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Schöne Kunst und reiche Tafel: über die Bilder der Speisen in Literatur und Kunst / Belle arti e buona tavola: sul significato delle pietanze nell’arte e nella letteratura

Beiträge der Tagungen Gießen (11./12. Oktober 2014) und Urbino (14./15. Oktober 2014) / Atti dei convegni di Gießen (11/12 ottobre 2014) e Urbino (14/15 ottobre 2014)

von Sandra Abderhalden (Band-Herausgeber:in) Michael Dallapiazza (Band-Herausgeber:in) Lorenzo Macharis (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 430 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band versammelt Beiträge zweier Tagungen zur Bedeutung von Essen und Trinken in Kunst und Literatur. Im Zentrum stehen Esskulturen und Praktiken vorrangig in der deutschen und italienischen Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Der mehrsprachige, komparatistisch ausgerichtete Tagungsband spiegelt die Vielfältigkeit des kulinarischen Themas in literarischen und künstlerischen Werken auf umfassende Weise wider.
Questo volume raccoglie i contributi di due conferenze sul significato del cibo e delle bevande nell’arte e nella letteratura. Pietra angolare del libro è il tema delle culture e delle pratiche alimentari, illustrate con particolare attenzione alle letterature italiana e tedesca, dal medioevo ai nostri giorni. Partendo da una prospettiva comparatistica, il volume plurilingue rispecchia in modo esemplare la molteplicità del tema nelle tradizioni dell’arte e della letteratura.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung: Zur symbolischen und kulturellen Bedeutung des Essens und Trinkens in Literatur und Kultur
  • Spaghetti und Currywurst. Speisen und Getränke in den Texten von italienischen und deutschen Liedermachern
  • Hühnchen zwischen Rezitativ und Arie. Mozart und Bernstein à la carte
  • Il gusto del romanticismo: nota sulla figura del cibo in Goethe e Hölderlin
  • Die Symbolik des Essens und die entsprechende Übersetzung. Von Shakespeare bis Brecht: Betrachtungen über Essen als Ausdruck des Denkens und der kulturellen Identität
  • Das Essensmotiv und die Entdeckung der Körperlichkeit in der Literatur des Mittelalters – Drei Beispiele
  • Esskultur der Frühen Neuzeit: zum Grobianismus
  • Essen, Erinnerung und Vergänglichkeit in Peter Kurzecks Monumentalprojekt Das alte Jahrhundert
  • Rafik Schami Damaskus. Der Geschmack einer Stadt: a journey through Damascene culture introducing a sense of multifaceted identity into German literature
  • Verbotene Speisen  – Die Bedeutung von Essen und Trinken im Märchen
  • „Alles, was ich tat, hatte Hunger“: Inszenierung des (Nicht-)Essens in Herta Müllers Atemschaukel
  • Das Gastmahl der Götter. Mythologische Konzepte des Speisens und Trinkens in der Literatur
  • „Der Weg zu Gott führt durch die Küche“  – Betrachtungen von Religion und Essen im Hinblick auf ihre identitätsstiftende Funktion in Gogols Der Revisor
  • Schmeckts? Menschenfraß + Dynastik in Bühnenstücken der Weltliteratur
  • L’etica del mangiare: golosità e astinenza come metafore morali nella letteratura italiana del Medioevo
  • «È molto piccante. Brucia tutti i microbi della nostalgia.» Il cibo nella prosa di Carmine Abate
  • Il gusto del mondo. Immagini conviviali nell’opera di Rabelais
  • Paper Fish di Tina De Rosa: cibo, nutrimento e scrittura in una cucina italo-americana degli anni Cinquanta
  • Il cibo degli altri. Percorsi di educazione alimentare nella scuola multietnica
  • Das ist mir Wurst – Non me ne importa un fico secco: il valore del cibo nella fraseologia italiana e tedesca
  • Il gusto dell’arte: la metafora alimentare nell’estetica
  • Esskultur und kulturelle Identität. Engländer in Italien im frühen neunzehnten Jahrhundert
  • «Si cucine cumme vogli’ i’»: da ‘o rraù a ‘o ccafè nelle commedie di Eduardo De Filippo
  • Pane, acqua e vino in Anna Achmatova: poetica del brindisi e dell’impossibilità
  • The Imagery of Food in Shakespeare’s Coriolanus
  • Il cibo come esperienza di apprendimento nella didattica del cinese L2
  • Autorinnen und Autoren / Autori
  • Personenverzeichnis / Indice dei nomi
  • Reihenübersicht

