Wolframs ›Parzival‹ und das kognitionsnarratologische Figurenmodell
Anwendung und Erweiterung anhand einer Rezeption des Textes
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhalt
- I. Einleitung
- 1. Forschungsüberblick
- 1.1 Mediävistische Studien zu kognitiven Schemata
- 1.2 Jüngere mediävistische Studien mit Fokus auf Wolframs Parzival-Figur
- 1.3 Klassische und nachklassische erzähltheoretische Studien zu höfischem Roman und Heldenepik
- 1.4 Forschungslinien der hier vorgestellten Arbeiten
- 2. Forschungsfragen
- 3. Gegenstand, Struktur und Methodik der Arbeit
- II. Figur und Figurentheorie
- 1. Was ist eine Figur?
- 1.1 Vier Grundpositionen der Figurentheorie
- 1.2 Zu Ontologie und Transgressivität des narrativen Phänomens Figur
- 1.3 Ein Panorama der figurentheoretischen Diskussion im Fach
- 1.4 Zusammenfassung
- 2. Das kognitionsnarratologische Figurenmodell nach Fotis Jannidis: Figuren mit der theory of mind als intentional handelnde Entitäten verstehen
- 2.1 Exkurs: Das Informationsverarbeitungsparadigma (IVP) als Grundlage des kognitionsnarratologischen Figurenmodells
- 2.1.1 Figur als prototypische Kategorie
- 2.1.2 Top-down und bottom-up processing
- 2.1.3 Inferenzen als Schemaaktivierer (I): Der kognitive Schlussfolgerungsmechanismus als Basis rezipientenseitiger Zuschreibung indirekter Charakterisierungen
- 2.1.4 Die Operationalisierung des Inferenzprozesses (II): Narrative Kommunikation und kognitive Relevanz
- 2.1.5 Die Operationalisierung des Inferenzprozesses (III): Der abduktive Schluss
- 2.2 Das Erkennen der Figur als intentional handelnde Entität: Von Roland Barthes’ Semen zu Fotis Jannidis’ Basistypus
- 2.3 Zur Zuschreibung von Figureninformationen durch den Text und Charakterisierungen durch die Rezipienten
- 2.4 Zur Kritik am Modell und einer Alternative dazu
- 2.5 Zusammenfassung
- III. Rezeption und Rezipienten
- 1. Zum Akt der Rezeption
- 1.1 Rezeptionsästhetische Vorüberlegungen zum Zusammenspiel von Rezipientenwissen und Textinformation in der Sinngebung
- 1.2 Die inferenzbasierte Umformung des Rezeptionsaktes
- 1.3 Autorezeption durch die Folie des Modell-Lesers
- 2. Der Autor und seine Rezipienten
- 2.1 Autor und Erzählerrolle
- 2.2 Wer waren Wolframs Rezipienten? Literarische Zeugnisse
- 2.2.1 Rezeptionssituationen und -funktionen (aus) der Literatur des Hochmittelalters
- 2.2.2 Von Hörern und Lesern: Formen mittelalterlicher Rezeption
- 2.2.3 Wolfram über Rezipienten: Die rezipientenbezogenen Stellen aus dem Prolog des ›Parzival‹
- IV. Figur und Schema
- 1. Schematheoretische Anreicherung von Basistypus und Figur
- 1.1 Exkurs: (Kognitive) Grundlagen der Schematheorie
- 1.2 Visualisierung: Darstellungsweisen der linguistischen Frame-Semantik
- 1.3 Die Operationalisierung des Basistypus als frame
- 2. Rekonstruktion eines Figurentypus als Figur: Das Wissen der Rezipienten über Gawan
- 2.1 Exkurs: Die Ritterwelt in Wolframs ›Parzival‹
- 2.2 Gauvain als Teil des ‚narrativen Schwungrades‘
- 2.3 Das Gawein-Bild aus ›Tristrant‹, ›Erec‹ und ›Iwein‹
- V. Figur als Schema
- 1. frame building eines maximal character: Das Beispiel ‚Parzival‘ anhand der Verse 39,22–28
- 1.1 Inferenz des Basistypus
- 1.2 Anreicherung des kognitiven Modells mit dem Weltwissen des Modell-Rezipienten
- 1.3 Instanziierung eines Figurentypus: ‚Parzival‘ der künftige ‚Ritter‘
- 1.4 Exkurs: den helt ich alsus grüeze. Zur Nennung des ‚helt‘ im Prolog (4,19) und der Erstnennung von ‚Parzival‘ im Spiegel des ›Straßburger Alexander‹, Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ sowie Eilharts von Oberge ›Tristrant‹
- 2. frame building eines sub-maximal character: Von ‚Gawein‘ zum mehrfachen ‚Gawan‘. Auswirkungen der textuellen Transgression Gawans auf das rezipientenseitige mentale Modell der Figur anhand der Verse 66,9–22
- 2.1 Inferenz des Figurentypus ‚Gawein‘ und Umformung des mentalen Modells als Resultat der rezipientenseitigen Verarbeitung von Textinformationen
- 2.2 Der sub-maximal character als Ordnungsstruktur des verdreifachten ‚Gawan‘
- 2.3 ‚Gawan als Kind‘: Unterminiert Wolfram den höchsten prîs der tavelrunde?
