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Transgressionen im Spiegel der Übersetzung

Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Maria Krysztofiak-Kaszyńska

von Beate Sommerfeld (Band-Herausgeber:in) Karolina Kęsicka (Band-Herausgeber:in) Małgorzata Korycińska-Wegner (Band-Herausgeber:in) Anna Fimiak-Chwiłkowska (Band-Herausgeber:in)
©2016 Andere 262 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge des Bandes nähern sich dem Phänomen der Transgression im Kontext translatologischer Fragestellungen. Transgressionen werden dabei in mehrfacher Weise konzeptualisiert: als Transzendieren von Kultur- und Wissensgrenzen und Neuverhandlung kultureller Räume, als Ausreizen ästhetischer Normen, Überschreiten von Identitäten, aber auch als Grenzgänge zwischen den Gattungen und Medien. Transgressive Dimensionen werden in der Übersetzung von Dramen (Čechov, Witkacy, Corneille), Lyrik (Leśmian, Różewicz, Mayröcker) sowie in Prosatexten (Twardoch, Wagner) aufgedeckt. Medialen Grenzüberschreitungen wird in Werbetexten und in der Audiodeskription von Filmen und Gemälden nachgegangen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Transgressionen und Übersetzung - Vorwort der Herausgeberinnen
  • Brigitte Schultze - Ein Fremdkörper übersetzt: Kaėtan Kazimirovič Pšechockij in Čechovs Drama na ochote (Drama auf der Jagd) und in polnischer, englischer und deutscher Wiedergabe
  • Rainer Kohlmayer - Charmante Emanzen. Entdeckungen bei der Übersetzung von Pierre Corneilles Jugendkomödien
  • Ewa Makarczyk-Schuster, Karlheinz Schuster - Persönlichkeitserweiterung und Identitätsverlust. Namenskundgabe und -übersetzung in Witkacys Bühnenwelt
  • Krzysztof A. Kuczyński - Max Pinkus und Gerhart Hauptmanns Dramolette über das Schicksal der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus
  • Radegundis Stolze - Übersetzen und Grenzen des Wissens
  • Peter Sandrini - Sprach- oder Kulturgrenzen? Übersetzen für Regional- und Minderheitensprachen
  • Ewa Teodorowicz-Hellman - Das Seminar für Literaturübersetzer an der Hochschule Södertörn
  • Czesława Schatte - Zu ausgewählten Problemen der Übersetzung von Texten der Anzeigenwerbung
  • Karolina Kęsicka - Dimensionen des Transgressiven in der Audiodeskription von Kunstwerken
  • Małgorzata Korycińska-Wegner - Der Voyeur auf der Leinwand. Ein Fall für den Audiodeskriptor
  • Katarzyna Lukas, Andrzej Kątny - Bolesław Leśmians poetische Transgressionen mit Blick auf deutsche Übersetzungen von Karl Dedecius
  • Beate Sommerfeld - „Ich denke in langsamen Blitzen …“ - Lyrikübersetzung als emergenter Vorgang am Beispiel des Gedichts 5. Brandenburgisches Konzert von Friederike Mayröcker und seiner polnischen Übersetzung von Ryszard Wojnakowski
  • Anna Fimiak-Chwiłkowska - Dichtung als private Angelegenheit. Zum Dialog zwischen dem Dichter und seinem(n) Übersetzer(n)
  • Małgorzata Jokiel - Dimensionen der Transgression in Szczepan Twardochs Morfina
  • Maciej Drynda - Zwischen humanem Körpergedächtnis und dem Wahrnehmungsfeld einer Menschmaschine: David Wagners transplantiertes „Leben“
  • Bibliographie der Schriften von Prof. Dr. Maria Krysztofiak-Kaszyńska
  • Zu den AutorInnen
  • Namensregister

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Transgressionen und Übersetzung - Vorwort der Herausgeberinnen

Mit dieser Festschrift zum 70. Geburtstag von Frau Prof. Maria Krysztofiak-Kaszyńska möchten die Herausgeberinnen das Werk der Posener Übersetzungswissenschaftlerin würdigen, die sich in ihren Texten und wissenschaftlichen Aktivitäten ganz dem Überschreiten von Grenzen verschrieben hat. Durch ihr wissenschaftliches Engagement, ihre editorische und translatorische Tätigkeit und nicht zuletzt als Pädagogin sicherte sich Prof. Krysztofiak-Kaszyńska weit über die Grenzen Polens hinaus Anerkennung in den Fachkreisen der Germanistik, Skandinavistik, Komparatistik und Translationswissenschaft.