← 8 | 9 → Einleitung

Zur symbolischen und kulturellen Bedeutung des Essens und Trinkens in Literatur und Kultur

1. Die kulturelle Dimension: kulturanthropologische und -soziologische Aspekte

Essen und Trinken sind Grundbedürfnisse des Menschen. Die Nahrungsaufnahme ist zweifellos ein konstitutives biologisches Merkmal des lebenden Organismus, denn ohne sie wären ein Überleben und, damit verbunden, die Existenz des Individuums nicht möglich.

Aber nicht nur aus biologischer Perspektive bekundet sich die elementare Bedeutung und Funktion von Essen und Trinken, auch in kultureller Hinsicht gibt sich ihre außerordentliche Relevanz auf vielfältige Weise zu erkennen. Aufgrund ihrer lebensnotwendigen Bedeutung nimmt die Ernährung innerhalb der Kulturen eine kaum weniger bedeutsame Rolle ein als die Sprache und wie letztere sind Prozesse des Essens und Trinkens je kulturspezifisch modelliert. Roland Barthes hat in seinem Vorwort zu Jean Anthelme Brillat-Savarins Physiologie du goût auf die Doppeldeutigkeit des Worts ‚langue‘ verwiesen, das im Französischen die Sprache und die Zunge bezeichnet,1 das für den Geschmackssinn zentrale Organ: „Manger, parier, chanter (faut-il ajouter: embrasser?) sont des operations qui ont pour origine le même lieu du corps: langue coupée, et plus de goût ni de parole.“2

Sprechen und Schmecken scheinen so benachbart und eng miteinander verbunden. Auch für Pierre Bourdieu sind es „les façons de manger“, die in Verbund mit anderen Aspekten wie Kleidung den Kern einer Kultur ausmachen.3 Die mit der Speise verbundenen Gebräuche und Selektionen, Vorlieben und Tabus können wie die unterschiedlichen Sprachen als Ausdruck kultureller ← 9 | 10 → Identität gelten. In ihnen äußern sich dabei sowohl nationale als auch regionale Besonderheiten, auf die noch näher zurückzukommen sein wird.

Mit den Esskulturen sind zudem meist komplexe Rituale kulturelle Praktiken und Gewohnheiten verknüpft,4 die nicht selten auf lange Traditionslinien zurückblicken können. Mindestens ebenso wichtig wie die Frage, was in einer gegebenen Kultur gegessen wird, ist das Wie, die oft raffinierten Regeln der Zubereitung, des Servierens und Speisens. Als gemeinschaftliche Handlungen par excellence konsolidieren diese die soziale Dimension und die Gruppenzugehörigkeit.

Auf den zentralen kulturellen und gesellschaftlichen Stellenwert des Essens und Trinkens wurde schon Georg Simmel aufmerksam, der diesem scheinbar „banalen“ Gegenstand 1910 nicht zufällig eine eigene kultursoziologische Studie widmete.5 „Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen“6 schreibt Simmel in seiner „Soziologie der Mahlzeit“ (1910) und erläutert diese These wie folgt:

Indem aber dieses primitiv Physiologische ein absolut allgemein Menschliches ist, wird es gerade zum Inhalt gemeinsamer Aktionen, das soziologische Gebilde der Mahlzeit entsteht, das gerade an die exklusive Selbstsucht des Es eine Häufigkeit des Zusammenseins, eine Gewöhnung an das Vereinigtsein knüpft, wie sie durch höher gelegene und geistige Veranlassungen nur selten erreichbar ist.7

Simmel gelangt zu der erstaunlichen Schlussfolgerung, der Grad des Gemeinschaftsgefühls und der Solidarität, den das Essen in geselliger Runde mit sich bringe, sei sogar höher als der intellektueller Kooperationen: „Personen, die keinerlei spezielles Interesse teilen, können sich bei dem gemeinsamen Mahle finden.“8 Insofern wird deutlich warum der Kulturphilosoph gerade der Mahlzeit eine „unermessliche soziologische Bedeutung“9 zuschreibt.