- 2.4 Exkurs: Gawan bei Wolfram
- 3. Zur Funktion der Erstnennungen der Figuren Parzival und Gawan
- 4. Zusammenfassung
- VI. Figur und theory of mind
- 1. Die Figur denkt, also ist sie? Eine Übung in mind reading
- 1.1 Der ungekrönte König von Soltane: Wenn Rezipienten die Gedanken von Figuren lesen
- 1.1.1 Die Figur Parzival nach Joachim Bumkes Analyse in Blutstropfen im Schnee
- 1.1.2 Präliminarien: Gahmurets Tod und der Umzug nach Soltane – Zur Handlungsmotivation Herzeloydes und zum elterlichen Erbe der Maßlosigkeit in Parzivals art
- 1.1.3 zer waste in Soltâne erzogn, an küneclîcher fuore betrogn: Eine Kindheit von art, ohne zuht
- 1.1.4 ‚got‘ und ‚der helle wirt‘: Entstehen und Stand der Wissensstrukturen in Parzivals kognitivem System
- 1.1.5 ‚ay ritter got, waz mahtu sîn?‘: Parzivals Anwendung der Wissensstrukturen ‚got‘ und ‚der helle wirt‘ im Aufeinandertreffen mit den Rittern in Soltane
- 1.1.6 Kognitionstheoretische Anreicherung von Bumkes Analyse der Parzival-Figur
- 1.2 triuwe und die Schule der Rezeption: Wenn Figuren die Gedanken anderer Figuren lesen
- 1.2.1 unversunnene Rittertaten
- 1.2.2 Exkurs: Die Figur Keie (nicht nur) bei Wolfram
- 1.2.3 Keies funktionale unhövescheit als Mittel zum Erreichen seiner kommunikativen Intention: Keie bringt Gawan dazu, auszureiten
- 1.2.4 Die Lanze ist ein Zeichen – für den wîsen man: Die Rolle von Augustinus’ Zeichentheorie in der Auslösung Parzivals durch das mind reading Gawans
- 1.2.5 Wolframs triuwe-Konzept nach Jan-Dirk Müller und die Exemplifizierung am Plimizœl
- 1.3 Zusammenfassung
- 2. Graharz – Pelrapeire – Munsalvæsche. Der tumbe man auf seinem Weg zum Gral
- 2.1 Bei Gurnemanz: Die Zähmung von Parzivals wildem muot
- 2.1.1 Zur Notwendigkeit der Zähmung von Parzivals wildem muot
- 2.1.2 Ankunft in Graharz
- 2.1.3 Der Rote Ritter wird erzogen: Ethisch-soziale Lehre
- 2.1.4 Der Rote Ritter wird erzogen: Vom Ritterhandwerk und Parzivals naiver Durchkreuzung verdeckter Agenden
- 2.2 Parzival in Pelrapeire: Die Anwendung der Lehren Gurnemanz’ aus Parzivals art
- 2.2.1 Exkurs: aventiure-Variationen. Eine Gegenüberstellung der ersten beiden Sigune-Begegnungen mit der Einleitung der Cadoc-Episode des ›Erec‹ und deren Verbindung zum Bogengleichnis
- 2.2.2 bî der küneginne rîche / saz sîn munt gar âne wort: Parzivals erste Anwendung von Gurnemanz’ Lehren
- 2.2.3 Condwiramurs regt Parzival an, zu fragen
- 2.2.4 Parzivals Anwendung der arthurischen Kampfethik um êre und ê
- 2.2.5 Der Kampf gegen Clamide: Ohne Totschlag gerächtes herzeleit
- 2.3 Auf Munsalvæsche: Von Fingerzeig und rehter mâze
- 2.3.1 Parzivals mangelnde mâze und die verdeckte Kommunikation der Gralsgemeinschaft
- 2.3.2 Parzival verdenkt sich ob der rîcheit Munsalvæsches
- 2.3.3 triuwe und Leid auf Munsalvæsche
- 2.4 Zusammenfassung
- VII. Fazit und Schlussbemerkung
- VIII. Literatur
- Anhang
- Abb. 1: Kaninchen und Ente
- Reihenübersicht
I. Einleitung
er marcte des Wâleises sehen,
war stüenden im diu ougen sîn.1
›Parzival‹ 301,26f.
Die hier vorangestellten Verse verweisen auf die Blutstropfenepisode am Plimizœl. Dort gelingt es Gawan, den in Minnetrance gefangenen Parzival aufzuwecken, indem der Artusritter aufmerksam Parzivals Blick folgt, Parzival einen bestimmten mentalen Zustand zuschreibt, und diesen Überlegungen folgend eine für den Artushof scheinbar bedrohliche Situation friedlich löst. Für den Obertitel meiner Dissertation, die dem vorliegenden Text zugrunde liegt, hatte ich Vers 301,26 in den Imperativ gesetzt, als Aufforderung an die Leser: merc des Wâleises sehen. Dies sollte meine Überzeugung ausdrücken, dass Gawans Strategie am Plimizœl, das intradiegetische Geschehen von Parzivals Wahrnehmung ausgehend zu interpretieren, einer kommunikativen Intention des Textes entspricht, womit die Blutstropfenepisode einen wichtigen Hinweis für die Rezeption des ›Parzival‹ bereithält.
