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Verständigung und Versöhnung nach dem «Zivilisationsbruch»?

Deutschland in Europa nach 1945

von Corine Defrance (Band-Herausgeber:in) Ulrich Pfeil (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 858 Seiten

Zusammenfassung

Im Jahre 1945 stand Deutschland ohnmächtig und geächtet vor den Trümmern seiner Politik. Rassischer Weltanschauungskrieg und systematische Vernichtung der europäischen Juden waren ein zivilisatorischer Bruch und belegten die Deutschen mit einer moralischen Schuld. So ist die deutsche Nachkriegsgeschichte vor allem die Geschichte der schwierigen Auseinandersetzung mit der eigenen verbrecherischen Vergangenheit. Für die Deutschen galt es, das Vertrauen ihrer Nachbarn neu zu gewinnen, um den Weg zurück in den Kreis der zivilisierten Völker zu finden. In Politik und Zivilgesellschaft wuchsen schnell erste Initiativen, die auf Verständigung und Versöhnung abzielten. Mentale Demobilisierung und Abbau von Feindbildern gehörten zu den Aufgaben, um nach dem Krieg ein friedvolles Miteinander in Gegenwart und Zukunft herzustellen. In einer breiten Gesamtschau beleuchtet dieser Band, wie über symbolische Gesten, an Erinnerungs- und Gedenkorten, durch Organisationen und Institutionen, über Aktionsfelder und Handlungsformen, bisweilen unter wissenschaftlicher Anleitung, Prozesse eingeleitet wurden, die in den meisten Fällen – aber nicht immer – zur Verständigung zwischen den Deutschen und ihren europäischen Nachbarn beitrugen. Dabei zeigen die Beiträge, dass Versöhnung nicht «besiegelt» werden kann, sondern eine nie endende politische, soziale und kulturelle Arbeit darstellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Verständigung und Versöhnung Eine Herausforderung für Deutschland nach 1945
  • I. Symbolische Gesten
  • Reue, Vergebung und Sühne: der Beitrag der symbolischen Gesten zu Verständigung und Versöhnung. Eine Einführung
  • Das „Te Deum“: Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in Reims 1962
  • Kniefall vor der Geschichte. Willy Brandt in Warschau 1970
  • „Hand in Hand“. François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun 1984
  • Bitburg – (k)eine Geste der Versöhnung. Zur Ambivalenz von Versöhnen und Erinnern beim Staatsbesuch Ronald Reagans in der Bundesrepublik 1985
  • Der Friedensgruß von Kreisau 1989. Eine Geste als Versprechen
  • „Brücken der Freundschaft“ zwischen der DDR und Polen „Völkerfreundschaft“: eine „andere“ Geste der Versöhnung?
  • II. Erinnerungs- und Gedenkorte
  • Orte als Gedenkzeichen der Erinnerung und Versöhnung? Eine Einführung
  • Die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau und ihre Anfänge (1967-1984). „Dem, dem Leid zugefügt wurde, den Zeitpunkt der Versöhnungsbereitschaft überlassen“
  • Auschwitz. Vom Ort der Vernichtung zum Ort der Versöhnung?
  • Yad Vashem. Die Shoah und die historische Verantwortung Deutschlands
  • Lidice. Weltweites Symbol der Vernichtung – weltweites Symbol der Versöhnung?
  • Distomo. Versöhnung ad calendas graecas?
  • Sant’Anna di Stazzema. „Versöhnung heißt nicht vergessen“
  • Gernika. Der lange Weg von den Bomben zur Versöhnung
  • Jenseits von Putten. Deutsch-Niederländische Erinnerungsorte
  • Oradour-sur-Glane. Ort einer späten Versöhnung
  • Grenzorte: von der Konfrontation zur Kooperation Das Beispiel des Oberrheins
  • III. Organisationen und Institutionen
  • Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher und staatlicher Institutionen. Zur Vielfalt und Komplexität von Versöhnung. Eine Einführung
  • Pax Christi. Katholiken für Frieden und Völkerverständigung
  • Die „Aktion Sühnezeichen“ (Friedensdienste) als deutsch-protestantische Versuch(ung) von Versöhnung mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust
  • Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“
  • Veteranen als zivilgesellschaftliche Akteure der Versöhnung in Europa? Dispositionen, Handlungsfelder und Aktionsformen transnationaler Verständigung ehemaliger Kriegsteilnehmer in der frühen Bundesrepublik
  • Die Zentrale Stelle Ludwigsburg. Versöhnung durch Aufklärung der NS-Verbrechen?
  • Das Museum Berlin-Karlshorst. Deutsch-russische Zusammenarbeit am historischen Ort
  • § 96 Bundesvertriebenengesetz. Ein Instrument der Versöhnung Deutschlands mit seinen mittel- und osteuropäischen Nachbarn?
  • Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Versuch an einem untauglichen Objekt
  • IV. Aktionsfelder und Handlungsformen
  • Handlungsräume und Handlungsformate der Versöhnung. Eine Einführung
  • Internationale Jugendbegegnungen. Überlegungen zur Rolle der Jugend für Versöhnung in Europa
  • Zeichen der Versöhnung. Der Beitrag der Kirchen zur Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Städtepartnerschaften. Ein Instrument der „Versöhnung“ von unten?
  • Schulbuchgespräche in friedenspädagogischer Absicht. Die Revision der Geschichtsbücher im Versöhnungsprozess nach 1945
  • Die politische Gedenkrede als Instrument der Versöhnung
  • Versöhnung durch Verträge?
  • „Weiter leben“: Zur Erfahrungsgeschichte der Wiedergutmachung seit 1945
  • Lässt sich Versöhnung exportieren? Deutsch-französische Aktivitäten in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens
  • V. Im Dienste der Versöhnung? Friedensforschung und Friedenspädagogik in Deutschland
  • Frieden und Versöhnung. Eine Aufgabe für Wissenschaft und Public History. Eine Einführung
  • Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung und Debatten von den 1960er bis in die 1980er Jahre
  • Friedenspädagogik in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen, Entwicklung und aktuelle Diskurse
  • Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Mühsame Annäherungen an das Thema der Versöhnung
  • Die Berghof Foundation. Verständigung und Versöhnung durch Konflikttransformation
  • Bilanzierende Betrachtungen eines Lernprozesses. Blicke von außen auf Deutschlands Umgang mit der Vergangenheit
  • Namensregister
  • Geografisches Register
  • Institutionenregister
  • Die Autoren
  • Reihenübersicht

Verständigung und Versöhnung

Eine Herausforderung für Deutschland nach 1945

Corine DEFRANCE & Ulrich PFEIL

1.  Der „Zivilisationsbruch“

1.1  Das Jahr 1945 – eine weltgeschichtliche und deutsche Zäsur

Noch im April 1945 versuchte die Führung des britischen Heeres Freundschaft, Versöhnung und Freundlichkeit zwischen britischen Soldaten und Deutschen zu verhindern und warnte vor den Gefahren der Fraternisierung, um den Zweiten Weltkrieg zu einem siegreichen Ende zu führen und eine zukünftige Aggression Deutschlands unmöglich zu machen. Wenige Tage später lag das „Dritte Reich“, dessen Führer sich durch Selbstmord der Verantwortung für ihre Verbrechen entziehen wollten, am Boden. Die von der Anti-Hitler-Koalition erzwungene bedingungslose Kapitulation des „Dritten Reiches“ setzte am 8. Mai einem „totalen Krieg“ ein Ende, für den ein moderner Staat im Zentrum Europas sämtliche Kräfte aufgeboten hatte, um seine Nachbarn zu unterwerfen, auszubeuten und – besonders im östlichen Europa – auszutilgen. Niemals zuvor war die Zivilbevölkerung in dieser Breite mobilisiert worden: in Deutschland, ← 13 | 14 → um dem Vernichtungs- und „Weltanschauungskrieg“ zum Sieg zu verhelfen, in den angegriffenen und besetzten Ländern, um den deutschen Aggressor zurückzuschlagen und niederzuwerfen1.

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Plakat der britischen Landarmee vom April 1945, das vor der Fraternisierung warnte (Sammlung Imperial War Museums, LBY PROC 209)

Die Weltgeschichte und in ganz besonderem Maße die deutsche Geschichte war an einer tiefgreifenden Zäsur angekommen, denn nicht nur Deutschlands Hegemonie über Europa war spätestens 1945 beendet, sondern auch die Dominanz des europäischen Staatensystems2. Nachdem das gemeinsame allliierte Ziel – die Niederringung von NS-Deutschland – die antagonistischen Mächte noch zusammengebracht hatte, entstand schon bald nach Kriegsende eine neue Polarisierung zwischen den USA auf der einen und der UdSSR auf der anderen Seite. Die ersten Schritte einer politischen und kulturellen Demobilisierung mündeten in eine neue Mobilisierung für einen ideologischen und machtpolitischen Wettstreit zwischen den kapitalistischen Demokratien des Westens und der kommunistischen Diktatur des Ostens. Diese Rivalität wurde nun bis 1989/91 zur weltpolitischen Grundordnung, in der ← 14 | 15 → sich auch das Schicksal des gerade niedergeworfenen deutschen Nationalstaates bzw. der beiden 1949 gegründeten deutschen Staaten abzuspielen hatte3.

