Randzonen des Willens
Anthropologische und ethische Probleme von Entscheidungen in Grenzsituationen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Vorwort
- Thorsten Moos, Christoph Rehmann-Sutter, Christina Schües - Zur Analyse des Willens an seinen Randzonen
- I. Beschreibungshinsichten
- A) Der Wille aus der Perspektive der Ersten Person
- Thomas Fuchs - Wollen können. Wille, Selbstbestimmung und psychische Krankheit
- Gertrud Nunner-Winkler - Wissen und Wollen beim Kind und in der Nähe des Todes
- Christoph Rehmann-Sutter - „Ich möchte jetzt sterben.“ Über Sterbewünsche am Lebensende
- Diana Tietjens Meyers - Psychokorporeität, autonomer Wille und Lebendorganspende
- B) Systemstellen des Willens
- Gesa Lindemann - Die kommunikative Konstruktion des verkörperten Willens
- Adrian Schmidt-Recla - Das Recht als Willensgenerator. Juristische Konstruktionen zu Wille und Wollen
- Manuel Trachsel, Tanja Krones, Verina Wild - Zwangsernährung oder palliative care bei chronischer Anorexia nervosa? Behandlungsstrategien aus medizinethischer Sicht
- C) Praktiken des Willens
- Thorsten Moos - Wollen machen. Die Rolle von Klinikseelsorgenden in Praktiken des Willens
- Cheryl Mattingly - ‚Der Wille‘ als eine verkörperte, soziale und narrative Praktik
- Monica Heintz - Der Wille in Fällen moralischer Devianz. Auf dem Wege zur Neueinschätzung eines vernachlässigten Begriffs?
- II. Entscheidungskonstellationen
- A) Die Gewebespende Minderjähriger
- Matthias Eyrich - Praxisbericht
- Christina Schües, Alexander Bagattini, Gertrud Nunner-Winkler - Kommentare
- Thorsten Moos - Zusammenfassung der Diskussion
- B) Willensäußerungen dementiell Erkrankter
- Ralf J. Jox - Praxisbericht
- Christoph Rehmann-Sutter, Theda Rehbock, Adrian Schmidt-Recla - Kommentare
- Christina Schües - Zusammenfassung der Diskussion
- C) Informierte Einwilligung bei klinischen Studien
- Kurt Racké - Praxisbericht
- Bert Heinrichs, Simone Aicher, Theda Rehbock - Kommentare
- Christoph Rehmann-Sutter - Zusammenfassung der Diskussion
- Thorsten Moos, Christoph Rehmann-Sutter, Christina Schües - Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen
- Personenverzeichnis
- Autorenverzeichnis
Vorwort
Kinder, die in die Teilnahme an Studien oder in die Durchführung medizinischer Maßnahmen einwilligen sollen; Menschen am Lebensende, die sich zu anstehenden Therapieentscheidungen nicht mehr klar artikulieren können, und deren mutmaßlicher Wille ermittelt wird; psychisch Kranke, die sich gegen eine Behandlung zur Wehr setzen, aber als nichteinwilligungsfähig gelten; potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer klinischen Studie, die durch deren Komplexität überfordert sind, aber gleichwohl ihren informed consent leisten sollen – die Medizin führt Menschen in Grenzsituationen, in denen ‚ihr Wille‘ in vielerlei Hinsichten problematisch ist. Dieser Band untersucht anthropologische, psychologische, rechtliche und ethische Probleme des Willenskonzepts. Er fokussiert bewusst auf die „Randzonen“, in denen nicht klar ist, was ein Wille ist und ob eine Willensäußerung vorliegt; denn dort wird besser als in seinen Kernzonen sichtbar, was Idee und Praxis des Willens leisten und was sie verdecken. Bei näherer Betrachtung der Erfahrungen und Phänomene, die wir mit dem Wort Willen benennen, entpuppt sich die anthropologische Figur des Willens als in keiner Weise selbstverständlich. Daraus ergeben sich eine Reihe neuer Fragen zur Problematik des Entscheidens und der Einwilligung in Grenzsituationen.