Parzival als Wahrnehmender, die Wahrnehmungen Parzivals und vor allem die kognitive Verarbeitung dieser Wahrnehmungen stehen im Zentrum dieser Arbeit. Dass sich Parzivals Weltverstehen von dem eines Erec, Iwein oder dem bereits angeführten Gawan unterscheidet, wurde etwa von Joachim Bumke beobachtet, der Parzivals Besonderheit als „habituelle Wahrnehmungsschwäche“ identifiziert.2 Bumkes Studie Die Blutstropfen im Schnee. Zu Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach ist ein zentraler Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ein weiterer Anknüpfungspunkt findet sich in Christopher Youngs Rezension zu dieser Studie Bumkes, wenn Young festhält, dass es nach Bumkes Ergebnissen nunmehr gälte, den Text aus der Perspektive der Rezipienten weiterzubefragen.3 Diesem Aufruf folgend ←17 | 18→versucht die vorliegende Untersuchung, nicht nur aus den Augen Parzivals und des Textes auf den Text zu blicken, sondern vor allem aus der Perspektive eines Rezipienten und einer Rezeption des Textes auf die Figur Parzival und den Text zu blicken.
Dieses Unterfangen ruht auf einer für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung stellenweise ungewohnten theoretischen Basis. Klassisch rezeptionsästhetisch kann mit Wolfgang Iser rezeptionsbezogene Sinnbildung als Prozess verstanden werden, der sich im Akt der Rezeption zwischen Rezipienten und Text fortlaufend vollzieht.4 In den vergangenen Dekaden hat sich die Leseverstehensforschung auch im Bereich der kognitiven Studien etabliert, wie Ralf Schneiders Grundriss zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption belegt.5 Mit Fotis Jannidis’ Studie Figur und Person findet sich schließlich eine theoretische Grundlage, um (literarische) Figuren rezipientenseitig als mentale Modelle zu konzeptualisieren.6
Im theoretischen Teil konkretisiert die vorliegende Untersuchung den von Jannidis verwendeten abstrakten Begriff des ‚mentalen Modells‘ als kognitive Wissensstruktur, als Schema, genauer gesagt als frame,7 indem sie Teilergebnisse der Studien von Jannidis und Schneider synthetisiert. Im ersten Teil der Analyse8 versuche ich, in einem close reading die Entstehung des mentalen Modells einer Figur nachzuzeichnen, als Zusammenspiel der Informationen des Textes mit dem von Umberto Eco so benannten „soziale[n] Schatz“9 des Rezipienten, also dessen in die Rezeption eingebrachtem Welt- und literarischen Spezialwissen. Das zweite Untersuchungskapitel10 entfernt sich von dieser sehr technisch anmutenden Analyse und blickt mit Parzival auf seine Welt. Ziel und Endpunkt der Analyse ist Parzivals erster Aufenthalt auf Munsalvæsche, um einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, weshalb Parzival bei diesem ersten Aufenthalt die seinen Onkel Anfortas und die Gralsgemeinschaft erlösende Mitleidsfrage nicht stellt.
←18 | 19→1. Forschungsüberblick
Die Arbeiten von Jannidis, Schneider und Iser werden im Rahmen der aus ihnen entwickelten Methodik in II.–IV. detailliert betrachtet. Die relevante mediävistische Forschung wird bereits hier vorab gesichtet. Da die Forschung zu Wolframs ›Parzival‹ ihrerseits bereits auf eine bald 200-jährige Geschichte zurückblicken kann,11 muss dafür notwendigerweise eine reduzierte Auswahl relevanter Texte getroffen werden, die in der Analyse fallweise erweitert wird.
Der Forschungsüberblick gliedert sich in drei thematische Unterkapitel I.2.1–I.2.3, denen in I.2.4 eine auf die Forschungsfragen hinführende Zusammenfassung folgt. Begonnen wird mit Arbeiten, die im engeren Sinn mit dem kognitionspsychologischen Konzept von Schemata arbeiten.12 Im darauffolgenden Kapitel I.2.2 werden relevante Studien zur Figur Parzival vorgestellt, um in Kapitel I.2.3, zunächst von Gert Hübners narratologischer Arbeit zur Fokalisierung ausgehend, auf jene mediävistischen Arbeiten einzugehen, die das Figurenmodell von Jannidis anwenden.
1.1 Mediävistische Studien zu kognitiven Schemata
Das nachfolgende Kapitel soll vor allem als Zusammenschau mediävistischer Arbeiten mit Fokus auf kognitive Schemata fungieren, um gleichzeitig die verschiedenen Ansatzmöglichkeiten aufzuzeigen, die sich aus kognitiven Perspektiven ergeben.13 Für die vorliegende Arbeit wird von Simone Schultz-Balluff14 ←19 | 20→der Hinweis auf die in der Linguistik entwickelten Darstellungsmöglichkeiten für frames übernommen, sowie von So Shitanda15 die Idee der Anwendung kognitionswissenschaftlicher Konzepte zum analytischen mind16 reading von Figuren.