In der deutschen Geschichte der Neuzeit habe es, so Ulrich Herbert, trotz aller Kontinuitäten und restaurativer Tendenzen keinen „nachhaltigeren, tiefer greifenden Einschnitt“ gegeben, als diesen 8. Mai 1945: „Ein schärferer Bruch in Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht war kaum denkbar“4. Nach der Niederlage des „Dritten Reiches“ gehörte Deutschland nun neben Japan zu den Parias der Weltpolitik, es war ein „ohnmächtiges und geächtetes Objekt“5, seine Staatlichkeit war verloren, seine Souveränität auf die Siegermächte übergegangen und die Geschichte des Deutschen Reiches damit zu Ende („Finis Germaniae?“).

In seiner ganzen Dimension offenbarten sich 1945 die Konsequenzen des rassischen Vernichtungskrieges und des systematischen Völkermordes an den europäischen Juden6. Hier zeigte sich, dass bisher sicher geglaubte zivilisatorische Vernunftannahmen außer Kraft gesetzt worden waren, oder um es mit Dan Diner zu sagen: „Indem Menschen der bloßen Vernichtung wegen vernichtet werden konnten, wurden auch im Bewusstsein verankerte Grundfesten unserer Zivilisation tiefgreifend erschüttert – ja gleichsam dementiert“7. Der von den Nationalsozialisten betriebene „Zivilisationsbruch“ hatte das aufklärerische Erbe der Revolution von 1789 verworfen. Heinrich August Winkler hat das als die „radikale Negation des normativen Projekts des Westens“ bezeichnet: „Dieses Menschheitsverbrechen wurde ← 15 | 16 → von einer Nation begangen, die kulturell zum Westen gehörte und darum an westlichen Maßstäben gemessen wurde – und gemessen wird“8. Dass ein europäisches Kulturvolk in der Mitte des 20. Jahrhunderts dieses Menschheitsverbrechen mit bürokratischer Präzision geplant und unter Mobilisierung modernster technischer Ressourcen durchgeführt hatte, provozierte unweigerlich die Frage nach den Gründen und Ursachen. Weil die Shoah „als das geradezu idealtypisch Böse auf dem deutschen Geschichtshaushalt“ lastet, ergibt sich daraus die Konsequenz, „dass die Geschichte des Landes nach 1945 auch und vor allem die Geschichte des Umgangs mit dieser Vergangenheit sein muss“9. So wird der „Zivilisationsbruch“ der „eigentliche Ausgangspunkt einer deutschen Nachkriegsgeschichte“10, der die Deutschen mit einer moralischen Schuld und einer Versöhnungslast belegt(e), die es in den Nachkriegsjahrzehnten abzuarbeiten galt, um aus dem desaströsen Gang der deutschen Geschichte herauszufinden.

Auch 70 Jahre nach Kriegsende hat die Bedeutung von Auschwitz für das heutige Deutschland nicht abgenommen11; vielmehr haben wir es heute mit einem Erinnerungsimperativ zu tun, wie Bundespräsident Joachim Gauck unlängst nochmals betonte: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben“12. Wie diese Aussage von Gauck zu verstehen ist, kommentiert Matthias Drobinski richtungsweisend für die Zukunft:

„Es gibt keinen Stolz auf dieses Land mit seinem Rechtsstaat und seiner Demokratie, ohne den Blick in den Abgrund. Es gibt keinen Spaß an dieser bunt gewordenen Republik ohne die Empfindlichkeit dafür, wann, wo und wie die Menschenfeindlich ← 16 | 17 → keit wächst. An Auschwitz muss jegliche Selbstsicherheit scheitern. Auch deshalb kann und wird es keinen Schlussstrich geben“13.

Wie berechtigt diese These ist, zeigte sich nur wenige Wochen später, als es bei den Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald auch Rassismus und Fremdenhass im heutigen Deutschland thematisiert wurden, was den Journalisten Heribert Prantl schlussfolgern ließ, dass Rassisten in Deutschland „bedrohlicher“ als in anderen Ländern wahrgenommen werden: „Es ist schon wahr: Deutschland wird, auch siebzig Jahre nach Hitler, scharf beobachtet“14.

1.2  Friedenssicherung als globale Aufgabe nach 1945

Deutschlands Nachbarn und ganz besonders den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges war nach 1945 vor allem daran gelegen, das Bedrohungspotential des gerade besiegten Gegners zu vernichten. Dabei war die Frage, wie die Welt in Zukunft in Sicherheit vor Deutschland leben könne, nicht alleine auf seine Neuordnung beschränkt, sondern darüber hinaus mit der Neugestaltung der Weltordnung verbunden. Bei dem visionären Versuch, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, obsiegte schließlich die amerikanische Vorstellung von einer universalen kollektiven Friedensordnung (UNO), um über die Zivilisierung des politischen Zusammenlebens national geprägte Machtpolitik zugunsten übergeordneter globaler Interessen zurückzustellen.

Dass ziviles Miteinander und zwischenstaatliche Beziehungen auf humanitärer Grundlage vielfach Utopie blieben, lag in der Anfangszeit nicht zuletzt am Ausbruch des Kalten Krieges im Jahre 1947. Jetzt bekamen (west-)europäische Integrationskonzepte aus den Kriegsjahren wieder eine neue Aktualität, doch hatten sich mittlerweile die geostrategischen Vorsätze gewandelt15. Nun hatten die Westalliierten ein großes Interesse an einem funktionierenden westdeutschen Staatswesen, das durch seine Integration in die westlichen Strukturen integraler Bestandteil eines neuen Bündnisses unter amerikanischer Führung sein sollte, auf diese ← 17 | 18 → Weise aber auch kontrolliert werden konnte. Insofern muss die Europäische Integration als eine Antwort auf die beiden Weltkriege und die NS-Verbrechen bzw. als ein Versuch verstanden werden, „Europa ein Immunsystem gegen Kriege“16 zu verleihen.

Dass zwischenstaatliche Abmachungen zum Erhalt des Friedens nicht ausreichen, war dabei auch den Politikern aufgrund der negativen Erfahrungen der 1920er Jahre bewusst, so dass die Präambel der am 26. Juni 1945 unterzeichneten UNO-Charta starke soziokulturelle Komponenten zur Implementierung friedensbildender Prozesse aufweist17. Sie ist unübersehbar von den Gewalterfahrungen der beiden Weltkriege als auch vom Scheitern des Völkerbundes in der Zwischenkriegszeit geprägt:

„Die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat, und den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von großen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen und Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung der Verpflichtungen, die auf Verträgen oder anderen Quellen des Völkerrechtes beruhen, gewährleistet werden kann und sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern und für diese Zwecke Toleranz zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben und unsere Macht zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten und durch die Annahme von Grundsätzen und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, dass Waffengewalt nicht zur Anwendung komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohles, und internationale Organisationen heranzuziehen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern“18.

Dass Friedenssicherung nicht alleine mit politischen Mitteln erreicht werden konnte, sondern auch auf den Feldern Wissenschaft, Erziehung und Kultur individuelle und kollektive Lernprozesse in Gang setzen musste, gehörte zu den Grundmotivationen für die Gründung der UNESCO, die als multi- bzw. transnationale Institution grenzüberschreitende Annäherungsprozesse unterstützen ← 18 | 19 → sollte. Die Präambel der UNESCO-Charta vom 16. November 1945 insistiert dabei besonders auf anthropologischen und kognitiven Ansätzen für ein neues friedenspolitisches Engagement: „Da Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, ist in den Köpfen der Menschen Vorsorge für den Frieden zu treffen“. Ausgehend von dieser Prämisse wollte die UNESCO damit zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen beitragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken. Es galt die verfassungspolitischen, institutionellen, materiellen und emotionalen Voraussetzungen zu schaffen, um Frieden als das Produkt gelungener Zivilisierung zu erreichen19 und den inneren mit dem zwischenstaatlichen Frieden zu verklammern: „Si vis pacem, para pacem!“ – „Wenn Du den Frieden willst, rüste zum Frieden!“20

