Der Lauf der Dinge. Wechselverhältnisse zwischen Raum, Ding und Figur bei der narrativen Konstitution von Anderwelten im «Wigalois» und im «Lanzelet»
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorbemerkung
- Inhaltsverzeichnis
- Theoretische Vorüberlegungen
- I) Hinführung
- 1) Trias Raum – Ding – Figur
- 2) Mit dem Ding in eine andere Welt
- 2.1 Anderwelt
- 2.2 Das Eine und das Andere, das Eigene und das Fremde
- 2.3 Andere Welten
- 3) Vorgehensweise und Textkorpus
- II) Vom Ding zum Semiophor: Theoretische Hintergründe
- 1) Forschungsüberblick über die Dingtheorie
- 1.1 Material Turn
- 1.2 Das Materielle als interdisziplinäres Thema
- 1.3 Literarische Dinge
- 2) Begriffsentwicklung: Vom Dingsda zum Semiophor
- 2.1 Ding, Objekt, Gegenstand und Artefakt
- 2.2 Semiophor
- 2.2.1 Begriffsklärung
- 2.2.2 Semiophoren in mittelhochdeutschen Erzählungen
- 2.3 Zusammenhang von Aura und Semiophor
- 2.4 Korrelation von Semiophor und Aufgabe
- 2.5 Sichtbarkeit und Macht
- 3) Raum und Semiophor
- 3.1 Grenze und Transgression als Bestandteile der Raumkonstitution
- 3.2 Transformationswege der Bedeutung von Semiophoren
- 4) Figur und Semiophor
- 5) ein dinc, daz hiez der grâl
- Wigalois
- I) Einfluss von Gegenständen auf den Raum
- 1) Bî einer linden er dô sach / ligen einen breiten stein
- 1.1 Sichtbarkeit und Wissen
- 1.2 Differenzierung des Raums, Hierarchisierung der Besten
- 2) Der Raum Korntin
- 2.1 Ein gekrönter lêbart als Schlüssel
- 2.2 Lanze
- II) Einfluss des Raums auf Gegenstände
- 1) Wigalois’ Rüstung als Artefakt einer Anderwelt
- 2) Paradiesischer Anger
- 3) Das Glücksrad als Sonderfall
- III) Transformationswege
- 1) Den gürtel legte er ûf daz sper
- 1.1 Wirkkräfte des Gürtels
- 1.2 Transgression
- 1.3 Der Eigensinn des Gürtels
- 1.4 Transformation
- 2) Vom wunderbar gewürzten Brot zur minnegesteuerten Erinnerung
- 3) Glaube und Wissen – Schwert und Lanze
- 4) Vom zwergischen Artefakt zum bloßen Nutzgegenstand
- 5) Verschwundene Gegenstände
- IV) Die Korrelation von Raum und Semiophor im Wigalois
- Lanzelet
- I) Gegenstände und ihr narrativer Zusammenhang mit Figur und Raum im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven
- II) Zusammenwirken von Raum und Gegenstand
- 1) Die Burg der merfeine
- 1.1 Raumerschaffende Wirkung
- 1.2 Höfische Regelhaftigkeit
- 1.3 Anderweltlicher Raum – höfische Ausstattung
- 2) Schâdil li Mort
- 3) Behforet
- 3.1 Von Schâdil li Mort nach Behforet
- 3.2 Besonderheit des Obstes
- 3.3 Akustische Wirkung der Glocke
- III) Wirkkraft und Funktion von Semiophoren
- 1) Semiophoren aus einer anderen Welt
- 1.1 Lanzelets Schild als Gnorisma
- 1.2 Das Zelt der merfeine
- 1.2.1 Narrative Verbindungsmuster in der äußeren Pracht
- 1.2.2 Semiotik
- 1.3 Mantel
- 1.4 Netz
- 2) Ehrenstein
- 3) Transformationswege
- 3.1 Vom Kampfgegenstand zum Erinnerungssemiophor
- 3.2 Von der Tugendprobe zum Herrschaftssignum
- 3.3 Höfisierung
- 3.4 Von der Dankesgabe zum Gnorisma
- IV) Figuren als Raumöffner
- V) Drachenkuss
- VI) Zusammenhang von Figur und Semiophor im Lanzelet
- Ergebnisse
- I) Sehen und Erkennen
- II) Geschichte und Erinnern
- III) Kontrolle und Macht
- Literaturverzeichnis
- I) Quellen
- II) Forschungsliteratur
- Reihenübersicht
