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Hahnemanns «Handbuch für Mütter», 1796

Erziehungsratgeber zwischen Pädagogik und Medizin im ausgehenden 18. Jahrhundert

by Samuel Hahnemann (Author) Stephan Heinrich Nolte (Volume editor)
©2018 Others 208 Pages

Summary

Das in Samuel Hahnemanns umfangreicher Übersetzertätigkeit entstandene «Handbuch für Mütter» ist die erweiterte Bearbeitung eines revolutionären französischen Textes nach Rousseau. Es reiht sich in eine große Zahl pädagogisch-medizinischer Ratgeber ein, die im späten 18. Jahrhundert als Folge der Aufklärung und der Entwicklung von an Locke und Rousseau orientierten pädagogischen Konzepten erschienen sind. Die kommentierte Textausgabe stellt die Erweiterungen, aber auch Auslassungen Hahnemanns gegenüber der anonymen französischen Vorlage dar und ordnet sie in den Kontext der Aufklärung, der Reformpädagogik, der Französischen Revolution sowie der konkurrierenden medizinischen und pädagogischen Schriften und ihrer zeitgenössischen Rezeption ein.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Kapitel 1: Einführung
  • Kapitel 2: Unser „beobachterisches Zeitalter“: das „pädagogische Jahrhundert“
  • Kapitel 3: Die Französische Revolution, ihre Erziehungsziele und die Vorlage des „Handbuch für Mütter“ nach Rousseau
  • Kapitel 4: Hahnemann als Übersetzer und seine Übersetzungen
  • Kapitel 5: Handbuch für Mütter
  • Kapitel 6: Die Bearbeitung der Vorlage durch Samuel Hahnemann
  • Kapitel 7: Aufnahme und Rezensionen
  • Kapitel 8: Weitere Autoren und konkurrierende Schriften
  • Kapitel 9: Schlussbetrachtungen
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Kapitel 1: Einführung

Im Jahre 1796 erscheint in Leipzig bei Gerhard Fleischer dem Jüngeren ein Buchtitel: Handbuch für Mütter, oder Grundsätze der ersten Erziehung der Kinder, nach dem Französischen bearbeitet von Samuel Hahnemann, der Arzneikunde Doctor.

Im Vorwort heißt es, dass „der Verfasser durch ein Decret des Nationalkonvents veranlaßt ward, zum Behufe seiner Landmänninen, die Rousseau’s Werke nicht selbst lesen oder sich anschaffen können, die Grundsätze, welche dieser berühmte Schriftsteller in Absicht der frühesten Behandlung der Kinder in seinen Schriften vorgetragen hat, in einen kurzen und kernigen Auszug zu bringen.

Da indes der Übersetzer bald fand, daß das, was das französische Original von der physischen (zuweilen auch moralischen) Behandlung der Kleinen sagt, teils gar zu kurz und unzureichend sei, teils auch hin und wieder der Berichtigung bedürfe; so ward die Handschrift einem, dem Publikum längst von mehr als einer Seite rühmlichst bekannten Arzte, der selbst Vater einer zahlreichen Familie ist, Herrn Dr. Hahnemann zugeschickt, welcher sie denn auch mit sehr wichtigen Zusätzen und Berichtigungen ausgestattet, aber zur Bequemlichkeit der Leserinnen es für gut gefunden hat, dieselben dem Text selbst einzuverleiben. Wer dies oder jenes gesagt hat, ist für den Gebrauch der Schrift ganz gleichgültig; der Sachkundige aber wird ohnehin mit leichter Mühe unterscheiden, was dem Deutschen oder dem Franzosen gehört. Der Übersetzer und Herausgeber“.1

Zwei Gründe waren es, die dazu führten, sich mit diesem Werk näher zu beschäftigen. Zum einen ist es die Person des Arztes und Pharmazeuten Dr. Samuel Hahnemann (1755–1843), des Begründers der Homöopathie, einer bis heute bestehenden, bei Laien sehr beliebten und geradezu sprichwörtlich gewordenen Therapierichtung, die auch nach über 200 Jahren zu erbitterten Kämpfen über ihre Theorien und den ihr zukommenden Stellenwert Anlass gibt. Zum Zweiten ist es der kulturgeschichtliche Reiz, der von ← 7 | 8 → der Bemerkung des Herausgebers ausgeht, dass der Sachkundige ohnehin mit leichter Mühe unterscheiden könne, „was dem Deutschen oder dem Franzosen gehört“.