Diese idealistischen Ziele wurden aber spätestens ab 1947 schon wieder vom Kalten Krieg in Frage gestellt. Dass dieser politische und ideologische Antagonismus nicht zu einem „heißen Krieg“ wurde, lag ab den 1950er Jahren vor allem am „Gleichgewicht des Schreckens“ bzw. am nuklearen Patt, das beide Seiten vor einem „nuklearen Overkill“ zurückschrecken ließ. Trotz allem boten die verschiedenen internationalen Organisationen die Möglichkeit und den Raum zu Begegnungen über den Eisernen Vorhang hinweg, so dass sie vielleicht nicht die in sie anfangs gesetzten Hoffnungen erfüllen konnten, dennoch stabilisierend auf den Frieden in der Welt einwirkten: „Diese internationalen Organisationen garantierten, dass transnationale Begegnungen und Tätigkeiten stabiler und weniger prekär waren als früher. Oder anders gesagt: Der Transnationalismus bekam ein starkes organisatorisches Fundament“21. ← 19 | 20 →

1.3  Vertrauen aufbauen, um Misstrauen zu überwinden

Die Alliierten sahen sich 1945 einer vom „totalen Krieg“ geprägten „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) gegenüber, die es auf kollektiver wie auf individueller Ebene zu rezivilisieren galt. Nach der individuellen Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, dem Versuch einer kollektiven Entnazifizierung und Säuberung, einer re-education in den Westzonen und der „antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung“ in der SBZ musste ein neuer verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden, um den Rückfall in eine faschistische Diktatur zu verhindern22. Dabei zeigt ein Blick auf viele 1949 im westdeutschen Grundgesetz verankerte Institutionen, politische Verfahrensregeln und Rechtsgarantien, dass die verfassungsrechtlichen Schwächen der Weimarer Republik und der aus „Reichstagsbrandverordnung“ sowie „Ermächtigungsgesetz“ erwachsene permanente Ausnahmezustand des „Dritten Reiches“ die Negativfolie für die Mütter und Väter des Grundgesetz waren23. Die vom Schweizer Publizisten Fritz Rene Allemann geprägte Formel „Bonn ist nicht Weimar“24 hatte dabei in der Innenpolitik bisweilen selbstaffirmative Züge, gegenüber dem Ausland sollte sie aber immer auch vertrauensbildend wirken und gar nicht erst die Befürchtung aufkommen lassen, die Deutschen könnten ein weiteres Mal totalitären Versuchungen nachgeben.

Die SED proklamierte ihrerseits den Antifaschismus als Staatsdoktrin der SBZ/DDR und verkündete bis zu ihrem Ende, mit der Gründung des ostdeutschen Staates die Lehren aus der Vergangenheit gezogen und die „Wurzeln des Faschismus ausgerissen“ zu haben. Der Antifaschismus war jedoch mehr Legitimationsideologie und Gründungsmythos als Grundlage für eine konkrete Auseinandersetzung mit der Vergangenheit25. Im Innern diente er sowohl als Integrations- als auch als Ausgrenzungsin ← 20 | 21 → strument; in der Außenpolitik sollte er Brücken zu den „antifaschistischen Kräften“ in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern bauen, um ihnen die Abgrenzung zum NS-Regime zu demonstrieren, was auch DDR-Präsident in seiner Antrittsrede am 11. Oktober zum Ausdruck brachte: „Sie [die demokratische Ordnung] gibt uns jetzt in nationaler Hinsicht die Gelegenheit, eine eigene Außenpolitik zu entwickeln und unsere demokratische und friedensgewillte Zusammenarbeit mit den anderen Völkern unter Beweis zu stellen“26.

Die hier skizzierten Wege, die beide deutsche Staaten bei der Auseinandersetzung mit der kollektiven Verantwortung für die NS-Verbrechen beschritten, gehörten zu dem, was Christoph Kleßmann als „Verflechtung in der Abgrenzung“27 definiert hat, waren doch auch die von der Bundesrepublik und der DDR angestrengten Verständigungsprozesse mit den Nachbarn miteinander verklammert. So entstand ein deutsch-deutsches Konkurrenzverhältnis, das auch auf semantischem Feld ausgetragen wurde und um Begriffe wie Verständigung, Versöhnung, Wiedergutmachung, Frieden, Solidarität, Völkerfreundschaft, Brüderlichkeit und Internationalismus kreiste.

Die Bundesrepublik wie die DDR wurden nach ihrer Gründung vom Ausland im „Schatten des ‚Dritten Reiches‘“ wahrgenommen. Nachdem die deutschen Nachbarn während des Zweiten Weltkrieges mit allen Folgen einer Besatzungsherrschaft konfrontiert gewesen waren, mussten Bonn und Ost-Berlin ihre Außenbeziehungen nun auf einer neuen friedlichen Grundlage konzipieren. Die vom „Dritten Reich“ über mehr als fünf Jahre nach Europa getragene „Kultur des Krieges“ galt es in eine politische „Kultur des Friedens“ zu überführen28, um im Ausland neues Vertrauen aufzubauen und Sicherheit vor Deutschland zu garantieren29. ← 21 | 22 →

Bei dem Versuch, einen Wandel in der Fremdeinschätzung im Ausland zu bewirken, offenbarte gerade Bundeskanzler Konrad Adenauer nach 1949 einen besonderen Sinn für die Bedürfnisse und Gefühlslagen der Nachbarn. Vor allem in den Beziehungen zu Frankreich wusste er, „daß der Ruf, den ein Land auf einem bestimmten Gebiet besitzt, Auswirkungen auf Handlungseinstellungen und -erwartungen in anderen Ländern hat“30:

„Es nützt nichts, daß wir tatsächlich ungefährlich sind, sondern es kommt darauf an, ob Frankreich uns für gefährlich hält. Die Psychologie hinkt immer hinter der realen geschichtlichen Entwicklung her. Ob uns das heutige französische Sicherheitsbedürfnis überholt vorkommt, ob es tatsächlich überholt ist, dies alles ist nicht entscheidend. Auch wenn Frankreich sich im Irrtum befindet, so ist sein Verlangen nach Sicherheit doch psychologisch vorhanden und also eine politische Tatsache, mit der wir zu rechnen haben“31.

Neben der von Adenauer hier hervorgehobenen Empathie bedurfte es zur Versöhnung zudem eines bewusst herbeigeführten multiplen Mentalitätswandels. Die Nachbarn erwarteten Zeichen für die Ernsthaftigkeit dieser Absichten und eine Politik, „die Eroberung oder Unterdrückung ausschließt und auf Kooperation setzt“32. Gerade der erste Bundeskanzler war sich dabei bewusst, dass die Überlebenden der NS-Gewaltherrschaft im Ausland, bevor sie sich selber für eine Geste der Versöhnung entschieden, die reinigende Wirkung einer Katharsis voraussetzten, die sie als Grundlage verstanden, um eine Bitte um Versöhnung als echt und vertrauenswürdig zu interpretieren.

Nach 1945/49 durchlief die Bundesrepublik dabei einen Prozess, den ihr damals nur wenige zugetraut hatten. Amerikanische Politologen hielten es in den 1950er Jahren noch für wenig wahrscheinlich, dass die zutiefst verunsicherte deutsche Nachkriegsgesellschaft ihre vordemokratische Kultur schnell ← 22 | 23 → überwinden könne33. Zwar waren die Akzeptanz der Demokratie und die normative Distanzierung vom NS-Regime Grundlage des bundesdeutschen Selbstverständnisses, doch verhinderte der allgemeine Wille nach Normalität Fragen nach der individuellen Verantwortung für die Taten des „Dritten Reiches“. So gehörte der ehrliche Umgang mit der NS-Zeit nicht zu den Charakteristika der Nachkriegszeit. Daran erinnerte Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung von Buchenwald nochmals:

„Umso mehr beschämt uns, dass nach der Befreiung zunächst die Erinnerung an die Gräueltaten verweigert, Schuld und Verantwortung verdrängt und die Opfer zu Bittstellern gemacht wurden. Lange, viele zu lange, dauerte es, bis wir das Leiden der Opfer der Gleichgültigkeit entrissen“34.

Da Verdrängung, Beschweigen bzw. selektive Erinnerung das Verhalten der meisten Deutschen nach 1945 prägten, musste zum damaligen Zeitpunkt Zweifel erlaubt sein, ob die Deutschen dem theologischen Postulat der Sühne bereit waren nachzukommen, gerade weil sie sich selber gerne zu Opfern Hitlers stilisierten und damit ihre eigene Verantwortung ausblendeten35.