Imagine a world without things. It would be not so much an empty world as a blurry, frictionless one: no sharp outlines would separate one part of the uniform plenum from another; there would be no resistance against which to stub a toe or test a theory or struggle stalwartly. Nor would there be anything to describe, or to explain, remark on, interpret, or complain about – just a kind of porridgy oneness. Without things we would stop talking.1
Sich eine Welt ohne Dinge vorzustellen, so wie es Lorraine Daston im obigen Zitat versucht, zeigt zuvorderst die herausragende Rolle, die Dinge in unserem (Er-)Leben spielen.2 Immer und überall sind wir von Dingen umgeben, bewusst oder unbewusst bestimmen sie unseren Alltag.3 Wir nehmen sie in unterschiedlicher Art und Weise wahr: Dinge können nutzloses Zeug sein, Müll, Gebrauchsgegenstände und ‚Dinge‚ die schon immer da waren‘, oder instrumentelle Dinge, die als Mittel zu einem bestimmten Zweck dienen. Bestimmten Dingen lassen wir besondere Bedeutungen zukommen;4 wir besitzen ‚wertvollen‘ Schmuck und Glücksbringer, Statussymbole und Gegenstände, die unsere Persönlichkeit nach außen hin repräsentieren sollen.5 Da das Materielle jeglicher Art zu unserem Leben gehört, veranlasst es uns nicht nur darüber zu sprechen,6 sondern ← 11 | 12 → auch davon zu erzählen.7 In einem literarischen Text liegen Dinge aber nicht mehr physisch greifbar vor, sie werden zu imaginären Produkten literarischer Sinnbildung.
Orhan Pamuk stellt in seinem Roman „Das Museum der Unschuld“ die Dinge in den Mittelpunkt seiner literarischen Welt. Der Protagonist Kemal verliebt sich unglücklich in Füsun, lange ist ein Zusammenkommen wegen unterschiedlicher Hindernisse nicht möglich. Erst als Füsuns Vater stirbt, können beide zusammenfinden und ihre Liebe ausleben. Kemal plagt nach den entbehrungsreichen Jahren ohne Füsun die Angst, eines Tages ohne seine Geliebte leben zu müssen. Um dem Szenario der Einsamkeit und Trauer irgendwie vorzubeugen, entscheidet sich Kemal dazu, Dinge von Füsun zu sammeln: Gläser, Streichholzschachteln, einen Softdrink, Taschentücher, Eintrittskarten, einen Kamm und vieles mehr. Jeder Gegenstand, der mit seiner Geliebten in Berührung gekommen ist oder an sie erinnert, wird von ihm gesammelt und archiviert. Selbst Gegenstände, die nur kurz und zufällig den Weg von Füsun gekreuzt haben, finden sich in Kemals Sammlung.
[Ich griff] zu einer Teetasse, einer umherliegenden Haarspange, […] oder einem anderen Gegenstand, der mir die Freuden in Erinnerung rief, neben Füsun zu sitzen, oder ich suchte mir aus dem Krempel meiner Mutter etwas heraus, was Füsun einmal berührt hatte und was nach ihr roch, und dann ließ ich vor meinem inneren Auge alle Erinnerungen vorbeiziehen, die mich damit verbanden, und erweiterte so stetig meine Sammlung.8
Auch von Füsun liebgewonnene Gegenstände, wie beispielsweise ihren Lieblingsohrring, entwendet Kemal. Das Kriterium des Aufbewahrens besteht in der Verbindung zu seiner Geliebten, jeder Gegenstand erhält einen individuellen Wert durch die an ihn gebundene Erinnerung und die Situation, in der Kemal ihn in seine Sammlung aufgenommen hat. Auch wenn der Gegenstand für Füsun im Moment des Tragens, Benutzens oder Berührens unwichtig ist, wird er für Kemal wertvoll. Er erhofft sich damit die Aura seiner Geliebten einfangen zu können. Die Gegenstände sollen Füsun nicht ersetzen, sondern sie in ihrer Abwesenheit präsent machen und Kemal die Hoffnung ermöglichen, sie in dieser Form für immer an seiner Seite zu behalten.
