Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), Bd. III
Beiträge zur dritten Arbeitstagung in Wissembourg / Weißenburg (März 2014)
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Vom Iwein Hartmanns von Aue zum Iban Ulrich Füetrers: ein Vereinfachungs- und Neu-Gestaltungsprozess
- Der Hürnen Seyfrid, ein frühneuzeitliches Rezeptionszeugnis der Nibelungensage
- Rezeption der Rezeption: Zu den Rezeptionszeugnissen des Melusine-Romans aus dem 15. bis 18. Jahrhundert
- Sebastian Brants Anlehnung an die Antike in humanistischer Perspektive in Narrenschiff und Tugent Spyl
- Die Rezeptionsliteratur im Lichte von Genettes Theorie der Hypertextualität Am Beispiel der Schönen Magelona (1527)
- Die deutsche Fabel bei Steinhöwel und in der Folgezeit
- Vom Liebesverbot zum Leseverbot: Die deutsche Rezeption von Pyramus und Thisbe in Mittelalter und Früher Neuzeit
- Zur Funktion der volkssprachlichen Rezeption neulateinischer Reformationspropaganda, aufgezeigt an Beispielen der Rezeption von Kampfdramen von Johann Agricola und Thomas Naogeorg
- Der Teütsch Cicero: Medialität und Autorschaft bei Johann von Schwarzenberg
- ‚Veritas fabulosa et fictio historica‘ bei Heinrich Steinhöwels Apollonius und Johannes Hartliebs Alexander: Zur politisch-ideologischen Funktionalisierung zweier ‚Romane‘ im Kontext der Kreuzzugsideologie des 15. Jahrhunderts
- Lodovico Guicciardinis Erquickstunden in der Übertragung durch Daniel Federmann
- Die Rezeption des Mittelalters bei Hans Sachs. Ein Beispiel: Der Tristanstoff
- Rezeption als pointierte Veränderung der Vorlage: Das Laurentius-Drama des Philipp Fabricius von 1591
- Zu Form, Funktion und soziokultureller Dimension der deutschen Übersetzungen von Il pastor fido Guarinis in der Frühen Neuzeit
- Feindbild oder Identifikationsfigur? Zur Rezeption von Sophokles’ Ajax im Umkreis Melanchthons (1534–1558)
- Abkürzungen
- Register
- Reihenübersicht
← 6 | 7 → Vorwort
Dieser Band enthält die Beiträge der Dritten Arbeitstagung zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), die vom 27. bis 29. März 2014 in Weißenburg/Wissembourg (Frankreich) stattfand. Wie bereits in den beiden ersten Arbeitstagungen in Eisenstadt 2011 und Haldensleben 2013 ausgeführt, weist die Mittlere Deutsche Literatur zwischen 1400 und 1750 einen beträchtlichen Bestand an deutschsprachiger Rezeptionsliteratur auf. Sichtung, Aufarbeitung und Wertung dieser Literatur gehören wohl zu den interessantesten und historisch aussagekräftigsten Aufgaben der Forschung, und zwar in vieler Hinsicht:
1.Die Texte der Vorlagen entstammen der antiken, der romanischen und der neulateinischen Literatur Westeuropas und in mehreren Fällen auch der einheimischen mittelhochdeutschen Literatur.
2.Welche Rezeptionsvorgänge lassen sich feststellen? Wie weit sind die frühneuhochdeutschen Neufassungen mit den Vorlagen identisch? Wie sieht die frühneuhochdeutsche Begrifflichkeit gegenüber der Begrifflichkeit des anderssprachlichen oder älteren deutschen Textes aus?
3.Eine zentrale Frage zielt auf den Wirkungsraum der Rezeptionsliteratur, d. h. auf die Feststellung, welche Funktion die rezipierten Texte für Bildung, Kultur und allgemeines Wissen der Zeit gehabt haben.
4.Wer sind die Produzenten der Rezeptionsliteratur? Waren ihre Motive ideologischer, also moralischer, politischer oder konfessioneller Art? Welche Vertriebsnetze bauten sie auf?
5.Wer sind die Leser dieser Texte gewesen und in welchem Ausmaß finden sich diese Texte in Bibliotheken der Zeit?
6.Wie verhalten sich eventuelle mehrere frühneuhochdeutsche Übertragungen oder Bearbeitungen zu ein und derselben Vorlage?
7.Sonderfälle der sprachlichen Umsetzung von Texten in dieser Zeit sind Übertragungen aus dem Italienischen ins Deutsche.