Ein wichtiges Merkmal der mit Speise und Trank assoziierten Geselligkeit besteht in der Tendenz, über die Grenzen der eigene Gesellschaft und Kultur hinauszuführen. Verbunden mit der Idee der Gastfreundschaft weist das Teilen einer Mahlzeit seit der Antike eine Kulturgrenzen überschreitende, ← 10 | 11 → friedensstiftende Schlüsselfunktion auf. So notiert bereits Simmel: „Das gemeinsame Essen und Trinken, das selbst dem Araber den eben noch todfeindlichen Fremden in einen Freund verwandelt, löst eine ungeheure sozialisierende Kraft aus.“10 Jene grenzüberschreitende und versöhnende Qualität des Essens betrifft auch die Differenz zwischen Menschen und Göttern bzw. die Möglichkeit sie zu überbrücken: „Insbesondere im semitischen Altertum bedeutet dies das brüderliche Verhältnis durch den gemeinsamen Zutritt zu der Tafel Gottes.“11

Es lohnt sich noch einen Augenblick bei den grundlegenden Überlegungen aus der „Soziologie der Mahlzeit“ zu verweilen. Simmel arbeitet in seiner weiteren Argumentation vor allem den auf den ersten Blick paradox erscheinenden Zusammenhang zwischen dem exklusiven Anspruch der Bedürfnisbefriedigung einerseits und dem intensiven gemeinschaftlichen Erlebnis der Mahlzeit andererseits, die zur Feier, zum Fest überhöht werden kann. Er unternimmt es ferner, auch die Entstehung der Essensvorschriften und -tabus in diesem Spannungsfeld zu verorten und sie durch die Entdeckung der überindividuellen Bedeutung des Speisens zu plausibilisieren:

Gerade weil die gemeinsame Mahlzeit ein Ereignis von physiologischer Primitivität und unvermeidlicher Allgemeinheit in die Sphäre gesellschaftlicher Wechselwirkung und damit überpersönlicher Bedeutung hebt, hat sie in manchen früheren Epochen einen ungeheuren sozialen Wert erlangt, dessen deutlichste Offenbarung die Verbote der Tischgemeinschaft sind.12

Simmel begreift die Erfindung von Regeln als einen graduellen Prozess der ästhetischen Stilisierung im Dienste einer sozialen Funktion: „Endlich ist die Regulierung der Essgebärde, ihre Normierung nach ästhetischen Prinzipien ein Erfolg der Sozialisierung der Mahlzeit.“13 Auch wenn kein unmittelbarer Nutzen aus dem sozialen Essverhalten ersichtlich ist, ist sie ein wichtiger Schritt in der kulturellen Entwicklung: „Diese strenge Normierung und Gleichgestaltung hat gar keinen äußeren Zweck, sie bedeutet ausschließlich die Aufhebung oder Umbildung, die die materialistisch individuelle Selbstsucht durch den Übergang in die Sozialform der Mahlzeit erfährt.“14 Der Form kommt dabei, wie Simmel betont, eine ungleich größere Bedeutung zu als dem Inhalt der Mahlzeit: „Nun entstehen all die Vorschriften über Essen und Trinken, und zwar nicht in der hier unwesentlichen Hinsicht auf die Speise als Materie, sondern bezüglich der ← 11 | 12 → Form ihrer Konsumierung.“ Auch die Verwendung bestimmter Utensilien trägt nach Simmel zur weiteren Ästhetisierung und Stilisierung des Speisens bei: „Schon das Essen mit einem Gerät hat diese Basis seines ästhetischeren Stiles.“15 Mehr noch, die Verwendung bestimmter Requisiten oder Accessoires ist aus der Sicht des Kulturphilosophen Ausdruck einer Verfeinerung und Weiterentwicklung im Kultivierungsprozess, der zugleich eine Sozialisierungsprozess ist, denn das „Essen aus der Hand hat etwas entschieden Individualistischeres als das mit Messer und Gabel, es verknüpft den einzelnen unmittelbarer mit der Materie und ist die Äußerung der reserveloseren Begierde.“

