Walther Benjamin - Prismen der Moderne
Herausgegeben und mit einer Vorbemerkung versehen von Isa März-Toppel, Heidi Beutin und Wolfgang Beutin
Summary
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorbemerkung der Herausgeberinnen und des Herausgebers [2017]
- Vorwort des Verfassers [2013]
- Inhalt
- Ausgraben und Erinnern. Benjamin und die deutsche radikal-demokratische Literaturtradition von Georg Forster bis Carl Georg Jochmann
- Aufklärung und Revolution
- Zweierlei Avantgardismus
- Das Politische im Privaten
- Kommunikative Literaturbetrachtung
- Montage und Zitat
- Politische Lektüre?
- Annotation
- Literatur
- Geschichtliche Wendezeit. Über die industrialisierte Kulturphysiognomie des 19. Jahrhunderts
- Technik im sozialen Raum
- Technik und soziale Psyche
- Neue Mythologie
- Kulturkritik des Faschismus
- Massen und soziale Typen
- Massen und Künste
- Wendezeiten
- Idealtypik des Films
- Plädoyer für ein Zusammenspiel
- Annotation
- Literatur
- Vom Ornament zum Verbrechen. Benjamin und die Ästhetizismus-Kritik von Adolf Loos
- Moderne und Jugendstil
- Wiener Spuren
- Ornament und Phrase
- Der Anti–Ästhet
- Wahre Modernität
- Klassischer Rückzug
- Siegfried Kracauers Diagnose
- Annotation
- Literatur
- Die Welt als höchstes Gut: Gerechtigkeitsutopie und Gewaltkritik
- Recht und Gerechtigkeit
- Gewalt und Gerechtigkeit
- Revolution und Generalstreik
- Urbild Gerechtigkeit
- Visionäre Moral
- Neue Verantwortung
- Annotation
- Literatur
- Zwischen Konkurrenz und Zusammenspiel. Über die mimetische Dialektik von Schrift- und Bildkultur
- Zeichen eines Umsturzes
- Filmkritik – Kulturkritik
- Bild im Kontext
- Film im Verbund
- Regressive Züge
- Avantgardistische Vielfalt
- Die Medienutopie
- Annotation
- Literatur
- Masse Macht Kultur. Fünf Paraphrasen zu Benjamins Antifaschismus
- 1. Filippo Tommaso Marinettis futuristische Jugendträume oder L’art pour l’art an der Front
- Kunst in Metropolis
- Menschmaschinen
- Hygienischer Krieg?
- Faschismus und Futurismus
- 2. Arno Brekers Wege zur brutalen Klassizität
- Der Auftragnehmer
- Der Traditionalist
- Prometheus der Arier
- Der Rassenkämpfer
- Der Handwerker
- Der Philantrop
- 3. Vom Straßenkampf zum Säuberungskrieg. Adolf Hitlers Grundsatzrede über ‚Entartete Kunst‘ von 1937 im sozio–kulturellen Kontext
- Adressat Masse
- Hauptgegner: die radikale Avantgarde
- Pathologisierung und Kriminalisierung
- Kampfplatz Tradition
- Hitler der Sammler
- Kontinuitäten
- 4. Die Scheinlösung. Siegfried Kracauers Arbeiten zu Nazifilm und Nazipropaganda
- Weimarer Metaphern
- Entlarvung eines Zusammenspiels
- Dynamisierter Schein
- Diktatorische Integrationskultur
- Dokumentarisches Lügen
- 5. Angelus militans. Paul Klees Bilder zur „nationalsozialistischen Revolution“
- Paul Klee 1933
- Die Scheinrevolution
- Der Trommler
- Gewolltes Befremden
- Die Entstaltung
- Annotation
- Literatur
- Denkmäler oder Prüfsteine? Aspekte der Rezeptionsgeschichte Walter Benjamins und Siegfried Kracauers zwischen 1992 und 2012
- 1. Walter Benjamin
- Kunst als Extrem
- Neue Herausforderungen
- Dialektische Physiognomik
- Benjamin–Reproduktionen
- Wider die kulinarische Rezeption
- Erfahrung Exil
- Neue Einsatzstellen?
- Gegen theorielose Kritik
- Historizität und Aktualität
- 2. Zeit- und Weggenossenschaften. Zum Beispiel: Siegfried Kracauer
- Der emanzipatorische Impuls
- Massenmedium Film
- Angewandte Skepsis
- Im printmedialen Kontext
- Verkannter Aufklärer
- Annotation
- Literatur
- Statt einer Nachbemerkung: Das Eigentliche bleibt unsichtbar
- 1. Streifzüge durch Benjamins Paris
- Laissez-vous conter la ville
- Les champs magnétiques
- Les poids des mots. Les chocs des photos
- À la recherche des espaces perdus
- Faim de siècle
- Déchetterie
- Comptoir des traditions
- Au fil du temps
- Notre-Dame du Travail
- Secret de Vichy
- L’espérance ne déçoit pas
- Sortie – Correspondances
- L’Air du Temps
- Erläuterungen zu den Zwischentiteln [französischen Zitaten]
- 2. Portbou: Endstation oder Das Verschwinden des Erinnerns im Gedenken
- Fluchtweg und Schlund
- Lebendige Erinnerung?