Der thematische Schwerpunkt der Festschrift knüpft an die Forschungen von Prof. Krysztofiak-Kaszyńska an und soll die in ihren Schriften initiierten Grenzüberschreitungen fortführen. Initialzündung des vorliegenden Bandes war die von der Posener Translatologin ausgehende Anregung, „Kultur und Übersetzung als Transgressionen wahrzunehmen“ (Krysztofiak 2013, 37). Transgressionen werden dabei in vielfältiger Weise konzeptualisiert: In die Übersetzung gehen sie als Überschreitungen sprachlicher, kultureller Grenzen und Neuverhandlung kultureller Räume ein1, aber auch als Ausreizen ästhetischer Normen, Transzendieren von Identitäten, Gattungsgrenzen und Textebenen. Nicht zuletzt werden im vorliegenden Band in Anlehnung an Prof. Krysztofiaks breit angelegte Forschungen Transgressionen im Sinne von Interdisziplinarität ins Spiel gebracht. Gerade in ihren jüngeren Texten plädiert die Forscherin für eine fachübergreifende literarische Übersetzungsforschung als integrative Herangehensweise, die Ansätze von Philosophie, Hermeneutik, Ästhetik und Kultursoziologie miteinander vermittelt (vgl. Krysztofiak 2013, 13). Die im Band versammelten Texte decken so nicht nur ein breites Themenspektrum ab und versuchen die transgressive Dimension von Literatur und Übersetzung auf eine jeweils unterschiedliche Weise zu fassen, sondern nehmen sie darüber hinaus aus der Perspektive unterschiedlicher Forschungsdisziplinen in den Blick.

1.

Den Anfang machen im vorliegenden Band die Beiträge, die Transgressionen im Drama fokussieren. Brigitte Schultze wendet sich in ihrer Studie Ein Fremdkörper ← 7 | 8 → übersetzt: Kaėtan Kazimirovič Pšechockij in Čechovs „Drama na ochote“ (Drama auf der Jagd) und in polnischer, englischer und deutscher Wiedergabe mit Antoni Čechovs Drama na ochote (Drama auf der Jagd) einem bislang weitgehend unbeachteten Werk des russischen Dramatikers zu und untersucht es auf Entgrenzung, Auflösung eingeführter Orientierungsverhältnisse und –muster, Überschreitungen und Hybridität. Im Fokus ihres Beitrags steht die gattungspoetische Anlage zwischen den narrativen Formen roman und povest’ im Verständnis der russischen Tradition, sowie inhaltlich-strukturelle Bezüge zu Prosagenres wie Kriminalroman, Boulevard- oder Sensationsroman sowie Zeitungsroman. Aber auch Bezüge zu zentralen Komplexen der griechischen Mythologie, der Bibel, semantische Folien in der Art von polnischen Autostereotypen und russisch-polnischen Stereotypen, psychologisch und sozialpsychologisch markante Verhaltensmuster im Sinne heutiger Fachwissenschaften werden in Schultzes Analyse als Deutungshorizonte wirksam. Indem die Autorin die deutsche, englische und polnische Übersetzung unter die Lupe nimmt, stellt sie heraus, wie die Überschreitungen – abhängig von den Rezipienten (Russen, Polen, Engländern usw.) – unterschiedliches Gewicht und unterschiedliche Bedeutung erlangen können.

Auch Rainer Kohlmayer untersucht Grenzüberschreitungen im Drama. Sein Beitrag Charmante Emanzen. Entdeckungen bei der Übersetzung von Pierre Corneilles Jugendkomödien fokussiert die transgressive Potenzialität von Corneille’s frühen Komödien, die er in einer die gesellschaftlichen Normen überschreitenden erotischen Offenheit, der emanzipatorischen Autonomie der Frauenfiguren, der Ablehnung der Geldheirat und der in den Komödien proklamierten individuellen Liebenswahl ausmacht. Auch das Übersetzen wird in Kohlmayers Beitrag zum transgressiven Akt - sollen die Texte doch aus ihrem historischen Sprachkostüm von 1630 herausgelöst und mit möglichst gegenwartssprachlicher Eloquenz versehen werden, womit zugleich eine Grenzüberschreitung von philologischer Nachbildung zu einer rhetorischen Renaissance der Figurensprache vollzogen wird. So soll Corneille, der dank Lessing in Deutschland eher das Image eines trockenen Pedanten hat, ein jugendlicheres und menschlicheres Antlitz verliehen werden. Kohlmayers Text stellt zudem beispielhaft die Transgressionen zwischen Translatologie und übersetzerischer Praxis dar, denn Ausgangspunkt der Überlegungen sind die eigenen Corneille-Übersetzungen des Verfassers.