8.Andere Sonderfälle betreffen zweisprachig versierte Autoren, die ihre eigenen Texte in frühneuhochdeutschen und lateinischen Fassungen publizierten. Welche Gründe geben sie an und wie verfahren sie bei der sprachlichen Umsetzung?
9.Welche Informationen aus dem europäischen Raum sind über die Rezeptionsliteratur in den deutschsprachigen Literaturbereich gelangt?
← 7 | 8 → 10.Wie weit sind für die Geschichte der Bildung, der Kultur und der Literatur Originalliteratur und Rezeptionsliteratur gleichzusetzen? Gibt es einen Kontrast originale Kreativität versus Rezeption oder ein allgemeines moralisches Funktionssystem der Literatur der mittleren Zeit?
Diese allgemeinen Fragen, die schon in den beiden ersten Arbeitstagungen aufgeworfen und vertieft wurden, werden anhand einer facettenreichen Vielfalt von Texten hier erneut erörtert. Unser Augenmerk gilt in diesem Band besonders der älteren Periode, und zwar dem 15. und 16. Jahrhundert, wobei einige Beiträge auch die jüngere Entwicklung der frühneuzeitlichen Literatur bis in den Barock hinein beleuchten.
Die Beiträge der Dritten Arbeitstagung gliedern sich in drei Sektionen: Wiederbeleben des Mittelalters, Rekontextualisierung und Theater.
In der ersten Sektion werden Hartmanns von Aue Iwein und das Nibelungenlied, zwei der erfolgreichsten mittelhochdeutschen Werke, mit ihren frühneuzeitlichen Bearbeitungen konfrontiert. In seinem Beitrag zeigt PATRICK DEL DUCA, wie Ulrich Füetrer in seinem Iban seine Vorlage dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack anpasst, indem er auf ideologische Aspekte verzichtet und die Idealisierung des Rittertums auf ein Mindestmaß reduziert. Eine ähnliche Tendenz stellt PETER H. ANDERSEN-V. im Hürnen Seyfrid fest. Er bestimmt dabei den sagengeschichtlichen Hintergrund dieses Lieds, im Licht der Rationalen Philologie, und betont die Nähe des Textes zu Hans Sachs. Im dritten Beitrag stellt ANDRÉ SCHNYDER eine bibliographische Entdeckung vor, die Historische Wunderbeschreibung von der so genannten schönen Melusina, durch welche die Thematik der Melusine als Rezeptionsliteratur eine neue Dimension erhält. Er erörtert den komplexen Prozess der Rezeption auf der Ebene der Druckgeschichte und anhand von Zeugnissen der Melusine-Lektüre im Hinblick auf den dämonologischen und innerliterarischen Diskurs.
Die zweite Sektion ist die umfangreichste und erstreckte sich bei der Tagung über zwei Halbtage. Im ersten Beitrag stellt FRÉDÉRIC HARTWEG eingangs kurz die Antike-Rezeption in Bernhard Hertzogs Chronick vor, bevor er sich mit der stark vom ‚rheinischen Humanismus’ geprägten Anlehnung Sebastian Brants an die Antike in Narrenschiff und Tugent Spyl befasst, insbesondere mit deren effizienter Mediatisierung durch den parömiologischen Sprachschatz die gelungene Gesamtkonzeption von Text und Holzschnitt.
Im zweiten Beitrag zeigt BARBARA LAFOND-KETTLITZ anhand einer vergleichenden Analyse, wie sich der Rezeptionsprozess des altfranzösischen Romans La Belle Maguelonne durch Veit Warbeck auf der Diskursebene gestaltet: die Transposition in den protestantisch-kursächsischen Kulturbereich (1527), die zunehmende protestantische Funktionalisierung und Moraldidaxe ← 8 | 9 → der ‚editio princeps‘ durch Spalatin (1535) und späterer Drucke, auch in anderen europäischen, vom Protestantismus geprägten Ländern.
WINFRIED WOESLER erörtert, wie sich vom 15. Jahrhundert an die volkssprachliche Fabel im europäischen, insbesondere im deutschen Sprachraum entwickelt hat. Von der lateinischen Fabeltradition ausgehend zeigt er die Fabel-Rezeption bis ins 19. Jahrhundert, die sich zum allergrößten Teil aus dem christlichen Kulturraum angepassten Adaptationen mit unterschiedlicher sozialkritischer Gewichtung konstituiert. REGINA TOEPFER befasst sich mit den mittel- und frühneuhochdeutschen Adaptationen der Geschichte von Pyramus und Thisbe aus Ovids Metamorphosen. Ihre komparatistisch angelegte Untersuchung zeigt nicht nur relevante, durch den veränderten Text-Kontext-Bezug bedingte Verschiebungen, sondern auch solche hinsichtlich der Rezipienten, vor allem der Leserinnen.