Für eine kurze Zeit kann Kemal Füsun auf zweifache Art nahe sein: Durch die Anwesenheit der Geliebten und durch die mit ihr in Verbindung gebrachten Gegenstände. Das Materielle soll hier zudem leisten, was eigentlich unmöglich ← 12 | 13 → ist, es soll Kemals Versicherung sein gegen einen möglichen Verlust von Füsun. Als Füsun und Kemal in einen Autounfall verwickelt werden, tritt der von Kemal schmerzhaft befürchtete Fall ein: Füsun stirbt. Das einzige, das ihm von seiner Geliebten bleibt, sind die Gegenstände, die er über die Zeit hinaus von ihr gesammelt hat. Sie machen Füsun für ihn imaginär wieder präsent und erinnern an sie und die gemeinsam erlebte Liebe. Kemal entscheidet sich, mit ihnen ein Museum im Haus von Füsuns Familie zu errichten.
Als ich danach überlegte, wie ich Leuten, die Istanbul, Nişintaşı und Çukurcuma nicht kannten, von meinen Gefühlen für Füsun berichten konnte, kam ich mir vor wie jemand, der jahrelang in fernen Ländern gelebt hatte. […] Und als könnte ich nun wie ein Anthropologe den dort verbrachten Jahren nur dadurch einen Sinn verleihen, dass ich die angesammelten Dinge, nämlich Küchengeschirr, Schmuckstücke, Kleider und Bilder, in gebührender Weise ausstellte.9
Das ehemalige Familiendomizil wird mit den gesammelten Gegenständen zu einer Stätte der Erinnerung. Kemals Liebe wird so für ihn, aber auch für die Besucher phänomenal erfahrbar, die von ihnen erlebte Geschichte fassbar und lebendig. Die Dinge, denen ein je eigener Sinn durch Kemal zugesprochen wurde, verändern die Wahrnehmung des eigentlichen Familienraums. Das ‚Museum der Unschuld‘ wird zu einem abgeschlossenen Raum mit einer eigenen Zeit. Alles was außerhalb liegt, kann nicht in das Innere dringen, die Zeit scheint darin stehen geblieben zu sein und Füsun immer noch nahbar.
Die Gegenstände werden durch den Protagonisten mit einer je eigenen Geltung und Wertung versehen und treten so in einen neuen Zusammenhang ein. Aus alltäglichen Dingen werden aufgrund der zusätzlichen Bedeutungszuschreibung Gegenstände mit spezifischem Wert. Sobald sie in Kemals Besitz übergehen, werden sie für ihn zu emotional aufgeladenen Erinnerungsgegenständen.10 Die Bedeutungstransformation wirkt sich auch auf das ehemalige Wohnhaus Füsuns aus. Es findet durch den Umgebungswechsel der Sammlung eine Substitution der Ordnungszusammenhänge statt.11 Die Wahrnehmung des Raums, in dem sie nun durch Kemal gesammelt und aufbewahrt werden, ändert sich auf ← 13 | 14 → Figuren- und Erzählerebene. Aus einem Raum des Wohnens und Lebens wird ein Raum des Stillstands und der sichtbar gemachten Erinnerung.12
Orhan Pamuks Roman verdeutlicht einen Zusammenhang von Figur, Raum und Gegenstand. Das Materielle trägt hier maßgeblich zur Sinnbildung der Erzählung bei. Es erfährt eine memorative Semantisierung,13 die die Funktion des Erinnerns, Erfreuens, aber auch des Ermahnens haben kann.14 Der Protagonist versucht mit Gegenständen, denen er eine zusätzliche und damit auch neue Bedeutung zuspricht, seine Liebe greifbar und konservierbar zu machen. Die Gegenstände haben für Kemal Verweischarakter, so werden beispielsweise aus Zigarettenstummeln Insignien der Erotik, die auf den Mund, der sie einstmals berührte, hinweisen. Ihre Sinnerweiterung bestimmt den Umgang der Figuren mit ihnen und die Handlung im jeweiligen Raum.