- Perfekte Neutralisierung
- Unerwartete Schätze
- Annotation
- Literatur
- Primärquellen
- Werkausgaben
- Einzelveröffentlichungen außerhalb der Werkausgaben
- Briefe und andere Lebenszeugnisse
- Abkürzungsverzeichnis
- Mehrfach genannte Publikationsträger und -reihen
- Sonstige bibliographische Abkürzungen
- Bibliografie: Weitere stofflich und thematisch angrenzende Arbeiten des Verfassers
Während der Arbeit an der ersten Version seiner Thesen Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, am 24. November 1935, schrieb Walter Benjamin einen Brief an eine junge niederländische Malerin und Übersetzerin „B.“1 In diesem verglich er die geschichtliche Erkenntnis mit einer Waage, „deren eine Schale mit dem Gewesnen, deren andere mit der Erkenntnis der Gegenwart belastet ist. Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein könnten, dürften auf der zweiten nur einige schwere massive Gewichte liegen. Diese sind es, die ich mir in den letzten zwei Monaten durch Überlegungen über die Lebensbedingungen der Kunst in der Gegenwart verschafft habe.“ (VI, 814)2
Hier gibt Benjamin, wie es in Ausgraben und Erinnern (1932) heißt, „ein Bild zugleich von dem[,] der sich erinnert“ (IV.1, 401); hier setzt sich Benjamins Nachdenken über das „Verhältnis von historischer Kontemplation und historischer Konstruktion“ fort, das ihn schon 1921 beschäftigte, wie das Fragment Zur Geschichtsphilosophie der Spätromantik und der historischen Schule belegt (VI, 97; vgl. auch II.2, 467). Denn Benjamins Geschichts- und Kunstverständnis, wie er es im krisenhaften Erfahrungshorizont der Weimarer Republik und dann in dem des französischen Exils entwickelte, war stets mit „aktualen und politischen ← 21 | 22 → Momenten“ aufgeladen (Br 1, 368), war gegenwartsbezogen und praxisorientiert.3 Es schloß das Plädoyer für eine Wende in der literaturgeschichtlichen Anschauungsweise ein; dafür, das sogenannte ‚Repräsentative‘ auch im Abgelegenen und Verborgenen aufzufinden und in das Licht der Gegenwart zu heben, und dafür, Literaturgeschichtsschreibung mit kritischem Gespür, deshalb aus der Perspektive nicht der offiziell überlieferten, sondern der unterschlagenen und unterdrückten Traditionen zu betreiben (vgl. I.2, 697, 703; WN 19, 18 f.). Er nahm eine „Radikalisierung des Erinnerungsvermögens“ vor (Leandro Konder).4 Noch heute anregend sind daher nicht nur zum Beispiel seine vielzitierten, zum Teil kanonisierten methodologischen Reflexionen in den von ihm bereits um 1935 begonnenen, 1940 vorläufig abgeschlossenen Thesen Über den Begriff der Geschichte mit ihrer Kritik unter anderem des Historismus und ihrer Verteidigung der Aufklärung (vgl. WN 19, 188 f.).5 Noch heute anregend sind auch seine ← 22 | 23 → praktisch-publizistischen Bemühungen um die philologische und historisch-rekonstruktive Neuerschließung der von der akademischen und kulturpolitischen Klassikrezeption lange verschütteten, verdrängten und verkannten Literaturtraditionen der radikal-oppositionellen Demokratie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, um ihre umfassende interpretatorische Vermittlung an die Gegenwart mit ihren „dramatische[n] und lebenswahre[n] Züge[n]“ (IV.2, 815). Handelt es sich hier doch um Arbeiten, die interessante Einblicke in die Entwicklung von Benjamins politisch-literarischem Selbstverständnis ermöglichen und, wie diejenigen Kurt Kerstens und Heinrich Manns,6 von wichtigen Wandlungen in Traditionsbezügen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeugen. Sie sind auch deshalb interessant, weil sie Konzepte einer „Aktionsästhetik“ (Ludwig Rubiner) und einer „Kampf-Kunst“ (Johannes R. Becher),7 wie sie unter anderem im Gefolge der deutschen Revolution von 1918/19 entwickelt wurden, während der Weimarer Republik und des antifaschistischen Exils durch historische Vergewisserungen weiterzuführen versuchten.