In der kognitionswissenschaftlichen Terminologie ist ‚Schema‘ der Überbegriff für frame und script: Während die Kognitionswissenschaften davon ausgehen, dass ein frame statisches Wissen über Objekte oder, wie zu zeigen sein wird, Subjekte vorhält, bietet ein script – der kognitiven Funktion nach – einen standardisierten Lösungsweg für ein bestimmtes Problem oder ein Ablaufprotokoll für eine bestimmte Situation.17
Für die Literaturwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahren scripts als besonders anschlussfähig erwiesen,18 zumal sich diese in Erzählschemata wiederentdecken oder sich Erzählschemata als materialisierte kognitive Ablaufpläne von Erzählungen verstehen lassen.19 In diesem Sinne verfährt Armin Schulz im Kapitel Erzählen nach Mustern: Die gängigsten mittelalterlichen Erzählschemata seiner Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive,20 und so argumentiert auch Jan-Dirk Müller in seiner Studie Höfische Kompromisse: Er legt dar, dass sich in Erzählkernen21 und Erzählschemata historisch ←20 | 21→relevante Problemkonstellationen niederschlagen und darum Erzählungen verschiedene „Lösungsansätze“ für diese Probleme „durchspielen“.22 Nicht die Rezeption interessiert Müller also, sondern explizit „die Formen der Verknüpfung von Textbefunden und Alltagserfahrung bei der […] Produktion literarischer Texte“.23
Robert Mohr verweist 2012 auf Müllers Arbeit, da er in ihr einen „verwandten Ansatz“ erkennt.24 Mohr fokussiert auf Schemata in institutionellem Kontext und sucht „institutionsspezifische[] Kommunikations-Schemata“ aus für den Deutschen Orden normativen Texten zu extrahieren.25 Da es sich bei Normen aus der Dichotomie von prozeduralem und statischem Wissen heraus gesehen um statisches Wissen handelt, arbeitet Mohr mit frames, womit seine Studie meines Wissens nach die älteste an kognitiven frames interessierte Studie der germanistischen Mediävistik ist.
In seiner Untersuchung liest Mohr die normativen Ordensregeln des Deutschen Ordens, die Schmähungen als Verstoß betrachten, gegen die massiv transgressive Sprache der ›Martina‹, eine einer Handschrift des Deutschen Ordens beigebundenen Heiligenlegende. Er veranschaulicht so das Aufeinanderprallen der bei den Rezipienten gegebenen Schemata bezüglich der Kommunikationsnormen des Ordens und der davon deutlich abweichenden transgressiven Sprache der Märtyrerin. Er schließt, dass den Ordensmitgliedern vermutlich bewusst war,
dass in diesem Text zwei unterschiedliche Schemata kombiniert wurden: ein normentsprechendes Kommunikations-Schema der Hagiographie und ein Schema über das legitime Fluchen in einem Streitgespräch zweier religiöser Antagonisten. Ausgehend von diesem Befund müssten nun weitere Texte analysiert werden, deren Rezeption in den Deutschordenskonventen des deutschsprachigen Südwestens vorausgesetzt werden kann. Durch eine Lektüre weiterer Texte könnten die Kommunikations-Schemata wiederum modifiziert oder aber gefestigt worden sein – und dann auch auf die individuelle Identität der Rezipienten rückwirken.26
Simone Schultz-Balluff beschäftigt sich in ihrer korpuslinguistischen Studie zu Treue-Konzeptionen in mittelhochdeutschen Texten mit frames, indem sie deren Potential sondiert.27 Sie bezieht sich auf Arbeiten der linguistischen ←21 | 22→Frame-Semantik, vor allem auf Lawrence W. Barsalou und die von ihm vertretene Linie der Konzept-frames.28 Schultz-Balluff wendet diese Überlegungen und die in den Arbeiten der Frame-Semantik erdachten Darstellungsmethoden in ihrer korpuslinguistischen Analyse des Begriffs triuwe an: Ihr Korpus umfasst „512 triuwe-Belegstellen […], die […] dem Mittelhochdeutsche-Grammatik-Korpus (als Teil des Referenzkorpus Mittelhochdeutsch 1050–1350) entstammen; dabei handelt es sich um die Gesamtzahl der triuwe-Belege in diesem Teilkorpus.“29 Sie ist daran interessiert, wie „über die Analyse eines (einzigen) Wortes und dessen konkretes schriftsprachliches Umfeld konzeptuelle Linien erarbeitet werden“ können, um „[i]m Sinne einer erweiterten Diskursanalyse“ zu einer „‚textanalytische[n] Erschließung des Sinns‘“ vorzudringen.30
Die von Schultz-Balluff der Frame-Semantik entlehnte und auf den Begriff der triuwe applizierte Methode wird in der Forschung auch weiterhin auf die Erörterung von Konzepten zu beschränken sein. Für ein gesamtes Epos bedeutete eine derartige Wort-für-Wort-Analyse eine kaum zu meisternde Arbeit, jedoch böte die Erarbeitung und Gegenüberstellung von einzelnen kulturellen Konzepten in Einzeltexten und Korpora auf Basis der frame-Theorie ein äußerst ergiebiges Forschungsfeld.31
Die älteste hier vorgestellte Studie des japanischen Mediävisten So Shitanda geht zwar wieder von der script-Theorie aus, führt aber ins Zentrum der vorliegenden Arbeit: In seiner 1990 auf dem VIII. Internationalen Germanisten-Kongress vorgestellten und 1991 publizierten Untersuchung geht er anhand der ersten Gralszene bei Chrétien und Wolfram der Frage nach, ob sich aus den Texten erschließen lässt, ob die Autoren die zur Deutung der Handlung notwendigen Wissensrahmen32 bei den Rezipienten voraussetzen, oder ob diese Rahmen erst in den Erzählungen entworfen werden.33 Er kommt für Wolframs ←22 | 23→›Parzival‹ zum Schluss, dass die Erzählereinwürfe um den Dreißiger 240 darauf hindeuten, dass das zum Verständnis notwendige script hier erst entworfen wird, da diese Einwürfe die Wichtigkeit des gerade Erzählten für die folgende Erzählung hervorheben.34 Zur Veranschaulichung zitiere ich die entsprechende Textstelle:
240,3–9 ôwê daz er niht vrâgte dô!
