im Folgenden auch um Überlegungen dazu, Kinder- und Jugendliteratur in die Ausbildung angehender Deutschlehrkräfte einzubeziehen.
Wir kommen an dieser Stelle zum zweiten Problemfeld, nämlich der Frage danach, warum Kinder- und Jugendliteratur (oder allgemein Literatur) überhaupt im Fremdsprachenunterricht, und spezifisch im DaF-Unterricht mit Erwachsenen eingesetzt werden soll. Es sei dabei zunächst auf Entwicklungen an der Schule und in der Erwachsenenbildung hingewiesen:
In der Schule ist die KJL in den vergangenen Jahren zunehmend auch für höhere Klassen interessant geworden; das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Grenzen zwischen KJL und Erwachsenenliteratur ausgesprochen fließend geworden sind. KJL in der Erwachsenenbildung betrifft zum einen die Aus- und Fortbildung von Lehrer(inne)n und Erzieher(inne)n, aber auch von Eltern (und Großeltern) im Hinblick auf das häusliche Vorlesen. Ein Ausbildungselement, das typisch für die Arbeit mit Erwachsenen ist, besteht in der Reflexion der eigenen literarischen Sozialisation.35
←17 | 18→Bemängelt wird allerdings, dass nur wenige Forschungsarbeiten zum Thema Kinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht vorliegen. Laut Eva Burwitz-Melzer gibt es „zwar umfangreiche Studien über den Gegenstand aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, […] aber wenige systematische Untersuchungen über die Einsatzmöglichkeiten von Kinder- und Jugendliteratur in den verschiedenen Jahrgangsstufen und für die unterschiedlichen Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts.“36 Ein Blick in die allgemeine Literaturdidaktik sowie die Erstsprachdidaktik birgt hier Antworten.
Die allgemeine Literaturdidaktik orientiert sich seit den 80er Jahren an zwei Paradigmen, dem interkulturellen Konzept sowie dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht.37 Für letzteren ist „übergeordnetes Ziel […] die möglichst selbstständige, kreative und differenzierte Auseinandersetzung der Lernenden mit einem literarischen Text.“38 Nach Spinner sind weitere Ziele das „literarische Lernen“39 mit der Ausbildung der Kompetenzen „Fähigkeit des symbolischen Verstehens“, „Bereitschaft, sich auf ungewohnte Sprache und Bilder einzulassen“, „Nachvollziehen des Wechsels der Erzählperspektive und der zeitlichen Ebenen“ sowie „Fiktionsbewusstsein“40. Außerdem gelten Fremdverstehen und Empathiefähigkeit, von denen oben schon die Rede war, als bedeutende Ziele des Literaturunterrichts. Spinner geht in diesem Zusammenhang deutlich auf das Potenzial der Kinder- und Jugendliteratur ein, was unser Plädoyer für eine Didaktik der Literarizität unterstützt:
Die Entwicklung von Empathie und Fremdverstehen heißt nicht, dass sich die Lesenden die Auffassungen einer Figur zu eigen machen sollen. Fremdverstehen kann durchaus auch Abgrenzung bedeuten. Die früher tendenziell vorherrschende Auffassung, dass Alteritätserfahrung bei Erwachsenenliteratur, identifikatorisches Lesen bei KJL angelegt ←18 | 19→sei, gilt weder für die heutige KJL noch für die Leseweisen, die im Unterricht unterstützt werden sollen.41
Details
- Seiten
- 230
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631809327
- ISBN (ePUB)
- 9783631809334
- ISBN (MOBI)
- 9783631809341
- ISBN (Hardcover)
- 9783631800744
- DOI
- 10.3726/b16448
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (Februar)
- Schlagworte
- Kinderliteraturdidaktik DaF-Didaktik Hochschulunterricht Auslandsgermanistik Kinderliteraturforschung Erwachsener Deutschlerner
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 230 S., 2 farb. Abb., 2 Tab.