Unabhängig davon, ob man Simmels Thesen im einzelnen folgt und seine Ansicht von der Höherwertigkeit bestimmter Essgewohnheiten gegenüber anderen teilt, zeichnet sich in seiner Argumentation insgesamt ein stringente Beschreibung der kulturellen Evolution ab, bei der neue soziale Werte und eine neuartige ästhetische Qualität Hand in Hand gehen. Auch wenn man der Argumentation nicht unbedingt in allen Details folgen bzw. zustimmen mag, so zeigt sie einen wichtigen Kernaspekt der kulturellen Dimension des Speisens, indem sie den Prozess der Ablösung von der reinen Bedürfnisbefriedigung und der Zuordnung neuer, übertragener Sinnebenen in den Blick nimmt: „Jeder Schritt, der die Mahlzeit in den unmittelbaren und sinnbildlichen Ausdruck höherer, synthetischer sozialer Werte aufwärts führt, lässt sie eben damit einen höheren ästhetischen Wert gewinnen.“16 Auch Norbert Elias nimmt diesen Gedanken einer sukzessiven Ausdifferenzierung der Mahlzeiten und Speiseriten später in seiner einschlägigen Studie Über den Prozeß der Zivilisation auf und deutet die Verfeinerung der Esskultur zugleich als eine Verlagerung der primären Sinneswahrnehmung auf das Auge.17

Ferner führt die Ausbildung einer genauen Abfolgeordnung der einzelnen Aktionen und Teile einer Mahlzeit nach Simmel zu einer weiteren Binnendifferenzierung des Speiserituals:

In gleicher Richtung liegt, was man die Hierarchie der Mahlzeit nennen könnte: dass nicht mehr beliebig und regellos in die Schüssel hineingelangt wird, sondern eine bestimmte Reihenfolge innegehalten wird, in der man sich bedient; in den englischen Trade Clubs, den Vorläufern der heutigen Gewerkvereine, wurde manchmal eine Strafe dafür bestimmt, dass jemand außer der Reihe trank.

Auch die grundlegende und strukturgebende Bedeutung des Zeitfaktors bei der soziokulturellen Verankerung des Essens wird von Simmel klar erkannt: „Die Gemeinsamkeit des Mahles aber führt sogleich zeitliche Regelmäßigkeit ← 12 | 13 → herbei, denn nur zu vorbestimmter Stunde kann ein Kreis sich zusammenfinden – die erste Überwindung des Naturalismus des Essens.“18 Es gehe um die Veränderung, welche die „materialistisch individuelle Selbstsucht durch den Übergang in die Sozialform der Mahlzeit erfährt.“19 Nur so kann sich die Esskultur einer Gemeinschaft zu einem „anschaulich festen Punkt“ entwickeln, zu einem „Symbol“, an dem sich „die Sicherheit des Zusammengehörens immer von neuem“20 orientiert. Nicht zufällig gebraucht Simmel in den zitierten Zeilen den Symbolbegriff. Wenig später sollte sich auch der Kulturphilosoph Ernst Cassirer dem Essen und Trinken zuwenden, um nach seiner Bedeutung innerhalb der Mythen und religiösen Kulte zu fragen. In Anlehnung an die Untersuchungen von Robertson Smith analysiert er vor allem die integrativen, gemeinschaftsstiftenden Funktionen des Tieropfers bei den Naturvölkern: „In dem Genuß des Fleisches des Totemtieres stellt sich die Einheit des Clans und der Zusammenhang mit seinem totemistischen Ahnherr als unmittelbare, als sinnlich-körperliche Einheit wieder her. In ihm wird sie gewissermaßen stets aufs neue besiegelt.“21 Nicht ohne verwendet er mit einem Seitenblick auf die jüdisch-christliche Tradition den Begriff der „Kommunion“. Es ist darüber hinaus wichtig zu sehen, dass gerade den sinnlich-konkreten Aspekten des Essvorgangs und der materiellen Ebene des gemeinsamen Mahls nach Cassirer eine Schlüsselrolle zukommt:

Diese Kommunion kann sich zunächst nicht anders als rein materiell darstellen, kann sich nur im gemeinsamen Essen und Trinken derselben Sache vollziehen. […] Das Opfer ist der Punkt, an dem sich das „Profane“ und das „Heilige“ nicht nur berühren, sondern an dem sie sich unlöslich durchdringen.22

So lässt sich neben der Sprache, den Mythen und der Wissenschaft auch den mit Essen verbundenen Bildern und Handlungen eine spezifische „symbolische Prägnanz“23 zuschreiben. Unter symbolischer Prägnanz versteht Cassirer die Art und Weise, in der „ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“.24