Was hier an einem Beispiel aus der modernen Literatur gezeigt wurde, lässt sich strukturell ähnlich – aber natürlich mit einer anderen Pointierung und erzählerischen Darstellung sowie unter Berücksichtigung alteritärer Aspekte – auch an Texten vormoderner Erzähltraditionen beobachten. In vielen mittelhochdeutschen Romanen stechen besondere Gegenstände hervor, die mit einem Mehr an narrativer Bedeutung versehen sind. Jedoch zeigt sich, dass diese in der Sinnkonstitution der Texte andere erzähltechnische Funktionen übernehmen. In Pamuks Roman werden die gesammelten Gegenstände fetischisiert und machen Abwesendes, und zwar die tote Geliebte und die für sie empfundene Liebe, für den Protagonisten anwesend und damit berührbar, fühlbar und erlebbar.15 Der Autor profiliert mit ihrer Hilfe den Charakter und die Individualität seiner Figuren. Dagegen ist Individualität, wie bei Pamuk vorausgesetzt, im geringeren Maße und als ganz anders gelagerte Kategorie ein Thema in mittelalterlichen ← 14 | 15 → Texten.16 Im Artusroman benötigen Ritter spezielle Gegenstände, die ihnen das Überleben und die Macht in anderen Welten und das Bestehen sowie die Anerkennung am Hof sichern. In der mittelalterlichen höfischen Literatur geht es also eher darum, sich über bestimmte Gegenstände gesellschaftliches Ansehen zu verschaffen und zu sichern. Es lässt sich zeigen, dass mit diesen besonderen Dingen bestimmte räumliche Strukturen und Übertritte verbunden sind, und das wirft Fragen auf: Kann die Art, wie Figuren mit diesen Gegenständen umgehen, die Darstellung der Räume außerhalb des gewohnten Bereichs des Hofes prägen? Inwiefern zeigen sich fremde Ordnungen am Materiellen bzw. wird der Eigenbereich des Hofes durch den Umgang damit verdeutlicht und konturiert? Können anderweltliche Teilräume durch Dinge als solche erkannt werden und spielt deren Herkunft und Herstellung dabei eine Rolle? Viele Dinge werden dem Helden auf seinem Weg in einen anderweltlichen Raum übergeben oder er erwirbt sie dort. Kann man davon ausgehen, dass diese Dinge Auskunft über eine Anderwelt geben können, ja gewissermaßen in Bezug auf ihre Relevanz, Geltung, Funktion und ihren Sinn an sie gebunden sind? Gelangt etwas aus dem Raum des Fremden in den Raum des Eigenen, den Hof, dann ergibt sich eine besondere erzählerische Spannung, die hier ebenfalls untersucht werden soll. Die Verschiedenheit der anderweltlichen Räume bringt eine dementsprechend große Anzahl an Dingen hervor, die je unterschiedlichen Werteordnungen entspringen und verschiedene Bedeutungsaufladungen aufweisen. Müssen diese Gegenstände dabei aber immer bedeutungsstabil sein oder kann sich bei einem Raumwechsel auch eine Transformation ihrer Geltung, ihres Sinns, ihrer Relevanz und/oder ihrer Funktion vollziehen? Kann sich ihre Sinnzuschreibung verändern, verschieben oder verdoppeln? Wenn man auf diese Weise mit verschiedenartigen Wechselverhältnissen zwischen bedeutungsvollen Gegenständen und anderweltlichen Räumen rechnet, dann ist zudem der Frage nachzugehen, ob jeder Roman für sich einen Katalog des Fremden entwirft und mit je eigenen Gegenständen ausstattet.