Da dies zumindest heute nicht mehr so offensichtlich ist, wie der Herausgeber selbstverständlich annahm, ergab sich daraus die Aufgabe, die Texte der französischen Vorlage mit dem „Handbuch für Mütter“ genau zu vergleichen. Nur mit einer Analyse der Bearbeitung, mit den wenigen Auslassungen, aber zahlreichen, teils weitschweifigen Ergänzungen Hahnemanns lassen sich qualitative Aussagen treffen. Dabei zeigt sich, dass es weniger landesspezifische als eher professionsspezifische Unterschiede zwischen den Texten gibt: Der Erzieher sieht manches anders als der Arzt. Die Rolle der spezifisch französischen Anteile ist vergleichsweise gering: Da ist inhaltlich das Ammenwesen zu nennen, welches in Frankreich sehr viel verbreiteter war als in Deutschland, darüber hinaus geht es an manchen Stellen um spezielle französische Redensarten.

Bei der weiteren Analyse der Entstehungsgeschichte des Buches zeigte sich, dass diese eng mit zwei Strängen verwoben ist: auf der einen Seite mit der Reformbewegung, die sich im Zuge der Aufklärung im Bildungswesen vollzogen hat und mit dem Namen Rousseau verbunden ist, und auf der anderen Seite ganz konkret mit den heute über den Terror und die Revolutionskriege fast in Vergessenheit geratenen kulturellen Ansprüchen der Französischen Revolution.

So sind die Themenkreise, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, vorgezeichnet: die Bildungsreform der Aufklärung, die zu dem Ratgeber Anlass gab, die Person, Biografie und Übersetzertätigkeit Hahnemanns, die Entstehungsbedingungen der Vorlage während der Französischen Revolution, schließlich die Änderungen und Umschreibungen Hahnemanns sowie die Einordnung in die zeitgenössische Ratgeberliteratur. Es ist nicht das Ziel des vorliegenden Buches, eine textkritische Edition herauszugeben, sondern einige Inhalte und Aussagen im kulturgeschichtlichen Zusammenhang vergleichend darzustellen.

Ärztliche Erziehungsratgeber und Gesundheitsbücher

Erziehungsratgeber und Gesundheitsbücher sind bis heute, besonders wenn sie von Ärztinnen oder Ärzten geschrieben werden, weit verbreitet und trotz ← 8 | 9 → neuer Medien und Kommunikationsforen wie Blogs und Chats, ungebrochen nachgefragt. In Deutschland erscheinen jährlich etwa 50 Erziehungsratgeber mit teils hohen Auflagen auf dem Buchmarkt. So erlebt das 2012 vom Autor verfasste Buch „Das große Buch für Babys erstes Jahr“2 – nur eines von vielen derartiger „Babybücher“ – derzeit bereits die 7. Auflage und über 80.000 Exemplare. In den sich rasch ausweitenden neuen Medien, aber auch in den zahlreichen Elternzeitschriften, in Rubriken in Zeitungen und Illustrierten sowie in Radio und Fernsehen werden laufend medizinisch-pädagogische Ratschläge erteilt, die nicht immer wertfrei, dagegen häufig, zum Beispiel durch Babynahrungs- und Spielwarenindustrie, interessengesteuert sind. So unterhalten auch Pharmafirmen in großem Umfang neutral aufgemachte Internetangebote mit Inhalten von Eltern- und Erziehungsberatung. Selbst den ärztlichen Fachzeitschriften, Standesorganisationen und Berufsverbänden gelingt es nicht, sich von diesen Einflussnahmen frei zu machen.