des pin ich für in noch unvrô.
5 wan do erz enpfienc in sîne hant,
dô was er vrâgens mit ermant.
och riwet mich sîn süezer wirt,
den ungenande niht verbirt,
des im von vrâgn nu wære rât.
Auf Figurenebene liest Shitanda die erste Gralszene aus script-theoretischer Sicht so, dass Parzival das für die Artusgesellschaft gebotene zuht-script auf die Gralsgesellschaft anwendet und damit scheitert, da gelingende Interaktion in den beiden Gemeinschaften je eigenen Handlungslogiken folgt.35
1.2 Jüngere mediävistische Studien mit Fokus auf Wolframs Parzival-Figur
Aus den nachfolgend vorgestellten Arbeiten Anette Sosnas36 und Julia Richters37 wird die anthropologische Grundannahme der im Mittelalter als stufenweise verlaufend gedachten Entwicklung des Menschen (anstatt der neuzeitlichen, kontinuierlich gedachten Entwicklung) produktiv sein. Von Joachim Bumke38 wird im Anschluss der Gedanke aufgenommen, dass Parzival aufgrund seiner ‚habituellen Wahrnehmungsschwäche‘ tumb bleibt und Erfolge aufgrund seines art39 erzielt.
Anette Sosna geht in ihrer Arbeit Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200 zunächst davon aus, dass „Identität zu allen Zeiten relevant ist“,40 und fragt, daran anschließend, nach den spezifisch mittelalterlichen Bedingungen ←23 | 24→der Produktion von Individualität.41 Das Individuum sei im Hochmittelalter bereits ein gesellschaftlich relevantes Konzept, das die Idee der Gruppenzugehörigkeit noch nicht in dem Maße wie im Spätmittelalter verdrängt habe. Im Gegensatz zum Frühmittelalter habe es aber seinen Platz neben dieser behauptet.42
Dem Begriff der Identität nähert sich Sosna mit Donald F. Polkinghorne aus der Warte der narrativen Psychologie an.43 Aus Sicht der kognitiven script-Theorie sei Narrativität „eines der fundamentalen Organisationsprinzipien menschlichen Erlebens und Handelns“, da „‚die Erzählung als das primär strukturierende Schema‘“ verstanden werden kann, „‚durch das Personen ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen‘“.44 Aus dieser Perspektive sei Narrativität die „Übertragung eines Erlebniszusammenhangs in einen Erzählzusammenhang“, und dieser Prozess sei „ein grundlegendes Konstruktionsprinzip personaler Identität“; Sosna versteht Identität also aus Sicht der script-Theorie als „Selbst-Erzählung“.45
Mit diesem Ansatz untersucht Sosna neben Hartmanns ›Erec‹ und ›Iwein‹ sowie Gottfrieds ›Tristan‹ auch Wolframs ›Parzival‹, um ihre Ausgangsfrage wie folgt zu beantworten: Individualität „als die für ein Individuum spezifische Organisation von Identitätsfaktoren“ ergebe sich in den untersuchten höfischen Romanen „im dynamischen Wechselspiel von konformer und non-konformer Interaktion, dessen Bewertung auf der Handlungsebene und der Ebene des Erzählers oftmals ambivalent bleibt“.46 Damit ist
der Prozess der Entstehung von Individualität als Aktualisierung eines spezifischen ontogenetischen Potentials menschlicher Existenz Thema der Romane. Die Rückkoppelung an das Individuum erfolgt dabei […] über die Aspekte des Scham- und Schuldgefühls und die Diskussion von Wahrnehmungs- und Erinnerungsstrukturen, deren Träger die Protagonisten sind. Diese Aspekte sind folglich die spezifischen kontextuell-historischen Charakteristika der Individualitätsproblematik im höfischen Roman.47
Im Unterschied zu Hartmanns ›Erec‹ und ›Iwein‹ würden im ›Parzival‹ nicht verschiedene Rollen einer Identität verhandelt, also das Verhalten im ritterlichen Identitätsmodell in der Rolle am Hof oder in der Ehe, sondern zwei unterschiedliche und unvereinbare Identitätsmodelle anhand der Figuren Parzival und Gawan.48 In der Untersuchung der „Identitätsgenese“ Parzivals identifiziert die Verfasserin drei aufeinanderfolgende „Phasen“: Demnach bilden Kindheit und Jugend die erste Phase bis zum Aufbruch aus Soltane, die Dreißiger 129,5–337,30 erzählen die Abenteuer des Artusritters Parzival, gefolgt vom größten Abschnitt bis 827,30, seines „Wandels vom Artusritter zum Gralsritter“.49 Eingeleitet werde dieser dritte Abschnitt von Cundries Auftritt auf dem Plimizœl, der Parzival in die „Desorientierung“ führe und die Identität der Figur aus der „Phase der Organisation“ in die „Phase der Re-Organisation“ überführe.50