Um eine solche Verknüpfung von sinnlich-materieller Erfahrung und anschaulicher Sinndimension geht es häufig auch bei den Vorgängen des ← 13 | 14 → Speisens, noch bevor sie als literarischer oder künstlerischer Gegenstand in den Rückblicken. So betrachtet ist die Ausbildung einer charakteristischen Essensmetaphorik und -symbolik nicht verwunderlich und ihre Einbettung in literarische Texte ein naheliegender Schritt. Dabei kommt es zu vielfältigen metaphorischen Vernetzungen des Sujets mit anderen kulturrelevanten Themen, etwa die Verschränkung von Essensmetaphorik und Erotik oder Speise und Transzendenz.

Neben den von Simmel und anderen Kulturwissenschaftlern bereits angesprochenen, oben diskutierten Aspekten der Gemeinschaft und der Geselligkeit sowie der Zeit, der ästhetischen Stilisierung und Ritualisierung sind weitere relevante Gesichtspunkte zu nennen, die die kulturelle Dimension des Essens prägen. Die Orte bzw. Räume des Essens spielen eine nicht zu übersehende, wichtige Rolle sowie die damit verbundenen Requisiten und Accessoires, die neben ihrer unmittelbar praktischen häufig auch eine symbolische Funktion tragen.

2. Literarische Dimension

Vor der Folie des bisher Gesagten überrascht es nicht, dass auch in der Literatur Speise und Trank ausführlich und in differenzierter, oft subtiler Form thematisiert werden. Zu einzelnen Epochen und Gattungen liegen inzwischen differenzierte, mehr oder weniger stark selektive Überblicksdarstellungen vor. Häufig liegen den epochenspezifischen Untersuchungen Makrozeiträume wie Antike,25 Mittelalter,26 Neuzeit27 zugrunde, wobei die historischen Überlegungen erkenntnisfördernd von soziologischen Blickwinkeln überlagert werden können, wenn zum Beispiel die Esskultur des höfischen Mittelalters ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.28 Zudem gibt es zu einzelnen Textsorten, Dichtern und Werken bereits einige interessante Studien unter dem Leitaspekt der Kultur des Speisens und Trinkens.29 Vor dieser Folie überrascht es nicht, wenn in jüngster Zeit Kulturwissenschaftler dafür plädieren, ein „Imaginäres des Geschmacks“ bzw. „l’imaginaire du goût“ als eine eigene Kategorie der kulturellen Imaginationsgeschichte einzuführen.30 Besonders anschaulich bekundet sich die Intensität der Vorstellungsbilder vom Speisen mit den ← 14 | 15 → wohl in der utopischen Dimension, wie sie in den zahlreichen literarischen Schlaraffenland-Visionen greifbar wird.

In systematischer Hinsicht scheinen besonders solche Analysen bzw. Darstellungen aufschlussreich, die neben den Textzeugnissen selbst weitere kulturelle Kontexte in den Blick nehmen und über eine rein philologische Fragestellung hinausgehen. Ein neueres Themenheft der Zeitschrift für Kulturwissenschaft, das die beiden Literaturwissenschaftlerinnen Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat besorgt haben, widmet sich eben dieser Fragestellung in einem interessanten Aufsatzspektrum ausführlich.31

Gerade im Blick auf die Erforschung der neueren und jüngsten Literaturen, die im Zeichen der globalen Vernetzung steht, erfordert eine erhöhte Sensibilität für die kulturellen Implikationen auf einer interkulturellen und transnationalen Ebene. In der Migrationsliteratur und der Literatur ohne festen Wohnsitz avancieren das Essen sowie die damit verknüpften kulturellen Praktiken und Symbole zu einem ebenso zentralen wie oftmals brisanten Sujet. An sie knüpfen sich kulturelle Identitätskonstruktionen,32 Selbst- und Fremdbilder und eingespielte Handlungsformen, die im Kulturaustausch und -transfer nicht selten zu Missverständnissen und Konflikten führen können. Zugleich haftet ihnen der Reiz des Exotischen, das Faszinosum von kultureller Alterität an, die sich zu symbolischen Figurationen verdichten können.