Um Transgressionen im Drama geht es auch im Beitrag des Übersetzerduos Ewa Makarczyk-Schuster und Karlheinz Schuster unter dem Titel Persönlichkeitserweiterung und Identitätsverlust. Namenskundgabe und -übersetzung in Witkacys Bühnenwelt. Die ausgewiesene Witkacy-Kennerin Makarczyk-Schuster geht das Thema der sprechenden Namen in Witkacy’s Bühnenstücken an und weist in ihrer ← 8 | 9 → Übersetzung ins Deutsche in mehrerlei Hinsicht Grenzüberschreitungen nach, die in der Spannung zwischen Persönlichkeitsüberschuss und Persönlichkeitsreduktion situiert werden – einer Spannung, die der Figur zusätzliche Tiefe verleiht. So kann die Dramenfigur entweder in einer expliziten Selbstkundgabe ihre Bühnenpräsenz übersteigen oder aber Aspekte ihrer Persönlichkeit verheimlicht werden. In jedem Fall aber kommt die Benennung der Figuren einem Grenzübertritt gleich, indem sie ein Überschreiten der Innerlichkeit ins Öffentliche hinein bedeutet.

Auch Krzysztof A. Kuczyński schreibt in seinem Text Max Pinkus und Gerhart Hauptmanns Dramolette über das Schicksal der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus über das Überschreiten von Grenzen: Zum einen der Grenze von der privaten Schreibstube in den öffentlichen Raum in der unheilvollen Zeit vor und während des Nationalsozialismus, bei der der Freund und Mäzen Max Pinkus eine nicht unbedeutende Rolle spielte. In seinem Dramolett Die Finsternisse, das Pinkus gewidmet ist, wird darüber hinaus der biografische Kontext auf eine überzeitliche Bedeutung hin geöffnet. Indem der Beitrag die Entstehungsgeschichte von Hauptmanns Dramolett präzise und kenntnisreich nachzeichnet, wird nachvollziehbar, wie sich im persönlichen Schicksal das Schicksal der Juden verdichtet und das Mythische des jüdisch-christlichen Mysteriums Gestalt gewinnt.

2.

Die nun folgenden Beiträge erweitern den translatologisches Diskurs um grundlegende Überlegungen zum Kultur- und Wissenstransfer. Aus einer hermeneutischen Perspektive werden Transgressionen im Beitrag von Radegundis Stolze Übersetzen und Grenzen des Wissens betrachtet, der das Verstehen von Sach- und literarischen Texten als Grundvoraussetzung des Übersetzens ausweist. Sollen Übersetzungen der Vermittlung zwischen Eigenem und Fremdem dienen und dabei Grenzen zwischen Sprachen und Kulturen überwunden werden, sind vom Translator bestimmte Kompetenzen gefordert. Die Autorin wirbt für wirkliches kulturelles Verständnis, die Enkulturation des Übersetzers, denn nur wenn der vorgelegte fremdkulturelle literarische oder spezifische Fachtext aus dem eigenen Weltwissen heraus verstanden wird, kann das transgressive Potential der Übersetzung entfaltet werden und Texte so in einer anderen Sprache neu ausformuliert werden, dass sie von den Lesern wiederum verstanden und weiter verarbeitet werden können. Beim Übersetzen ist daher eine beständige Überschreitung der eigenen Wissensgrenzen vonnöten. Das Transgressive kann aber nur virulent gehalten werden, indem der Translator den eigenen Standpunkt kritisch mitreflektiert.