Sosna vertritt die Position, dass „die âventiuren, die im Rahmen des ritterlichen Identitätsmodells zu seinem [Parzivals, Anm. d. Verf.] Ansehen beigetragen haben (z. B. die Befreiung von Pelrapeire), für seine letztliche Bestimmung in Munsalvæsche sekundär“ bleiben.51 Damit einhergehend schließt sie, dass „[d]ie Gralsherrschaft, zu der er berufen wird, […] mit den Mitteln der Ritterschaft nicht zu erlangen“ sei.52 Dabei übersieht sie die zweifelhafte Autorität von Trevrizents Aussage, auf der diese Interpretation baut.53 Erfolgte Parzivals Berufung gänzlich „unabhängig von seinen ritterlichen Taten“, bedeutete dies, dass der Mensch zur Passivität verurteilt ist, bis er berufen wird. Das wäre meines Erachtens eine zwar deterministische, aber reichlich defätistische Lehre, ←25 | 26→gegen die Parzival ankämpft, stæte beweisend, den Gral erkämpfend, denn, wie auch Michaela Schmitz in ihrem Kommentar zu Buch XVI schreibt: „Göttliche Berufung und willentliches Streben nach dem Gral erweisen sich […] als die beiden Komponenten, die letztlich zur Ernennung zum Gralkönig führen.“54
Michaela Fabrizia Cessari begründet in ihrer literarhistorisch-philosophischen Untersuchung Der Erwählte, das Licht und der Teufel Parzivals Berufung zum Gral mit dem von ihm vertretenen Figurentypus: Sie sieht in Parzival eine singuläre Ausprägung des Figurentypus des Auserwählten. Seine Sonderstellung sei durch die verwendete Lichtmetaphorik markiert, deren Ausgangspunkt das Elsterngleichnis des Prologs darstelle.55 Die Voraussetzungen „der in der frühscholastischen Theologie systematisierten augustinischen Erbsünden- und Gnadenlehre […] Schritt für Schritt“ im Verlauf der Erzählung widerlegend, erweise sich Parzival „doch noch als der Auserwählte56 […], der ‚der allmächtigen Dreieinigkeit die Erfüllung seines Wunsches abgetrotzt hat‘ und der jedoch schon immer und von Anfang an zum Gralkönigtum prädestiniert war.“57
Parzival stellt nach Cessari den Typus des ‚tumben Sünders‘ dar,58 „dem im Rahmen des traditionellen literarischen Musters keine ‚lichthafte‘ ←26 | 27→Charakterisierung zukommt“.59 Die tumbheit Parzivals arbeitet Cessari als „Mangel an Weltklugheit“60 heraus, also als einen Mangel an Decodierungswissen für die Zeichen der (höfischen) Welt. So kommt Cessari zu ihrer Interpretation der Parzival-Figur als eines reinen Toren:
Der ‚reine Tor‘ ist nicht tump, sondern vielmehr ‚aus Mitleid wissend‘. Er ist ‚eigentlich‘ aus seiner innersten Existenz heraus […]. Jeder Konformismus ist ihm aufgrund dieser ‚Eigentlichkeit‘ fremd […]. Parzivals scheinbare tumpheit ist in Wahrheit seine ‚Eigentlichkeit‘, kraft deren er immer wieder die leeren Stellen im Netz der Sinngebung aufdeckt, die erst ermöglicht, dass gesellschaftliche Normen nicht zu leeren Formalismen erstarren. Diese ‚Eigentlichkeit‘ ist es auch, die Parzival vom Fragen abhält; er ist durch das Leid des Gralskönigs so tief getroffen, dass er davor verstummt.61
Der hier im letzten Satz anklingenden Interpretation Cessaris folge ich nicht. Ich werde meinen Versuch zur Deutung an Joachim Bumkes Interpretation der Parzivalfigur in dessen Studie Die Blutstropfen im Schnee ausrichten:62 Wie Cessari sieht auch Bumke in der tumpheit Parzivals eine notwendige Prädisponierung zum Gralskönigtum, wobei Bumke die tumpheit als einvalt63 deutet, und zwar als Resultat von Parzivals in Soltane anerzogener „habitueller Wahrnehmungsschwäche“.64 Parzival ist küene, træclîche wîs (4,18; das heißt nach Bumke „küene und gar nicht wîse“!65) und deshalb der missewende ein wâriu fluht (4,22; „eine wahre Zuflucht vor Schlechtigkeit“66). Parzivals habituelle Wahrnehmungsschwäche liegt nicht, wie der Ausdruck glauben machen könnte, an seiner sinnlichen Wahrnehmung:
Parzival kann sehr gut sehen und hören, schmecken und fühlen; das hat er schon als Kind bewiesen. Auch die beiden inneren Sinne, die die äußeren Wahrnehmungen aufnehmen, imaginatio und memoria, sind bei ihm gut entwickelt. Er kann das Wahrgenommene zu Bildern zusammensetzen und im Gedächtnis bewahren. Doch dann kommt der Punkt, der dem Menschen unter allen Geschöpfen die besondere Würde verleiht und der nicht mehr (oder nur ganz unzureichend) von Natur aus zu leisten ←27 | 28→ist, der vielmehr der Ausbildung und Einübung bedarf: die urteilende Tätigkeit der ratio.67
Parzival konnte seine ratio nicht zur rechten Zeit ausbilden, deshalb ist seine Schwäche habituell. Es handelt sich bei Parzivals habitueller Wahrnehmungsschwäche also eigentlich um eine Informationsverarbeitungsschwäche. Daran wird vorliegende Arbeit aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive anknüpfen.