HANS-GERT ROLOFF untersucht die volkssprachliche Rezeption neulateinischer Reformationspropaganda am Beispiel der religionspolitisch scharfen Tragedia Johannis Huss von Johann Agricola und des Pammachius (1538) von Thomas Naogeorg. Eine vergleichende Analyse der verschiedenen deutschsprachigen Fassungen und Bühneninszenierungen macht deren konfessionskritische Funktion deutlich, nämlich die Gravamina der Reformationskritik in nichtlateinkundige Volkskreise zu bringen. Die abschließende Untersuchung der deutschen Rezeption von Naogeorgs Judas-Drama als einem ‚Akt der Volksaufklärung‘ für moralische Lebensorientierung zeigt ebenfalls die wichtige Position, welche die ideologisch funktionalisierte Übersetzungsmethode von Dramentexten im literarischen Leben der Zeit einnimmt. JOACHIM HAMM untersucht ein bedeutendes, in der Forschung bisher wenig beachtetes Zeugnis frühneuzeitlicher Cicerorezeption, den Teütsch Cicero von Johann von Schwarzenberg, insbesondere den mehrstufigen Translationsprozess des Teamworks der Bamberger ,Cicerowerkstatt‘. Dabei fokussiert er auf die Inszenierung von Autorschaft, nämlich die Parallelisierung von Vita und Werk, sowie auf die mediengeschichtliche Relevanz, insofern das ‚Bildbuch‘ Teütsch Cicero mit seiner konstitutiven Bimedialität als Vorstufe zur Emblematik gesehen werden kann.
In ihrem Beitrag interessiert sich TINA TERRAHE für zwei vergleichbare Prosawerke, Johannes Hartliebs Puech des grozzen Alexander und Heinrich Steinhöwels Apollonius. Sie fokussiert auf das politisch-ideologische Potential dieser Werke im zeitgenössischen, durch den Fall von Konstantinopel gekennzeichneten Kontext. Eine aufschlussreiche Fallstudie liefert ALFRED NOE, der die unter dem Titel Erquickstunden erschienene Übertragung von Guicciardinis Hore di ricreatione durch Daniel Federmann unter die Lupe nimmt. Insbesondere werden die hinzugefügten Illustrationen und die neue Gliederung untersucht. Anhänge und zahlreiche Abbildungen unterstützen die Analyse.
← 9 | 10 → In der letzten, dem Theater gewidmeten Sektion befasst sich DANIELLE BUSCHINGER mit der Rezeption des Mittelalters bei Hans Sachs und fokussiert dabei auf dessen Dramatisierung der Prosauflösung von Eilharts von Oberg mittelhochdeutschem Tristanroman. Wie der Iban und der Hürnen Seyfrid liefert die Tragödie Von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen königin Isalden ein charakteristisches Beispiel für die frühneuzeitliche Rezeption des deutschen Mittelalters. In diesem Fall kommt auch dem Gattungswechsel eine Bedeutung zu. CORA DIETL stellt ihrerseits ein kürzlich in einer bislang kaum beachteten Handschrift in Wolfenbüttel entdecktes Laurentius-Drama des Prager Jesuitenschülers Philipp Fabricius aus dem Jahr 1591 vor. Hauptquelle ist eine 1556 in Antwerpen erschienene Märtyrertragödie des Lütticher Humanisten Gregorius Holonius, einem ehemaligen Mitglied der Gesellschaft Jesu. Obwohl Fabricius weite Teile der Vorlage unverändert übernimmt, gelingt es ihm, durch geschickte Zusätze das humanistisch geprägte Drama in eine Tyrannentragödie umzuwandeln, die den Untergang der ‚Feinde Gottes‘ beschreibt.
TOMASZ JABLECKI befasst sich mit der Rezeption von Guarinis Il pastor fido im 17. Jahrhundert. Seine komparatistische Analyse vier deutscher Fassungen erörtert deren Stellenwert für die Entwicklung deutscher Sprache und Kultur. Er erweitert die Rezeptionsgeschichte auf das Nachbarland Polen, wo die italienische Tragikomödie erst 1695 übersetzt wurde, also nach dem Höhepunkt der Entwicklung der polnischen Literatur. ANNE WAGNIART untersucht in ihrer Detailstudie die Adaption von Sophokles’ Ajax an der Schwelle zum konfessionellen Zeitalter. Fungierte Sophokles’ tragischer Held Ajax seit Erasmus als Feindbild, so wird er durch Naogeorgs Bearbeitung, entgegen der moral-didaktischen Funktionalisierung, als Identifikationsfigur rehabilitiert.
