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Der Erste Weltkrieg in Mitteleuropa

Kultur und Gesellschaft im Umbruch

©2019 Edited Collection 266 Pages

Summary

Polnische und österreichische Autorinnen und Autoren analysieren aus historischer und literatur- bzw. kulturwissenschaftlicher Sicht die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Gesellschaften ihrer Länder sowie der ganzen Region. Neben literarischen Texten werden Egodokumente und andere Archivalien (z. B. akademische Reden) ausgewertet. Der Krieg erscheint darin als Katastrophe, aber auch als Auslöser von Emanzipationsprozessen. Darüber hinaus stehen folgende Themenbereiche im Fokus dieses Buches: Universitäten im Krieg, Kriegsgegner, Kriegsalltag in Selbstzeugnissen, Männer- und Frauenbilder in der deutschsprachigen und polnischen Literatur zum Ersten Weltkrieg, Krieg aus der Sicht der Juden.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zur Einführung
  • I Universitäten im Krieg
  • Die Neugründung der Warschauer Universität mitten im Ersten Weltkrieg (Karol Sauerland)
  • Die Universität Breslau im Ersten Weltkrieg: die Reaktion der Intellektuellen (Krzysztof Żarski)
  • Das Engagement der Philologen für die Propaganda der Mittelmächte und dessen Folgen in den ersten Nachkriegsjahren (Waldemar Grzybowski)
  • II KriegsgegnerInnen
  • Die österreichische Friedensbewegung und der Erste Weltkrieg (Marcus G. Patka)
  • Der Erste Weltkrieg im Lichte der Fackel (Barbara L. Surowska)
  • Der Rauch des Opfers. Ein Frauenbuch zum Kriege. Zu Eleonore Kalkowska und ihrer Antikriegslyrik (Joanna Ławnikowska-Koper)
  • III Kriegsalltag in Selbstzeugnissen
  • Das Bild von Lodz und der Lodzer Region in autobiografischen Texten (Krystyna Radziszewska)
  • Gesichter des Krieges in Briefen und Tagebüchern junger Menschen aus der deutschen Armee und dem Hinterland (Renata Trejnowska-Supranowicz)
  • IV Männer- und Frauenbilder
  • Heroismus in der polnischen Literatur zum Ersten Weltkrieg (Monika Szczepaniak)
  • Frauenkörper als Krieg. Kriegsbilder der Heimatfront in Die Bernert-Paula von Max Herrmann-Neiße (Beata Giblak)
  • Die ‚weibliche Feder‘ schreibt über den Krieg. Kritiker über Zofia Nałkowskas Prosa zum Großen Krieg (Justyna Górny)
  • V Krieg aus der Sicht der Juden
  • „Die Russen kommen…“ Zu Hermann Blumenthals ethnografischen Kriegserzählungen über die russische Offensive von 1914 in Galizien. Der Wall im Osten (1915) (Primus-Heinz Kucher)
  • Der Einfluss des Krieges auf die traditionelle jüdische Gemeinde – Di schmuglers von Ojser Warschawski (Alina Molisak)
  • Alfred Nossigs ‚türkische Aktion‘ im Ersten Weltkrieg (Iwona Kotelnicka-Grzybowska)
  • Über die Autorinnen und Autoren
  • Register
  • Reihenübersicht

