Mitteldeutsche Orientliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. «Graf Rudolf» und «Herzog Ernst»
Ein Beitrag zu interkulturellen Auseinandersetzungen im Hochmittelalter
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Einleitung: Zur wachsenden Auseinandersetzung mit dem Orient in der deutschen Literatur des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Die Aufnahme von Motiven aus antiken und orientalischen Werken
- 2. ‘Graf Rudolf’
- 2.1. ‘Graf Rudolf’ als innovatives höfisches Versepos
- 2.1.1. Handschriftliche Überlieferung
- 2.1.2. ‘Graf Rudolf’ in der Bewertung der Forschungsgeschichte
- 2.2. Diskussionen zur Entstehungszeit in der Forschungsgeschichte
- 2.3. Zum Entstehungsraum
- 2.4. Gliederung der fragmentarischen Überlieferung
- 2.5. Inhaltsangabe des Gesamtwerkes
- 2.6. Zur Problematisierung des ambivalenten und feindlichen Verhältnisses zwischen Christen und Moslems in dem Werk
- 3. ‘Herzog Ernst’
- 3.1. Einführung in die Fragestellung. Überlieferung
- 3.2. ‘Herzog Ernst’ (Fass. A). Zeitliche und räumliche Einordnung
- 3.3. ‘Herzog Ernst’ (Fass. B). Überlieferung und Entstehungszeit
- 3.4. Zum Entstehungsraum
- 3.5. Zur Komposition. Funktion von reichsgeschichtlichem Teil und Orientteil
- 3.6. Inhaltsangabe des Gesamtwerkes
- 3.6.1. Grippia-Episode (B 2210–3882)
- 3.6.1.1. Ankunft in Grippia (B 2210–2352)
- 3.6.1.2. Der erste Besuch der Stadt (B 2353–2473)
- 3.6.1.3. Der zweite Besuch der Stadt (B 2531–3605)
- 3.6.1.4. Der Kampf mit den heidnischen Reitern (B 3605–3838)
- 3.6.1.5. Aufbruch von Grippia (B 3839–3882)
- 3.6.2. Magnetberg-Episode (B 3891–4138)
- 3.6.3. Arimaspi-Episode (B 4499–5434)
- 3.6.4. Ernsts Rückkehr. Aussöhnung mit dem Stiefvater (B 5435–6020)
- 4. Zwischenbilanz: ‘Graf Rudolf’ und ‘Herzog Ernst’ – eine besondere Form der Chanson de geste?
- 5. Die Versepen ‘Graf Rudolf’ und ‘Herzog Ernst’ im Kontext europäischer und orientalischer Literatur. Das Beispiel der legendären Völker und Fabeltiermotive
- 5.1. Orientalische Völker und Kryptiden aus der Sicht okzidentaler Quellen
- 5.2. Orientalische Völker und Kryptiden aus der Sicht orientalischer Quellen
- 6. Historistheologische Hintergründe für das ambivalente Verhältnis zwischen Christen und Moslems. Dessen Niederschlag im ‘Grafen Rudolf’ und im ‘Herzog Ernst’
- 7. Gesamtzusammenfassung und Ausblick
- 8. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
- 8.1. Siglen und Abkürzungen
- 8.1.1. Verzeichnis abgekürzt zitierter Periodika, Corpora, Editionen, Textreihen und Nachschlagewerke
- 8.1.2. Abkürzungen biblischer Bücher nach der Vulgata
- 8.1.3. Sonstige Abkürzungen
- 8.2. Literaturverzeichnis
- 8.2.1. Textausgaben
- 8.2.1.1. Primärtexte
- 8.2.1.2. Weitere Ausgaben
- 8.2.2. Ausgaben römischer Autoren
- 8.2.3. Ausgaben griechischer Autoren
- 8.2.4. Ausgaben frühchristlicher Autoren
- 8.2.5. Ausgaben mittelalterlichristlicher Autoren
- 8.2.6. Ausgaben jüdischer Autoren
- 8.2.7. Ausgaben islamischer Autoren
- 8.2.8. Forschungsliteratur
- 8.2.9. Grundlagenliteratur, Nachschlagewerke
- Reihenübersicht
Die Beziehungen zwischen den Ländern Europas und des Vorderen Orients und deren Literaturen werden zwar schon seit längerer Zeit untersucht, gewannen aber in den letzten Jahren zunehmend an Aktualität. Die Rede vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff und in jüngster Zeit der Aufsatz von Michael Borgolte sowie die Publikation, die die Ausstellung „Kaiser und Kalifen“ begleitete, sind einige Beispiele dafür.1 Die vorliegende Arbeit, die sich als germanistische Untersuchung versteht, entstand in den Jahren 2008 bis 2014 und verfolgt das Ziel, gegenwärtig vorrangig wichtigen Fragen des kulturellen Austausches zwischen west- und mitteleuropäischen und orientalischen Literaturen nachzugehen und einen Beitrag zur Beantwortung vordergründig aus germanistischem Blickwinkel her zu leisten. Das soll am Beispiel der mitteldeutschen anonymen Versepen – ‘Graf Rudolf’ (GR) und ‘Herzog Ernst’ (HE) – geschehen.