Die Tagung wurde von der Universität Straßburg in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie/Universitätsbereich, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Wien, der Freien Universität Berlin und dem Institut Universitaire de France veranstaltet. Die Herausgeber möchten den wissenschaftlichen Beratern für Ihre Hilfe und Bereitschaft bei der Editionsarbeit danken, und zwar Herrn Prof. Dr. MATHIAS HERWEG, Herrn Prof. Dr. JAN-DIRK MÜLLER, Herrn Prof. Dr. ALFRED NOE und Herrn Prof. Dr. JEAN-MARIE VALENTIN. In ganz besonderer Dankbarkeit sind sie Herrn Prof. Dr. HANS-GERT ROLOFF verbunden für die Aufnahme der Weißenburger Beiträge in die Reihe der Arbeitstagungen zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit.
Finanziell unterstützt wurde die Tagung von der Forschungsgruppe EA 1341 und dem Wissenschaftlichen Rat der Universität Straßburg, der Region Alsace, dem DAAD, der Stadt Weißenburg/Wissembourg und dem Abgeordneten des lokalen Wahlkreises Herrn FRÉDÉRIC REISS. Die Veranstalter möchten außerdem dem Lokalhistoriker Herrn BERNARD WEIGEL für seinen ← 10 | 11 → öffentlichen Vortrag zu Otfried von Weißenburg danken, ein außerordentlicher Publikumserfolg mit großer Pressedeckung. Unsere Dankbarkeit gilt schließlich auch dem Bürgermeister Herrn CHRISTIAN GLIECH und seinen vielen Mitarbeitern, die nicht einzeln aufgezählt werden können, für den gemütlichen Empfang in ihrer literaturhistorisch äußerst bedeutsamen Stadt.
Straßburg, März 2015
Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus & Barbara Lafond-Kettlitz ← 11 | 12 →
← 12 | 13 → PATRICK DEL DUCA (CLERMONT-FERRAND)
Vom Iwein Hartmanns von Aue zum Iban Ulrich Füetrers: ein Vereinfachungs- und Neu-Gestaltungsprozess
Zusammenfassung: Der Iban aus Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer ist eine späte Bearbeitung des Iwein Hartmanns von Aue. In dieser Neufassung wird die mittelalterliche Vorlage in mancher Hinsicht vereinfacht und den Erwartungen sowie dem Geschmack des zeitgenössischen Publikums angepasst. So wird auf ideologische Aspekte verzichtet, die im Mittelpunkt von Hartmanns Werk standen. Die Idealisierung des Rittertums wird auf ein Mindestmaß reduziert: Bei Ulrich Füetrer stehen nur noch adlige Herkunft, Tapferkeit, Männlichkeit und Suche nach Ehre im Vordergrund, während alle ethischen Werte, die bei Hartmann den ‚miles christianus‘ ausmachen, verloren gegangen sind. Auch an der Art und Weise, wie Ulrich das Motiv von Ginovers Entführung durch Meliaganns behandelt, lassen sich die poetische Originalität des Dichters sowie eine neue Auffassung von Ehre und Rittertum erkennen. Gerade die Beseitigung der ideologischen Aspekte erlaubt es dem Autor, sein Werk zu etwas Einheitlichem und Kohärentem zu gestalten.