Der Parzival fehlleitenden ratio stellt Bumke dessen aus Mutter- (triuwe und kiusche) und Vatererbe (manheit) bestehenden art gegenüber, dessen Eingebungen Parzival zum Erfolg führen, wenn er sich nicht von seiner ratio fehlleiten lässt.68 Parzivals ererbter art, als manheit, kiusche und diemüete, ist de facto eine Zusammenstellung ererbter Tugenden. Wenn die Erbsünde seit Anbeginn der Menschheit vererbt wird, dann können offenbar auch Tugenden von den Eltern auf die Kinder vererbt werden.
Um zurück zu Bumkes Analyse zu kommen: Er sieht im ›Parzival‹ eine „Geschichte von Vater und Sohn“, die zur „Geschichte zweier Großfamilien“ ausgebaut wird und „deren genealogische Linien in Parzival zusammenlaufen“.69 Parallel zur Bekanntmachung dieser Verwandtschaftszusammenhänge verlaufe ein doppelter Erkenntnisweg: auf der „Handlungsebene“ jener der Figur Parzival, auf der „Erzählerebene“ jener der Rezipienten, die – der Figur „meistens ein Stück voraus“ – mehr und mehr über jene familiären Zusammenhänge erfahren.70 Im Gegensatz zur Handlungsebene ist letzteres Erkennen kein Selbstzweck, sondern ein Mittel „zum Verständnis der ganzen Geschichte. Das Erkennen von Zusammenhängen ist im ›Parzival‹ der Schlüssel zum Verstehen der Handlung und damit der ganzen Dichtung“.71
Diese Anlage der Dichtung resultiere geradezu in einer Schulung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten der Rezipienten, in jedem Fall belohne die Dichtung ihre aufmerksamen Zuhörer und Leser mit Einsichten in ihre Struktur, die weniger Aufmerksamen verwehrt blieben.72 Doch auch ←28 | 29→vertiefende Einblicke in diese „parrierte Welt“ führen nicht zu eindeutigem, letztgültigem Verständnis, wie auch der offene Schluss der Dichtung beweise.73
Die Frage nach Parzivals tumpheit und ihrer möglichen Überwindung steht auch in Elisabeth Lienerts komparatistischem Beitrag Können Helden lernen? Wissen und Subjektkonstitution im europäischen Parzivalroman zur Diskussion.74 Dort untersucht sie die Rolle von Wissen sowie dessen Erwerb durch die Protagonisten in vier europäischen Parzival-Erzählungen: in Chrétiens ›Conte du Graal‹ (vor 1190), in der altnordischen ›Percevals saga‹ (1230–1260), im mittelenglischen ›Sir Perceval di Galles‹ (14. Jahrhundert) und nochmals vertieft in Wolframs ›Parzival‹.75
Die Parzival-Figuren aller vier Erzählungen seien durch ihr anfängliches Nicht-Wissen gekennzeichnet, ebenso wie durch den unvorbereiteten Eintritt in die Ritterwelt.76 Der mittelenglische Protagonist lerne nichts dazu, er werde über seine Heldentaten sozialisiert, die ihn auch zum unproblematischen Herrschen befähigten.77 Das andere Extrem finde sich in der altnordischen ›Percevals saga‹, wo Perceval von den bekannten Instanzen unterwiesen (Mutter, Gurnemanz, Eremit) und somit „zum perfekten christlichen Ritter“ werde.78 Lehren und Lernen seien durchweg positiv dargestellt, und die an Perceval gerichteten Unterweisungen seien von der Handlung losgelöst auch für die Rezipienten als Lehre versteh- und anwendbar.79 Bei Chrétien sei Perceval eine Figur, die wenig weiß und auch nichts dazulernen will, was nicht unmittelbar die ritterliche Kampfkunst betrifft.80 Eher notgedrungen begibt er sich ←29 | 30→auf die Suche nach Faktenwissen um Gral und Lanze, während für Wolframs Parzival-Figur „Anfortas Leiden und die eigene compassio“ zur Aufgabe werden.81 Von den vier untersuchten Figuren sei er jene, die zu Beginn am wenigsten weiß.82 Dafür hört er aufmerksam zu, versucht das Erfahrene anzuwenden und ist darüber hinaus die einzige der untersuchten Figuren, die das vermittelte Faktenwissen infrage stelle.83 Damit vermittle Wolfram die Wandelbarkeit allen Wissens im Gegensatz zu ethischen und religiösen Werten: „[N]icht die gelehrten Details, sondern die ethischen und religiösen Grundprinzipien von menschlicher Sündhaftigkeit und göttlicher Gnade, von Demut und Mitleid“ sind überzeitlich gültig.84 Wolfram „ambiguisiert und problematisiert“85 erzählend nicht nur das Wissen selbst, sondern auch die wissensvermittelnden Instanzen, insbesondere Cundrie und Trevrizent. Wissen erwerbe Parzival nur, wenn er frage; dementsprechend schädliche Folgen habe Gurnemanz’ Regulierungsversuch.86