Mögen wir heute mit dem Blick zurück auf 1945/49 bisweilen die Tendenz haben, die Entwicklung der Bundesrepublik als eine Wiederaufstiegsgeschichte zu betrachten, so stellte sich die Situation für die Deutschen und für die bundesdeutschen Politiker zur damaligen Zeit anders da. Im Schatten von Vernichtungskrieg und Shoah galt es, die ersten Schritte in einem Annäherungs- und Verständigungsprozess zu gehen, um auf dieser Grundlage neue nachhaltige Kooperationsbeziehungen mit den Nachbarn zu begründen36. Das wusste auch Bundeskanzler Konrad Adenauer, ← 23 | 24 → als er in seiner Regierungserklärung vor dem ersten deutschen Bundestag am 20. September 1949 einen außenpolitischen „Mentalitätswandel“ demonstrieren wollte und die Transformation von Feindschaft zu Freundschaft als konstitutives Element für seine Außenpolitik und die Selbstdefinition der gerade gegründeten Bundesrepublik ankündigte. Sein Versprechen, den Anschluss an die westlichen Nachbarn zu suchen und mit allen Ländern gute Beziehungen zu unterhalten37, entsprach den sicherheitspolitischen Erwartungen im Westen38 und kann als Versuch verstanden werden, (West-)Deutschland von der weltpolitischen Sünderbank herunterzuholen39. Mit seiner Politik der außenpolitischen Zurückhaltung und Selbstbeschränkung konnte er somit neue Handlungsspielräume gewinnen und auf diese Weise nationale (west-)deutsche Interessen vertreten.

Als ein bedeutendes Zeichen für die Anerkennung von Schuld und Verbrechen in der Geschichte der jungen Bundesrepublik muss das Luxemburger „Wiedergutmachungsabkommen“ vom 10. September 1952 gelten, das die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches mit dem jüdischen Volk abschloss, vertreten durch den Staat Israel und die Conference on Jewish Material Claims Against Germany40. In diesem Abkommen, „das zwar nicht wieder gut machen konnte, was nicht gut zu machen ist, das aber zum Beginn wechselseitiger Annäherung wurde“41, verpflichtete sich Bonn auf Zahlungen, Exportgüter und Dienstleistungen im Gesamtwert von 3,5 Milliarden DM, um die Eingliederung mittelloser jüdischer Flüchtlinge zu unterstützen. Darüber hinaus akzeptierte die Bundesrepublik die Rückerstat ← 24 | 25 → tung von Vermögenswerten und erkannte damit die deutsche Schuld an der Ermordung der europäischen Juden an42, so dass das Ausland weiteres Vertrauen in den westdeutschen Staat fasste und die Westmächte u.a. mit den Pariser Verträgen vom Mai 1955 das Besatzungsstatut aufhoben und der Bundesrepublik ihre Souveränität gaben.

Die DDR verstand unter „Wiedergutmachung“ hingegen nur die Reparationsleistungen an die Sowjetunion, die 1953 das Ende der Reparationen verkündete. Damit fühlte sich Ost-Berlin von der internationalen Wiedergutmachungspflicht befreit, sowohl gegenüber den „Bruderstaaten“ des Warschauer Pakts als auch gegenüber Israel. Die DDR berief sich auf ihr antifaschistisches Selbstverständnis, mit dem sie sich in die Reihe der „Sieger der Geschichte“ einreihte, und lehnte weitere Wiedergutmachungsleistungen ab43.

Als Willy Brandt 1969 das Kanzleramt übernahm, stellte er seine Außen- und Ostpolitik unter das Motto „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn werden im Innern und nach außen“44. War gerade die „Neue Ostpolitik“ innenpolitisch stark umstritten, so brachte sie der Bundesrepublik im Ausland neues Ansehen45. Die Verbindung von Vertrags- und Symbolpolitik wurde dabei gerade von Polen als Ausdruck deutscher Reue und eines Verzichts auf territoriale Ansprüche gewertet. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler wurde dafür 1971 mit dem Friedensnobelpreis ← 25 | 26 → geehrt, weil er während des Kalten Krieges zur Entspannung zwischen Ost und West beigetragen hatte:

Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 setzte sich der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit den deutschen Verbrechen während des „Dritten Reiches“ auseinander und erklärte seinen Landsleuten, „was Deutschland durch Diktatur, Völkermord und Krieg verspielt hatte“47. Er gab der deutschen Erinnerung an das Kriegsende eine neue semantische Richtung, indem er den 8. Mai als „Befreiung“ auch für die Deutschen bezeichnete. Trotz der damals nicht zu überhörenden Kritik ermöglichte er den Deutschen durch diese Umdeutung einen neuen emotionalen Zugang zu diesem Ereignis und damit auch ein anderes Selbstverständnis zur eigenen Vergangenheit. Auch wenn das Gesagte nicht gänzlich neu war, bekam es aus dem Mund des Bundespräsidenten an diesem Datum ein besonderes Gewicht, so dass es schließlich versöhnlich nach außen und nach innen wirken konnte48.

75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges würdigte der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski die Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. Insbesondere die Anerkennung der Verbrechen hob er hervor, die an der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges verübt worden waren, so dass die Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehungen gelegt worden seien: „Die Anerkennung der ← 26 | 27 → Schuld hat mehrmals stattgefunden. Man kann das abschließen, aber nicht vergessen“49.

Dass Fragen nach der Anerkennung von Verantwortung und Schuld auch in Zukunft gestellt werden (müssen), betonte Bundespräsident Joachim Gauck am 23. April 2015, als er in der Frage des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges klar Stellung bezog:

„Wir können uns von Schuld befreien, wenn wir sie bekennen und wir können uns von Schuld nicht befreien, wenn wir leugnen, verdrängen oder wenn wir sie bagatellisieren […]. In diesem Fall müssen auch wir Deutsche insgesamt uns noch einmal der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen gar um eine Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht. Es waren deutsche Militärs, die an der Planung und zum Teil auch an der Durchführung der Deportationen beteiligt waren“50.

Standen in Versöhnungsprozessen in der Vergangenheit vor allem die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt, so erleben wir hier eine Erweiterung auf den Ersten Weltkrieg und die Kolonialpolitik des Kaiserreichs. So erinnerte der Grünen-Politiker Cem Özdemir in der Diskussion um den Völkermord an den Armeniern an ein anderes Verbrechen, die Ermordung von über 90 000 Herero und Nama zwischen 1904 und 1908: „Das zweifelhafte Privileg des ersten Völkermords in diesem Jahrhundert – das haben leider wir Deutsche“. Der in Berlin lebende Israel Kaunatjike, Nachfahre von Herero-Überlebenden, vermisst in diesem Zusammenhang bis heute eine klare Stellungnahme der Bundesregierung: „Es gibt keine Versöhnung ohne Entschuldigung“. So überreichte er gemeinsam mit Gleichgesinnten Ende März 2015 eine Petition an das Auswärtige Amt, in der Deutschland aufgefordert wurde sich zu entschuldigen, für Landraub und Vertreibungen Entschädigungen zu bezahlen ← 27 | 28 → und die Verbrechen als Völkermord anzuerkennen51. Noch weiter geht der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer:

„Es ist beschämend. Es droht die Erfolgsgeschichte der deutschen Vergangenheitspolitik insgesamt infrage zu stellen, wenn das historisch völlig unstrittige Abschlachten bzw. Verrecken-Lassen von bis zu 80 000 Männern, Frauen und Kindern einfach ignoriert werden kann, wenn der erste deutsche Genozid einfach geleugnet werden kann, auch weil Deutschland diesen Krieg gewonnen hatte und weder Herero und Nama noch Namibia insgesamt den nötigen politischen Druck aufbringen können“52.

Letzteres Beispiel verdeutlicht, dass die Geschichte von Verständigung und Versöhnung für Deutschland nicht alleine zur Nachgeschichte des „Dritten Reiches“ gehört, bei der das „katastrophale moralische Erbe“ in die Aktualität hineinragt53, sondern der Blick mittlerweile tiefer in die Vergangenheit zurückreicht. Es wirft zudem die Frage auf, ob Versöhnung als Teil der politischen Kultur Deutschlands laufend reproduziert wird, ob die mit ihr assoziierten Werte, Ideale, Riten und Praktiken den außenpolitischen Entscheidungsprozess beeinflussen und gleichzeitig die Außenpolitik auf die politische Kultur im Innern zurückwirkt54.

2.  Versöhnung: ein Konzept mit vielen Facetten

2.1  Eine historische Annäherung

„Eidliche Abmachungen zur Versöhnung, in der Not einander geleistet, galten für den Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wussten“. Die hier von Thukydides (3,82,7) beschriebenen antiken Versöhnungen waren oft nicht mehr als Waffenstillstände, die meist schon wieder schnell gebrochen wurden. Dauerhafter Friede und friedliches Zusammenleben waren jedoch die Ziele nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und lagen auch dem 2009 von der UNO proklamierten ← 28 | 29 → internationalen Jahr der Versöhnung zugrunde. Drei Jahre später wurde der Europäischen Union der Friedensnobelpreis verliehen, weil sie mit ihrer Arbeit zur Versöhnung auf dem europäischen Kontinent beigetragen habe.