Stichworte: Adaptation, Adel, Artusroman, Buch der Abenteuer, Ulrich Füetrer, Hartmann von Aue, Iwein, Rittertum
Ulrich Füetrers Iban bietet eine stark abgekürzte Fassung von Hartmanns von Aue Iwein (Iw).1 Die spätere, in der Form der Titurelstrophe abgefasste Version enthält nur noch 2079 Verse, während der Roman aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert je nach Fassung 8166 bis 8253 Paarreimverse umfasst. Der Iban ist Teil eines literarischen Ganzen, das seit dem 19. Jahrhundert unter dem Titel Buch der Abenteuer (BdA) bekannt ist und insgesamt 11654 Titurelstrophen zählt.2
← 13 | 14 → Im Auftrag des Herzogs Albrecht IV. von Bayern (1447–1508) hat Ulrich von 1473 bis 1481 an diesem immensen Werk gearbeitet, in dem er eine „Geschichte des abendländischen Rittertums“ entwirft.3 Das Buch der Abenteuer ist auch eine Huldigung an den Herzog von Bayern, den der Autor regelmäßig nennt, und an seine Gattin Kunigunde (1465–1520), Tochter des Kaisers Friedrich III. Diese Summa ritterlicher Heldentaten zerfällt in drei Teile, die genealogisch organisiert sind4 und somit eine kohärente Einheit bilden.5 Das erste Buch beginnt mit der Geschichte des Gralgeschlechts (‚Von den Tempeleysen‘) und knüpft an den Trojanerkrieg an. Anschließend folgen die Geschichten von Mörlin, Gamoreth, Tschionachtolander, Parzival und Gaban, sowie von Lohargrim. Das zweite Buch befasst sich mit den Abenteuern einzelner Helden: Es handelt sich um Wigoleis, Seyfrid (von Ardemont), Melerans, Iban, Persibein, Poytislier und Flordimar. Das dritte und letzte Buch ist der Geschichte von Lannzilet gewidmet und nach dem Prosa-Lancelot bearbeitet.6 Das gesamte Werk ist vollständig nur in der Prachthandschrift Cgm 1 erhalten, die für Albrecht und Kunigunde angefertigt worden war, sowie in dem in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Codex 3037/3038. Sonst existieren auch drei Teilhandschriften des Werkes, wie etwa der Codex Donaueschingen 140, die von der breiten Resonanz zeugen, die es gleich nach seiner Entstehung genoss. Von diesen fünf Handschriften des Buchs der Abenteuer enthalten nur die beiden vollständigen den Iban.7
Diese Genealogie des Rittertums, die Ulrich mehrmals mit einem Stammbaum vergleicht, reicht von Brutus und der Gründung Britanniens bis zum Untergang von Artus’ Reich und bildet somit eine „summa militiae“,8 in der sich die Mentalität des süddeutschen Adels am Ende des 15. Jahrhunderts spiegelt. Gerade im Iwein stellte Hartmann von Aue seine Auffassung von ← 14 | 15 → Rittertum und ritterlicher Mission am deutlichsten dar, so dass ein Vergleich mit dem Iban Ulrichs die Entwicklung von Ritteridee und ritterlicher Ideologie veranschaulichen kann. Im Folgenden wird auf die Haupttendenzen dieser Neugestaltung der ritterlichen Ideologie eingegangen, indem an einigen Beispielen die Hauptunterschiede zwischen Hartmann und Ulrich aufgezeigt werden.
In der Monographie, die er dem Münchner Hof und dem Buch der Abenteuer gewidmet hat, stellte Bernd Bastert die These von einem krisenhaften Niedergang des Adels im sogenannten ‚Herbst des Mittelalters‘, so wie sie 1919 von Johan Huizinga aufgestellt worden war, zu Recht in Frage.9 Dass das Werk Ulrich Füetrers sich in eine historisch-literarische Kontinuität einbettet, hat Bastert überzeugend dargelegt. Daher sollte auch der von der Forschung so oft gebrauchte Terminus ‚Ritterrenaissance‘ bzw. ‚Renaissance der Ritteridee‘ hinterfragt werden, denn eigentlich war diese Ritteridee nie erloschen10 – man denke nur an die Bedeutung, die als chevaleresk betrachtete Tugenden wie individuelle Tapferkeit und Risikofreude 1415 bei der Schlacht bei Azincourt spielten und wie sie zum großen Debakel der französischen Ritterschaft führten. Jedoch hat diese Ritteridee grundlegende Veränderungen erfahren, die bisher noch nicht näher untersucht wurden.
Erste Tendenz: Vereinfachung und Tilgung aller überflüssigen Spannungen
Um einen besseren Überblick über all die Episoden, die das Buch der Abenteuer ausmachen, und somit auch ein besseres Verständnis des Werkes zu ermöglichen, hat Ulrich das gesamte Buch in zahlreiche Episoden zerlegt, die er mit Untertiteln versehen hat. Dieser Prozess geht Hand in Hand mit einem anderen Verfahren, das auch auf ein besseres Verständnis des Stoffes zielt: Während im Iwein die Namen der meisten Figuren erst im Nachhinein enthüllt werden, ← 15 | 16 → erfährt der Leser der späteren Bearbeitung gleich, mit welcher Gestalt er es zu tun hat. Eine derartige Vereinfachung wird auch durch die Größe von Ulrichs Projekt bedingt. Ulrich strebt etwas Einheitliches an und muss in dieser Hinsicht auf die von Chrétien übernommene Enthüllungstechnik verzichten, da er sie nicht konsequent auf alle Teile seines Buchs anwenden kann, ohne das Ganze auf unentwirrbare Weise zu verkomplizieren.