Zur Einführung

Den kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch, den der Große Krieg für die Menschen in Mitteleuropa bedeutet hat, diskutieren in diesem Band polnische und österreichische Literatur- und Kulturhistoriker, meist Germanisten mit komparatistischer Forschungsperspektive, aber auch Polonisten und Spezialisten für Jewish studies. Mit wenigen Ausnahmen verweisen die Beiträge – sei es durch ihre Schauplätze oder durch die Herkunft ihrer Protagonisten – auf Polen und die umliegenden Regionen. Dieser Raum zwischen den europäischen Großmächten wurde von Völkern bewohnt, für die der Erste Weltkrieg ein Bruderkrieg war: Polen, Juden, Ukrainer mussten auf beiden Seiten des Konflikts kämpfen, nicht selten gegen die eigenen Volksgenossen. Die Kriegshandlungen zeichneten sich auch hier durch große Grausamkeit aus. Schon 1914 kam es im russisch besetzten Galizien massenhaft zu Hinrichtungen und Pogromen unter erfundenen Spionagebeschuldigungen, aber auch die wiederinstallierten k.k.-Autoritäten trieben ihrerseits Spionenjagd. Bei dem Rückzug der Zarenarmee aus Russisch-Polen wurden im Rahmen einer ‚Strategie der verbrannten Erde‘ ganze Landstriche verwüstet, die Zivilbevölkerung ausgeraubt, misshandelt und vertrieben. Als ‚Ypern der Ostfront‘ gelten die Schlachtfelder um Sochaczew, etwa 50 km von Warschau entfernt, wo die deutsche Heeresleitung bereits im Januar 1915 ein Kampfgas erprobt und bald darauf, im Mai desselben Jahres, ‚erfolgreich‘ (über tausend Tote, mehr als 3000 Schwerverwundete) eingesetzt hat. Solche und ähnliche Beispiele erscheinen uns heute zu Recht als Vorübungen für den totalen Krieg. Andrerseits gab es versöhnliche Gesten seitens der Besatzer, die um die Gunst der lokalen Bevölkerung warben, etwa durch vage Autonomieversprechen oder begrenztes Entgegenkommen den kulturellen Aspirationen einheimischer Eliten. Auch in diesem Teil Europas erstarkten in den Jahren 1914–18 emanzipatorische Impulse, die zum Wandel der Geschlechterrollen oder zum Ausbruch der Juden aus den Schtetls führten. Nicht zuletzt öffnete die Katastrophe des Krieges bislang unterworfenen Völkern den Weg zur politischen Eigenständigkeit.

Um die durch den Ersten Weltkrieg bewirkten soziokulturellen Transformationen zu verfolgen, griffen die Beitragenden dieses Bandes auf verschiedenartige Quellen zurück. Dazu gehören neben literarischen und publizistischen Texten diverse autobiografische Zeugnisse sowie Archivalien verschiedener Institutionen wie Ministerien und Universitäten. Die Beiträge wurden in fünf Themenkreisen gruppiert. Den ersten, dem akademischen Milieu gewidmeten ←7 | 8→Teil eröffnet Karol Sauerlands Bericht über Reaktivierung der polnischen Universität im deutsch okkupierten Warschau (1916). Kriegsreden der Breslauer Professoren untersucht Krzysztof Żarski, mit besonderem Augenmerk für die darin betriebene Deutung traditioneller schlesischer Identitätsnarrative einschließlich des Verhältnisses zum ‚Osten‘. Waldemar Grzybowski exemplifiziert Haltungen deutscher Philologen (darunter Slawisten) angesichts des Krieges und zeigt, welche verhängnisvollen Folgen die propagandistische Aktivität vieler von ihnen für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit hatte. Die im zweiten Teil zusammengestellten Artikel leuchten unterschiedliche Aspekte von Pazifismus aus. In seiner informativen Übersicht rekonstruiert Markus G. Patka die komplizierte Landschaft österreichischer Friedensbewegung vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Barbara L. Surowska betrachtet Karl Kraus’ Einstellung zum Krieg im Lichte seiner Fackel. Joanna Ławnikowska-Koper erinnert an die Gestalt der deutsch-polnischen Autorin Eleonore Kalkowska und hebt den ‚feministischen Gestus‘ in deren Antikriegsgedichten hervor. Der Mittelteil thematisiert Darstellungen des Kriegsalltags in Egodokumenten. Größtenteils unveröffentlichte Briefe, Tagebücher und Memoiren aus Łódź/Lodz und der Umgebung dieser multiethnischen Stadt werden von Krystyna Radziszewska als Ausdruck kollektiver Erinnerung ausgewertet. Renata Trejnowska-Supranowicz befasst sich mit Selbstzeugnissen junger Menschen aus der deutschen Armee (darunter mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefen eines jungen Polen) sowie aus dem Hinterland. In Artikeln aus dem vierten Themenkreis werden Männer- und Frauenbilder in der polnischen und deutschen Literatur über den Ersten Weltkrieg zum Gegenstand der Reflexion. Monika Szczepaniak entwirft ein breites Panorama an meist heroischen Männlichkeitskonstruktionen in der einschlägigen polnischen Prosa. Beata Giblak analysiert die Körperlichkeit der weiblichen Titelfigur aus Max Hermann-Neißes Roman Die Bernet-Paula, in dem der Krieg zwar aus pazifistischer Sicht abgelehnt wird, zugleich aber, insbesondere im Bereich der (klein)bürgerlichen Sexualmoral, als revolutionierend-entlarvend erscheint. Justyna Górny setzt sich mit Kritikerreaktionen auf den psychologischen Kriegsroman Hrabia Emil von Zofia Nałkowska auseinander, die ihren (männlichen) Rezensenten zufolge als Frau und Autorin von ‚Frauenbüchern‘ an der Schilderung männlicher Protagonisten scheitern musste. Im fünften Teil schließlich geht es um die jüdische Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs. Primus-Heinz Kucher bringt den jüdisch-österreichischen Autor Hermann Blumenthal und dessen Erzählungen über die russische Galizien-Offensive von 1914 in Erinnerung. Alina Molisak zeigt den Einfluss des Krieges auf die traditionelle jüdische Gemeinde anhand des auf Jiddisch verfassten Romans Di schmuglers von Ojser Warschawski. Iwona ←8 | 9→Kotelnicka-Grzybowska geht den abenteuerlichen Plänen des jüdisch-polnisch-deutschen Literaten, Künstlers und politischen Aktivisten Alfred Nossig nach, der die durch den Krieg geschaffene Konjunktur zu nutzen versuchte, um die Unterstützung der Türkei für nationaljüdische Siedlungsprojekte zu gewinnen.