Dem Promotionsantrag wurde im Wintersemester 2008/09 von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Berlin stattgegeben. Das Manuskript wurde im Mai 2014 abgeschlossen. Fachliteratur konnte bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden; später veröffentlichte Werke sind nur punktuell nachgetragen.
Mein Dank gilt all jenen, die mich bei der Arbeit an dieser Dissertation unterstützt haben, sei es unmittelbar durch Anregungen, Ratschläge und Kritik, sei es mittelbar durch die notwendige Ablenkung von der Arbeit.
Dank gebührt in erster Linie meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Rudolf Bentzinger (Technische Universität Berlin), von dessen unendlichem Wissen, Güte und Geduld ich profitieren durfte. Er gab mir die Anregung zu diesem Thema und förderte die Fertigstellung der Arbeit in vielfältiger Weise. Durch die richtige Balance aus Interesse an meiner Arbeit und gleichzeitig gewahrter Zurückhaltung ← 11 | 12 → in Bezug auf jegliche Art von Vorgaben, aus Einbeziehung in interessante Projekte und gleichzeitig gewährtem Freiraum hat Herr Bentzinger mir ein perfektes Umfeld für die Dissertation zur Verfügung gestellt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Jürgen Wolf (jetzt Philipps-Universität Marburg) für die wertvollen Hinweise und rasche Erstellung des Zweitgutachtens danken. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem Frau Prof. Dr. Sigrid Weigel (Technische Universität Berlin), die sich sofort bereit erklärte, die Leitung des Promotionsvorhabens zu übernehmen. Frau Prof. Dr. Ingeborg Baldauf (Humboldt-Universität zu Berlin), Frau Prof. Dr. Susanne Enderwitz (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) und Herrn Prof. Dr. Rolf Wirsing (Hochschule Zittau-Görlitz) sei für wichtige Ratschläge gedankt. Für wertvolle Hinweise danke ich ebenso Frau Prof. Dr. Antje Wittstock (jetzt Universität Siegen), Herrn Prof. em. Dr. Thomas Cramer (Technische Universität Berlin), ferner Herrn Prof. Dr. Reinhard Hahn (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Herrn Dr. Ronny Schulz (Berlin/Kiel). Danken möchte ich ferner meinem langjährigen Freund Dr. Hürkan Çelebi (Hacettepe Universität Ankara) für wertvolle Anregungen und intensive Auseinandersetzung mit meiner Arbeit. Für die Aufnahme in die Reihe „Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung“ danke ich dem Herausgeber Herrn Prof. Dr. Thomas Bein (RWTH Aachen). Ein großes Dankeschön geht ebenfalls an Herrn Michael Rücker, den Leitenden Lektor des Peter Lang Verlags, und sein ganzes Team. Für das Korrekturlesen danke ich den Damen Dr. Judith Lange und Christina Scholtyssek. Für die Auswahl französischer Literatur bin ich meiner lieben Nachbarin Martine Geffroy ebenfalls zu Dank verpflichtet.
Besonderer Dank gebührt natürlich auch meiner Familie, vor allem meiner lieben Frau, Weggefährtin und Inspirationsquelle Nurcan, der ich diese Arbeit widme. Ihre Entbehrungen, finanzielle Unterstützungen und stets liebevollen Ermunterungen haben die Anfertigung der vorliegenden Arbeit erst ermöglicht. Auch meiner Mutter Frau Nuriye Sivri, meinem Sohn Ladin Mikail Sivri und meiner Tochter Jül Feradis Sivri gilt mein Dank vor allem für die unendliche Geduld während der langwierigen Arbeiten.