Konsensbildung

Wie pädagogische Ratschläge und Wissensvermittlung in den Familien umgesetzt werden und welche Auswirkungen sie haben, ist so gut wie gar nicht erforscht. Man kann aber davon ausgehen, dass diese Informationen einen großen Einfluss auf die politisch-pädagogische Mentalitätsbildung der Bevölkerung haben. So entsteht in relativ kurzen Zeiträumen für viele Fragen wie etwa „gewaltfreie Erziehung“ oder „frühe Krippenbetreuung“ rasch ein allgemeiner Konsens, ein Denkkollektiv, ein Paradigmenwechsel, der geradezu normativen Charakter hat. Der Begriff „Paradigmenwechsel“ wird heute etwas inflationär für jede kleine konzeptionelle Änderung gebraucht. In seinem ursprünglichen Sinn, nämlich dem einer Diskontinuität oder gar Revolution verstanden, so wie ihn der Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn 1967 formuliert hat,3 bleibt er hilfreich, um Sprünge und Brüche jenseits einer linearen Entwicklung zu beschreiben. Kuhn beruft sich dabei auf den polnischen Arzt, Mikrobiologen und Medizingeschichtler Ludwik Fleck, der in einer 1935 erschienenen Monografie die soziale ← 9 | 10 → Bedingtheit von Erkenntnis und das dazu notwendige „Denkkollektiv“ beschrieben hat.4 In der Wissenschaft stellt dieses Denkkollektiv die einhellige Meinung der „scientific community“ dar, in der Gesellschaft ist es ein sich entwickelnder allgemeiner Konsens. Hier haben wir in den letzten Jahren nicht nur in der Erziehung viele derartige Wendungen erlebt – man denke in jüngster Zeit an die gesellschaftliche Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe.

Gesundheits- und Erziehungsratgeber sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern pragmatische Handlungsanweisungen. Wie die vielfältigen anderen Ratgeber („How to“-Bücher) zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie praktische Ratschläge für den Alltag geben, die auf Meinungen, Erfahrungen, Alltagspraktiken und nicht unbedingt auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, auch wenn sie sich häufig wissenschaftlich geben; insbesondere fließen normative medizinische, psychologische, pädagogische und konfessionelle Lehrmeinungen und Vorstellungen mit ein. Ratgeber lassen sich weder in ihren Zielen und Wirkungen überprüfen, noch können eigentliche Zielsetzungen und Interessenkonflikte der Autoren erfasst, allenfalls aus ihrem biografischen Hintergrund vermutet werden. Die Aufnahme und Einordnung erschließen sich am ehesten noch aus zeitgenössischen Rezensionen. Diese wurden daher besonders berücksichtigt.

Die Existenz speziell von Erziehungsratgebern ist geschichtlich nicht nur auf eine zunehmende Verunsicherung im alltäglichen Handeln durch die dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen wie den Verlust einer Wissen konservierenden Großfamilie zurückzuführen. Erziehungsratschläge gibt es, seit es Erziehung gibt. Denn die Selbstverständlichkeiten im alltäglichen Erziehungsprozess müssen von jeder Generation neu gefunden werden. Durch ihre weite Verbreitung, aber wenig erforschte konkrete Wirkung sowohl auf die Gesundheit wie auch auf die Erziehungspraktiken eröffnet sich ein weites, weitgehend unbearbeitetes Feld.

Erziehung wohin und wie?

Erziehungsziele und -praktiken sind in traditionell geprägten Gesellschaften selbstverständliche Leitbilder, die transgenerationell weitergegeben und ← 10 | 11 → kaum hinterfragt werden, inklusive all ihrer Irrtümer und ihren schlechten Gebräuchen. In Umbruchzeiten, wie während der Französischen Revolution, aber durchaus auch schon wesentlich früher, in der Aufklärung, werden sie dagegen sehr wohl hinterfragt und mit neuen Inhalten gefüllt, so etwa mit dem Ziel, zu einem guten Republikaner oder zu einem aufgeklärten, selbstbestimmten freien Menschen, zum „Selbstdenker“, wie Hahnemann schreibt, zu erziehen. Erziehungsziele zu definieren ist heute, da es ein einheitliches kulturelles Selbstverständnis nicht mehr gibt, schwieriger denn je und macht die Orientierung nicht einfacher.

Erziehungsideale und -ziele waren im Mittelalter durch kirchliche Dogmen, in der Renaissance durch die Rückbesinnung auf die Antike geprägt. In der frühen Neuzeit, in Deutschland vor allem durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), bildeten sich die Wissenschaftlichkeit, die Universalität und die Individualität zur Grundlage der Erziehungsvorstellungen aus. Das Bildungsgeschehen ist nach Leibniz eine selbstverständliche Reflexion der Welt im Menschen: Alle Beschäftigung mit der Welt lässt ihn immer nur zu sich selbst finden. Jeder Mensch besitzt Fähigkeiten zur vernünftigen Lebensführung. Der Aufruf zur Selbsterfüllung und das Streben nach Selbsterhellung werden Bildungs- und Erziehungsziel, nicht mehr die höfische Erziehung, die gelehrte dogmatische und scholastische Bildung im Sinne des Humanismus, sondern eine laizistische, bürgerliche oder, wie man im nachrevolutionären Frankreich sagte, republikanische Bildung. Allerdings tritt gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine gewisse Gegenbewegung ein, als der Pietismus, etwa im Sinne Franckes als Hallescher Pietismus, für das preußische Schulwesen große Bedeutung gewinnt.5 Hier ist das Erziehungsziel die wahre Gottseligkeit und wahre christliche Klugheit.