Die vorliegende Arbeit möchte das Bezugsfeld von Raum, Gegenstand und Figur in ausgewählten, sogenannten ‚nachklassischen‘ Artusromanen untersuchen und von der Fokussierung auf das Materielle ausgehend die je spezifischen Ausformungen der Anderwelten in den vorliegenden Romanen analysieren. Mit diesem Vorhaben sollen Fragestellungen des spatial turn mit denen des material turn verknüpft und dadurch ein mehrschichtiger Zugang zu dem Phänomen ← 15 | 16 → der Anderwelten in ausgewählten Romanen ermöglicht werden. Mit Hilfe der Trias Raum – Gegenstand – Figur soll die Konstitution solcher anderen Raumkonzepte und ihre Bedeutung für die erzählte Welt genauer beleuchtet werden. Diese Differenzierung soll auch den Blick auf die Konstruktion des Bereichs des Eigenen, des Hofes, ermöglichen. Alle Bestandteile der Trias sollen theoretisch gleichrangig behandelt werden, da sich, so die These, erst in ihrem Zusammenwirken erzählte Welten ausformen.
2) Mit dem Ding in eine andere Welt
Die mediävistische Forschung, die sich mit der Anderwelt beschäftigt, ist kaum zu überblicken. Die damit bezeichneten Sonderräume finden sich weit verbreitet in der Literatur des Mittelalters. Sie kommen nicht nur im Artusroman vor, sondern etwa auch in anderen höfischen Romanen und in der Heldenepik. Die Rede von der Anderwelt hat sich dabei in der Forschung als Selbstverständlichkeit eingebürgert, so dass die Begriffsbildung nur selten reflektiert wird; zumeist wird versucht, damit alles abzudecken, was sich abseits des genuin höfischen Bereichs befindet und andersartig erscheint. Um ein wenig mehr Klarheit in der Begriffsverwendung zu schaffen, werde ich zunächst versuchen zu klären, was allgemein unter Anderwelt in der Forschung verstanden wird.17 Dies kann jedoch keinem Forschungsüberblick gleichkommen, sondern soll eher einen problemorientierten Einblick bieten. Im nächsten Schritt wird versucht, einen hermeneutischen Zugang zu dem Phänomen der Anderwelten über die Oppositionspaare ‚das Eine vs. das Andere‘ sowie ‚das Eigene vs. das Fremde‘ zu finden. Diese Überlegungen sollen eine sensiblere Verwendung des Begriffs des ‚Anderen‘ begründen und die Grundlage für das weitere Vorgehen bilden.
Höfische Helden müssen sich stets als Beste von allen be- und erweisen.18 Es geht darum, „daz sie sich regten deste baz / und ritterschefte pflægen / und sich dâ ← 16 | 17 → nicht verlægen“.19 Ein tatenloses Verweilen am Artushof ohne Ausfahrt, ohne Suche nach âventiure, wird dem höfischen Helden als Schwäche ausgelegt und führt zu einem Verlust an êre, wie man etwa in Hartmanns von Aue Erec sehen kann.20 Wer also als Held am Artushof wahrgenommen werden will, muss aus der Gemeinschaft heraustreten und sich und seine Fähigkeiten außerhalb des höfischen Bereichs unter Beweis stellen;21 dies kann er nur, indem er eine âventiure-Herausforderung annimmt oder nach einer solchen sucht. Âventiure ist in diesem Sinne etwas Außergewöhnliches und Ereignishaftes.22 Die Semantik des mittelhochdeutschen Wortes âventiure umfasst die Bedeutungsoptionen ‚(Zwei)Kampf‘ und ‚Erzählung (davon) / Quelle‘, die beide innerhalb der Artuserzählung zum Einsatz kommen.23 Das Erzählen von âventiure ist ein „unverzichtbares und zentrales Konstitutionsmoment des Hofes“.24 Wenn sie ihn erreicht – wie man sehen wird, im Wigalois und im Lanzelet in je unterschiedlicher Form –, wird eine neue Handlung in Gang gesetzt. Die Doppeldeutigkeit von âventiure auf der Begriffsebene wird somit narrativ produktiv gemacht.25
Die auserwählten Artusritter nehmen die mit der âventiure-Erzählung am Hof zur Erscheinung gekommene Herausforderung an und ziehen aus, um gewaltförmig die Ordnungsstörung aus der Welt zu schaffen. Bei ihrer Rückkehr an den Hof sodann setzen ← 17 | 18 → sie umgekehrt die âventiure-Handlung wiederum in eine höfische âventiure-Erzählung um – und so immer fort.26
Das âventiure-Ereignis und die sogenannte Anderwelt sind eng miteinander verknüpft. In diesem Raum können die Ordnungsstörung und die Bemühungen des Helden um die Wiederherstellung der Ordnung lokalisiert sein.