Den meisten Beiträge sind aus Referaten hervorgegangen, die auf dem Symposium „Der Erste Weltkrieg als Epochenschwelle in Literatur und Kultur“ gehalten wurden (Österreichisches Kulturforum Warschau, 13.-15. März 2014; Mitorganisator: Institut für Germanistik der Universität Warschau). Sie erscheinen hier nach gründlicher Überarbeitung, ergänzt durch eigens für diesen Band verfasste Texte.

Anna Wołkowicz

Karol Sauerland

Die Neugründung der Warschauer Universität mitten im Ersten Weltkrieg

Władysław Tatarkiewicz, Autor der bis heute viel gelesenen dreibändigen Philosophiegeschichte, schreibt in seinen Erinnerungen an die Studienzeit in Marburg vor dem Ersten Weltkrieg, im Grunde genommen habe er es dem Streik von 1905 zu verdanken, dass er in Deutschland studieren konnte. Er hatte als Student an diesem Streik teilgenommen, bei dem es u. a. um die Einführung des Polnischen neben dem Russischen als Unterrichtssprache an der Warschauer Universität ging. Diese war nach der Niederschlagung des Januaraufstands von 1863/64 und nach verschiedenen Turbulenzen im Jahre 1869 als polnische Hochschule geschlossen worden.1 Mit dem Edikt (Ukas) vom 20. Juni 1869 wurde sie in eine rein russische Universität verwandelt.2 Der Streik von 1905 wurde niedergeschlagen. Tatarkiewicz durfte nicht weiterstudieren, auch nicht in St. Petersburg. Die russischen Behörden ließen ihn jedoch nach Deutschland reisen, wo er nicht nur bei Natorp und Cohen studierte, sondern auch mit einer Dissertation über Aristoteles promovierte. 1918 wurde er Professor an der Warschauer Universität, die, wie bereits im Titel angekündigt, mitten im Ersten Weltkrieg als polnische Hochschule neu gegründet wurde.3