Berlin, Januar 2015 | Yücel Sivri |
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1 Wulff, Christian: Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern. Rede beim Festakt zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen, hg. v. Bundespräsidialamt. Berlin 2010; Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hg.): „Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800“, Mainz 2014. Borgolte, Michael: Weshalb der Islam seit dem Mittelalter zu Europa gehört, in: Viator – Medieval and Renaissance Studies, vol. 43. Multilingual 2012, S. 363–377, zit. aus der Kurzversion des Aufsatzes „Der Islam gehört schon lange zu Europa“, in: Berliner Zeitung Nr. 92 v. 19./20./21. April 2014. Vgl. auch Schmidt, Erich [u. a.]: Die orientalischen Literaturen, in: Die orientalischen Literaturen (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele), Teil I, Abt. VII. Hg. v. Paul Hinneberg, Leipzig / Berlin 1906.
„Mit nichts ist die jugendliche Phantasie und das sinnige Gemüth des Weltunkundigen leichter zu fesseln, als mit den Wundern der Ferne, die der Gewanderte erzählt.“2
In dem Jahrhundert zwischen 1070 und 1170 ging in der deutschen Literatur des Mittelalters ein epochaler Wandel vor sich. Profane Themen und Inhalte traten neben der religiösen Literatur3 in den Vordergrund. Haiko Wandhoff spricht in diesem Zusammenhang von der „Verschriftlichung des Erzählens“ oder vom „recht plötzlichen Auftauchen“ der „neuartigen schriftlichen Epen“.4 Nach Wandhoff han ← 13 | 14 → delt es sich um „volkssprachliche Texte (…), die formal wie von den Inhalten her innovativ sind“.5 Themen aus der Karolinger- oder der Salierzeit (z. B. das ‘Rolandslied’) rückten an den Adelshöfen in den literarischen Mittelpunkt. Im Rahmen eines aristokratischen, aber dennoch vulgärsprachlichen Literaturbetriebs, dessen Anfänge Wandhoff ebenso wie J. Bumke „etwa auf die Zeit um 1070“ datiert, ging man dazu über, „an einigen großen Fürstenhöfen (…) volkssprachliche Texte im schriftlichen Medium anzufertigen und sie in Buchform zu speichern und zu verbreiten“.6
Das über den Kölner Erzbischof Anno verfasste ‘Annolied’7 (ca. 1080) ist das erste biographische Werk der deutschen Sprache, welches mit einem Abriss der historia humana beginnt und bis hin zum Sacrum Imperium Romanum bzw. bis hin zum Jüngsten Gericht reicht. Im Zuge des erstarkenden Rittertums entstanden weltliche Epen: Lamprechts Übersetzung des Alexanderlieds von Alberich von Besançon und das Rolandslied8 des Pfaffen Konrad sind erste höfische Epen.9 Das „Alexanderlied“ des Pfaffen Lamprecht entstand um 1150 und ist damit ein sehr frühzeitiges Werk in der deutschen Literaturgeschichte. Wie bereits erwähnt, geht es nicht auf ein lateinisches, sondern auf ein volkssprachliches (afrz.) Werk zurück: die Alexanderdichtung des Alberich von Besançon.10 Die ‘Kaiserchronik’11 (KC, ca. 1150/55) hingegen behandelt die Geschichte vom Römischen Kaiserreich bis zur damaligen Gegenwart. Sie erzählt in etwa 18000 Versen die Lebensläufe der römischen und deutschen Kaiser. Wohl auf Veranlassung Heinrichs des Löwen schrieb der Pfaffe Konrad um 117012 das etwa 9100 Verse umfassende ‘Rolands ← 14 | 15 → lied’ (RL) in Regensburg, dessen Quelle – die afrz. ‘Chanson de Roland’,13 in deren Mittelpunkt Karl der Große steht – ebenfalls aus dem frz. Sprachraum14 stammt. Im Unterschied zu seiner Vorlage, der ‘Chanson de