Um das Überschreiten von Sprach- oder Kulturgrenzen geht es auch im Beitrag von Peter Sandrini Sprach- oder Kulturgrenzen? Übersetzen für Regional- und ← 9 | 10 → Minderheitensprachen, der die Übersetzung für Regional- und Minderheitensprachen problematisiert. Der Aufsatz stellt den spezifischen Status der Übersetzung von Rechts- und Verwaltungstexten innerhalb des Kontextes regionaler sprachlicher Minderheiten heraus, in dem das Überschreiten von kulturellen Grenzen angesichts einer allgemein verbreiteten Sprachkompetenz sowie eines gemeinsamen Kulturraums an Bedeutung verliert. Sowohl beim interdisziplinären Fachübersetzen als auch beim offiziellen und institutionellen Übersetzen werden sprachliche Grenzen zwar immer noch überschritten, doch kann das professionelle Übersetzen in diesen spezifischen Anwendungsfällen nicht allein darauf reduziert werden. Gerade die besonderen sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten werfen ein neues Licht auf die transgressive Verfasstheit der Translation, denn wo Ausgangs- und Zieltext im gleichen Kontext verwendet werden, muss vor allem auch das Überschreiten kultureller Grenzen in seiner Relevanz für die Übersetzung neu überdacht werden. Um die Komplexität der übersetzerischen Transgressionen transparent zu machen und eine operationalisierbare Begrifflichkeit zu entwickeln, bringt der Autor die Faktoren Übersetzungspolitik, Übersetzungskompetenz, Übersetzungsqualität Übersetzungstechnik sowie eine entsprechende Translationspolitik ins Spiel, in deren Rahmen die Übersetzungsarbeit organisiert und geplant wird, um erfolgreich zu sein.

Die grenzüberschreitende Dimension von Übersetzung entfaltet sich nicht zuletzt in der Übersetzerausbildung. Ein besonders eindrückliches Beispiel liefert der Text von Ewa Teodorowicz-Hellman, in dem das Seminar für Literaturübersetzer an der Hochschule Södertörn bei Stockholm dargestellt und in seiner Relevanz für das Überwinden kultureller Grenzen gewürdigt wird. Das dortige, nicht nur in Schweden einzigartige Ausbildungskonzept wird in mehrfacher Hinsicht transgressiv wirksam - zum einen in der Anwendung unkonventioneller Lehrmethoden, zum anderen im Zusammenbringen von Theorie und Praxis. Zudem führt das Experiment von Södertörn in beispielhafter Weise vor, wie die oftmals an Hochschulen anzutreffende Schwellenangst vor dem Ausgreifen universitärer Lehre in den öffentlichen Raum zu überwinden ist.

3.

Die folgenden drei Texte befassen sich mit dem medialen Aspekt übersetzerischer Transgressionen, wobei insbesondere die Grenzüberschreitung von Text und Bild fokussiert wird. Czesława Schatte beleuchtet in ihrem Text Zu ausgewählten Problemen der Übersetzung von Texten der Anzeigenwerbung die Schwierigkeiten der Übersetzung im intermedialen Raum von Text und Bild. In Anlehnung an Krysztofiak plädiert die Autorin für eine Ausweitung der Betrachtungsweise um ← 10 | 11 → mediale und multimediale Inszenierungen literarischer Werke, in denen eine strukturelle Verbindung zwischen Sprache, Bild, Ton und Exposition besteht. In der intermedialen Übersetzung oder transmedialen Translation ist die Arbeit des Übersetzers nicht zuletzt der Medienkultur untergeordnet, womit sie ebenfalls im Horizont einer auf Gebrauchstexte bezogenen funktionalen Übersetzungstheorie betrachtet werden kann. Indem sie strukturelle Analogien zwischen Werbetexten und multimedialen Darbietungsformen der Literatur nachweist, vollzieht die Autorin eine weitere Grenzüberschreitung innerhalb des etablierten Terrains der wissenschaftlichen Disziplinen. Die Übersetzung solcher inszenierten multimedialen Werbetexte fasst sie als eine Re- und Neuinszenierung unter Beachtung anderer soziokultureller Bedingungen und semiotischer Konventionen, bei der eine parallele sorgfältig „geplante Text-Bild-Konstruktion“ mit gleicher kommunikativer Wirkung zustande gebracht werden muss.

Eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert die bereits in der Praxis etablierte, in der Forschung jedoch bisher unterbelichtete Audiodeskription von Kunstwerken. Den Dimensionen des Transgressiven in der Audiodeskription von Kunstwerken wendet sich Karolina Kęsicka zu. Um das „Malen mit Worten“, wie es in der Audiodeskription von Gemälden geschieht, methodologisch verifizierbar zu machen, befragt die Autorin die Kategorien der Semiotik und der Bildwissenschaften, aber auch der kognitiven Literaturwissenschaft, der literarischen Tradition der Ekphrase oder der Neuroästhetik. Ihr Beitrag versteht sich damit als ein Schritt zur Ausleuchtung des „blinden Flecks“ zwischen Text- und Bildwissenschaften.