Zum einen werden Anderwelten über räumliche Begebenheiten identifiziert. Mit dem Terminus ‚Anderwelt‘ ist in diesem Sinne ein Sonderraum abseits des Hofes, außerhalb des höfischen Eigenbereichs gemeint. Sie wird als Abgrenzung zum Bekannten gesehen; viele Texte kennen dabei einen Bereich des Vertrauten und einen Bereich des Unvertrauten, der Abweichung, die sie mit unterschiedlichen literarischen Mitteln kenntlich machen.27
Zum anderen wird in der Forschung die Anderwelt über ihre jeweiligen Normen und Regeln und die damit verbundenen Abweichungen vom Hof bestimmt. Hof und Anderwelt werden dabei als axiologische Gegensätze verstanden. Armin Schulz beschreibt diese paradigmatische Polarität folgendermaßen:
Die aristokratische, höfische, feine, affektkontrollierte, kultivierte Innenseite der arthurischen Welt wird einem unkultivierten, barbarischen, brutalen, naturhaften, nichtaristokratischen, unhöfischen oder höfische Werte pervertierenden Bereich gegenübergestellt.28
Die Anderwelt wird dabei für die Aventiurenritter zu einer Begegnungsstätte mit der „Alterität des Andersseins“.29 Das Wunderbare kann sich hier zu einem eigenen Bereich mit einer eigenen Regelhaftigkeit formieren, die in erster Linie nicht an höfischen Wertmaßstäben ausgerichtet ist.30 Der Bereich des Wunderbaren hat dabei weiche Konturen:
Wo das Wunderbare ist und ob ein Platz in der fiktionalen Welt als anderweltig zu begreifen ist, wird stets vorläufig entworfen, es gilt innerhalb einer Episode einigermaßen verlässlich, kann sich aber im Vor- oder Rückwärtsvergleich anders darstellen. ← 18 | 19 → 31
Auch über spezifische Figurenkonstellationen wird die Anderwelt eingegrenzt. Bewohnt wird sie demnach vornehmlich von mythischen Wesen wie Zwergen, Riesen oder Feen,32 die sich der Kontrolle der ritterlichen Ordnungsmächte, zum Beispiel des Artushofes, ganz oder zumindest bis zum Auftreten des Ausnahmehelden entziehen.33 Feenreiche werden dabei genauso zur Anderwelt gezählt34 wie Jenseits- und Totenreiche.35
Eine Anderwelt wird entweder über ihre räumlichen Kodierungen, die dort herrschenden Regeln und Normen, oder die Zuordnung von Figuren zu erkennen versucht. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass ‚dem‘ Hof ‚die eine‘ Anderwelt gegenübergestellt wird. Ein einheitliches Schema für diesen außerhöfischen Sonderraum kann es aber, gemessen an den unterschiedlichen Ausformungen in den verschiedenen mittelalterlichen Texten, nicht geben.36 Doch was soll überhaupt mit dem Begriff der Anderwelt ausgedrückt werden? Was kann mit einem ‚Anderen‘ gemeint sein und wie unterscheidet sich das ‚Eine‘ von dem ‚Anderen‘, die ‚eine‘ Welt von der ‚anderen‘?