Lienert kommt zum Schluss, dass Parzival nicht im Sinne einer Entwicklung lernt,87 er verfolge aber einmal von ihm selbst als richtig Erkanntes gegen jegliche Einflüsterung von außen.88 Parzivals Lernprozess besteht nach Lienert darin, dass Parzivals „Umgang mit Wissen und den Lehren anderer […] selbständiger und flexibler“ wird,89 wobei ihn seine Sinneswahrnehmungen unterstützten.90
Lienert möchte den Einschätzungen Bumkes widersprechen, insbesondere seiner Lesart von 4,18, „dass Parzival gar nichts lerne“.91 Meines Erachtens ←30 | 31→argumentiert Bumke eher, dass Parzival die vermittelten theoretischen Lehren nicht korrekt verarbeiten könne, und nicht, dass er nichts lerne: Wenn Parzival nach Lienert am Plimizœl „metadidaktisch“ Gurnemanz’ Lehre hinterfragt,92 dann ist exakt dies nach Bumke ein Spiegel seiner habituellen Wahrnehmungsschwäche: Nicht die Lehre ist das Problem, nicht der Lehrer ist das Problem, sondern der Umstand, dass Parzival die Lehre aufgrund seiner ausschließlich fallibel93 agierenden ratio nicht angemessen umgesetzt hat.94 Ein zweites Beispiel, das Lienert anführt, ist Parzivals Speisung seiner „hungernde[n] Untertanen“ in Pelrapeire.95 Das kann und sollte wohl als Anwendung von Gurnemanz’ Herrscherlehre verstanden werden; es kann aber auch aus Parzivals art erklärt werden, insbesondere wenn man mit Jan-Dirk Müller Parzivals Erbteil der triuwe bei Wolfram als ein mit compassio überformtes Konzept versteht.96
Ohne dass von ihrer Arbeit ausgiebiger Gebrauch gemacht wird, sei hier mit Julia Richters Arbeit zum Paradigmatische[n] Erzählen in Wolframs ›Parzival‹ auf eine letzte Studie hingewiesen.97 Ausgehend von Wolfgang Mohrs Beitrag Hilfe und Rat in Wolframs Parzival,98 der nach Richter grundlegenden Arbeit „für die Forschung zur Wolframschen Narrativik und Poetik“, möchte die Verfasserin den von Mohr untersuchten Gegenstand der „Verknüpfungstechnik im ›Parzival‹“99 „mithilfe eines narratologischen Ansatzes zu paradigmatischen Wiederholungsstrukturen in literarischer Prosa“ als „narrative Technik“ erneut aufgreifen“.100 In der Abhängigkeit und ständigen gegenseitigen Subversion von syntagmatischer und paradigmatischer Ebene sieht Richter die „Ursache für die Unmöglichkeit, zu einer ein-sinnigen Interpretation des Textes zu gelangen“.101 Als Fazit dieser Beobachtung hält sie fest:
So scheint das dominante Syntagma102 im ›Parzival‹ vor allem über zwei Funktionen zu verfügen: Zum einen konstituiert es die über die Entfaltung der Parzival-Figur ←31 | 32→begründete Kernerzählung, an der sich der Rezipient orientieren kann. Zum anderen verweist es auf die ihm angelagerte paradigmatische Ebene, welche im Syntagma entwickelte Sinnangebote beständig umformt und zurücknimmt. Damit aber überhaupt mit der textimmanenten Semantik auf diese Weise gespielt werden kann, muss Erstere auf einer syntagmatischen Ebene zunächst entwickelt sein. Nur über ein Kernsyntagma kann sich ein Paradigma erst konstituieren, ansonsten würde sich der Sinn des Textes völlig in der semantischen Verdichtung auflösen.103
Details
- Seiten
- 308
- Erscheinungsjahr
- 2022
- ISBN (PDF)
- 9783631864845
- ISBN (ePUB)
- 9783631864852
- ISBN (Hardcover)
- 9783631839249
- DOI
- 10.3726/b18875
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (Dezember)
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 308 S., 3 S/W-Abb., 9 Tab.
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