Die Beiträge zu diesem Band gehen zurück auf das internationale Symposion „Randzonen des Willens. Entscheidung und Einwilligung in Grenzsituationen der Medizin: Anthropologie, Psychologie, Recht und Ethik“ in Hannover (Herrenhausen) vom 2. bis zum 5. April 2014, das von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Institut für interdisziplinäre Forschung, Heidelberg (Dr. Thorsten Moos) und dem Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung (IMGWF), Universität zu Lübeck (Prof. Dr. Christina Schües und Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter) veranstaltet und von der VolkswagenStiftung finanziert wurde. Mehr als 40 Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen aus dem In- und Ausland verhandelten über die Konzeption von Willen, Entscheidung und Einwilligung. Philosophische Ausführungen über Wünschen und Wollen, soziologische oder kulturelle Analysen über kommunikative Willenskonstruktionen, juristische Erörterungen über das Verhältnis von Recht und Willen oder psychologische Einsichten in Willensbildungsprozesse wie Falldiskussionen aus ethisch brisanter medizinischer und psychiatrischer Praxis trugen bei zur Klärung der Grundfrage nach dem Umgang mit dem Willen in medizinischen Grenzsituationen wie auch zur Prüfung der These, dass sich aus diesen „Randzonen des Willens“ etwas über die Anthropologie des Willens im Allgemeinen lernen lässt. ← 9 | 10 →
Neben Vorträgen, Kommentaren und Diskussionsbeiträgen wurden auf der Tagung auch Poster präsentiert, in denen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ihre Forschung zum Thema vorstellten. Da diese in einem Buch nicht sinnvoll reproduziert werden können, sind sie stattdessen im Internet unter http://www.fest-heidelberg.de/index.php/arbeitsbereiche-und-querschnittsprojekte/religion-recht-und-kultur?id=312 abrufbar.
Wir danken herzlich den Teilnehmenden, Referentinnen und Referenten der Tagung, die durch ihr Engagement in Wort und Schrift diesen Band möglich gemacht haben. Den Übersetzerinnen der englischen Beiträge, Dr. Ilse Tödt (Heidelberg) und Angelika Oppenheimer (Hamburg), danken wir für die klare und einsichtsvolle Übertragung der Texte ins Deutsche.
Ebenso danken wir der VolkswagenStiftung für die großzügige Förderung und insbesondere Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig, Silke Aumann, Margot Jädick-Jäckel und Tina Walsweer für die hervorragende Kooperation und die Begleitung der Tagung. In der FEST haben Anke Muno und Dorothea Kumpf die Tagung mit großem Engagement organisatorisch ermöglicht, Nina Grube, Philipp Offermann und Simeon Prechtel haben diesen Band redaktionell betreut. Schließlich danken wir Herrn Dr. Benjamin Kloss und Andrea Kolb vom Lang-Verlag für die gute Betreuung der Publikation.
Heidelberg und Lübeck, im Oktober 2015
Thorsten Moos, Christoph Rehmann-Sutter, Christina Schües
Zur Analyse des Willens an seinen Randzonen
Die Geschichte des Willens in der Medizin ist eine Erfolgsgeschichte. Der Patientenwille hat in Abwehr eines ärztlichen Paternalismus immer stärker Berücksichtigung gefunden und ist sowohl in der ärztlichen Ethik wie auch im Medizinrecht fixiert. Es gilt als Recht der Patientinnen und Patienten, dass ihr Wille in ihrer Behandlung Gehör und Befolgung findet. Dasselbe gilt für Teilnehmende klinischer Studien. Eine medizinische Maßnahme gegen den ausdrücklichen Willen der oder des Betroffenen gilt als strafbare Körperverletzung, auch wenn sie zur Gesundheit oder sogar zum Überleben beiträgt. In der Einbeziehung des Patientenwillens bei der Entscheidung über eine medizinische Maßnahme wird der Respekt für die Autonomie der zu Behandelnden realisiert.1
Es ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass die Kategorie des Willens im zunehmenden Maße auf Personengruppen erweitert wird, die vorher als Nichteinwilligungsfähige allein Objekt der Entscheidung Anderer waren. Dies gilt zum einen für Patientinnen und Patienten, die, etwa bei Therapien am Lebensende, nicht mehr fähig sind, sich zu äußern. Um das Therapiegeschehen dennoch an ‚ihrem Willen‘ auszurichten, sind in jüngerer Zeit in Rechtsprechung und Gesetzgebung zwei Instrumente etabliert worden: die proleptische Niederlegung ‚des Willens‘ in einer Patientenverfügung, sowie, falls eine solche nicht vorliegt oder nicht einschlägig ist, die Ermittlung des ‚mutmaßlichen Willens‘ der Patientin in der Kommunikation zwischen Behandelnden, Angehörigen und Betreuern.