Salman Rushdie lässt in seiner Erzählung The Moor’s Last Sigh (1995) die entscheidende Rolle der Gewürze in der Geschichte der Entdeckungen und des Kolonialismus deutlich werden, wenn er aus der Perspektive des Icherzählers rückblickend deren Funktion als eigentliche Initialzündung und treibende Kraft des Kolonialisierungsprozesses fokussiert:

I repeat: the pepper, if you please; for if it had not been for peppercorns, then what is ending now in East and West might never have begun. Pepper it was that brought Vasco da Gama’s tall ships across the ocean, from Lisbon’s Tower of Belém to the Malabar Coast: first to Calicut and later, for its lagoony harbour, to Cochin. English and French sailed in the wake of that first-arrived Portugee, so that in the period called Discovery-of-lndia – but how could we be discovered when we were not covered before?… we were ‘not so much sub-continent as sub-condiment’, as my distinguished mother had it.33

Das genannte Wortspiel mit „sub-continent“ und „sub-condiment“ bringt die Haltung der Europäer auf einen prägnanten Begriff, indem es die Pole von Faszination und Herablassung in einer ambivalenten Synthese zusammenführt. ← 15 | 16 → Einerseits fungieren die Gewürze als Zeichen einer raffinierten und subtilen Speise-Kultur, umgeben von der Aura des Besonderen und Orientalischen, andererseits erscheinen sie, wie die Vorsilbe „sub“ verrät, in der Hierarchie der europäisch-westlichen Geschmackskultur zugleich bleibend untergeordnete Randphänomene.

Auch die indisch-amerikanische Autorin Chitra Banerjee Divakaruni, um ein weiteres Beispiel aus der postkolonialen Literatur anzuführen, konzentriert sich in ihrem Roman The Mistress of Spices (1997) auf die tragende Bedeutung der Gewürze für die kulturelle und individuelle Identitätskonstruktion. Die Erzählung bezieht einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Faszination aus dem evokativen Gestus der märchenhaften Gewürze-Namen, die assoziativ mit der geheimnisvollen kulturellen Herkunft der Protagonistin verbunden werden:

Each chapter in the book is the story of a spice – turmeric, cinnamon, chili, fennel, peppercorn and so may more – and of the people that consume it. I enjoyed this blending of the spices with the characters and their emotions. Turmeric, the hope for rebirth; chili, the cleanser of evil; fennel, to cool tempers; fenugreek, to render the body sweet and kalo jire to reduce pain and suffering.34

Nicht ohne Grund erfreuen sich Bücher, die interkulturelle Themen in einer Engführung mit dem Exotismus der fremdartigen Speiserituale verhandeln, großer Beliebtheit, wovon auch die Verfilmungen zeugen (etwa The Mistress of Spices (2005). Regie: Paul Mayeda Berges, Bollywood). Dieses Interesse scheint nicht allein auf einer oberflächlichen Neugier und Attraktion durch den Reiz des Exotischen zu liegen, vielmehr korrespondiert es auch der Erkenntnis, dass die in Szene gesetzten Speiseregeln und Gebräuche über recht komplexe Bedeutungsdimensionen verfügen. So werden in einer anderen Filmproduktion Zimt und Koriander (Originaltitel: Πολίτικη Κουζίνα – Politiki kouzina, 2003, Regie: Tassos Boulmetis) neben der raffinierten Küche des Großvaters und der Familientradition der in Istanbul bzw. Konstantinopel lebenden Griechen gleichzeitig auch der politische Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland und die Vertreibung von kulturellen Minderheiten zum Thema.

Die beeindruckende Themenvielfalt der Speise im Medium der Literatur, die seit der Antike und den frühen Hochkulturen im Orient sehr reichhaltig ist, scheint in der Gegenwartsliteratur noch intensiviert. Die folgenden Beiträge zielen nicht darauf, dieses weite Feld erschöpfend zu behandeln. Vielmehr geht es darum, exemplarisch einige systematische Leitlinien aufzuzeigen, um so eine weitere Beschäftigung mit dem Themenkreis anzuregen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt bei Beispielen aus der deutschsprachigen und italienischen Literatur und Musik, welche um eine interkulturelle und ← 16 | 17 → komparatistische Perspektive erweitert werden. Sie wurden auf zwei unmittelbar aufeinander folgenden Teil-Tagungen vorgetragen und diskutiert.