Auf einem avancierteren Stand ist die Forschung im Bereich der Audiodeskription von Filmen, mit der sich Małgorzata Korycińska-Wegner beschäftigt. Ihr filmästhetisch fundierter Beitrag mit dem Titel Der Voyeur auf der Leinwand von Kieślowski - Ein Fall für den Audiodeskriptor stellt die Komplexität der Bedeutungskonstitution im Film als audiovisuellem Bewegtbild dar. Als konstitutiv für die bildliche Diskursivität des Filmmediums wird in Anlehnung an Bazin die Ästhetik des Off herausgestellt, durch die im Film ein Spannungsfeld zwischen dem Sichtbaren und dem Nicht-Sichtbaren erzeugt werden kann. In diesem beständigen Umspielen der Grenzen des Filmkaders mit jeder Kamerabewegung erblickt die Autorin die eigentliche transgressive Potenzialität des filmischen Bildes. Als Beispiel für das filmisch-voyeuristische Spiel mit der Möglichkeit, jederzeit über den Rahmen der Leinwand hinauszugehen wird Krzysztof Kieślowskis Film Ein kurzer Film über die Liebe herangezogen. Indem sie die bestehenden Guidelines für Audiodeskriptoren auf ihre Adäquatheit für die Beschreibung komplexer filmischer Gebilde abklopft, vollzieht die Autorin zugleich eine Grenzüberschreitung von der Theorie in die Praxis der Audiodeskription. ← 11 | 12 →

4.

Die sich anschließenden Beiträge nehmen den transgressiven Aspekt von Lyrik und Lyrikübersetzung ins Visier. Katarzyna Lukas und Andrzej Kątny erkennen in ihrem Text Bolesław Leśmians poetische Transgressionen mit Blick auf deutsche Übersetzungen von Karl Dedecius in den untersuchten Gedichten auf mehreren Ebenen Grenzüberschreitungen: Erstens greift der Dichter sehr oft das volkstümliche, weltweit bekannte Motiv der Metamorphose auf, zweitens können Leśmians Gedichte im Anschluss an Markowski als Transgressionen im performativen Sinne betrachtet werde, da sie in ihrer Ereignishaftigkeit transgressive Handlungen darstellen. Drittens ist Leśmians poetische Sprache deswegen als transgressiv beschreibbar, weil die für den Dichter so typischen Neuschöpfungen die Grenzen zwischen dem Normkonformen und Normabweichenden verwischen und übertreten. Die Autoren untersuchen das Transgressive von Leśmians poetischer Sprache auf der textinternen Ebene und der metatextuellen Ebene, hier als Trägerin eines (sprach-)philosophischen Konzepts, das dichterische Sprache als Rücknahme der Degradierung von Sprache durch die Zwänge der Mimesis und der Alltagskommunikation in die Pflicht nimmt. Der Beitrag untersucht die Übersetzungen von Karl Dedecius im Hinblick auf die Nachbildung der poetischen Grenzüberschreitungen in der Zielsprache.

Beate Sommerfeld nähert sich in ihrem Beitrag „Ich denke in langsamen Blitzen …“ - Lyrikübersetzung als emergenter Vorgang am Beispiel des Gedichts „5. Brandenburgisches Konzert“ von Friederike Mayröcker und seiner polnischen Übersetzung von Ryszard Wojnakowski aus einer hermeneutischen Perspektive den dichterischen Transgressionen in der Lyrik Mayröckers an. Den Überlegungen wird der Ansatz Wolfgang Isers, insbesondere das in den nachgelassenen Schriften entwickelte Emergenz-Konzept, zugrunde gelegt. Auch hier wird zunächst das poetologisch fundierte Grenzgängertum der Gedichte herausgestellt, um anschließend die Übersetzung als emergenten Vorgang in den Blick zu nehmen. Indem sie ihren Texten die Musik als intermediale Folie zugrunde legt, ‚überschreibt‘ Mayröcker ein Medium, das als transgressives Medium schlechthin gelten kann. Im Translationsprozess werden diese Emergenzen noch einmal gespiegelt, es wird, wie in jedem Leseakt, die im Textsystem angelegte Beziehungsvielfalt auf eine jeweils andere Weise entfaltet, wodurch immer wieder andere Schattierungen der virtuellen Dimension eines Textganzen hervorgebracht werden. Anhand einer Fallstudie zum Gedicht 5. Brandenburgisches Konzert und seiner polnischen Übersetzung von Ryszard Wojnakowski wird untersucht, in wieweit das Translat die intratextuellen und intermedialen Bezüge der Vorlage nachbildet und so ein Zusammenspiel der Textelemente arrangiert, im Zuge dessen das Gedicht sich selbst übersteigt. ← 12 | 13 →