Die Forschung hat schon oft darauf hingewiesen, dass die Erzählungen im Buch der Abenteuer sich auf die „handlungsnotwendigen Fakten“ beschränken.11 Füetrer legt tatsächlich großen Wert auf Handlungselemente und einzelne Ereignisse, wie es schon Wolfgang Harms betont hat: „er ist darauf bedacht, alles Ereignishafte und insofern Faktische zu bewahren, dagegen Unwirkliches, wie den Bereich der Zauberei, moralisch Anstößiges und alles spezifisch Erzählerische, wie Reflexionen, Abschweifungen, extensive Beschreibungen u. a., zu tilgen oder wenigstens zu kürzen“.12 Dem Autor liegt offensichtlich vor allem daran, „eine Geradlinigkeit des Berichts zu erreichen“.13 Ein Charakteristikum dieser späteren Adaptation ist daher wohl die Tilgung von zahlreichen Spannungen, die sich nicht unmittelbar auf die Haupterzählung beziehen. Zum Beispiel hatte schon Hartmann die Kritik an König Artus stark gemildert. Während bei Chrétien der Rückzug des Königs und der Königin in ihr Schlafzimmer von allen Rittern scharf kritisiert worden war, hatte Hartmann diese Szene verharmlost und hinzugefügt, das königliche Ehepaar handle nicht aus Faulheit (Iw 84: „durch deheine trâcheit“), sondern „durch geselleschaft“ (Iw 83), d. h. um zusammen zu sein. Diese Szene wird vom Bearbeiter einfach nicht mehr erwähnt, sondern durch einen bekannten Topos ersetzt: Artus geht nie zu Tische, ohne ein neues Abenteuer oder eine fremde Nachricht – „ain frömdes mere“ (BdA 41195) – vernommen zu haben.14 Nach einem kurzen Streit mit Kay kann Kologrand mit seiner Erzählung beginnen, wobei zu bemerken ist, dass die unbefriedigende, lediglich oberflächliche Definition der ‚âventiure‘, die in Hartmanns Iwein ausschlaggebend war und von einem falschen Verständnis vom Rittertum zeugte, in der verkürzten Fassung wegfällt.
Ebenso verhält sich die Sache mit Laudines Truchsess oder mit ihren Ratgebern. Bei Chrétien fungiert der Seneschall als Verkörperung des niederträchtigen Intriganten. Er ist ein Lügner, der behauptet, König Artus schicke sich an, ← 16 | 17 → Laudines Land zu überfallen und zu verwüsten. Vor allem verleumdet er Lunete und nennt sie eine Verräterin, damit sie zum Tode verurteilt wird. Darüber hinaus ist er ein Prahler, der sich überschätzt, aus Hochmut handelt und kein einziges Mal an seinem Sieg zweifelt. Hartmann hat diese Figur, die nun Truchsess an Laudines Hof ist, grundsätzlich verändert und aus dem perfiden Politiker einen aufrichtigen Ritter gemacht. Zwar beschuldigt er immer noch Lunete des Verrats, aber im Gegensatz zur französischen Figur handelt er irrtümlicherweise in der Überzeugung, dass Lunete ihre Herrin betrogen hat. Aufschlussreich ist auch, dass er keine frauenfeindlichen Worte mehr äußert und sich beim Kampf gegen Iwein auf das Recht und Gottes Willen beruft. In der Bearbeitung Ulrichs wird die gesamte Problematik ausgelassen: Der Kampf beginnt ohne jegliche Rechtfertigung des Truchsesses. Nur die Angst, die dieser Ritter und seine beiden Brüder vor Ibans „wütendem“ („rässe“) Löwen empfinden, wird beibehalten:
der ain kempff was des lanndes ain truchsässe;
zúe in herr Iban kempflich rait,
unnd alls die drey ersahen sein lewen rässe,
si iahen zúe der stunde
zúe disem ritter tewr,
das er nicht streit da funde,
dy maget múest ett prinnen in dem fewr,
er wollt dann lan den leoen von im schaiden. (BdA 43145–43155)
Bei Ulrich werden auch Laudines Ratgeber und Rittern deutlich positiver geschildert und nicht als inkompetent dargestellt. Im Yvain wie auch im Iwein erweisen sie sich als völlig unfähig, den Brunnen und somit das Land ihrer Herrin zu verteidigen (Iw 2310–2320). Mit Ironie wird auf ihre Feigheit hingewiesen wie auch auf ihre Zufriedenheit, als Laudine ihnen den Einsatz eines Ritters vorschlägt, der dieser königlichen Aufgabe gewachsen ist (Iw 2167–2172). Bei Chrétien und vor allem bei Hartmann ist die Untüchtigkeit der Ritter notwendig, um Laudines Heirat mit Iwein zu rechtfertigen: Nur weil all ihre Untertanen untauglich sind, kann bzw. muss die Witwe den Mörder ihres Ehemannes ehelichen. Darüber hinaus handelt es sich mit dem Brunnenabenteuer um eine Idoneitätsprobe, die nur ein Ritter königlicher Herkunft bestehen kann. Bei Ulrich wird die Untüchtigkeit der Barone und Ritter nicht mehr erwähnt, jedoch bedauert Laudamy,15 dieses Abenteuer sei so riskant, dass kein Ritter sich finden lasse, der es bestehen könne:
← 17 | 18 → wo wollt man ainen finnden,
der sichs mit mannes wer
allso törst unnderwinnden?