Noch weitergehend sind die Ausweitungen des Willenskonzeptes, die derzeit diskutiert werden. Sie beziehen sich auf den aktualen Willen von in rechtlichem Sinn als nichteinwilligungsfähig geltenden Menschen, der gleichwohl im medizinischen Kontext Beachtung finden soll: In Entscheidungen, die sie höchstpersönlich betreffen, sollen etwa Kinder und Jugendliche im Maße ihrer Einsichts- und ← 11 | 12 → Selbstbestimmungsfähigkeit einbezogen werden. Dies ist insbesondere der Fall bei Entscheidungen über Therapien am Lebensende, bei der Teilnahme an Forschungen oder der Spende von Blut oder Gewebe. Neben das Kindeswohl tritt immer deutlicher der Kindeswille.2 Auch die Selbstbestimmung Demenzkranker – vor einiger Zeit behandelt vom deutschen Ethikrat3 – und psychisch kranker Menschen, deren Zwangsbehandlung jüngst vom BGH untersagt und dann vom Gesetzgeber neu geregelt wurde,4 sind in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten.
Die hinter diesen Erweiterungen des Willenskonzeptes stehende Intention, die Würde auch von bisher als nicht einwilligungsfähig klassifizierten Patienten- und Probandengruppen zu achten, ist in hohem Maße begrüßenswert. Gleichwohl zeigen sich hier einige gravierende anthropologische und ethische Probleme des Willensbegriffs. Denn es ist in keiner Weise selbstverständlich, in welchen Lebenslagen begründet von einer „freien“ – das heiße hier zunächst nichts anderes als: für die Findung und Rechtfertigung einer Behandlungsentscheidung belastbaren – Willensbildung gesprochen werden kann, und wo dies eben nicht (mehr) der Fall ist. Anders als in der rechtlichen Zu- und Aberkennung von „Einwilligungsfähigkeit“ vorausgesetzt,5 dürfte hier gerade nicht eine binäre Merkmalsalternative (liegt vor – liegt nicht vor), sondern eine graduelle, kontextsensitive ← 12 | 13 → und zudem zeitliche Variabilität einbeziehende Beschreibung angemessen sein. Daher schließt sich sofort die Frage nach den sozialen und institutionellen Voraussetzungen und Hemmnissen einer belastbaren Willensbildung an.
Solche anthropologischen und ethischen Probleme des Willenskonzepts sind keineswegs nur auf spezifische Gruppen von bedingt einwilligungsfähigen Patienten und Teilnehmenden an Forschungen beschränkt, auch wenn sie bei diesen Personen besonders deutlich hervortreten. Auch dann, wenn klinische Situationen Betroffene stark belasten oder überfordern (z. B. bei Entscheidungen über Operationen und Behandlungen in der Situation von Angst und existenzieller Verunsicherung, aber auch bei der Einwilligung in genetische Tests und/oder klinische Studien), ist zu fragen, inwieweit hier begründet von einer selbstbestimmten Willensbildung gesprochen werden kann. Das Willenskonzept kommt also nicht erst dann an seine Grenze, wenn es um die Ränder selbstbestimmten Lebens geht (etwa in der Kindheit/Jugend oder bei Altersdemenz); vielmehr droht eine situative Überlastung auch bei unzweifelhaft als einwilligungsfähig eingestuften Personen. In diesem doppelten Sinne werden im vorliegenden Band die anthropologischen und ethischen Aspekte des Willens an seinen Randzonen im Kontext medizinischer Entscheidungssituationen untersucht und interdisziplinär diskutiert. Folgende Entscheidungskonstellationen stellen – neben anderen – in diesem Sinne Randzonen des Willens dar:
A. Der Wille von Kindern soll etwa dann beachtet werden, wenn sie als gewebespendende Geschwister oder als Teilnehmende an Medikamentenstudien vorgesehen sind. Neben das Kindeswohl tritt, auch bei jüngeren Kindern, der Kindeswille.