Bereits in dem zwischen 1926 und 1928 für die Große Sowjet-Enzyklopädie geschriebenen (dort so allerdings nie erschienenen)8 Artikel Goethe deuten sich die ← 23 | 24 → kultursoziologische, den sozialen Wandel in den Zeiten eines Formationswechsels einbeziehende Spannweite und die philosophische Interpretationsrichtung an, mit denen Benjamin diese mit Namen wie Georg Forster und Georg Büchner verbundenen literarischen Traditionslinien nicht ‚galvanisierte‘ (vgl. V.2, 1102 f.), sondern zukunftsträchtig neu zu verarbeiten versuchte. Denn er ist nicht auf die sogenannten ‚deutschen Jakobiner‘ der Zeit um 1789/1794 fixiert: Vor dem Hintergrund des komplexen Verhältnisses von deutscher Aufklärung und Französischer Revolution, der durch die politischen Umwälzungen bewirkten Veränderungen in den Existenzbedingungen der Literaten, der Diskrepanzen zwischen der „bürgerlichen Masse“ und ihrer politischen „Avant-Garde“ (II.2, 706) sowie der elitären und politisch-resignativen Züge, der Widersprüchlichkeit der klassisch-weimarischen „Emanzipationsliteratur“ (Wolfgang Heise)9 zieht er hier den weiten Bogen von der „flammenden Gesellschaftskritik der Stürmer und Dränger“ bis zu den „ersten literarisch wichtigen Protesten“ aus der Gruppe des „Jungen Deutschland“ (II.2, 735, 738). Somit relativiert er seine frühe These: „Die deutschen Revolutionäre waren nicht aufgeklärt, die deutschen Aufklärer waren nicht revolutionär.“ (Ebd., 706) Sie trifft bestenfalls auf einen Autor wie Johann Peter Hebel zu.10 Auch später, im Zusammenhang mit seinem 1937 und 1939 als „Nachklang“ seiner germanistischen Arbeiten für die Zeitschrift für Sozialforschung verfaßten Essay über den deutschbaltischen historisch-politischen, sprach- und literaturkritischen Essayisten sowie Reiseschriftsteller Carl Gustav Jochmann (1789–1830) und das vierte Kapitel Die Rückschritte der Poesie in dessen anonymem Buch Ueber die Sprache (1828), bekundete Benjamin sein großes Interesse gerade für jene Autoren, die historisch „zwischen der Aufklärung und dem jungen Marx“ zu fixieren seien (VI, 227; II.3, 1393).11 In einem komplexen Kontinuitätszusammenhang also, der mit dem heutzutage immer ← 24 | 25 → wieder verwendeten „Übertragungsbegriff“ (Günter Hartung) des „deutschen Jakobinismus“ nicht zu erfassen ist.12 Überdies traf Benjamin mit Jochmann auf einen ‚wahlverwandten‘ Denker hinsichtlich der eigenen frühen, in der deutschen Romantik wurzelnden Idee eines poetisch-prosaischen Sprachkontinuums (vgl. I.1, 102; II.2, 242; IV.1, 105).
Mit dieser Spannweite des Materialbezugs hängt die methodische Spannweite Benjamins in seinen um 1930 einsetzenden Bemühungen um die deutsche radikal-demokratische Literaturtradition eng zusammen. Sie beginnt mit der konfrontativen philologisch-editorischen Aufbietung von lange vergessenen Dokumenten, von Lebenszeugnissen aus der Feder von Männern wie Georg Forster und Johann Gottfried Seume, Georg Büchner und Karl Gutzkow, den Vertretern eines, wie es schon in der vorangegangenen Sammlung Deutsche Briefe (1931/32) heißt, „geheimen Deutschlands“ gegen das offizielle der Gegenwart (IV.2, 945: WN 10, 136).13 Das wichtigste Beispiel dafür ist die zum Teil aus diesen ← 25 | 26 → Presseveröffentlichungen Benjamins in den Jahren 1931/32 hervorgegangene, 1936 in der Schweiz in Buchform erschienene Sammlung Deutsche Menschen.14 Ein Fundus von Briefen deutscher „Sozialcharaktere“, darunter Prosaautoren wie Seume, Lyrikern wie Hölderlin, Übersetzern wie Voß, die als Gegentradition von „stolzer Gegenwehr freier Subjekte“ zeugen, wie sie sich noch vor dem „Verfall des ← 26 | 27 → Bürgertums“ und seinem „Verhüllungsprozeß“ existierte (Theodor W. Adorno).15 Benjamins konfrontative Präsentationsmethode ähnelt dabei noch derjenigen zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals Deutschem Lesebuch von 1922 und 1926 unter anderem mit Briefen von Gottfried August Bürger, Georg Förster und Georg Büchner, einer Kunstkritik von Heinrich Heine und einem autobiografischen Text von Karl August Varnhagen von Ense.16
Eine andere deutet sich in seinen einzelnen Versuchen an, historisch-rekonstruktiv eine Analogiebildung zwischen „ewigen“ und „aktuellen Momenten“, eine „Konfrontation mit verwandten Schöpfungen unserer eigenen Epoche“ vorzunehmen, wie er es 1930 in seinem Hörfunktext E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza für den südwestdeutschen Rundfunk in Frankfurt am Main formuliert (II.2, 642, 641). Belege dafür bieten unter anderen der Essay Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929) sowie die Notizen über Franz Kafka und Marieluise Fleißer, in denen auch auf Georg Büchner verwiesen wird (vgl. II.1, 310; II.3, 1253, 1259: IV.2, 1028). Sie bilden gewissermaßen die Vorstufen zu jenen Arbeiten, in denen Benjamin versucht, emanzipatorische literarische und geschichtsphilosophische Leistungen aus der Zeit zwischen Spätaufklärung und Vormärz über die avantgardistische Fragestellung nach dem Verhältnis und den Verwirklichungsbedingungen von politischer und künstlerischer Erneuerung umfassend in die Gegenwart zu integrieren. Diese Fragestellung sollte, zumal angesichts der extremen weltpolitischen Ausnahmesituation, wie sie durch den europäischen Faschismus sowie das Versagen der bürgerlichen Demokratie und der Arbeiterbewegung geschaffen worden war, ← 27 | 28 → zum Erkennen und Wiedererkennen von kritisch-demokratischen Ähnlichkeiten und Parallelen führen.
So ist im 1939 publizierten Jochmann-Essay – der im selben Heft der ZSF erschien, das auch Benjamins Studie zur Geschichte der ästhetischen Moderne Über einige Motive bei Baudelaire brachte17 – dieser originelle Erbe der demokratischen Sprach- und Literaturkonzepte von Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann ein politisch-literarischer „Wahlverwandter“ (II.2, 573). Er ist in Benjamins historischer „Konstruktion“ aber nicht nur „Wahlverwandter“ von Georg Forster, Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich Heine, Konrad Engelbert Oelsner, Gustav Graf von Schlabrendorf, Karl August Varnhagen von Ense und Auguste Blanqui.18 Er ist „Wahlverwandter“ auch von Adolf Loos, der ja – unter anderem mit seinem bekannten kulturkritischen Essay Ornament und Verbrechen von 1908 – einer der Exponenten der kunsttheoretischen Debatten nach dem Ersten Weltkrieg war, der als Fürsprecher des avantgardistischen Funktionalismus und als Gegner von Jugendstil-Euphorie gegen den, wie Benjamin schreibt, „falschen Reichtum“ des 19. Jahrhunderts als Bezugsfeld des „ästhetischen Imperialismus“ kämpfte (ebd., 581).19 Zugleich ist Jochmann daher auch „Wahlverwandter“ der modernen „materialistischen Kunsttheorie“ (ebd., 582), wie sie Benjamin ja zu entwickeln versuchte, der hier also nicht zufällig auf die 1936 veröffentlichte französische Version seiner Kunstwerk–Thesen verweist. Denn Jochmann, „einer der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands“ (II.3, 1393),20 hatte in seiner anonymen Schrift Ueber die Sprache von 1828, in dem Kapitel Die Rückschritte der Poesie, ähnlich wie Benjamin geschichtliche Kunstwerke – insbesondere die der Antike – in ihrem Doppelcharakter als Denkmäler der Vergegenständlichung ← 28 | 29 → sowohl von Zivilisation als auch von Barbarei charakterisiert, hatte die materiell-technische Produktionstätigkeit sowie Buchdruck und Pressewesen in ihren Folgen für die Entwicklung von Sprache und Literatur betont, hatte die Frage nach dem künstlerischen Fortschritt in Poesie und Prosa neu gestellt und beantwortet, indem er sie mit der im frühen 19. Jahrhundert aufdämmernden, über die Alternative von Monarchie oder Republik hinausweisenden neuen ‚sozialen Frage‘ verband.21 Der Jochmann-Essay steht deshalb für Benjamins umfassende Bemühungen darum, „Konfrontation“ und Analogiebildung – auch zum eigenen Werk –, „Eingedenken“ in „Unabgeschlossenes“ und „Rettung“ sowie Integration und Neuaneignung nicht im praktizistisch–kurzschlüssigen, vordergründig aktualisierenden, sondern im epochenhistorischen und -vergleichenden Sinne vorzunehmen (I.3, 1233, 1252; W.1, 589; I.3, 1242).22 Sie münden in wichtige Beiträge dazu, mit Hilfe einer „aktualen“ Fragestellung einen weiträumigen Begriff von den „demokratischen und radikalpublizistischen Tendenzen“, wie es in der Sammlung Vom Weltbürger zum Großbürger. Aus deutschen Schriften der Vergangenheit (1932) heißt, in der deutschen Literatur zur Zeit der „europäischen Klassenkriege“, der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zu entwickeln (IV.1.2, 817, vgl. auch 828; III, 175). Schon die Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus von 1922 betont als deren Bestimmung, „den Geist ihrer Epoche zu bekunden“ (II.1, ← 29 | 30 → 241).23
Darum nimmt Benjamin keine sterile, den politischen Standpunkt zur Französischen Revolution fetischisierende Aufteilung in sogenannte ‚pro‘- und ‚kontrarevolutionäre‘ Literaten vor. Das ‚Revolutionäre‘, wie er es an den Autoren von Forster bis Jochmann würdigt, geht in seinem Verständnis über das Zeitgeschichtliche und das Politisch-Staatsrechtliche hinaus, umfaßt das dynamische historische Widerspruchsverhältnis der Bedürfnisse nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, nach gemeinschaftlicher Identität und individueller Freiheit zu Zeiten nicht nur eines politischen Hegemonie-, sondern auch gesellschaftlichen Formationswechsels. Das zeigen zunächst seine – zum Teil an Max Horkheimers Aufsatz Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters (1936)24 anschließende –, von ihren inneren Widersprüchen ausgehende Kritik der Französischen Revolution und ihrer – für ihn bis in die faschistische Gegenwart reichenden – ideologischen Reflexe, wie der „Spiritualisierung“ und des „oratorischen, festlichen[,] auch asketischen Überschwangs“ (III, 524f.; vgl. auch II.2, 494). Das zeigt seine Interpretation der kosmischen und naturphilosophischen Dimensionen der sozialen Anklage und Kritik im Werk des utopischen Sozialisten Louis-Auguste Blanqui (vgl. I.3, 1153).25 Das zeigen weiterhin bereits seine Kommentare zu der Sammlung Deutsche Briefe von 1931/32, in denen er, auf die Einheit „von Mensch und Autor, Privatem und Objektivem, von Person und Sache“ zielend, die bewußte „Gestaltung“ auch des „privaten Lebens jener Epoche des deutschen Humanismus“ hervorhebt (IV.2, 944, 955). Johann Gottfried Seume steht dann in den Deutschen Menschen für die „Unbeirrbarkeit“ des wehrhaften Bürgers“ (IV.1, 168; vgl. auch IV.1.2, 870, IV.2, 946); Georg Forster für die Fähigkeit, über alle Entbehrungen hinweg sich als ganze Person in die sozialen und politischen Umbruchssituationen und Auseinandersetzungen einzubringen, sein Subjektives mit einem universellen Lebensanspruch zu verbinden – und die Lebenspraxis mit der Literaturpraxis (vgl. IV.1, 160). ← 30 | 31 →
Daraus resultierte ja schließlich, wie Benjamin in seinen Notizen Auf der Spur alter Briefe von 1931/32 unterstreicht, die maßgebende Fähigkeit des radikal-demokratischen Autors zur „Kommunikation“, zur „Aussprache noch mit dem kleineren seiner Zeitgenossen“ (IV.2, 944). Denn er artikulierte, wie unter anderem Forsters Briefe belegen, die Erfahrung der Unterdrückten aus den sozialen Antagonismen und die Notwendigkeit des Widerstands, der Selbstbefreiung (vgl. IV.1, 160); er vermittelte dergestalt aufklärerisch-didaktisch zwischen der abstrakten Begrifflichkeit der Idee revolutionärer Freiheit, dem Selbstverständnis der Massen und der ihnen verbundenen, handlungsorientierten literarischen Kreativität. Und er war so an der Entstehung einer demokratischen Literatur ‚von unten‘ beteiligt, die auch auf die klassische deutsche Literatur und Philosophie einwirkte – unter anderem durch, wie Benjamin in den Kommentaren zur Weltbürger-Anthologie schreibt, das Vermögen, in den Frühformen der modernen sozialkritischen Reportage „die Dinge beim Namen zu nennen“ (IV.1.2, 842).26
Kommunikative Literaturbetrachtung
‚Demokratisch‘ und ‚radikal‘ ist für Benjamin schließlich auch die unmittelbare Beteiligung an der inhaltlichen und formalen Veränderung von Literatur, am Aufbrechen ihrer überlieferten Gattungs- und Rezeptionshierarchie. Denn diese Veränderung erfolgte nicht nur im „Bewußtsein einer Gemeinsamkeit mit der Großen Revolution“, wie es in der anläßlich ihres 150. Jahrestages zusammengestellten und kommentierten Sammlung Les Allemands de 8927 für das Themenheft der 1923 von Jean-Richard Bloch und Romain Rolland begründeten Zeitschrift Europe heißt (IV.11.2, 863). In sie wurden Texte von Schubart, ← 31 | 32 → Seume, Forster und Jochmann aufgenommen, wurden Gottfried August Bürger, Jakob Michael Reinhold Lenz, auch eher außenseiterische Publizisten wie Garlieb Merkel (1769–1850) und Konrad Engelbert Oelsner (1764–1828) in den Kommentaren gewürdigt. Diese Veränderung geschah auch bereits im Bewußtsein der neuen sozialen und massenkommunikativen Entwicklungen hin zur bürgerlichen „Industriegesellschaft“ – ein Begriff, den Benjamin in der Weltbürger-Anthologie von 1932 verwendet, die in ihren Kommentaren stärker als die Deutschen Menschen die „inneren Widersprüche“ der bürgerlichen Bewegung artikuliert (ebd., 853, 852). Dem mit ihnen verbundenen „Funktionswechsel“ der Künste, der Traditionsbezüge und Bildungsinhalte (VI, 227 f.) ging Benjamin in mehreren, deutliche kunstsoziologische Akzente setzenden Arbeiten aus demselben Jahr nach: in Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit, in Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben und in Zweierlei Volkstümlichkeit. Grundsätzliches zu einem Hörspiel.28 Diese neuen kommunikativen Entwicklungen, wie sie später unter anderen Ernst Bloch und Hanns Eisler in ihren Arbeiten