Am 5. August 1915 war im Rahmen der Sommeroffensive der Mittelmächte an der Ostfront das russisch besetzte Warschau durch die 9. Armee unter Prinz Leopold von Bayern kampflos erobert worden. Hans Hartwig von Beseler wurde am 25. August von der deutschen Regierung zum Gouverneur des kaiserlich-deutschen Generalgouvernements Warschau eingesetzt.4 Er war bei der deutsch-österreichischen ←13 | 14→Offensive besonders aktiv gewesen. Im August 1915 gelang es seinen Truppen, die Festung Modlin bei Warschau trotz zahlenmäßiger Überlegenheit der Russen nach längeren Kämpfen einzunehmen. Etwa ein Jahr zuvor hatte er strategisch zur Eroberung der Festung von Antwerpen beigetragen. Dies wurde damals in Deutschland als ein großer Erfolg gefeiert. Hans Hartwig Beseler, 1850 in Greifswald geboren, war Sohn des berühmten Rechtsgelehrten Georg Beseler (1809–1888) und Bruder des preußischen Justizministers Max Beseler.

Als Gouverneur soll sich Beseler recht schnell mit kompetenten Polen umgeben haben, um das ihm, dem Norddeutschen, fremde Land zu verstehen. Sein wichtigster Berater war Bogdan Graf von Hutten-Czapski. Im Gegensatz zu Ludendorff verfolgte Beseler eine Politik, die Polen größte Autonomie verschaffen sollte. Geplant war ein selbständiges Königreich Polen in den Grenzen des ehemaligen russischen Teilungsgebiets. Die Österreicher verblieben dagegen vorerst bei ihrer eigenen Autonomiepolitik, die sie in den 1860er Jahren eingeleitet hatten.

Zu der Vorbereitung des Plans von Beseler, der die Unterstützung eines Teils der preußischen Regierung genoss, gehörte die Neugründung der Warschauer Universität als einer polnischen Hochschule, allerdings nach deutschen Vorstellungen. Józef Brudziński (1874–1917), ein europäisch berühmter Kinderarzt, der sich noch unter russischer Herrschaft für die Schaffung einer polnischen Warschauer Universität und Technischen Hochschule mit seiner ganzen Kraft und Autorität eingesetzt hatte, meinte, es wäre besser gewesen, beide Institutionen als „private Hochschulen“ zu gründen. Aber es sei nun einmal anders gekommen, schrieb er an seinen Rechtsberater Elster, und die „überwiegende Mehrheit“ der Polen habe sich „gern damit abgefunden“5.

Die beiden Hochschulen wurden bereits am 15. November 1915 aufs feierlichste eröffnet. Der Priester und Theologieprofessor Antoni Szlagowski, späterer römisch-katholischer Bischof, erklärte zur Eröffnung: „Heute kehren wir zu dem Unsrigen zurück. Ab heute wird in den Räumen, in denen das Polnische schweigen mußte, das polnische Denken zum ersten Mal wieder nach vielen Jahren ←14 | 15→in der Melodie des polnischen Wortes erklingen.“6 Und ähnlich sprach der von Beseler eingesetzte, aber zuvor von einem Bürgerkomitee vorgeschlagene Rektor Józef Brudziński7 in seiner Eröffnungsrede: „Ich begrüße alle in Worten, die niemals anders klingen mögen. Wir verfügen also in Warschau über eine Hochschule, in deren Räumen die Töne unserer geliebten, schönen Muttersprache erklingen werden.“8 An der Feier nahmen Erzbischof Aleksander Kakowski, der Präsident der Stadt Warschau Fürst Zdzisław Lubomirski, Delegierte der Kommandantur der Polnischen Legionen, Bogdan Graf von Hutten-Czapski als Kurator und auch Beseler selber teil. Dieser sagte in seiner Ansprache ganz der Zeit gemäß u. a. Folgendes:

Die beiden Warschauer Hochschulen (d. h. die Universität und die Technische Hochschule – K.S.), die von heute ab ihre wissenschaftlichen Arbeiten wieder aufnehmen werden, haben eine hohe und wichtige Aufgabe zu erfüllen; sie sollen die Jugend dieses Landes aus der Unruhe und der unfreiwilligen Muße schwerer Kriegszeiten wieder in die Bahnen friedlicher und fruchtbringender, geistiger Tätigkeit zurückführen. Es mag Ihnen zum Beweise für den weitblickenden hochherzigen Sinn Seiner Majestät des Deutschen Kaisers, meines allergnädigsten Herrn, dienen, daß er dem Allerhöchstem von mir gemeldeten Vorhaben der deutschen Verwaltung, den Wissenschaften in Ihrer Heimat wieder eine Stätte zu bereiten, zuzustimmen geruht. Ich hoffe in Übereinstimmung mit allen mit der Verwaltung Ihres Landes Betrauten, daß diesem der heutige Tag zum Segen gereichen und den Beginn einer Ära neuen geistigen Lebens bezeichnen möge. Möchten ihre Hochschulen ohne Rücksicht auf den Streit des Tages im Geiste wahrer Wissenschaftlichkeit stets nur den höchsten Zielen edlen Menschentums nachstreben.9

Der später einflussreiche schwedische Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker Fredrik Böök (1883–1961) – er hat es durchgesetzt, dass Thomas Mann den Nobelpreis nicht auch für den Zauberberg, sondern ausschließlich für die Buddenbrooks erhielt – fand in seiner Reisebeschreibung Deutschland und Polen, die 1916 auf Schwedisch und 1917 auf Deutsch erschien, Beseler habe sich

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trotz seiner ausgesprochen literarischen Neigungen nie zu hochfliegendem und gefühlvollem Stil emporzuschwingen vermocht, wenn er offiziell das Wort ergriff. Als er z. B. die Universität Warschau einzuweihen hatte, enthielt er sich aller Ausschmückungen trotz des zweifellos recht bedeutenden Ereignisses, zog keinerlei Wechsel auf die vermutliche Dankbarkeit des polnischen Volkes, sondern beschränkte sich darauf, zu betonen, daß die Jugend während dieser schweren Kriegszeiten nicht ohne Beschäftigung bleiben dürfe, sondern „auf die Bahnen der friedlichen und fruchtbringenden geistigen Tätigkeit geleitet werden müsse“. Das nüchterne phrasenlose Betonen des kategorischen Imperativs der Arbeit und Tätigkeit ist so preußisch, wie nur etwas sein kann.10

Böök störte die Huldigung an den Kaiser offenbar nicht. Vielleicht wusste er, dass Beseler die Funktion des Generalgouverneurs nur unter der Bedingung anzunehmen bereit war, dass er direkt dem deutschen Kaiser und nicht General Ludendorff, dem Oberbefehlshaber des Gebiets Ober-Ost, unterstellt sein wird.11 Kaiser Wilhelm war sofort darauf eingegangen.

An der Universität wurden vier Fakultäten eingerichtet: die philosophische, juristische, mathematisch-physikalische und medizinische. Als Dekane wurden der Sprachwissenschaftler Adam Antoni Kryński, der Jurist Alfons Parczewski, der Geologe Jan Lewiński und der Chirurg und Urologe Leon Kryński ernannt. Erstaunlich war, dass der anarchistisch eingestellte Psychologe und Soziologe Edward Abramowski beauftragt wurde, den Lehrstuhl für Psychologie einzurichten, und dass Marceli Handelsmann, ein Historiker jüdischer Herkunft, den Lehrstuhl für Geschichte installieren sollte. Übrigens war auch der Polonist Juliusz Kleiner jüdischer Herkunft.12 Er lehrte an der Warschauer Universität seit 1916.13

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Im Studienjahr 1915/16 schrieben sich 1039 Studenten ein,14 ein Jahr später waren es 1621. Weit über vierzig Prozent waren jüdischer Herkunft.15 Die Mehrzahl hatte Medizin gewählt. Auch Frauen durften studieren. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Studierenden betrug zunächst nur 9%, nahm aber in den nächsten Jahren stark zu. Im Studienjahr 1919/20 waren es bereits 35%.16