B. Die rechtlichen Instrumente der Patientenverfügung und des „mutmaßlichen Willens“ wurden etabliert, um die Berücksichtigung des Patientenwillens auch dann zu ermöglichen, wenn Patienten ihren Willen nicht mehr klar artikulieren können. Gleichwohl kann ein vorab verfügter Wille zum Behandlungsabbruch, etwa bei Demenzkranken, mit aktualen Äußerungen des Lebenswillens in Konflikt kommen.6
C. Wenn potentielle Probanden in medizinischen Forschungsstudien ihre Einwilligung in die Teilnahme geben (informed consent), so ist nicht nur die Studie ← 13 | 14 → oftmals so komplex, dass sie für Laien kaum zu durchschauen ist. Vielmehr sind Studien zunehmend auch mit Unsicherheiten hinsichtlich noch unbekannter Implikationen des in ihnen generierten Wissens (etwa über das Genom des Probanden) behaftet.
Die Frage nach den Randzonen des Willens hat deskriptive und normative Momente. Deskriptiv gilt es, die ‚Praxis des Willens‘ in den genannten Fällen präzise zu beschreiben. Soziologische und entwicklungspsychologische Aspekte gehen hier ebenso ein wie der historische und medizinanthropologische Blick auf das Praxisfeld der Klinik sowie Aspekte des geltenden Rechts und des ärztlichen Standesrechts. Dabei sind insbesondere die Kontexte der Beratung und Aufklärung, des Umgangs mit professionsspezifischem Wissen, der Entscheidungsfindung sowie der sozialen Einbindung der Betroffenen zu berücksichtigen. Normativ ist zu fragen, mit welchen Gründen und in welchen Grenzen Behandlungsentscheidungen in den genannten Konstellationen auf den Patientenwillen gestützt werden können. Inwieweit ist die Zuschreibung des Willens, inwieweit sind die Praktiken der Willensermittlung angemessen, und wo müssen diese ergänzt oder ersetzt werden? Insbesondere ist zu fragen, welche spezifischen Beziehungs- und Verantwortungskonstellationen zu berücksichtigen sind, wenn belastbar vom Willen des Einzelnen gesprochen werden soll. Es ist also die alte Frage nach der Freiheit des Willens, die angesichts neuerer Entwicklungen in der Medizin und einer sich wandelnden Aufmerksamkeit für die Belange verwundbarer Patientengruppen neu gestellt werden muss.
I. Deskription
Der Wille ist eine komplexe anthropologische Konfiguration. Die Willensbegriffe der philosophischen Tradition sind hoch voraussetzungsreich und wenig konsensfähig;7 keiner von ihnen soll für das Folgende normativ vorgegeben werden. Vielmehr kommt es darauf an, einen heuristischen Zugang zu finden, der deskriptive und normative Perspektiven auf das Thema zueinander ins Verhältnis setzt und geeignet ist, als interdisziplinäre Plattform verschiedenste Disziplinen einzubinden. Zu diesem Zweck liegt der Konzeption dieses Bandes ein heuristisches Schema von drei Beschreibungshinsichten zugrunde, unter denen der Wille ← 14 | 15 → zunächst deskriptiv in den Blick genommen wird. Jede der drei Beschreibungshinsichten erfordert die Einbeziehung mehrerer Disziplinen; das gewählte Thema führt mithin von selbst auf einen interdisziplinären Zugang. Damit geht einher, dass in den drei Beschreibungshinsichten unterschiedliche, zum Teil kategorial differente Voraussetzungen impliziert sind. Sie führen denn auch zu Ergebnissen, die nicht ohne Weiteres in ein bruchloses Gesamtbild des Willens zusammenfließen. Wie diese aufeinander bezogen werden können, wird im Anschluss zu diskutieren sein. Die drei Beschreibungshinsichten, nach denen auch der erste Hauptteil des vorliegenden Bandes strukturiert ist, sind: A) Die Erste-Person-Perspektive, B) die Systemstelle des Willens und C) die Praktiken des Willens.