Roland’, verfolgt der Pfaffe Konrad im RL nicht nur nationale Fragestellungen zur dulce France. Es geht um das Reich und wohl auch um eine Kreuzzugsidee. In RL 106 sagt Karl zu seinen Kriegern iuweren willen west ih gerne, obwohl aus den Versen (RL 80–82) bereits hervorgeht, dass diese kampfmotivert sind: sine gerten nihtes mêre / wane thurh got ersterbn / um thaz himelrîche ther martire erwerben. Spätestens dann, wenn es kurz danach (RL 88 f.) heißt, nu scule wîr gote thienen / mit lûterlîchen muote, wissen wir, dass es sich um militia dei handelt und nicht um militia saecularis.15 Der Krieg gegen die Heiden,16 dessen Rechtmäßigkeit nirgendwo im Werk in ← 15 | 16 → Frage gestellt wird, ist zu einem gottgewollten Akt stilisiert. Man könnte sagen, die ‘Chanson de Roland’ galt dem Pfaffen Konrad als „Symbol des Kampfes der ‚civitas Dei’ gegen die ‚civitas diaboli’ “ und diente ihm als Vorlage.17
Sowohl in den Epen ‘König Rother’ (KR) und ‘Herzog Ernst’ (HE) als auch im antiken Alexanderroman spielen antike Motive eine Rolle.18 Bei dem um 1150 verfassten KR (mit dem zentralen Motiv der Brautwerbung um die Tochter des Königs von Konstantinopel) und dem in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfassten HE oder dem um 1170 entstandenen ‘Straßburger Alexander’ (Str.A.), der „den Roman Lamprechts […] ergänzt“,19 geht es dagegen um fabelhafte Ex ← 16 | 17 → kursionen in orientalische Gefilde aus dem Umkreis der Kreuzzüge.20 Neben den französisch-deutschen Heldensagen und Überarbeitungen griechisch-römischer antiker Stoffe oder den Schilderungen helden- und fabelhafter Taten pilgernder Kämpfer finden sich auch Minne- und Legendenerzählungen im weiten Spektrum der Themen- und Stoffpalette der höfischen Epik, sodass man von einer „überraschenden Vielseitigkeit“ sprechen kann.21
Die frühhöfische und höfische Literatur fällt in die Regierungszeit der Staufer (1138–1254). Das seit der späten Merowingerzeit bestehende Bildungsmonopol der Kirche wurde durch das Erstarken einer säkularen Feudalmacht, auch auf Grund der Kreuzzüge (seit 1096), mehr und mehr geschwächt. Mit einer wachsenden Säkularliteratur, die ihre Impulse zunächst von Bischofs- und Fürstenhöfen, später auch aus den Städten erhielt, erweiterte sich der Gebrauch der deutschen Sprache gegenüber dem Latein.22 Die neue Emanzipation und die Denkkraft der Nobilitas nährten sich allerdings auch aus den durch die Kreuzzüge ermöglichten intellektuell-kulturellen Begegnungen mit der Kultur des Orients.23 An vielen europäischen Höfen verbreitete sich eine Konkurrenz zwischen klerikalen Eliten und profanen ‘Spielleuten’, wobei dieser letzte Terminus umstritten ist. Zu dieser ← 17 | 18 → Gattung werden die anonymen Werke wie ‘König Rother’, ‘Salman und Morolf’, ‘Oswald’, ‘Herzog Ernst’ und ‘Orendel’ gezählt.24 Es werden stilistische Charakteristika wie „Freude am Stofflichen, Sinn für das Bunte und Grelle, im Humor für das Burleske, Sorglosigkeit des Aufbaus, geringe Ansprüche an die Form, überwuchernde Formelhaftigkeit“ formuliert.25 In diesen sog. Spielmannsepen26 wurden orientalische Motive übernommen oder die Handlung gern in den Orient versetzt. Während die Heilsgeschichte in Chroniken und in religiöser Literatur weiterhin eine große Rolle spielt, dienen diese Werke vorrangig der Unterhaltung und der Belehrung. Nur im ‘Münchner Oswald’ geht es dezidiert um Heilsgeschichte.