Man weiß nicht, über welche Mittel die Universität verfügte. Immerhin gibt es eine Angabe, dass im Studienjahr 1917/1918 1 865 977 polnische Mark ausgegeben und nur 547 533 Mark vor allem aus Studien- und Prüfungsgebühren eingenommen wurden. Die Gehälter betrugen über eine halbe Million Mark.17 Die fehlenden Summen musste die deutsche Besatzungsbehörde bezahlen.18 Man konnte daher keine ausländischen Wissenschaftler berufen. Im Tygodnik Illustrowany (Illustrierte Wochenschrift) vom 20. November 1915 bedauerte Adam Grzymała-Siedlecki,19 dass solch berühmte Persönlichkeiten und ←17 | 18→Nobelpreisträger wie Marie Skłodowska-Curie und Henryk Sienkiewicz noch nicht in Warschau lehren können. Skłodowska-Curie erhielt 1903 anteilig den Nobelpreis für Physik und 1911 für Chemie, Sienkiewicz 1905 für seine außerordentlichen Verdienste als epischer Schriftsteller. Immerhin müssen Polen nicht mehr ein Hotelleben führen, schrieb Grzymała-Siedlecki, d. h. nicht mehr ins Ausland fahren, um sich zu bilden. Auch Warschau sei Ausland gewesen, denn hier wurde nur in Russisch gelehrt. Man habe sich daher nicht wie zu Hause gefühlt, bekannte er mit Bitterkeit. Von einem polnischen Universitätsleben könne man jedoch erst sprechen, wenn die Hochschulen in Krakau und Lemberg zusammen mit denen in Warschau die Grundlage der akademischen Bildung Polens bilden werden.20

Höchst bemerkenswert ist, dass die Universität am 3. Mai 1916 zusammen mit der ganzen Stadt feierlichst das Gedenken an die Verfassung von 1791 begehen durfte, die erste niedergeschriebene Konstitution in Europa, die noch vor der französischen Verfassung vom Sejm beschlossen und vom König Stanislaus Poniatowski unterzeichnet worden war. Heute ist der 3. Mai ein polnischer Nationalfeiertag. So war es auch in der Zweiten Polnischen Republik. Dass es möglich war, diesen Tag mitten im Krieg mit großem Aufwand zu begehen, zeigt, wie polenbewußt die Warschauer gebildete Schicht auftrat.

Im Juni 1916 kam der Jurist Stanisław Kutrzeba (1876–1946), Professor der Krakauer Jagiellonen-Universität, späterer Teilnehmer an den Friedensverhandlungen in Versailles, nach Warschau zu Besuch. Voller Begeisterung schrieb er, dass die Warschauer Universität einmalig gelegen sei. Man könne nur neidisch sein: mitten in der Stadt, von deren Lärm man in den glänzenden Gebäuden auf dem Campus nichts spüre. Zu bedauern wäre allerdings, dass die russischen Behörden vor den Kazimierz-Palast (in dem bis heute das Rektorat untergebracht ist) das Bibliotheksgebäude errichtet hätten, denn es verderbe den ästhetischen Eindruck; jedoch sei dessen Stil noch zu akzeptieren. Großartig sei dagegen die Aussicht auf die Weichsel, zudem gäbe es auf der Flussseite noch Möglichkeiten das Universitätsgelände zu vergrößern.21

Details

Pages
266
Publication Year
2019
ISBN (ePUB)
9783631704622
ISBN (MOBI)
9783631704639
ISBN (PDF)
9783653049169
ISBN (Hardcover)
9783631656402
DOI
10.3726/b16700
Language
German
Publication date
2020 (August)
Keywords
Geschlechterrollen im 1. WK Universitäten im 1. WK Kriegsalltag in Egodokumenten Juden im 1. WK Pazifismus im 1. WK
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 266 S., 5 s/w Abb.
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