den funnd man nicht in aller chünig her! (BdA 41761–4)
Die Fürsten des Landes treten dann als weise Ratgeber auf, die der Königin nahelegen, einen Helden hoher Herkunft zu heiraten, da kein Feigling das Land verteidigen könne (BdA 41894–7). Außerdem erfährt der Leser durch Lunet, dass Iban über weite Länder herrscht (BdA 41771: „Der wallt auch weyter lannde“), während er bei Chrétien wie bei Hartmann dem Typus des fahrenden Ritters entsprach, der durch eine Heirat endlich zum Herrscher werden konnte. Interessant sind diese Änderungen in mehrfacher Hinsicht. Sie erlauben Ulrich, die Haupthandlung nicht aus den Augen zu verlieren und Nebenanekdoten wegzulassen. Darüber hinaus können wir davon ausgehen, dass der Autor nicht Gefahr laufen will, sein adliges Publikum zu beleidigen oder ihm auch nur zu missfallen. Auch wohl deshalb wird die Rolle der Fürsten an Laudamys Hof aufgewertet. Bemerkenswert ist, dass Ulrich, ohne dabei die Kohärenz seines eigenen Werkes zu gefährden, auf ein Detail verzichtet, das in seiner Vorlage notwendig war. Indem Laudamy nämlich betont, dass nur ein außerordentlicher Held die Verteidigung des Brunnens übernehmen kann, ist die Feigheit und Inkompetenz der Höflinge entbehrlich geworden.
Diese Tendenz zur Vereinfachung betrifft nicht nur die Nebenfiguren, sondern den Protagonisten selbst. Beim Kampf gegen Askalon hat Hartmann, im Gegensatz zu Chrétien, die mörderische Absicht Iweins hervorgehoben. Er verweist etwa ausdrücklich darauf, dass Iwein verzweifelt ist, weil sein Gegner ihm lebendig entkommen ist (Iw 1132–1134: „doch was sîn meistiu swære, / daz er im vor dan / alsô lebendech entran“), während in der französischen Vorlage der Protagonist lediglich bedauert, den anderen Ritter aus den Augen verloren zu haben (Yvain, v. 965–967: „Mes de rien si grant duel n’avoit / Con de ce que il ne savoit / Quel part cil an estoit alez“).16 Im Buch der Abenteuer wird der ausdrückliche Wille zum Mord an Aschalun nicht mehr erwähnt. Dafür betont der Erzähler lediglich, dass der König sehr schnell dem jungen, ehrenhaften Ritter durch ein Tor entrann (BdA 41586–7). Ulrich verzichtet somit auf manche ideologischen Aspekte seiner Vorlage. Tatsächlich verfährt Hartmann kontrastiv: Im ersten Teil schwärzt er seinen Protagonisten an und betont seine Ichbezogenheit sowie seine falsche Einstellung zum Mitleid – Iwein tut so, als empfände er Empathie mit der Witwe, während er in Wirklichkeit nur durch sinnliches Begehren gelenkt wird –, um ihn dann im zweiten Teil zu ← 18 | 19 → idealisieren und zur Verkörperung der Selbstlosigkeit und Barmherzigkeit zu stilisieren. Von dieser Doppelwegstruktur und einer auf Kontrasten beruhenden didaktischen Perspektive ist bei Ulrich nicht mehr die Rede. Ihm liegt auch nicht daran, seinen Protagonisten zu idealisieren. Die Hauptfigur wird nicht problematisiert und macht auch keine Entwicklung durch, so dass die einzelnen Abenteuer „ihre Einbindung in einen sozialen Lernprozess mit steigerndem Ablauf“ verlieren.17
Zweite Tendenz: Verzicht auf ideologische Aspekte
Dies wird an der Behandlung des zweiten Teils des Hartmannschen Romans deutlich. Nachdem Iwein von seinem Wahnsinnsanfall durch eine magische Salbe geheilt worden ist, ähnelt sein Erwachen einer Wiedergeburt. Da er den tiefsten Grad menschlichen Elends am eigenen Leib erfahren hat, ist er nun auch bereit, den anderen zu helfen. Auf diese Weise beginnt das altruistische Programm, das den Kern von Hartmanns Roman bildet. Als Iwein sein Leben für die gefangenen Söhne eines Burgherrn oder für die in einer Burg gefangen gehaltenen dreihundert Damen aufs Spiel setzt, verweist der Text regelmäßig auf die Barmherzigkeit des Helden sowie auf Gottes Hilfe, auf die er angewiesen ist. Auf diese Weise wird Iwein zur Verkörperung des idealen Ritters bzw. Königs erhoben. Diese ideologischen Aspekte werden bei Ulrich völlig neutralisiert: Die zahlreichen Anspielungen auf die Eingriffe der Vorsehung werden getilgt, und sogar die Barmherzigkeit des Helden gerät in den Hintergrund.