Anna Fimiak-Chwiłkowska folgt in ihrem Aufsatz Dichtung als private Angelegenheit. Zum Dialog zwischen dem Dichter und seinem(n) Übersetzer(n) den Mechanismen des Entstehens eines Literaturkanons. Auch hier kommen Transgressionen als Überschreitungen der Grenzen des bereits Bekannten zum Tragen. Es stellt sich heraus, dass hierbei das subjektive Moment nicht ausgeklammert werden kann, sind doch für die Auswahl der Gedichte sind häufig Faktoren wie persönliche Bekanntschaft oder Freundschaft ausschlaggebend. Als Belege für solcherlei Einflussfaktoren werden Gedichte polnischer Lyriker angeführt, die Übersetzern gewidmet sind.

5.

In besonderer Weise setzt die Erzählprosa ein Flottieren der Signifikanten frei, das Grenzziehungen unterläuft und sich Konzeptualisierungen verweigert. Die in Szczepan Twardochs Roman Morfina zum Tragen kommenden Grenzgänge fokussiert Małgorzata Jokiel in ihrem Text Dimensionen der Transgression in Szczepan Twardochs „Morfina“. Der Begriff wird von der Autorin weit gefasst und umfasst Transgressionen sowohl als Verhandlung und explizite Übertretung von Regeln und Konventionen als auch als ein Überwechseln zwischen kulturellen Territorien oder Zeitebenen und als ein Flottieren zwischen den Sprachen. Aus dieser Perspektive kann zum einen die Überschreitung von ästhetischen wie auch räumlichen, moralischen, sprachlichen und nationalen Grenzen als Grundmuster des Romans ausgemacht und zum andern als translatorisches Problem in den Blick genommen werden. Eine besondere Herausforderung für den deutschen Übersetzer Olaf Kühl liegt in der Mehrsprachigkeit von Twardochs Text – einer dem Roman eingeschriebenen Grenzüberschreitung, die sich als unpassierbare Grenze der Translation erweist.

Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive denkt Maciej Drynda über das transgressive Vermögen der Literatur nach. Sein Beitrag Zwischen humanem Körpergedächtnis und dem Wahrnehmungsfeld einer Menschmaschine: David Wagners transplantiertes „Leben“ erweist den literarischen Text im Wortsinn als „Operationsfeld“, auf dem die Grenzen des Humanen immer wieder aufs Neue verhandelt und überschritten werden. Indem der Text einen Bogen vom Beginn der Neuzeit (Descartes) bis in heutige Zeiten schlägt, lädt er zum Nachdenken ein über den Status des Menschlichen zwischen einem mechanisierten und forciert optimierten Leben und animalischem Dasein, das von primären Instinkten geleitet wird. Nur in der Selbstreflexion kann diese der ‚menschlichen Natur‘ eingeschriebene Hybris überwunden werden – allerdings um den Preis einer brüchigen und transitorischen Identität. ← 13 | 14 →

Details

Seiten
262
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (PDF)
9783653060232
ISBN (MOBI)
9783653957075
ISBN (ePUB)
9783653957082
ISBN (Hardcover)
9783631668337
DOI
10.3726/978-3-653-06023-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Translationswissenschaft Übersetzungskritik Grenzüberschreitung Übersetzungstheorie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 262 S.

Biographische Angaben

Beate Sommerfeld (Band-Herausgeber:in) Karolina Kęsicka (Band-Herausgeber:in) Małgorzata Korycińska-Wegner (Band-Herausgeber:in) Anna Fimiak-Chwiłkowska (Band-Herausgeber:in)

Beate Sommerfeld, Karolina Kęsicka, Małgorzata Korycińska-Wegner und Anna Fimiak-Chwiłkowska sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Komparatistik und Theorie der literarischen Übersetzung am Institut für Germanische Philologie der Universität Poznań (Polen).

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Titel: Transgressionen im Spiegel der Übersetzung