2.2 Das Eine und das Andere, das Eigene und das Fremde
Sprechen wir von etwas ‚Anderem‘, so ist der Bezug zum ‚Einen‘ immer im Sinne einer gegenseitigen Interdependenz mitgedacht.37 Woher soll man wissen, was das ‚Andere‘ ist, wenn das ‚Eine‘ unbekannt ist, von dem eine Abgrenzung stattfinden soll? Und umgekehrt: Das ‚Eine‘ kann nur in Bezug zu einem ‚Anderen‘ gefasst werden. Das thematisierte ‚Eine‘ konturiert sich nicht zuletzt durch seinen ← 19 | 20 → Gegensatz.38 Auf narrative Texte bezogen bedeutet dies, dass Differenzierungen zwischen dem ‚Einen‘ und dem ‚Anderem‘ auf der Ebene des discours und auf der Ebene der histoire vollzogen werden können.
Nach Niklas Luhmann sind Unterscheidungen nicht sinnneutral zu treffen, sondern gehen stets mit einer Präferenz und damit einer Asymmetrie einher.39 Dies trifft auch auf die Differenz zwischen dem ‚Einen‘ und dem ‚Anderen‘ zu. Vom ‚Einen‘ wird das jeweils als anders Wahrgenommene geschieden. Das ‚Eine‘ wird dadurch über das ‚Andere‘ erhoben, von dem aus eine Unterscheidung vollzogen werden kann und soll. Anders gewendet könnte man auch sagen, dass das ‚Andere‘ überhaupt erst einen Zugriff auf die Konstruktion eines ‚Einen‘ ermöglicht.40 Indem unterschieden wird, was als ausgeschlossen gilt, wird gleichzeitig festgesetzt, was als eingeschlossen vorausgesetzt wird.
Sprechen wir also von einer ‚Anderwelt‘, ist darin das Wort ‚Ander‘ mit ‚Welt‘ gekoppelt und zu einem Begriff verbunden. Welt und Anderwelt werden damit zu einer Basisdifferenz. Was in der Beobachterperspektive als privilegierter sozialer Raum beschreibbar ist, konstituiert sich im Artusroman als ‚Hof‘, der sich „räumlich, sozial und ideell über den Ausschluss“ des ‚Anderen‘ definiert.41 Der Blick des Erzählers wie auch die Wahrnehmung des Helden gehen vom Hof aus und führen vom Diesseitigen in das Andere, in das Unbekannte. Der Hof ist der Punkt, von dem aus die Unterscheidung vollzogen wird. Auf der Ebene der histoire wie auch auf der Ebene des discours findet daher eine Differenzierung durch Selbst- und Fremdbezeichnungen statt. Zu dem seine Differenz asymmetrisch fassenden Dual ‚das Eine und das Andere‘ treten die Konzepte des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘– wobei das Letztere nicht mit einer Abwertung verbunden ← 20 | 21 → sein muss –,42 genauso wie das durch Nähe und Ferne geprägte Oppositionspaar ‚Hier‘ und ‚Dort‘.43 Stellt der Hof das ‚Hier‘ dar, wird mit der Beschreibung des außerhalb Gelegenen das ‚Dort‘ gemeint.
Details
- Seiten
- 257
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783631722763
- ISBN (MOBI)
- 9783631722770
- ISBN (PDF)
- 9783653060836
- ISBN (Hardcover)
- 9783631668504
- DOI
- 10.3726/b11164
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (Mai)
- Schlagworte
- Wirnt von Grafenberg Mittelhochdeutsch Ulrich von Zatzikhoven Wolfram von Eschenbach Der Stricker Nachklassischer Artusroman
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 257 S.