Diese Beispiele geben erste Anhaltspunkte zu den historischen und aktuellen Dimensionen eines Begriffes, der über die Jahrhunderte viele Wandlungen erlebte. Nach dem Ersten Weltkrieg benutzten ihn u.a. die pazifistischen und konfessionellen Bewegungen, aber auch internationale Organisationen wie der Völkerbund und verschiedene Regierungen, die Initiativen zur Annäherung und Verständigung zwischen den Völkern angestoßen hatten. Neben „Versöhnung“ wurden auch „moralische Abrüstung“, „internationaler Ausgleich“ und „Befriedung der Geister“ verwendet. Es war somit kein Zufall, dass in zwei hintereinander folgenden Jahren Akteure der deutsch-französischen Annäherung aus der politischen Sphäre (Aristide Briand und Gustav Stresemann, 1926) und aus der Zivilgesellschaft (Ferdinand Buisson und Ludwig Quidde, 1927) den Friedensnobelpreis erhielten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde einzig in den konfessionellen Kreisen noch von „Versöhnung“ gesprochen, nicht zuletzt infolge der religiösen Aufladung des Begriffes. Ansonsten verschwand der Begriff aus dem Sprachgebrauch. Deutsche und französische Diplomaten vermieden ihn vorerst. Ein Grund dafür war vermutlich, dass die deutsch-französische und auch die Versöhnung in Europa in der Zwischenkriegszeit nur oberflächlich geblieben waren und weder den Aufstieg des Nationalsozialismus noch den Zweiten Weltkrieg hatten verhindern können55. Zudem geriet der Begriff wohl in den Hintergrund, weil ihn die Nationalsozialisten und andere faschistische Milieus ab Anfang der 1930er Jahre instrumentalisierten, um die Kooperation zwischen NS-Deutschland und seinen Nachbarn und ab 1939/40 die Kollaboration in einem von Deutschland dominierten Europa zu rühmen56. Die Diskreditierung des Konzepts war schließlich so weit gediehen, dass die britische Armee ihre Soldaten im April 1945 mit Plakaten ← 29 | 30 → vor der „Gefahr der Versöhnung“ („danger of reconciliation“) warnte, damit sie nicht das Verbot der Fraternisierung vergaßen.

Statt des Versöhnungsbegriffs wurden in den ersten zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Begriffe wie „Annäherung“ und „Verständigung“ gewählt, die die Wiederaufnahme der Kontakte mit Deutschland beschrieben und neutraler zu sein schienen. In seiner berühmten Zürcher Rede vom 19. September 1946, die heute allgemein als ein erstes Plädoyer für eine „deutsch-französische Versöhnung“ gelesen wird, spricht der britische Premierminister Winston Churchill etwa von „Franco-German Partnership“.

Erst Ende der 1950er Jahre tauchte der Begriff wieder vorsichtig in offiziellen diplomatischen Dokumenten auf. Politische und öffentliche Weihe erfuhr er schließlich durch General de Gaulle, der vor der Kathedrale von Reims eine Bodenplatte einweihte, auf der zu lesen ist, dass er bei der heiligen Messe am 8. Juli 1962 gemeinsam mit Bundeskanzler Konrad Adenauer die deutsch-französische Versöhnung „besiegelt“ habe.

Wurde der Begriff in der Folge auch häufiger verwandt, so erlebte er erst Ende der 1980er Jahre seinen eigentlichen Durchbruch, den er nicht zuletzt Impulsen aus der Gegenwart verdankte. Diese Entwicklung ging zum einen einher mit der Überwindung der Apartheid in Südafrika und dem Umgang mit ihr (Einrichtung einer Wahrheits- bzw. Versöhnungskommission ab 1995), zum anderen mit der Versöhnungspolitik in Ruanda. In beiden Fällen wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um das Verhältnis zwischen Justiz und Versöhnung zu überdenken57. Ergebnis war seit Mitte der 1990er Jahre die Herausbildung einer „Übergangsjustiz“ („Transitional justice“)58, deren Ziel die Wiederaufnahme des Dialogs und die Versöhnung ist, die sich dabei nicht alleine ← 30 | 31 → auf die traditionellen Instrumente der klassischen Justiz wie Prozesse, Bestrafung der Hauptverantwortlichen, Rückgaben und Reparationen (retributive Justiz – Wiedergutmachung) beschränkt, sondern genauso symbolisch-performative Handlungen vorsieht wie etwa die Anerkennung des Verbrechens, die Schulderklärung, die Bitte um Entschuldigung und Vergebung sowie Gedenkfeiern (restaurative Justiz – Wiederherstellung). Über die Verantwortung der politischen Führer hinaus warf dieser Ansatz zum einen die Frage nach der Beteiligung von Gesellschaften an Verbrechen auf, zum anderen eröffnete er die Möglichkeit, Gesellschaften wieder zu „zivilisieren“ bzw. zu demokratisieren. Dass die Fragen überhaupt gestellt werden, zeigt bereits, dass unsere Gesellschaften und internationalen Organisationen die Menschenrechte ernstnehmen und auf Rechtsverstöße reagieren59.

Für Europa stellten sich diese Fragen nach der Überwindung des Kalten Krieges. Bis Anfang der 1990er Jahre hatten die Staaten dies- und jenseits des Eisernen Vorhanges keine wirkliche Gelegenheit zu tiefgreifenden Versöhnungsprozessen gehabt. Die Länder des ehemaligen Ostblocks, deren Beziehungen auf dem ideologischen Postulat des „proletarischen Internationalismus“ und der „sozialistischen Völkerfreundschaft“ beruhten, hatten für sich per Definition keinen Anlass zur Versöhnung gesehen, so dass ihre häufig aus der (Zwischen-)Kriegszeit resultierenden Konflikte und ihre Divergenzen eingefroren blieben. Das Auftauen dieser Beziehungen nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums trieb sie dann aber wieder an die Oberfläche, was u.a. im zerfallenden Jugoslawien einen „heißen Krieg“ zur Folge hatte. Seine Konsequenzen waren für das Verhältnis zwischen den Völkern so verheerend, dass sie nach der militärischen Auseinandersetzung erst wieder lernen mussten, friedlich zusammen zu leben.

Indem sich Medien, Politiker und Regierende sowie Vereinigungen aus der Zivilgesellschaft regelmäßig auf „Versöhnung“ beriefen, jede Geste oder Initiative schnell als „Symbol der Versöhnung“ bezeichnet wurde, sich der Druck auf Gesellschaften verstärkte, Versöhnung als oberstes Ziel zu deklarieren und ihr damit ein normativer Wert zugeschrieben wurde, wuchs immer ← 31 | 32 → mehr Kritik an diesem Begriff. Die Einen sprachen von „Versöhnungskitsch“60, die Anderen sahen in ihr eine Gefahr für die Justiz61.

Die Etymologie des Wortes „Versöhnung“ in den verschiedenen europäischen Sprachen deutet auf unterschiedliche Konzepte und Beziehungen zwischen den Akteuren des Versöhnungsprozesses hin. In den romanischen Sprachen und im Englischen bedeutet ré- oder re-conciliation die Rückkehr zur Eintracht, zur Verständigung und zum Frieden. Im Griechischen bedeutet symphiliono sich unter Freunden zu treffen, sowohl in den privaten wie in den sozialen Beziehungen; im Polnischen meint pojednanie die Wiederherstellung der Einheit, während im Tschechischen und Slowakischen smíření die Wiederherstellung von Frieden in den Beziehungen zwischen zwei Konfliktparteien zum Ausdruck bringt. Die Grundideen sind folglich ähnlich und lassen sich mit Annäherung, Freundschaft, Einigkeit, Frieden umschreiben, die alle einen wechselseitigen Prozess suggerieren und deren Zweck es ist, das friedliche Zusammenleben zu retablieren.

Im Hebräischen verweist Kapar ebenfalls auf Sühne und Vergebung (Yom Kippour = der Tag der Versöhnung) und bekommt damit eine religiöse Dimension, bei der die Beziehung – zwischen dem der sühnt und dem der vergibt – von einer tiefen Asymmetrie bestimmt ist, selbst wenn das Ziel ein Ausgleich zwischen den beiden Protagonisten ist.

In der deutschen Sprache geht das Verb versöhnen auf die mittelhochdeutsche Variante versüenen zurück und lässt noch seine direkte etymologische Verbindung zu „Sühne“ erkennen, mit der in der Religionswissenschaft der Versuch beschrieben wird, das durch Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott wieder herzustellen. Während Luther bei der Übersetzung des Neuen Testaments noch gelegentlich den Aspekt der Schuldtilgung (versuenen) von versoenen als dem dadurch erzielten Effekt unterschied, wurde diese Differenzierung im deutschen Sprachgebrauch ← 32 | 33 → mittlerweile eingeebnet, so dass das objektive Moment der wiedergutmachenden Ersatzleistung zurückgedrängt ist62.