Der zweite Teil der Tagung an der Universität Carlo Bo von Urbino (SLURP – Studi Letterari Urbinati: Ricerche sulle Pietanze Giornate di Studio Internazionali) wurde vom Dottorato di Ricerca für Interkulturelle Europäische Studien organisiert.35 Die Tagung ist Ausdruck einer sich im Laufe der Jahre verstärkten Zusammenarbeit der Universitäten von Urbino, Gießen und Kiel. Nach dem Erfolg der vergangenen Konferenzen, in denen Raum und Zeit (Oktober 2012) und der Mythos (Oktober 2013) thematisiert wurden, haben sich die Doktoranden und die Gäste aus der Universität von Kiel während der Tagung und in der Folge der Giessener Veranstaltung dem Thema des Essens gewidmet. Die Aktualität des Thema der Tagung wird auch von der gerade eröffneten und unter dem Motto „Den Planeten ernähren, Energie für das Leben“ stehenden Weltausstellung in Mailand unterstrichen. Die Ergebnisse dieser Tagung betonen die Bedeutung einer Diskussion über das Thema der Ernährung und der Gastronomie in seinem (teilweise immer noch werdenden) Multikulturalismus.

Bibliographie

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← 17 | 18 → Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil: Das mythische Denken. Birgit Recki (Hrsg.). Hamburg 2010.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis. Hamburg 2002 [1929].

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Wördehoff, Bernhard: Sage mir, Muse, vom Schmause … Vom Essen und Trinken in der Weltliteratur. Darmstadt 2000.

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1 Vgl. Barthes 1995, 285.

2 Ebd. Zu Roland Barthes vgl. auch Schahdat 2012, 24–28.

3 Bourdieu/Passeon 1964, 63. Vgl. auch Bourdieus scharfsinnige Beobachtung, die er in seinem Buch Die feinen Unterschiede entfaltet: „Ein umfassendes Verständnis des kulturellen Konsums ist freilich erst dann gewährleistet, wenn ‚Kultur‘ im eingeschränkten und normativen Sinn von ‚Bildung‘ dem globaleren ethnologischen Begriff von ‚Kultur‘ eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird.“ (Bourdieu 1982, 17).

4 Vgl. Gottwald, Kolmer 2005.

5 Simmel publizierte den kleinen Essay in der Zeitschrift Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt Nr. 41 vom 10 Oktober 1910, in der Festnummer zum hundertjährigen Jubiläum der Berliner Universität (S. 1–2). Eine Online-Version findet sich auf der Webseite der wissenschaftlichen Internet-Ausgabe der Werke Georg Simmels, die von Prof. Dr. Hans Geser (Zürich) editorisch betreut wird: <http://socio.ch/sim/verschiedenes/1910/mahlzeit.htm>. (Alle Zitate im folgenden nach dieser Ausgabe).

6 Ebd.

7 Ebd.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd.

Details

Seiten
430
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783035108743
ISBN (MOBI)
9783035197976
ISBN (ePUB)
9783035197983
ISBN (Paperback)
9783034320191
DOI
10.3726/978-3-0351-0874-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Kulturelle Identität Esskulturen Speisemetaphorik Interkulturalität identità culturale cibo come linguaggio interculturalità interkulturelle Dimension des Essens und Trinkens
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 430 S., 12 s/w Abb., 1 Tab., 1 Graf.

Biographische Angaben

Sandra Abderhalden (Band-Herausgeber:in) Michael Dallapiazza (Band-Herausgeber:in) Lorenzo Macharis (Band-Herausgeber:in)

Sandra Abderhalden hat ihre Dissertation an der Universität von Urbino abgelegt. Sandra Abderhalden ha sostenuto una tesi di dottorato presso l’Università «Carlo Bo» di Urbino. Michael Dallapiazza ist Professor für Deutsche Literatur an der Universität Bologna. Michael Dallapiazza è professore di Letteratura Tedesca presso l’Università di Bologna. Lorenzo Macharis ha sostenuto una tesi di dottorato presso l’Università «Carlo Bo» di Urbino. Lorenzo Macharis hat an der Universität Urbino seine Dissertation abgelegt. Annette Simonis ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Gießen. Annette Simonis è professoressa di Letteratura Comparata e Letteratura Tedesca presso l’Università di Gießen.

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