A) Die Erste-Person-Perspektive: Was Willen ist, erschließt sich zunächst aus der Selbstbetrachtung. Dass ein Mensch fähig ist, auf unterschiedliche, ihn in verschiedene Richtungen drängende Strebensmomente zu antworten8 und diese von sich aus zu einem einzigen, gerichteten Willensentschluss zu bündeln, der aus dem Raum möglicher Handlungsoptionen eine herausgreift, zu deren Realisierung ansetzt und ihn damit zum Urheber einer Handlung macht, ist das Grundphänomen des Willens aus der Perspektive der ersten Person. Erst nach der klassischen griechischen Philosophie entwickelt sich die Einsicht, dass mit dieser Fähigkeit zum Entschluss ein von Gefühl und Neigung, aber auch von vernünftiger Abwägung zu unterscheidendes Vermögen vorliegt.9 An dieser Stelle setzt etwa die subjektivitätstheorische Rekonstruktion des Willens bei Immanuel Kant an; aber auch entwicklungspsychologische Forschungen zur Genese des Willens oder theologische Reflexionen zu den Selbstverstrickungen des Wollens beziehen sich auf diese Erste-Person-Perspektive.10
Immanuel Kant und John Locke haben die Willensfreiheit als anthropologisches und ethisches Phänomen verstanden. Nach Locke „besteht die Freiheit also darin, daß wir imstande sind, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem wie wir wählen oder wollen“.11 Handlungsfreiheit in diesem Sinn ist Voraussetzung für die moralische ← 15 | 16 → Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Man kann jemanden für sein Handeln nur verantwortlich machen, wenn man davon ausgehen kann, es läge an der handelnden Person und ihrer Eigenständigkeit, ob sie eine bestimmte Handlung unternimmt oder nicht. Im Unterschied zur Handlungsfreiheit definierte Kant die Willensfreiheit in der Kritik der reinen Vernunft als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“.12 Das Vermögen, von unseren Sinnen und Begehren zu abstrahieren, ermöglicht es, nach Gründen der Vernunft zu handeln. Die anthropologische Beobachtung, dass der Mensch Wünsche und Begehrlichkeiten suspendieren kann, um zu beurteilen, inwieweit sie als Handlungsmotiv gut sind, macht die Willensfreiheit zum zentralen Anker für Einwilligung und Entscheidung im ethischen Verantwortungszusammenhang. Auch Locke betonte die Fähigkeit der Menschen, vor Handlungen innezuhalten und zu überlegen, was man in einer bestimmten Situation tun solle, und welche Alternative und Gründe für die eine oder andere Entscheidung sprechen könnten. An die von Locke und Kant beschriebene Suspendierung und Sondierung von Wünschen hat Harry Frankfurt mit seiner Unterscheidung von Volitionen (volitions) erster und zweiter Ordnung angeschlossen.13 Dieser „voluntaristische Selbstbezug“14 des Menschen, in dem man die Willensfreiheit verorten kann, verdankt sich einerseits der Fähigkeit, bessere Argumente zu finden, eigene Motive zu überdenken, eventuell die Wünsche anderer Menschen einzubeziehen und nach vernünftigen Gründen zu handeln, und andererseits dem Zukunftsbewusstsein und einem auf das persönliche Wohl gerichteten Wunsch, diese Zukunft zu gestalten.
Einen etwas anderen Ausgangsort haben die Verantwortungsethiken des 20. Jahrhunderts. Die Möglichkeit der Nichtexistenz, der Auslöschung der Erde durch unumkehrbare, alles zerstörende Handlungen, ist der Grund des Sollens. Es ist ein Sollen, das Hans Jonas in Analogie zum Kant’schen Kategorischen Imperativ formuliert: „Handle so, dass die Wirkung deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!“15 Es sind die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher und biologischer Existenz, die handlungsorientierend werden. An die Stelle von Kants Gedankenexperiment der Verallgemeinerung der eigenen Maxime zur Prüfung der Universalität einer moralischen Pflicht durch die logische Widerspruchsfreiheit eines freien Willens tritt bei Jonas die konkrete Universalität einer realen Verträglichkeit mit einer für die Zukunft vorgestellten Existenz. Somit verbindet er Kants Theorie der Möglichkeit eines guten Willens mit der Idee der Folgekalkulation eines Mill’schen Utilitarismus. Verantwortung wird aber nur übernommen, wenn der Wille ← 16 | 17 → konkret ausreicht, um sich motiviert der (globalen) Verantwortung zu stellen. Damit wird neben dem Problem der Bestimmtheit des Willens das Problem der Motivation zum Kernproblem von Anthropologie und Ethik.