Ein gutes Beispiel dafür findet sich, als Iwein in seinem Wahnsinnsanfall den Hof verlässt und in Richtung eines angrenzenden Waldes läuft. Bei Hartmann wird gesagt, der gütige Gott habe Iwein doch nicht völlig aus seinem Schutz entlassen und füge es so, dass der Ritter einem Knappen begegnet, der einen Bogen trägt. Iwein nimmt ihm seinen Bogen und zahlreiche Pfeile, so dass er in der Wildnis jagen und überleben kann (Iw 3261–3266). Diese Episode wird von Ulrich weggelassen. Dafür fügt er hinzu, Gaban trage ständig Bogen und Pfeile bei sich, so dass er viele Hirsche, Hirschkühe und Rehe erlegt habe:
← 19 | 20 → Paid pogen unnd auch strale
trúeg er allzeit genúeg,
da mit er manig male
hirsen, hinden, reher vil erschlúeg. (BdA 42291–4)
Mitleid und Demut durchziehen den zweiten Teil von Hartmanns Roman: Empathie und Erfahrung des Leidens bildet das Bindemittel, das den Adel zusammenschweißt und ihm zugleich seine ethische Legitimität verleiht. Im älteren Werk sind ‚nobilitas morum‘ und ‚nobilitas carnis‘ nicht voneinander zu trennen. Dies kann zum Beispiel am Treffen zwischen Iwein und der Botin der jüngeren Tochter vom Schwarzen Dorn aufgezeigt werden. Die Botin wird von der jüngeren Tochter vom Schwarzen Dorn beauftragt, Iwein zu finden und ihn für ihre Sache zu gewinnen, damit er sie gegen die ungerechten Ansprüche ihrer älteren Schwester verteidigt. Sobald er sie erblickt, versteht Iwein, dass sie viele Strapazen hinter sich haben muss:
wander wol an ir sach
daz si nâch im ungemach
ûf dem wege het erliten,
do begunde ouch er ir heils biten,
er sprach: ‚frouwe, mir ist leit
al iuwer arbeit,
swie ich die erwenden chan,
dâ ne wirret iu niht an.‘ (Iw 6005–6012)
Gerade weil der Ritter, der selbst so viel „kuomber“ (Iw 5597) erlitten hat, erkennt er die Spuren des Leidens an dem „kint“ (Iw 5784) und ist sofort bereit, ihr zu helfen. Für Hartmann erbarmt sich der Leidgeprüfte des Unglücks anderer viel mehr als der, der niemals in Not gewesen ist (Iw 4989–4992). Diese christliche Dimension, die vielleicht den Einfluss des Bernhard von Clairvaux verrät, wird von Ulrich Füetrer völlig ausgeblendet. Obwohl der Leser weiß, dass die Botin auf dieser Reise Schlimmes erfahren musste (BdA 43483: „vil chumer thett sy dolen“), erfüllen diese körperlichen und seelischen Qualen beim Treffen mit Iban keine Funktion mehr:
Details
- Seiten
- 460
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783035108125
- ISBN (MOBI)
- 9783035193985
- ISBN (ePUB)
- 9783035193992
- ISBN (Paperback)
- 9783034316347
- DOI
- 10.3726/978-3-0351-0812-5
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Mai)
- Schlagworte
- eisenstadt hundisburg Fabeln Nibelungensage Transfer narrenschiff melusine Literaturüberlieferung
- Erschienen
- Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 460 S., 28 s/w Abb., 4 Tab.