Es wurde begonnen, Fragen und Probleme der Zeit zu thematisieren. Zum einen war die Rezeption der romanischen Tradition gefragt, andererseits stärkte die exorbitante Bedeutung der Kreuzzüge die soziale Wertschätzung des Rittertums. Bei den neu entstandenen Werken beobachten wir oft den Anfangsprozess der Profanliteratur. Dabei spielte schon ab dem 1. Kreuzzug (1096–1099) der Orient als Motiv eine wichtige Rolle. Die Faszination des Orients drang in die volkssprachlichen Literaturen Europas ein. Okzitanisch-altfranzösische ← 18 | 19 → Autoren waren die ersten, die den Orient behandelten. Spätestens im 12. und 13. Jahrhundert wandte sich der Roman immer mehr orientalischen Konstellationen zu. Hintergründe lieferten neben den Kreuzzügen auch teilweise exotisch-fabulös erdachte Gefilde, teilweise „geglaubte Wirklichkeit“27, die auf den damals modernsten TO-Karten belegt war. Als Beispiele hierfür wäre das um 1225 entstandenes Werk ‚Aucassin et Nicolette’, das erste Prosimetrum überhaupt, zu erwähnen. Diese in einer einzigen Handschrift erhalten gebliebene Mischung aus Prosa und Versen favorisiert eine humanistische und tolerante Alternative gegenüber einem autoritären und drakonischen System. Auch im mittelhochdeutschen Sprachraum bildete sich ein gewisses Interesse für den Orient und die Sarazenen heraus.28
Die Kreuzzüge verliehen den Rittern ein Ansehen, mit dem sie sich gegenüber dem gesellschaftlich höhergestellten Adel wappneten. So entstand eine eigene Literatur, die geneigt war, das Thema Orient zu behandeln. Teils konnte sie mehr oder weniger deutlich den Kreuzzug propagieren,29 teils nutzte sie den Orient als Rahmen ← 19 | 20 → für die Handlung.30 In manchen mittelhochdeutschen Dichtungen31 finden wir tapfere und edle Heiden, die mit allen ritterlichen Insignien, Kleinodien und positiven Charakteristika des Rittertums ausgestattet werden, da die Verfasser dieser Werke dem Ritterlichen wohl globalistische und überreligiöse Bedeutung beimessen. Laut Christian Kiening haben die ritterlichen Heiden bzw. heidnischen Ritter „in ihrer ‚hövescheit’ Anteil an der ritterlichen Kultur“32. In diesem Zusammenhang spricht er von einem „ausführlich entwickelten höfischen Erziehungsprogramm“33, das wie ein „Integrationsmodell für beide Seiten“34 funktioniert.
Nach dem ansehnlichen Landgewinn durch den ersten Kreuzzug dauerte die Blüte des abendländischen Rittertums im Orient bis zum 13. Jahrhundert. Diese Zeit gilt allgemein als die Glanzzeit der Kreuzritter im gelobten Land. Die Muslime35 ver ← 20 | 21 → suchten zwar immer wieder, das an die Christen verlorene Land zurückzuerobern, aber die militärische Macht der Kreuzritter war zu stark. Dies änderte sich erst mit dem dritten Kreuzzug. In Folge dessen ging es auch in der Literatur zunehmend um militärische Niederlagen und das Leiden der Kreuzritter. Als gottesfürchtiger, aber zugleich kriechender und verblutender Krieger wird Graf Rudolf im Dorngestrüpp in einem erbärmlichen Zustand dargestellt (H 6–51). Auf dem Rückweg vom Heiligen Land wird der englische König Richard Löwenherz von seinem Erzfeind Herzog Leopold in Österreich festgenommen und bis zu seiner Auslieferung an den deutschen Kaiser Heinrich IV. auf Burg Dürnstein (Dezember 1192 – März 1193) gefangen gehalten. Er wird erst gegen Zahlung eines Lösegeldes von 150.000 Mark Silber freigelassen. Diese und viele andere Ereignisse trugen dazu bei, dass dem Ansehen der Ritter schwer geschadet wurde. Berühmte Ritterpoeten wie Guiot de Provins, Bertran de Born, Folquet de Marseille verließen die Bühne und gingen einer nach dem anderen ins Kloster.36 Dazu kam das innereuropäische Problem mit den Katharern und anderen Häretikern, deren theologische Standpunkte von der katholischen Kirche als absurd, wenn nicht gar als dämonisch betrachtet wurden. In diesem Kontext spricht Karl Bertau von dem „Unbehagen“ und dem „Signal des Ungenügens an den alten Formen“.37