Für die Behandlung des Willens in der Psychologie sind Wilhelm Wundts Analysen des „Willenserlebnisses“ grundlegend geworden.16 Unter dem Stichwort der „Volitionspsychologie“ werden kognitive, emotionale und motivationale Prozesse der Realisierung einer Handlung untersucht.17 Aus der Entwicklungspsychologie sind die klassischen Studien zur Entwicklung des moralischen Urteils und des Moralbewusstseins zu nennen,18 die zwar vielfach kritisiert worden sind, aber deren Programm für die Frage nach den Randzonen des Willens insbesondere bei Kindern und Jugendlichen unverzichtbar ist.19 Carol Gilligan und die Care-Ethik kritisieren zwar die Annahmen, die hinter der Kohlberg’schen Messskala stehen, aber nicht den Forschungsansatz selbst. Damit ist eine der fruchtbarsten Grundsatzdebatten der philosophischen Ethik der letzten Jahrzehnte ausgelöst worden, die gezeigt hat, dass sich die anthropologischen Voraussetzungen des Willensverständnisses und die Entwicklung des Moralbewusstseins nicht getrennt voneinander diskutieren lassen.
Aus der Medizinsoziologie der letzten Jahre sind eine Reihe von Studien zur Soziologie und Anthropologie von schwierigen Entscheidungen und Willensbildung entstanden, die weit über die Medizin hinaus von Bedeutung sind. Es wird deutlich, dass Patienten/-innen, Angehörige, Pflegende und Ärzte/-innen hochgradig kontextuell entscheiden und in diesen Entscheidungen und Willensbildungen oft den Erwartungen, die von einer rationalistischen Moralphilosophie (in Gestalt des Kantianismus und Utilitarismus) geäußert werden, nicht entsprechen.20 Es entsteht das Problem, ← 17 | 18 → wie die Theorie des guten Willens (die Ethik) mit der Praxis des Willens überhaupt vermittelbar ist.
Für die Theologie ist der Wille immer eine der wichtigsten Kategorien gewesen, menschliche Endlichkeit und Relationalität zu reflektieren. So gelten Begriff und Problem der Willensfreiheit in der Neuzeit eher als theologisches denn als philosophisches Erzeugnis.21 Die Konkurrenz zwischen dem menschlichen und dem (diesen begrenzenden) göttlichen Willen in der Gotteslehre, die Kritik eines selbstsüchtigen Willens in der Sündenlehre,22 der Begriff der Theonomie im Gegenüber zur menschlichen Autonomie23 oder auch die Parallelisierung von Individualität und Sozialität sowie der Begriff der Kultur in der theologischen Ethik24 sind klassische theologische Orte, an denen Probleme und Aporien des Willens behandelt werden. Viele Aspekte dieser Lehrstücke sind vormodernen Ursprungs und müssen entsprechend transformiert werden, beinhalten dann jedoch durchaus Einsichten, die anthropologisch, ethisch und rechtlich von Belang sind. Das gilt etwa für die klassischen Auseinandersetzungen um die Freiheit des Willens, wie sie Augustinus gegen Pelagius und Luther gegen Erasmus von Rotterdam geführt haben.25 Auch die weniger bekannte Auseinandersetzung zwischen Nikolaus Graf Zinzendorf und John Wesley gehört in diese Reihe.26 Gerade die letzte Auseinandersetzung lässt sich heute rekonstruieren als Gegenüberstellung eines empirisch orientierten Konzepts von Autonomie, das Abstufungen sowie Entwicklungsmöglichkeiten kennt, und der Zuschreibung eines autonomen Willens, die – wie später Kant gezeigt hat – mit der Logik von Abstufungen nicht verträglich ist und daher kontrafaktisch sein muss. Aus den genannten Auseinandersetzungen wird deutlich, dass sich die Theologie keinesfalls immer auf die Seite der Unfreiheit des menschlichen Willens geschlagen, aber versucht hat, die Aporien des endlichen Willens aus der Perspektive der Ersten Person präzise zu formulieren27 ← 18 | 19 → und insbesondere den Willen des Menschen in den Kontext der „historisch determinierten Wirklichkeit des Religiösen, Kulturellen und Sozialen“ zu setzen.28
B) Die Systemstelle des Willens: Von der Ersten-Person-Perspektive zu unterscheiden ist die Funktion, die der Wille im Recht bzw. im Medizinsystem erhält. In der Berücksichtigung des Willens des Einzelnen (d. h. hier: des „fremden“ Willens) wird dessen unhintergehbarer Subjektqualität Rechnung getragen. Wer wollen kann, hat einen Anspruch darauf, dass sein Wollen beachtet wird. Gleichzeitig wird Verantwortung zugewiesen. Wer sich aus freien Stücken und in Kenntnis der Konsequenzen für etwas entschieden hat, kann dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden. Dass es bei Behandlungsentscheidungen neben der medizinischen Indikation und der ärztlichen Kunst auf den Patientenwillen ankommt, bezieht also den Patienten als eigenständiges Subjekt in ärztliche Abläufe ein und entlastet gleichzeitig die Behandelnden, die die letzte Entscheidung über eine Therapie nicht selbst fällen müssen. Hier sind die Verschiebungen und Ausweitungen der Systemstelle des Willens in der jüngeren Zeit soziologisch, juristisch wie medizinethisch in den Blick zu nehmen.