2.2  Eine definitorische Annäherung

Der russische Kinderbuchautor Samuil Marschak (1887-1964) betrachtete einst einige sechs- oder siebenjährige Kinder beim Spielen und verarbeitete diese Beobachtung 1957 in einem Gedicht. „Was spielt Ihr?“ fragte er. Die erste Antwort: „Wir spielen Krieg!“ Marschak: „Ihr solltet lieber Frieden spielen!“ Die Kinder: „Das ist eine gute Idee!“ Plötzlich Schweigen, ein Kind fragte: „Großväterchen, wie spielt man Frieden?“ Wenden wir diese Geschichte auf die Erwachsenenwelt, so stellt sich mit dem Blick auf die internationalen Beziehungen und gesellschaftliche Prozesse eher die Frage, wie Frieden und Versöhnung gelingen und das friedliche Zusammenleben von Menschen gesichert werden kann.

„Versöhnung heißt die aufrichtige und von Herzen kommende Herstellung von Friede und Freundschaft zwischen in Unfrieden und verderblichen Hader gerathenen Menschen und setzt die gegenseitige Verzeihung der einander vorher vielleicht angethanen Unbilden voraus“, so lautet die Definition in dem vierbändigen „Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk“ des Brockhaus-Verlages aus dem Jahre 1841. Kürzer drückte es 1997 die nordirische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire aus, die sich bis heute für Versöhnungsprozesse engagiert: „It’s all about making friends!“63. Sich „Freunde machen“ und „Frieden stiften“ sind sicherlich nicht das Gleiche, doch beschreibt Maguire mit ihrer kurzen Definition eine Qualität von Frieden, bei der aus dem ehemaligen Feind ein neuer Freund, aus dem ehemaligen „Erbfeind“ ein „Erbfreund“ werden kann, wie es in der Meistererzählung von der deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945 regelmäßig wiederholt wird64. Versöhnung als Transformation eines ← 33 | 34 → „negativen Friedens“ im Sinne der Abwesenheit von Gewalt in einen „positiven Frieden“ mit seinen Formen gelingenden Lebens zwischen Menschen, Gesellschaften und Staaten: Das weckt wohlklingende Konnotationen, suggeriert im persönlichen wie im politischen Leben Friedenssehnsucht und ist nicht zuletzt deshalb im Imaginären verankert, weil die Definition vage bleibt65: „Sie ruft Bilder wach, die die Wiedervereinigung des Getrennten, die Aufhebung von Entfremdung, die Lösung von Konflikten und die Entstehung neuer, intakter Gemeinschaft zum Inhalt haben“66.

Schon diese wenigen Zitate deuten darauf hin, dass der in der Alltagssprache oft gebrauchte Begriff Versöhnung politische, religiöse, philosophische und psychologische Dimensionen hat. So ist Versöhnung einerseits verwandt mit den Begriffen Sühne, Reue, Vergebung und Verzeihung, unterscheidet sich aber zugleich von ihnen67. Jeder wird zugestehen, dass sich Versöhnung aus einem moralischen Imperativ ergeben, eine pragmatische Vorgehensweise sein kann, Opfer und Täter in eine Beziehung setzt (was aber z.B. nach den Konflikten in Nordirland und Jugoslawien schwer zu definieren war68), einen asymmetrischen Prozess darstellt zwischen jenen, die ihren Fehler oder ihr Verbrechen eingestehen, sich entschuldigen oder um Vergebung bitten, und jenen, die Vergebung gewähren oder auch ablehnen können, um neue Beziehungen nach einem Konflikt zu knüpfen.

In der Politik- und Geschichtswissenschaft hat sich mittlerweile ein Versöhnungsbegriff etabliert, der diese Prozesse als eine spezifische Form von sozialen Beziehungen beschreibt, in ← 34 | 35 → die nicht nur Individuen einbezogen sind, sondern auch zwei und mehr Gesellschaften bzw. Regierungen. Versöhnung gilt somit zum einen als innerstaatliche Aufgabe in einem gesellschaftlichen Transformationsprozess nach einem Regimewechsel bzw. nach einem Bürgerkrieg, zum anderen als eine grenzübergreifende Aufgabe in einem Prozess der post-conflict-peace-keeping/-building. John Horne spricht in diesem Zusammenhang von „Normen eines ‚zivilisierten‘ Verhaltens“, die es über die Demobilisierung von Kriegsmentalitäten, den Abbau von Feindbildern und die Suche nach einer Verständigungsgrundlage zu erreichen gilt69. Christiane Wienand fasst daran anschließend Versöhnung auf als „politische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse, die nach einer konflikthaften Vergangenheit ein friedvolles Miteinander in Gegenwart und Zukunft herzustellen suchen“70.

Erweitern wir diese Erklärungsansätze durch kulturgeschichtliche Fragestellungen, dann lässt sich Versöhnung als ein Prozess sich wandelnder Emotionen und Gefühlshaltungen mit politischen und sozio-kulturellen Komponenten verstehen. Versöhnung ist demnach ein Produkt bewussten Handelns und Wirkens, von in Sozialisationsprozessen gemachten Erfahrungen, eine kulturelle Konstruktion, ein Erzeugnis von Diskursen, von Gesten als affektivem Ausdruck von Gefühlen und anderer symbolischer Praxen, die sich nur unter bestimmten Bedingungen entwickeln und signifikant werden. Der Straßburger Theologe Frédéric Rognon kommt zu dem Schluss:

„Versöhnung ist gleichbedeutend mit einer neuen Beziehung: die Worte reichen nicht, selbst die Verpflichtung nicht, nicht wieder anzufangen. Es braucht eine Geste, ein Verhalten, eine materielle oder symbolische Reparation, und eine wirkliche Neuaufnahme der Beziehungen. Mit anderen Worten ist Versöhnung eine Vergebung, die im Handeln und nicht alleine nur durch Worte zum Ausdruck kommt“71.

Versöhnung stellt darüber hinaus einen Erwartungshorizont her, einen anzustrebenden Zustand, wie Juan Guttierrez unter ← 35 | 36 → streicht: „Der Versöhnungshorizont dekonstruiert den Gegner als solchen und eröffnet eine symbolische, zukunftsorientierte Kommunikation mit ihm“72. Dies geschieht in der Regel – und das gilt gerade auch für die Beiträge dieses Bandes – in einem Prozess, bei dem sich zwei nicht zwangsläufig symmetrische Seiten annähern, bisweilen in einem schwierigen, mit Hindernissen gepflasterten Verlauf.

Gleichzeitig verweisen die sprachlichen Kontexte von Versöhnung darauf, dass diese nicht als ein Zustand oder ein einmaliger Akt zu verstehen ist, sondern in politischer und gesellschaftlicher Perspektive als ein zielgerichtetes dynamisches Arbeiten zwischen kommunizierenden Menschen, in dem ständig eine Vielzahl unterschiedlicher sachlicher, sozialer und normativer Orientierungen auszuhandeln sind73. So wie Immanuel Kant bereits in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ 1795 darauf hinwies, dass der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, kein Naturzustand sei und gestiftet oder durch Menschen gesteuert werden müsse, so ist auch Versöhnung als ein langwieriger Vorgang zu verstehen, der über Struktur- und Einstellungsveränderungen sowie den Aufbau von neuen vertrauensbildenden Beziehungen schließlich zum Ziel führen kann.

Versöhnung ist folglich nicht mit einer Vision von Harmonie und spannungsfreiem Nebeneinander zu verwechseln, denn sie beruht genauso wenig wie Konsens auf vollkommener Übereinstimmung. Wenn wir nun Außenpolitik als das Ergebnis eines dynamisch-interaktionellen Prozesses wechselseitiger Anpassung und Einwirkung auf internationaler wie auf innenpolitischer Ebene verstehen, in dem ein Staat grundlegende Ziele und Werte in Konkurrenz zu denen anderer Staaten zu realisieren versucht74, dann erscheint es auch für das Feld der internationalen Beziehungen sinnvoll, den soziologisch bzw. sozialpsychologisch ← 36 | 37 → definierten Konsensbegriff für Versöhnung fruchtbar zu machen, um idealistischen Konnotationen auf diese Weise zu begegnen:

Da praktizierte Versöhnung im transnationalen Kontext als ein dynamischer Prozess ohne Endgültigkeit verstanden werden kann, geht es folglich auch nicht um die Suche nach dem perfekten Frieden, sondern um die Identifizierung von Abweichungen und Dissonanzen und deren Überwindung in einem kooperativen Rahmen.

2.3  Versöhnung: ein emotionsgeschichtlicher Ansatz in der Geschichte der internationalen Beziehungen

Grenzüberschreitende Versöhnungsprozesse sind stets in den multilateralen Rahmen der internationalen Beziehungen eingebunden, der die verschiedenen Parteien dazu zwingt, sich miteinander in Beziehung zu setzen und ein Umfeld für die Entwicklung gemeinsamer Interessen zu schaffen76. Wie die Beiträge dieses Bandes unterstreichen, überwinden sie die Grenze zwischen innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch zwischen internationalen und transnationalen Entwicklungen. Sie haben das Potential, die „moderne Politikgeschichte“ mit neuen Facetten zu versehen und gleichzeitig eine transnationale Geschichtsschreibung zu bereichern, die vorrangig Vergleichs-, Verflechtungs-, Verknüpfungs- und Transferprozesse in den Blick nimmt77. Durch die Zusammenführung von Kultur-, Sozial- und ← 37 | 38 → Politikgeschichte wird der Blick für die kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren geschärft, die Außenpolitik und auch Versöhnungsprozesse vorstrukturieren. Mit der für Beziehungsgeschichten so typischen Interaktion über Zivilisationsgrenzen hinweg treten die exogenen Einflüsse und ihre Prägungen für die jeweilige Gesellschaft in den Fokus, um schließlich Antworten auf die Frage zu geben, auf welche Weise die emotionalen, mentalen und intellektuellen Transformationen Eingang in die Beziehungen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn nach 1945 gefunden haben78.

Die letzte Bemerkung verweist zudem auf das emotionsgeschichtliche Potential, das der Historisierung von Versöhnungsprozessen zu Grunde liegt79. „Zwischen Staaten gibt es keine Freundschaft, sondern nur Interessen“, soll der französische Staatspräsident Charles de Gaulle einmal gesagt haben. Trotz dieser Überzeugung strebte der General nach seiner Rückkehr an die Macht 1958 nach einer deutsch-französischen „Versöhnung“80, was schließlich in die Unterzeichnung des deutsch-französischen „Freundschaftsvertrages“ vom 22. Januar 1963 mündete. Wie wenige andere Staatsmänner seiner Zeit wusste de Gaulle auf der Klaviatur der Emotionen zu spielen, ließ in seine Gesten und Reden Begriffe wie Sympathie, Vertrauen und Versöhnung einflechten, zeigte Empathie und wusste um die mediale Kraft vertrauensstiftender Bilder. Gerade die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 unterstreichen die These, dass Emotionen und Interessen in den internationalen Beziehungen nicht gegeneinander auszuspielen sind81. Vielmehr sind die von Emotionen mitgesteuerten Überzeugungen, Werte, Normen und Identitäten integraler Bestandteil rationalen und interessegeleiteten Handelns, ← 38 | 39 → die auch bei historischen Studien zu Versöhnungsprozessen als dynamische und konstruktivistische Faktoren mitgedacht werden müssen82.

Emotionen stützen sich in der politischen Kommunikation auf Medien, die sie verbreiten und politische Botschaften verstärken. Gerade in den Zeiten globalisierter medialer Vernetzung übernehmen sie aber nicht alleine die Funktion einer Bühne für politische Prozesse, „sondern sie greifen durch die ihnen eigenen Auswahl- und Rahmungsentscheidungen auch performativ ein“83. Ausgehend von der Theorie von Sprache als sozialer Praxis müssen daher auch in den Studien zu Versöhnung performative Sprechakte unter die Lupe genommen werden, welche die Beziehung zwischen den Akteuren und die soziale Wirklichkeit verändern, so dass sie Verständigung und Versöhnung konkretisieren helfen. Über ihr genuines Zeichensystem und ihre spezifischen kommunikativen Kanäle können sie soziale Verhältnisse konstruieren, so dass Emotionen über Medien nicht alleine zum Ausdruck kommen, sondern zugleich gemacht werden. In Anlehnung an eine französische Redewendung lässt sich daher sagen: „Dire la réconciliation, c’est déjà un peu la faire“. Damit markiert „Versöhnung“ auch in den internationalen Beziehungen einen Erwartungshorizont, der in Anlehnung an Philipp Gassert „als eine Option für die Politik verstanden werden [sollte], über wünschbare politische Entwicklungen zu sprechen und Präferenzen zu kommunizieren“84.

Darüber hinaus ist Versöhnung zum einen ein wissenschaftliches Feld, das aufgrund seines inter- und transdisziplinären Charakters Theologen, Philosophen, Psychologen, Soziologen, Politologen und Historiker in ihren Institutionen und Projekten zusammenführt. Sie ist zum anderen eine Praktik der internationalen Beziehungen, ← 39 | 40 → mit ihren Institutionen, Experten, Best-Practice-Techniken, die in der ganzen Welt zirkulieren85. Dabei sind die Interaktionen zwischen den Praktikern und den Forschern vielfältig, auch wenn die Ziele der Einen und Anderen unterschiedlich bleiben86.

2.4  Versöhnung und Erinnerung

Nach einem Konflikt muss es das Ziel von Versöhnung sein, in der Gegenwart zusammen zu leben oder sogar in der Zukunft zu kooperieren. Die beteiligten Akteure sind dabei mit den verschiedenen Zeitlichkeiten und der Herausforderung konfrontiert, einen gemeinsamen produktiven Umgang mit der Vergangenheit einzuleiten. Regierungen, Gesellschaften und Individuen haben unterschiedliche Antworten auf diese Frage gegeben. Sie reichen von Schlussstrichmentalität bzw. Amnesie (Verdrängung und Vergessen) bis zu einem Übermaß an Erinnerung (Hypermnesie). Dabei zeigen die verschiedenen Beiträge dieses Bandes, wie Gesellschaften verschiedene Stadien zu unterschiedlichen Momenten sowohl intern als auch in ihren Beziehungen zum Nachbarn durchlaufen können.

Sie verweisen darüber hinaus auf die Tatsache, dass Erinnerung als der bewusste Teil der Beziehung des Menschen zu seinen individuellen Erfahrungen im Allgemeinen ein wesentlicher Bestandteil von politischen und gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen ist. Im Mittelpunkt der Gedenkarbeit steht dabei in der Regel das Opfer, wird ihm durch die öffentliche Anerkennung des Leids doch zumindest ein Teil seiner Würde zurückgegeben. Problematisch wird es hingegen, wenn es zu einem Wettbewerb um die Anerkennung des Opferstatus‘ bzw. zu einer Opferhierarchie kommt, denn durch den „identitätspolitischen Gebrauch von Erinnerungen“87 werden auch Versöhnungsprozesse gebremst, wie nicht zuletzt das Beispiel Oradour in diesem Band zeigt.

Schmerzhaft und konfliktbeladen kann auch die Erinnerung bei den Tätern sein, die sich gerade in Deutschland nach 1945 in verschiedenste Formen der Selbstviktimisierung begaben und ihr eigenes Leid betonten, um von ihrer Verantwortung abzu ← 40 | 41 → lenken. Sie profitierten dabei von der allgemeinen Tendenz zum Vergessenwollen, doch als in den 1960er Jahren das Schweigen aufbrach, und Fragen nach Mittäterschaft und Mitwisserschaft gestellt wurden, gerieten auch bei den Tätern festgefügt scheinende Identitäten in Bewegung88.

Dieser Befund wirft wiederum die Frage nach den jeweiligen Etappen der Versöhnung auf: Gibt es das „friedewirkende Vergessen89“ und Vergeben oder ist Erinnerung das viel beschworene Geheimnis der Erlösung, damit die Vergangenheit nicht zu einer belastenden passé qui ne passe pas (Henry Rousso) wird? In welchem Zusammenhang stehen innergesellschaftliche Aussöhnungsprozesse und öffentliche Diskussionen über die eigene Vergangenheit zu einem transnationalen Prozess zwischengesellschaftlicher Aussöhnung? Ist es notwendig oder sogar erstrebenswert, sich umgehend in einem gemeinsamen Lernprozess mit den schmerzhaftesten Aspekten der traumatischen Vergangenheit zu beschäftigen90 oder bedarf es vorher vertrauensbildender Maßnahmen? Geschieht dieser walk through history nicht, wann wird es dann unumgänglich, eine andauernde, dynamische Konfrontation mit dem ganzen Erbe der Vergangenheit zu beginnen und welche Modalitäten bieten sich an, um diese Erinnerungsarbeit zu leisten? Auf welche Weise kann es gelingen, eine Geschichtskultur zu entfalten, in der die individuellen und die kollektiven Erinnerungen immer weniger verdrängt werden, ohne dass sie sich zu einer neuen Quelle des Hasses und der Feindschaft entwickeln?