Erziehungsratgeber im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert

So waren es vier teils gegensätzliche Strömungen, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer intensiven Auseinandersetzung mit pädagogischen und medizinischen Fragen in der Kindererziehung führten. Erstens veranlasste die Suche nach den Gründen für die hohe Kindersterblichkeit Ärzte und ← 11 | 12 → Pädagogen, den bisherigen Umgang mit Gesundheitsfragen im Kindesalter zu überdenken. Zweitens sorgte sich die Obrigkeit ebenfalls um diesen Umstand, vor allem in den herrschenden Kriegs- und Krisenzeiten mit dem Verlust eines Teiles der männlichen Bevölkerung, aber auch aufgrund der allgemeinen Not und Armut. Zum Dritten ist die Theologie zu nennen, durch die die sittliche Erziehung neuen Auftrieb bekam und die Alltagstugenden Höflichkeit und Takt, Ordnung, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit und Fleiß propagierte. Am wirkmächtigsten aber waren wohl die Ziele der Aufklärung, den Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien und ihn anzuregen, seinen Verstand zu benutzen und sich selbst zu erziehen, also den Verstand ohne Leitung eines anderen zu gebrauchen.

Aude sapere, frei von Kant mit „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ übersetzt, wurde 1784 zum Leitspruch der Aufklärung.6 Der Nürnberger Arzt Johann Karl Osterhausen (1765–1839) münzte den Spruch für die Medizin um: „Medizinische Aufklärung ist der Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen.“7 Bemerkenswert sind der Wegfall des Selbstverschuldens und die Beschränkung auf das physische Wohl.8

Die Beobachtung der Natur, die rasch wachsenden Erkenntnisse der Naturwissenschaften und das enzyklopädisch gesammelte Wissen führten jenseits der traditionellen höfischen Kultur zu einer neuen Sicht der Dinge, die sich mit dem Rousseau zugeschriebenen Aufruf „Zurück zur Natur!“ gegen die höfischen Sitten, aber auch gegen die beginnende Industrialisierung richtete. Eine rationale Erklärung der Welt nach dem Vorbild der Natur hat erhebliche Konsequenzen für das Aufwachsen und die Erziehung; so ist es nicht verwunderlich, dass die Ansichten unmittelbaren Niederschlag in Erziehungsratgebern fanden. Diese Ratgeber richteten sich zunächst an professionelle Erzieher, wie die Hauslehrer, und sollten den Erziehern von Kindern aus aristokratischen oder wohlsituierten bürgerlichen Familien Orientierungshilfen geben, wandten sich später jedoch auch an einfachere ← 12 | 13 → bürgerliche Schichten. Die Ratgeber befassten sich dabei mit den Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes und dessen Lernfähigkeit über Sinneseindrücke sowie mit der körperlichen und moralischen Erziehung.9

Details

Pages
208
Publication Year
2018
ISBN (PDF)
9783631760062
ISBN (ePUB)
9783631760079
ISBN (MOBI)
9783631760086
ISBN (Hardcover)
9783631756966
DOI
10.3726/b14301
Language
German
Publication date
2018 (November)
Keywords
Elementarbuchwettbewerb Französische Revolution Bildungsreform Rousseau
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 207 S., 7 s/w Abb.

Biographical notes

Samuel Hahnemann (Author) Stephan Heinrich Nolte (Volume editor)

Stephan Heinrich Nolte studierte Medizin und Kulturwissenschaften in Göttingen, Freiburg und Paris. Zehn Jahre war er in Kliniken tätig, seit 25 Jahren ist er als Kinder- und Jugendarzt und Psychotherapeut niedergelassen, freier Journalist für Fachzeitschriften sowie Autor medizinisch-pädagogischer Ratgeber.

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Title: Hahnemanns «Handbuch für Mütter», 1796