Die Herausbildung willensförmiger Selbstbestimmung ist, wie etwa Richard van Dülmen gezeigt hat, mit der Sozialgeschichte neuzeitlicher Individualität unmittelbar verbunden. Die Einsicht, dass nicht mehr ein und dasselbe für alle gut ist, und die zunehmende Begründungsbedürftigkeit von Verfahren der Handlungskoordination sind Manifestationen selbstbewusster Bürgerlichkeit.29 Dies findet seinen Reflex im medizinischen Feld: Je ausgeprägter die Individualisierung und Pluralisierung wurde, desto deutlicher wurde die Systemstelle des Willens ausgestaltet und damit Entscheidungskompetenz und Verantwortung von der Position des Behandlers auf den zu Behandelnden übertragen.
Dies ist nicht unwidersprochen geblieben. In den vergangen zwei Jahrzehnten wurden die Diskussionen um den Patientenwillen in der Medizinethik vor allem um den Begriff der Autonomie geführt.30 Dabei ist vielfach Kritik an einem isolierten und kognitivistisch verengten Konzept von Autonomie laut geworden. Unter dem ← 19 | 20 → Stichwort „relationale Autonomie“ wurden insbesondere die sozialen Voraussetzungen individueller Autonomie thematisiert.31 Doch sind dabei die konkreten sozialen Orte „autonomer“ Einwilligung und Entscheidung in der Medizin zu wenig in den Blick gekommen. Insbesondere die Empirie der organisationalen Umsetzung von Einwilligungsprozessen ist hier eingehender zu analysieren.32
Im deutschen Medizinrecht hat hinsichtlich des Patientenwillens in jüngerer Zeit seinerseits eine Individualisierungsbewegung stattgefunden: Die Änderung des Betreuungsrechts im Patientenverfügungsgesetz33 von 2009 hat das bislang gültige Schema der substitutiven Ermittlung des Patientenwillens an entscheidender Stelle modifiziert: Wenn der Patient nicht einwilligungsfähig ist, eine Patientenverfügung nicht vorliegt und keine Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen gegeben sind, war früher entsprechend „allgemeinen Wertvorstellungen“34 zu handeln. Diese Konstruktion eines vernünftigen allgemeinen Willens ist nun aufgegeben, sodass in diesem Falle nur noch die Auffangbestimmung „in dubio pro vita“ greift.35. Höchstpersönliche Entscheidungen über Behandlungsoptionen sind, so die dahinterstehende Überzeugung, so individuell, dass von einer allgemein geteilten Position nicht mehr ← 20 | 21 → ausgegangen werden kann. Der Wille wurde gleichsam aus einem Gegenkonzept zu der Kantischen Position gefunden: Als „frei“ im Sinne von „normativ belastbar“ gilt der Wille nicht erst dann, wenn er auf allgemeinen Gründen ruht.