Diese Prozesse ließen bald den Orient38 zu einem Faszinosum werden. Aus diesem Grund seien hier einige Gedanken zum Orient-Okzident-Verhältnis im ← 21 | 22 → Mittelalter eingefügt. Grundsätzlich galt die Vorstellung, dass das irdische Paradies39 „im äußersten Osten […] liegt […], wo die Geschichte mit der Schöpfung des Menschen ihren Anfang genommen hat“.40 Das Paradies galt als das Orientalischste, das oriens per se. Wie die Aussage Isidors, etym. XIV 3,2, „paradisus est locus in orientis partibus constitutus“ belegt, platziert das mittelalterliche Weltbild das Paradies geographisch zwar in Asien, eurozentrisch gesehen aber im entferntesten Osten.41 So stand der Orient des christlichen Westens kultursemantisch dem Mashreq ( Osten) der Araber, den „islamischsten“ Völkern, gegenüber. Wenn wir also in dieser Arbeit vom Orient sprechen, so meinen wir den kulturhistorisch geprägten „Osten“ im weitesten Sinne, d. h. den zentral gelegenen Vorderen Orient mit der arabischen Halbinsel als islamisch-arabisches Kernland, das sich jedoch geokulturell von den äußersten, südöstlich gelegenen Randgebieten Asiens über das maghrebinische Nordafrika bis zu den Herkulessäulen am Ende der Welt bzw. am südwestlichen Ende Europas erstreckt.42 Lässt man den Bedeutungswandel von den lateinischen Termini oriens, plagae mundi und Aurora43 bzw. dem griechischen Ἀνατολή (Anatole) zu dem altfranzösischen outremer bzw. mittelitalieni ← 22 | 23 → schen Wort levante außer Acht, so fassen wir den Begriff Orient als langlebigsten und gängigsten aller Ost-Bezeichnungen auf.
Aus der christlichen Perspektive wird der Osten mit der heiligen Stätte Jerusalem oder der einstigen Wiederkehr des auferstandenen Christus assoziiert. Insofern scheint das Christentum sich mit dem lateinischen Aphorismus ex oriente lux arrangiert zu haben.44 Obwohl bereits der Kirchenvater Hieronymus Jerusalem für den “Nabel der Welt”45 hielt, rückte die Stadt kartographisch erst durch die erfolgreichen Kreuzzüge um 1100 in das Zentrum der Welt. Zu diesen Karten gehören die Ebstorfer Weltkarte, die Psalterkarte von London46 (ca. 1262) und die Karte von Oxford.47 Die pagane Antike kannte Delphi und Rom als solche ← 23 | 24 → Zentren.48 Sophokles spricht von den aus der Mitte der Erde stammenden Prophezeiungen: τὰ µεσόµφαλα γᾶς […] µαντεῖα.49 Pindar zitierend schreibt Strabon, Delphi stelle den Mittelpunkt der Erde (της γης οµφαλός) dar.50 Der Begriff Omphalos (ὀµφαλός) tauchte bereits bei Homer als geographischer Terminus auf, als er damit die Insel der Kalypso als Nabel des Meeres bezeichnete.51 Umbilicus urbis ← 24 | 25 → der Lateiner markierte nicht nur das Zentrum von Rom,52 sondern des ganzen Imperiums und somit der ganzen antiken Welt.
In der Verlegung des Weltzentrums von Delphi bzw. Rom nach Palästina, d. h. in den Osten, durch das Christentum registrieren wir die Verschiebung, die Replatzierung des maximae centri terrae. Dadurch löste man sich demonstrativ von der paganen Weltauffassung. Gleichzeitig war es in mehrerer Hinsicht möglich, nicht nur genealogisch-kosmologisch, sondern auch geographisch der hebräischen Tradition zu folgen.