Avantgarde-Kunst und Volksfront (1937) und Die Kunst zu erben (1938)29 für einen kunstpolitisch flexiblen Antifaschismus theoretisch fruchtbar zu machen versuchten, bringt Benjamins „Konstruktion“ auch in die literaturgeschichtliche Interpretation ein. Denn er hebt zum Beispiel an Christian Friedrich Daniel Schubart (1731–1791) die Ausprägung „grenzüberschreitender Phantasie“ im Kontrast zu den „Lebensbedingungen seiner Klasse“ gerade durch die schöpferische „Verbindung von lyrischer Poesie und Journalismus“ hervor (IV.1.2, 864, 863).30 Er weist auf das damals nahezu unbekannte Werk von Johann Christian Brandes (1735–1799) aus der „Vorzeit der Reportage“ hin (IV.2, 843; nicht zu verwechseln mit Georg Friedrich Brandes, 1709–1791; vgl. II.2, 482). Er würdigt am Werk von deren Zeitgenossen Christoph Martin Wieland „die Verschmelzung einer idealen und antiquarischen Bildungswelt […] mit einem ganz und gar auf Aktualität gestellten, den breiten Leserschichten zugewandten Literaturbetriebe“ (II.1, 405). ← 32 | 33 →
Das praktizierte Benjamin sinngemäß selbst in seiner „anthologischen Arbeit“ (III, 405), in seinen literaturgeschichtlichen Textsammlungen, Kommentaren, Porträts und Miniaturen. Dabei gab er nicht zufällig dem „Improvisatorischen in Gruppierung und Anordnung“ großen Raum (IV.1.2, 819). Auch dem – später im Passagen-Projekt zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts so fruchtbar werdenden – „Prinzip der Montage“ als Mittel „lebendiger Überlieferung“ (V.1, 572, 575; vgl. auch Br 2, 820; IV.2, 944).31 Denn so konnten unterschiedliche geschichtliche Prozesse, literarische Gestalten und Materialien über Zitatmontage zusammengerückt, in neue Kontexte und Assoziationsräume mit dynamischen Ideen-Polen gestellt werden, was selektives und kontrastierendes Lesen ermöglichte, das bislang unerkannte Bedeutungen erkennen ließ. Diese Präsentationsform richtete sich gegen die konventionelle akademische Fixierung auf die geschlossene Reflexion über einen „ein für alle Mal verfügbaren, ein für alle Mal inventarisierten Bestand“ an Überlieferung, gegen die bloßen Paraphrasierungen eines blockhaften, statischen, vermeintlich überzeitlichen „‚Erbes‘“ (III, 525; I.3, 1242). Sie plädierte zugleich für konstruktive Phantasie und planvolles Experimentieren auch in der wissenschaftlichen Arbeit. Es ist offensichtlich, daß sie gerade zur Verdeutlichung von Benjamins besonders interessierenden „Bruchstellen“ der Geschichts- und Literaturentwicklung sich eignete, zur Akzentuierung von ‚Grenzfällen‘ und „Grenzgebieten“, an denen herkömmliche ästhetische Methoden und Maßstäbe nicht mehr funktionieren konnten (II.2, 752; vgl. III, 373; IV.1, 395). Und nicht zuletzt eignete sie sich zur historisch kontextbewußten Aktualisierung, zur Erhellung von „hinreichend dramatischen und lebenswahren Zügen der […] Gegenwart“ – mittels „verwendbarer Stellen“, wie die Weltbürger-Sammlung betont (IV.1.2, 816).
Denn was Benjamin hier leistete, waren nicht nur Beiträge zu einer Rekonstruktion der Widersprüchlichkeit der Politisierungsprozesse oppositioneller Intelligenz um 1800, der Wandlungen in ihren materiellen und ideellen Existenz- und Wirkungsbedingungen, der Veränderungen in der Literaturbegrifflichkeit, auch nicht nur Beiträge zur Untersuchung der „Kontinuität des revolutionären Gedankens unter der deutschen Emigration in Frankreich von Forster bis Jochmann“ (II.2, 573). Es waren zugleich ‚konstruktive‘ Beiträge zu einer Geschichte ← 33 | 34 → politisch-literarischer Kämpfe als Ferment eigener historischer Bewußtheit. Sie stellten sich quer zu mannigfachen zeitgeschichtlichen Erscheinungen. So der in der akademisierten Klassikrezeption vorzufindenden Tendenz zur Lostrennung der klassischen deutschen Literatur und Philosophie von der europäischen Aufklärung; der im deutschen Bürgertum angesichts der politischen Entwicklungen in den zwanziger und dreißiger Jahren aufkommenden resignativen Abkehr von „jener Epoche des deutschen Humanismus“ mit ihrer Akzentuierung von Vernunft, Transparenz, Unbeugsamkeit und Unabhängigkeit (IV.2, 955); der vom deutschen Präfaschismus und Faschismus betriebenen, stets mit politischen Herrschaftsinteressen verbundenen ‚volkhaften‘ Überlieferung, welche politisch progressive Gestalten und Werke – mit ihnen historische Erfahrungen – unterdrückte und „auf Kosten der intellektuellen und aufklärenden“ Potentiale umdeutete (III, 489); der in der französischen Arbeiterbewegung, besonders während der Volksfrontperiode, herrschenden kultischen Stilisierung des Proletariats zur „Vollstreckerin“ von 1789 in einer politisch leerlaufenden, weil auf „unausgetragenen politischen Spannungen“ beruhenden Rhetorik (vgl. V.1, 58; V.2, 1235; vgl. auch II.2, 482, 493; III, 520); der unter anderen von Michael Lifschitz und Georg Lukács von Moskau aus, mit der „russischen Literaturpolitik“ im Rücken (VI, 537), propagierten unkritischen, engherzigen Verabsolutierung der Traditionen des klassischen bürgerlichen Humanismus, die, was auch Anna Seghers und andere kritisierten, Autoren wie Bürger, Lenz, Hölderlin, Kleist, Büchner und Karoline von Günderode vernachlässigte.32
Zugleich zielte dieses kritische, „gegen den Strich“ all dieser Spielarten falscher Überlieferung geführte Potential aus Modellfällen radikal-demokratischer ← 34 | 35 → Vorläufer europäischer Avantgarden – die auch Modellfälle des Scheiterns, des Vergessens und des Verdrängtwerdens waren, Deformationsmodelle verhinderter oder verspäteter Rezeption – auf eine neuartige Entfaltung der „politischen Energien der Kunst“ (I.2, 697, WN 19, 34; II.2, 492). Und das nicht zuletzt angesichts der widersprüchlichen Politisierung der Avantgarden in den dreißiger Jahren, für die Namen wie Louis Aragon einerseits und Filippo Tommaso Marinetti andererseits stehen.33 Dabei folgte Benjamin noch der Idealvorstellung eines engen Bedingungsgefüges von politischer und literarischer Revolutionierung: „Es ist die kritische Misere Deutschlands, daß die politische Strategie selbst im extremen Fall des Kommunismus sich nicht mit der literarischen deckt“, heißt es in dem Fragment Falsche Kritik von 1930/31 (VI, 176).
Diese Perspektivierung in Benjamins „historischer Konstruktion“ verleitete ihn allerdings zu einigen Unterlassungen und Vereinfachungen: Über die politischen und literarischen Grenzen der deutschen Radikaldemokraten des Revolutionszeitalters, wie sie am politischen Voluntarismus und Aktionismus, der Verabsolutierung operativer Literaturgenres und der Verständlichkeit als Qualitätskriterium, dem Mangel an sozialphilosophischer Reflexion und der Distanz zu entsprechenden zeitgenössischen Bemühungen deutlich werden, schweigt Benjamin sich weitgehend aus. Er unterläßt eine differenzierte Analyse und Wertung der unterschiedlichen politisch-literarischen Richtungen zwischen Liberalismus und revolutionärem Demokratismus, wie des aufklärerischen Reformismus eines Johann Benjamin Erhard, des radikalen Republikanismus eines Adolph Freiherr von Knigge, des aufklärerisch-sozialen Utopismus bei Franz Heinrich Ziegenhagen, ihres Umgangs mit politischen und sozialen Gegensätzen, mit der Rolle des Volkes und seiner geschichtlichen Erfahrung.34 Auch unterläßt er eine genaue Untersuchung der neuen künstlerischen Gebrauchsformen, des ästhetisch Innovativen, das Autoren wie Georg Forster und Georg Friedrich Rebmann bei ihren Bemühungen um die Revolutionierung der Gesellschaft und um die Erweiterung des Literaturbegriffs zum Beispiel in der ← 35 | 36 → Reiseprosa und politischen Publizistik erreichten.35 Die Bestimmung der „Linie ihrer Formen“, die Benjamin anläßlich von Oskar Walzels Schrift Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung (1926) fordert (III, 50), unterläßt er. Heine, zumal mit seinen sozial- und kulturgeschichtlichen Pariser Schriften, fehlt schon im Konzept von Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts völlig (vgl. V.1, 45–77), erscheint in seinen sonstigen Schriften, wie auch Ludwig Börne, nur am Rande.36 Und kurzschlüssig geht Benjamin vor, wenn er seine Parallelen zieht zwischen dem Jakobinerterror und der Tugendpropaganda Robespierres einerseits, der Naziherrschaft und ihrer Rassenideologie andererseits (vgl. IV.2, 1096 f.).