Im Kontext der Regelung von Patientenverfügungen ergeben sich hieran anschließend eine Reihe von Fragen, die geklärt werden müssen: In welchem Verhältnis steht das ärztliche Urteil, das die Aspekte Lebensverlängerung und Lebensqualität integriert, zur früher gefällten Entscheidung des Patienten, seinen Willen im Voraus zu verfügen oder nicht? Ist die alte Rechtsfigur des „vernünftigen allgemeinen Willens“ ganz verloren gegangen, oder kommt sie in der hypothetischen Zuschreibung dessen, was für einen Patienten „wünschbar“ ist, wieder vor? Wie kann überhaupt von einem mutmaßlichen „Willen“ gesprochen werden, wenn er aktuell nicht besteht? Um welche Konfiguration von Zuschreibung handelt es sich dabei?36
C) Die Praktiken der Willensformung: Der Wille wird in differenzierten institutionellen Arrangements und Prozeduren einzelnen Individuen zugeschrieben. Prozeduren der Aufklärung, der Beratung und der Kommunikation, versehen mit spezifischen Zeitregimes, eingebettet in Dokumentationssysteme und in die räumliche Topografie einer Klinik oder Arztpraxis – es sind hochkomplexe Praktiken, die sich insbesondere dem medizinanthropologischen Blick zeigen.37 Die Perspektive der Praktiken unterläuft das traditionelle Gegenüber handlungstheoretischer und strukturalistischer Ansätze in den Sozialwissenschaften;38 damit vermag sie auch zwischen der Ersten-Person-Perspektive und der Systemstelle des Willens zu vermitteln. Insbesondere diese dritte Perspektive ist im Kontext der Diskussion um Willen und Patientenautonomie noch wenig entfaltet.
In jüngster Zeit hat in dieser Hinsicht die Kulturanthropologie Begriff und Phänomen des Willens entdeckt. Der 2010 unter dem programmatischen Titel „Anthopology of the Will“ erschienene Sammelband bündelt einige Ergebnisse dieser Forschungsrichtung.39 Die Kulturanthropologie des Willens kann jedoch profitieren von kulturwissenschaftlichen ← 21 | 22 → Studien zu Entscheidungsprozessen und zur Logik von Entscheidungen.40 Anders als die in unserem Zusammenhang ebenfalls wichtigen Studien zur Gouvernementalität41 haben diese Forschungen einen primär deskriptiv gerichteten Schwerpunkt und sind weniger an der ideologiekritischen „Enttarnung“ von Praktiken interessiert, die das individuelle Wollen als Resultat einer Inkorporation extern bestimmten Sollens verstehen lässt.
An dieser Stelle können auch Ergebnisse des Forschungsprojekts „Ethik und Seelsorge“ an der FEST, in dem der Umgang von Krankenhausseelsorgenden mit medizinethischen Fragestellungen untersucht worden ist, einbezogen werden. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass Krankenhausseelsorgende sich einerseits an der Praxis der Zuschreibung von Patientenwillen in klinischen Entscheidungsprozessen beteiligen, andererseits aber auch die Möglichkeit, dass eine Willensbildung gerade nicht möglich ist, offenhalten.42 Das durch die theologische Tradition der Reflexion auf den Willen geprägte Berufsethos der Seelsorgenden trägt also zu einem bestimmten Umgang mit den Randzonen des Willens bei. Auch haben die Diskussionen aus dem am IMGWF der Universität zu Lübeck eingerichteten Projekt zum Kindeswohl im medizinethischen Kontext, speziell zur Blutstammzellspende zwischen Geschwisterkindern, wertvolle Einsichten über die zentrale Bedeutung der konkreten Gestalt von Prozessen der Findung und Rechtfertigung von Entscheidungen für die Willensproblematik erbracht.43
II. Von der Deskription zur normativen Betrachtung
Die hier skizzierte Heuristik der Analyse des Willensphänomens mit Hilfe der drei genannten Beschreibungshinsichten stellt eine entscheidende Perspektivverschiebung gegenüber der Frage nach der Patientenautonomie dar. Damit lassen sich auch die normativen Probleme des Willens in neuer Weise in den Blick nehmen. Denn entgegen dem traditionellen Schwerpunkt auf der Zuschreibung von ← 22 | 23 → Einwilligungsfähigkeit44 und den Bedingungen autonomer Willensbestimmung45 wird in den drei entfalteten Beschreibungshinsichten vor allem die Aktualität des Wollens und das Phänomen des Gewollthabens (der Behaftung auf einem vergangenen Willensentschluss) in philosophischer sowie kultur- und sozialwissenschaftlicher Hinsicht in den Vordergrund gerückt.
Details
- Seiten
- 370
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653052169
- ISBN (MOBI)
- 9783653968675
- ISBN (ePUB)
- 9783653968682
- ISBN (Hardcover)
- 9783631662113
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05216-9
- Open Access
- CC-BY-NC-ND
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Mai)
- Schlagworte
- Anthropologie des Willens Medizinethik Kulturpraktiken des Willens Einwilligungsfähigkeit
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 370 S.