Darüber hinaus erscheint es bei Versöhnungsprozessen in ihren politischen Dimensionen und historischen Kontexten wichtig zu sein, der Natur des Verbrechens auf den Grund zu gehen. Kann ← 41 | 42 → alles verziehen werden? Diese Frage ist wesentlich, weil die Bitte um Vergebung an ein Opfer oder an seine Nachfahren – die u.U. nicht in der Lage sind zu verzeihen – einen unerträglichen psychologischen Druck schaffen könnte, besteht doch die Gefahr, dass eine misslungene Versöhnung dem Opfer angelastet werden könnte91.

Die religiöse und individuelle Versöhnung beinhalten zwar Vergebung und die Bitte um Vergebung; zwei Gesten, die aufeinander antworten, und diese Wechselseitigkeit – die nicht symmetrisch sein muss – ist ein charakteristisches Merkmal für einen Versöhnungsprozess92, doch stellt sich die Frage bei dem Blick auf Staaten oder Gesellschaften, ob sich politische Versöhnung auch über den Weg der Annäherung und des Kooperationswillens vollziehen kann, ohne dass Vergebung stattgefunden hat. Vergebung meint dabei aus politischer und theologischer Perspektive nicht eine Auslöschung der Vergangenheit:

„Die verschiedenen christlichen Religionen sind sich einig, dass Verzeihen nicht gleichbedeutend mit Vergessen ist: verzeihen kann auch meinen, dass die Schuld anerkannt wird, ohne die Verletzung zu vergessen. In diesem Sinne ist die Erinnerungsarbeit gleichbedeutend mit der Vergebung“93.

Für die verschiedenen hier angesprochenen Interaktionsprozesse im Zeichen der Versöhnung hat Aleida Assmann den Begriff des „dialogischen Erinnerns“ eingeführt, das sie „als wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte“ versteht: „Es geht dabei keineswegs um ein vereinheitlichtes europäisches Master-Narrativ, sondern allein um die dialogische Bezogenheit und gegenseitige ← 42 | 43 → Anerkennung und Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder“94. Die verschiedenen Beiträge in diesem Band unterstreichen dabei die These, dass nationale Gedächtnisse stets mit anderen nationalen Gedächtnissen verbunden sind. Wenn sie in einen Dialog treten, kommen auch Versöhnungsprozesse schneller voran; verharren sie jedoch in monologischen Gedächtniskonstruktionen, dann verstellen sie langfristig den Blick in eine gemeinsame Zukunft.

So werden weder die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit noch die damit im Zusammenhang stehenden Versöhnungsprozesse jemals abgeschlossen sein, sondern, wie Heinrich August Winkler in seiner Rede im Deutschen Bundestag vom 8. Mai 2015 betonte, immer wieder durch neue Fragestellungen angestoßen werden: „Jede Generation wird ihren eigenen Zugang zum Verständnis einer so widerspruchsvollen Geschichte wie der deutschen suchen“95.

3.  Die Struktur des Bandes

3.1  Gesten

„Der Kniefall des Bundeskanzlers wurde zum Medienereignis – ein Bild ging um die Welt. Wichtig war dabei die Botschaft, die dahinter stand, aber das allein hätte nicht gereicht, die Verbindung von Form und Inhalt war entscheidend. Eine einzige Geste, eine Sequenz von wenigen Minuten transportierte mediengerechte Politik für ein Millionenpublikum. Die gleiche Wirkung hätte durch lange politische Reden kaum erzielt werden können“96.

Zu Recht weist Daniela Münkel hier auf das Verhältnis von Geste, Form und Inhalt bei symbolischen Handlungen hin, wie beim Kniefall von Willy Brandt in Warschau 1970, an dem sich bundesdeutsche Politiker in der Folge in ihrer Symbolpolitik messen lassen mussten. „Einer der wichtigsten außenpolitischen Akte der Bundesrepublik Deutschland“97 gilt dabei als Paradebei ← 43 | 44 → spiel für eine „Politik der Reue“, bei der hochrangige Vertreter eines Staates ein öffentliches Schuldbekenntnis für ein Kollektiv ablegen, um auf diese Weise Läuterung und die Einleitung einer politischen Wende zu demonstrieren98.

Methodisch lassen sich Reuebekenntnisse im Sinne einer „neuen Politikgeschichte“ als eine Form kommunikativen Handelns verstehen, das sich – wie auch die anderen hier untersuchten Gesten – durch kommunikative Aushandlungsprozesse im Innern und nach außen auszeichnet. Gerade Versöhnungsprozesse spiegeln sich in Ritualen, Zeremonien, symbolischen Praktiken, „die die gegebenen oder erwünschten politischen Verhältnisse einerseits abbilden, andererseits aber (und mehr noch) herstellen und transformieren helfen“99. Auch sie sind „das Erzeugnis einer bestimmten Sprache und anderer symbolischer Praxen („kulturelle Konstruktion“), die sich „nur unter bestimmten Bedingungen entwickeln und signifikant werden“ können („relative Konstruktion“)100. Staatsmänner können mit ihren Gesten handlungsnormierend wirken und ihre Bürger mit auf einen Weg der Versöhnung nehmen bzw. Hindernisse aus dem Weg räumen. Ihre persönliche Versöhnung mit dem ehemaligen Feind mag sich zum Leitbild für die gesellschaftliche Versöhnung entwickeln und der Maxime gehorchen, dass ohne die direkte Versöhnung zwischen den Individuen Gesellschaften unfähig sind, „zum Horizont der Hoffnung“ zu streben, wie es der israelische Präsident Shimon Peres 2010 im Deutschen Bundestag für die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel formulierte:

„Die Brücke über dem Abgrund wurde mit schmerzenden Händen und Schultern, die dem Gewicht der Erinnerung kaum standhielten, aufgebaut und sie steht auf starken, moralischen Grundfesten […]. Von Konrad Adenauer, der mit David Ben-Gurion eine gemeinsame Sprache fand, bis zum Kniefall Willy Brandts im Andenken an die Helden des Warschauer Ghettos. Und Sie, Abgeordnete des Bun ← 44 | 45 → destages und des Bundesrates, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, und andere Führungspersönlichkeiten, Sie haben die Grundmauern gefestigt und dem Bau noch weitere Steine der Freundschaft hinzugefügt101.

Staatliche Symbolpolitik geht jedoch ins Leere, wenn hinter entschuldigenden Gesten keine politische und gesellschaftliche Realität steht. So müssen bei symbolischen Handlungen stets die Wechselwirkungen zwischen der politischen Führung und den zivilgesellschaftlichen Akteuren vor, während und nach der Geste im Blick bleiben102. Dabei illustrieren die Gesten von Adenauer und de Gaulle oder Mitterrand und Kohl nicht alleine den minutiös geplanten, hochformalisierten und rituellen Charakter, sondern sagen sehr viel über das Verhältnis zwischen politischem Handeln und politischem Bewusstsein aus, wie auch der heftig kritisierte Bitburg-Besuch von Kohl und Reagan dokumentiert:

„‘Symbolische Politik‘ ist somit stets daraufhin zu prüfen, ob sie ein politisches Bewusstsein ausdrückt, das in politischen Institutionen verankert und durch eingeübte Stile und Verhaltensweisen gedeckt ist, oder nur kurzfristige Moden spiegelt, die Politiker verführt, als Showmaster auf einer Bühne zu agieren, der keine Wirklichkeit mehr entspricht“103.

Gesten sind, so Christopher Daase, „nicht nur ein angemessener Ausdruck des jeweils zu der Zeit geforderten Bedauerns, sondern auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Bereitschaft, sich zur Verantwortung für die Vergangenheit zu bekennen“104. Diese Erfahrung machten auch die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und die Präsidentin der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl bei ihrer Reise nach Jerusalem im Jahre 1990, um wenige Wochen vor der Wiedervereinigung Ängste in Israel abzubauen, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Rede vor der Knesset 25 Jahre später nochmals eigens hervorhob: ← 45 | 46 →

Details

Seiten
858
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (PDF)
9783035266085
ISBN (MOBI)
9783035297287
ISBN (ePUB)
9783035297294
ISBN (Paperback)
9782875743343
DOI
10.3726/978-3-0352-6608-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Stunde Null Zivilgesellschaft deutsch-französische Beziehung Erinnerungsorte Adenauer
Erschienen
Bruxelles, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 858 S., 36 Abb.

Biographische Angaben

Corine Defrance (Band-Herausgeber:in) Ulrich Pfeil (Band-Herausgeber:in)

Corine Defrance ist Professorin für Zeitgeschichte am Centre national de la recherche scientifique (SIRICE, Paris). Sie forscht vorrangig zu den deutsch-französischen Beziehungen, zu Bildung und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich sowie zu Versöhnungsprozessen in Europa. Ulrich Pfeil ist Professor für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine, Metz. Seine Forschungen konzentrieren sich auf die Geschichte Deutschlands, die deutsch-französischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Folgen des Kalten Krieges in Europa.

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Titel: Verständigung und Versöhnung nach dem «Zivilisationsbruch»?