Aber wichtiger als die Frage danach, ob Benjamin – zumal angesichts der zu seiner Zeit herrschenden Editions- und Forschungssituation37 – in seinen Arbeiten zu literarisch–politischen Traditionen dem eigenen Anspruch immer gerecht werden konnte, ist vielleicht eine andere Frage. Nämlich die danach, ob die in der bisherigen wissenschaftlichen, auch „politischen Lektüre“ (Ansgar Hillach)38 Benjamins vorwaltenden Konstruktionen schon hinreichend verdeutlicht haben, daß der geschichtsbewußte Nachweis der Notwendigkeit einer Literatur, die „den Prozeß gegen Ausbeutung, Elend und Dummheit rücksichtslos führt“, wie Benjamin in einem Presseartikel von 1930 über „durchdachte, folgerechte Volksaufklärung“ schrieb (IV.1.2, 561, 557), zu den massiven eigenen radikal-demokratischen ← 36 | 37 → Kontinuitäten seines Werkes gehört. Diese Beweisführung richtet sich gegen jene, „die sich verkapseln, aus dem Fanatismus einen Komfort machen und ihr Bestes verloren geben“ (ebd., 557). Bereits 1928 schrieb Hans Friedrich Lange aber in der Weltbühne anläßlich des Erscheinens von Benjamins Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels: „Es ist die Verantwortlichkeit, die das Leben eines Menschen mit dem Geiste seines Volkes und seiner Zeit verbindet. In solchem höheren Sinne wird auch die wissenschaftliche Arbeit, wo immer sie unternommen wird, zur politischen Tat.“39 Anstatt zu behaupten, daß die Erforschung dieser Kontinuitäten „nicht viel“ brächte,40 sollte besser ernstgenommen werden, was Benjamin in den Geschichtsthesen über den modernen Historiker schrieb: „Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ (I.2, 697; WN 19, 34)
Während der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigte Walter Benjamin sich auch mit Leben und Werk weitgehend vergessener oder unterschlagener deutscher radikal-demokratischer Autoren zwischen den europäischen Revolutionen von 1789 und 1848. Er erarbeitete Anthologien, die Briefe und Texte zum Beispiel von Georg Forster und Georg Büchner enthalten: Deutsche Briefe (1931/32) und Les Allemands de 89 (1939). In seinen Kommentaren zog er Parallelen zwischen dem politisch-revolutionären Engagement dieser Autoren des 18. Jahrhunderts und dem Kampf der radikalen künstlerischen Avantgarde-Bewegungen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl für politische als auch ästhetische Innovation. So versucht der Text an einprägsamen Beispielen vor allem Benjamins Bemühungen um ein neues, an den Konzepten der europäischen Avantgardebewegungen orientiertes literarisches Traditions- und Wirkungsverständnis zu verdeutlichen, den Zusammenhang zwischen kritischer Geschichtsphilosophie, Demokratieverständnis und Literaturrezeption. Denn Benjamins Kritik der konservativen Geschichtsschreibung und seine Verteidigung der Aufklärung sind auch auf solche Wiederentdeckungen gegründet.
Der Text greift unter anderem auf Materialien zurück, die der Verfasser während seiner Arbeit an der Dissertation Jenseits von Klassik und Romantik über Carl Gustav Jochmann (1789–1830) an der Humboldt-Universität Berlin (1978), seiner Tätigkeit an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (1980–1983) und am Institut für Ästhetik ← 37 | 38 → und Kunstwissenschaften (IÄK) der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin (AdW; 1983–1991) – Projekt „Die Französische Revolution und die Künste in Deutschland“ –, erarbeitete. Vorstufen des Textes, die wiederum auf ein Referat auf dem Benjamin-Gedenkkongreß an der Universität Osnabrück 1992 zurückgingen, erschienen in jenem Jahr in der Berliner Wochenzeitung der DDR-Bürgerrechtsbewegung die andere, 1999 in der Lüneburger Zeitschrift für kritische Theorie (ZKT) und in den Materialien global benjamin des Benjamin-Kongresses. Eine englischsprachige Zusammenfassung der Version für die ZKT brachte 2000 der Philosopher’s Index (Bowling Green, USA). Anläßlich des 70. Todestages erschien im September 2010 eine gekürzte und variierte Version in JW.
ADORNO, Theodor W., 1981: Zu Benjamins Briefbuch „Deutsche Menschen“ [1962]. – Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. S. 686–692.
ALBERT, Claudia (Hrsg.), 1994: Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller, Kleist, Hölderlin. – Stuttgart/Weimar.
ALT, Peter-André, 1999: „Gegenspieler des Propheten“. Walter Benjamin und Stefan George. – GARBER/REHM 1999a, S. 891–906.
BECHER, Johannes R., 1977: Gesammelte Werke. Bd. 15: Publizistik I. 1912–1938. – Berlin/Weimar.
BENJAMIN, Hilde, 1981: Ein unbekannter Brief Walter Benjamins. – Neue Deutsche Literatur. Monatsschrift für Literatur und Kritik (Berlin [DDR]). Jg. 29. H. 6, S. 36–42 (mit Faksimiles des undatierten Briefes von 1938).
—, 1982: Georg Benjamin. Eine Biographie. 2., erw. Aufl. – Leipzig. (3. durchges. Aufl. ebd. 1987.)
BETZ, Albrecht, 1986: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre. – München.
BEUTIN, Wolfgang, 1995: Der Demokrat Fritz Reuter. Hamburg (Mecklenburger Profile, Bd. 2).
Details
- Pages
- 266
- Publication Year
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783631721162
- ISBN (ePUB)
- 9783631721179
- ISBN (MOBI)
- 9783631721186
- ISBN (Hardcover)
- 9783631556696
- DOI
- 10.3726/b11021
- Language
- German
- Publication date
- 2021 (August)
- Keywords
- Kulturphilosophie Walter Benjamins Avantgarde-Bewegungen Kulturphysiognomie Theorie und Geschichte des Films Antifaschismus Walter Benjamin-Rezeption
- Published
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 266 S.