In den Werken einiger arabischer Gelehrter wie Abu Mahumed Mustaphi Ben Alshid Has[a]n, Abu Walid Mahumed Ben Elshecina oder Achmed Ben Magad finden wir die Insel Serendib [d. i. Taprobane] in der Mitte der Erde platziert.53 Auf den Karten arabischer Kartographen steht meistens das Mediterraneum mit levantinisch-maghrebinischen Ufern im Zentrum, während auf den lateinischen Karten die Nordküsten desselbigen zentrale Bedeutung übernehmen. Wenn im Sinne 1 Mose 11,1, Babylonien „die ganze Menschheit, eine Sprache und einerlei Worte“ verkörpert, so kann es als Mittelpunkt des himmlischen Landes verstanden werden. Ebenso wie Babylon scheint auch Ninive eine Zeitlang als Mittelpunkt der Erde gegolten zu haben.54 Aithikos, der fiktive Verfasser der antiken Reisebeschreibung ‘Kosmographie’, misst Assyrien mit der Hauptstadt Ninive (Ninnivê)55 eine geozentrale Bedeutung bei.56 Die Verlegung des Schwerpunktes auf die mesopotamisch-palästinische Region bestätigen auch die runden Welt ← 25 | 26 → karten, auf denen die vornehmlich bewohnbaren Zentren Jerusalem, Mekka und Bagdad (Baldac)57 dicht beieinander hervorstechen.58
Schon während der ersten Expansionsbestrebungen der Araber unter Prophet Mohammed 622 wurde der Orient zur islamischen Bühne. Mit anderen Worten: Die arabische Halbinsel wurde zum Sinnbild und zur Heimat für den Islam, der von dort aus fast das ganze Mittelalter mitprägte. Dieser geographische Bezug kann ebenso für das Christentum der Spätantike behauptet werden. Dem Islam „zwischen den dicht besiedelten Blöcken von Europa im weitesten Sinne, Schwarzafrika und dem Hinteren Orient“ weist F. Braudel die Rolle des „Mittlers“ zu.59 Erst durch den erfolgreichen Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Mächte in Asien zwischen 1520–1760 verlor der Orient die interkulturelle Mittlerposition. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit dem immer schwächer werdenden Osmanischen Reich begann er, sein faszinierendes exotisches Image einzubüßen.
Doch manchen Europäern galt und gilt der Orient eher faszinierend als fremd. Er ist das verzerrte Bild des Okzidents, eine gemalte Welt (Orbis sensualium pictus), ein „Konstrukt westlicher Imagination“.60 Mehr noch: Er wird „als eine Welt des wollüstigen Harems, als ein Ort der Vormoderne“61 verstanden und als Quelle der Phantasie und Inspiration benutzt. Wenn man die Vorliebe oder ← 26 | 27 → zumindest das Interesse für den Orient mit Edward Said als eine Orientalismus-„Konstruktion“62 interpretiert, so kann diese das Ausmaß einer “Schizophrenie” annehmen, denn der “Orient dient und diente dem Westen als Projektionsfläche seiner selbst, ohne sich in Frage stellen zu müssen.”63 Für Nina Berman hingegen diente diese Konstruktion den orientalisierten Europäern und Angelsachsen, d. i. orientalised orientals,64 als eine Art Kultur- und Kontrollinstrument65 und nicht nur als Gegenbild des Westens,66 das nach individuellem, institutionellem oder gar staatlichem Gutdünken verzerrt und manipuliert werden konnte. Die orientalised orientals sind für Nevzat Soğuk zwar „non-Western subjects“, aber deren Erfahrungswerte und Erwartungen sind von der westlichen Zivilisation geprägt, weshalb sie den Westen immer noch besser begreifen und verinnerlichen als den Osten.67 Mary B. Campbell befreit den ontologischen Terminus Orient aus der ← 27 | 28 → diffusen unpräzisen Definition und deskribiert ihn mit “Anderswo”.68 In diesem Konnex spricht Andrea Polaschegg von dem ” ‘Anderen’ des Westens”.69 All die hier aufgeführten Ansichten machen diese Orientvorstellung – das gilt ebenso für den Okzident – zu manmade-Produkten.70 Mag sein, dass der Terminus Orient in der Antike richtungsbezeichnend Verwendung fand. Nach Entdeckungen der Kontinente und in den darauffolgenden Epochen der imperialen Kolonisation und des neuzeitlichen Kolonialismus verwandelte sich der Orient jedoch immer mehr zu einer westlichen Imagination.71 Auch die phantastischen Erzählungen aus ‘Tausendundeiner Nacht’72 haben im Bezug auf den Orient die Vorstellungen und Wahrnehmungen der Europäer im beginnenden Industriezeitalter vorbereitet, ja sogar mitgeprägt.73
Wie diese Arbeit darlegen wird, hat die Mystifizierung des Orients, die ihn als liebenswerte, aber doch zum Konstrukt verzerrte Welt erscheinen ließ, im Abendland durchaus Tradition, die in der Antike verwurzelt und noch in der gegenwärtigen Literatur, Sprache und Kultur lebendig ist. Dies stellte jedoch für die komplementären Begleiterscheinungen wie negative Stereotype und Entzauberungen kein Hindernis dar. Je kleiner und politisch unbedeutender die ehemaligen westlichen Kolonialmächte wurden, und je mehr sie sich in die zermürbenden ← 28 | 29 → Weltkriege verwickelten, desto mehr wuchs in ihnen die Xenophobie. Es begann ein immer konkreter werdender Prozess der Alterisierung. Die Analogisierung des geographisch näher gerückten Ostens war die Folge. Diese non-explorative, pauschale Haltung, besser gesagt die Stereotypisierung des Orients fußt auf der Grundlage einer soziokulturellen Stigmatisierung (Othering), die seit der Jahrtausendwende einen qualitativ hochwertigen Nährboden findet. Ein einst prosperierender und inspirierender Orient verblühte in den Vorstellungen der Menschen, erst recht nach der realen Begegnung, und verkrümmte schließlich zu einem “orientalischen Entsetzen”.74
Solche vielschichtigen Probleme, die uns Heutige bewegen, aber auch schon für die Menschen des Mittelalters eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielten, fanden ihren literarischen Niederschlag bereits im Zeitabschnitt zwischen 1170 und 1230. Dies soll im Folgenden exemplarisch an den beiden Epen ‘Graf Rudolf’ und ‘Herzog Ernst’ behandelt werden. Sie trugen in der frühen mittelhochdeutschen Literatur dazu bei, das damalige Bild des Orients zu prägen. ← 29 | 30 → ← 30 | 31 →
2 Gervinius, Georg Gottfried: Handbuch der Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen. Leipzig 1842, S. 29.
3 Neben der deutschen mittelalterlichen Kreuzzugsdichtung entwickelte sich im 11. und 12. Jahrhundert auch eine religiöse Dichtung (Christologien, Sakramentologien, Eschatologien, Mariologien, Ecclesiologien etc.), die sich gegen die islamischen Dogmen richtet. Zu solchen Werken zählen ‚Ezzolied’ (Straßburger Fass. um 1060 u. Vorauer Fass. um 1120) sowie ‚Summa Theologiae’ um 1120, vgl. Wisniewski, Roswitha: Christliche Antworten auf den Islam in frühmittelalterlicher Deutscher Dichtung, in: Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter (Miscellanea mediaevalia, Bd. 17), hg. v. Albert Zimmermann u. Ingrid Cremer-Ruegenberg, Berlin / New York 1985, S. 103–111, hier S. 103.
4 Wandhoff, Haiko: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, PhStQ 141, Berlin 1996 (Diss. 1995), S. 109. In diesem Kontext spricht Wolf, Jürgen: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008, S. 33, von einer aufkommenden „Qualität volkssprachiger Schriftlichkeit“, die nunmehr dazu beiträgt, dass zumindest „inhaltlich, thematisch und darstellungstechnisch die weltlich-laikale Seite der mittelalterlichen Gesellschaft“, quasi „die Ritterkultur und die Höfe“ in den Vordergrund rücken, vgl. ders, ebd., S. 33 m. Anm. 123.
5 H. Wandhoff, ebd., S. 109.
6 H. Wandhoff, ebd., S. 109 mit Anm. 1, wobei er sich datierungsmäßig mit Bumke, Joachim: Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, in: RWAkW, geisteswiss. Reihe 309 (Opladen 1991), S. 30 ff., konform verhält.
7 Roediger, Max (Hg.): Annolied, MGH Dt. Chron. I, 2. Hannover 1895, S. 63–132 u. S. 139–145, siehe auch Nellmann, Eberhard: Art. Annolied, ²VL Bd. 1 (1978), Berlin / New York, Sp. 366–371, und ²VL Bd. 11 (2004), Sp.108.
8 Zitiert wird nach der Ausgabe: [Pfaffe Konrad] Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993.
Details
- Seiten
- 338
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653061116
- ISBN (MOBI)
- 9783653954586
- ISBN (ePUB)
- 9783653954593
- ISBN (Hardcover)
- 9783631669778
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06111-6
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Mai)
- Schlagworte
- Kreuzzüge Heldenepik Völkerverständigung transnationaler Kulturaustausch
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 338 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG