Peer-Gespräche in der Schule
Beobachtungen zum mündlichen Sprachgebrauch im Spannungsfeld zwischen Institution und Identitätsentwicklung im Jugendalter
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titelseite
- Impressum
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Dank
- Inhalt
- Einführung
- I. Theoretischer Rahmen und Forschungsüberblick
- 1. Soziale Rahmung aus pädagogischsozialwissenschaftlicher Perspektive
- 1.1 Sozialisatorische Bedingungen sprachlichen Handelns im Jugendalter
- 1.2 Zur Rolle der Schule während der Sozialisation
- 1.2.1 Schule aus institutioneller Sicht
- 1.2.2 Entwicklungspsychologische Perspektiven
- 1.3 Peergroups im Schulalltag
- 1.3.1 Zur Relevanz von Peerkultur in der Schule
- 1.3.2 Schulpausen
- 2. Schülersprachen und Schulsprache
- 2.1 Jugendsprachen
- 2.1.1 Perspektiven der Forschung
- 2.1.2 Sprachliche Ausdrucksformen
- 2.1.3 Domänen jugendtypischen Sprachgebrauchs
- 2.1.4 Jugendsprache(n) als Mittel von Abgrenzung und Zugehörigkeit
- 2.2 Mündlicher Sprachgebrauch in der Schule: Ein Typologisierungsversuch
- 2.2.1 Unterrichtskommunikation
- 2.2.1.1 Plenumsunterricht und lehrerzentrierte Lehr-/Lernformen
- 2.2.1.2 Interaktive Formate der Unterrichtskommunikation
- 2.2.1.3 Kooperative Lehr-/Lernformen (Gruppenunterricht)
- 2.2.1.4 Nebenkommunikation
- 2.2.2 Mündliche Praktiken außerhalb des Unterrichts
- 2.2.2.1 Primär formell
- 2.2.2.2 Primär informell
- 2.2.3 Außerhalb der Schule
- 2.2.4 Lernziel mündliche Kompetenzen
- 2.2.5 Zwischenfazit: Peergespräche und schulischer Sprachgebrauch
- II Forschungskonzept
- 3. Zusammenstellung und Umsetzung der Erhebungen
- 3.1 Triangulation der empirischen Methoden
- 3.2 Umsetzung und Datengrundlage
- 3.2.1 Tonaufnahmen
- 3.2.2 Fragebogen
- 4. Methodologische Zugänge
- 4.1 Eigenschaften gesprochener Sprache
- 4.2 Mündlichkeit im sozialen Kontext
- 4.3 Datenanalysen und -interpretation
- 4.3.1 Datenaufbereitung
- 4.3.1.1 Tonaufnahmen
- 4.3.1.2 Fragebögen
- 4.3.2 Korrespondenzanalysen
- 4.4 Ziele, Fragestellungen und Hypothesen
- III. Praktiken in schulischer Peer-Kommunikation
- 5. Gesprächsverhalten
- 5.1 Organisation der Gespräche
- 5.2 Emotionalität
- 5.3 Facework und Höflichkeit
- 5.3.1 Kooperativität und Höflichkeit
- 5.3.2 Unhöflichkeit
- 5.4 Nonverbale Praktiken
- 5.5 Themenfokussierte Kommunikation
- 5.5.1 Erzählen
- 5.5.2 Erklären
- 5.5.3 Diskutieren, Argumentieren
- 5.5.4 Planen
- 5.5.5 Lästern
- 5.6 Angebots- und Scherzkommunikation
- 5.6.1 Frotzeln
- 5.6.2 Bricolagen
- 5.6.3 Witze und Sprüche
- 5.6.4
- 5.7 Zwischenfazit
- 6. Themenbereiche im Rahmen von Positionierungsaktivitäten
- 6.1 Kontext Freizeit und Lebenswelt
- 6.1.1 Sozialbeziehungen
- 6.1.1.1 Freunde und Peers
- 6.1.1.2 Partnerschaft und Sexualität
- 6.1.1.3 Elternhaus
- 6.1.2 Freizeit- und Alltagskultur
- 6.1.2.1 Partys und Alkoholkonsum
- 6.1.2.2 Sport- und Freizeitgruppen
- 6.1.2.3 Äußeres Erscheinungsbild
- 6.1.2.4 Einstellungen zu ausgewählten Gesellschaftsthemen
- 6.1.2.5 Subkulturelle Zugehörigkeiten
- 6.2
- 6.2.1 Nutzung
- 6.2.2 Inhalte
- 6.2.2.1 Internet und social media
- 6.2.2.2 Computerspiele
- 6.2.2.3 Fernsehen, Kino und Streaming
- 6.2.2.4 Musik und Popkultur
- 6.3
- 6.3.1 Institutionsbegleitende Themen
- 6.3.1.1 Schulalltag
- 6.3.1.2 Unterricht
- 6.3.2 Institutionsabgrenzende Themen
- 6.3.2.1 Lehrkräfte
- 6.3.2.2 Unterrichtsfächer und
- 6.4 Zwischenfazit
- 6.4.1 Diachrone Perspektive
- 6.4.2 Gesprächsdaten
- 6.4.3 Fragebögen und Vergleichsstudien
- 7. Zur Jugendspezifik der Gespräche
- 7.1 Lexikalische Aspekte
- 7.1.1 Schimpfwörter, Vulgär- und Fäkalwortschatz
- 7.1.2 Personenbezeichnungen und -kategorisierungen
- 7.1.3 Weitere Wertungsausdrücke
- 7.1.4 Hyperbolik und Intensivierer
- 7.1.5 Anglizismen
- 7.1.6 Abkürzungen
- 7.1.7 Morphologie
- 7.1.8 Bedeutungswandel
- 7.2 Gesprächslinguistische Aspekte
- 7.2.1 Jugendtypische Idiomatisierungen
- 7.2.2 Diskursmarker und Interjektionen
- 7.2.3 Vagheitsmarker
- 7.2.4 Satzbau
- 7.2.5 Pronomen
- 7.2.6 Prosodische und phonologische Aspekte
- 7.4 Zwischenfazit
- 8. Übergeordnete Stilmerkmale
- 8.1 Institutionelle Spiegelungen
- 8.1.1 Zum Verhältnis von schulischer Peerkommunikation und Institution
- 8.1.2 Nicht-sprachliche Handlungen
- 8.2 Zum Einfluss soziolinguistischer Variablen
- 8.2.1 Alter
- 8.2.2 Geschlecht
- 8.2.3 Zweitsprache
- 8.2.4 Region (Stadt / Land)
- 8.2.5 Schulform
- 8.3 Gruppenspezifische Merkmale
- 8.3.1 Gesamtschule Köln
- 8.3.2 Gymnasium Münsterland I
- 8.3.3 Gymnasium Münsterland II
- 8.3.4 Gymnasium Wuppertal
- 8.3.5 Gymnasium Münster
- 8.3.6 Gymnasium Münsterland III
- 9. Fazit und Ausblick
- IV. Literatur
- V. Anhänge
- Verzeichnis der Transkriptionen
- Verzeichnis der Tabellen
- Verzeichnis der Abbildungen
- Fragebogen
- Transkriptionskonvenstionen nach GAT 2
Einführung
Sprachgebrauch in der Schule wird gemeinhin mit mündlichen oder schriftlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht in Verbindung gebracht. Dies ist naheliegend, denn sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen kommt nicht nur im Deutschunterricht eine wichtige Bedeutung zu. Angesichts dessen wird den außerunterrichtlichen Gesprächen unter Schülerinnen und Schülern von Erwachsenen gemeinhin weniger Beachtung geschenkt. Gespräche unter Peers1 im Schulkontext können in Schulpausen, vor Unterrichtsbeginn am Vormittag und nach Unterrichtsschluss am Nachmittag sowie zwischen zwei Unterrichtsstunden stattfinden. Doch auch während der Unterrichtszeiten interagieren Schüler in ihrer Rolle als Peers miteinander, während das von der Lehrkraft etablierte Unterrichtsgeschehen nicht immer die ungeteilte Aufmerksamkeit genießt. Was aus Perspektive mancher Erwachsener wie belangloser Small-Talk unter Jugendlichen erscheint, erweist sich aus Sicht der Gesprächsforschung als hoch funktional im Schulalltag.
Mit einem gesprächslinguistischen und ethnomethodologischen Ansatz rekonstruiert diese Arbeit die Perspektive von Schülerinnen und Schülern während eines Erhebungszeitraums von 2013–2016 an Schulen in Nordrhein-Westfalen. In Gruppengesprächen von über 200 Probanden spiegeln sich freizeitliche, schulische und mediale Lebenswelten. Ethnografisches Hintergrundwissen fließt in Form von flankierend erhobenen Fragebögen mit in die Analysen ein. Hierbei greifen Schülerinnen und Schüler auf eine Vielfalt an Ausdrucksformen zurück, die ganz eigene Zwecke im Gespräch erfüllen, jedoch nicht immer mit Normen der Standardsprache und des Schriftdeutschen im Einklang stehen. Jenseits von Sprachkritik und Sprachpflege versteht sich diese Arbeit als Beitrag zur Erforschung von Alltagsgesprächen unter Jugendlichen im schulischen Umfeld, der über die Linguistik hinaus auch für Pädagogen und Lehrkräfte interessante Einblicke gewähren dürfte. Der Schulalltag Jugendlicher endet nicht mit den Unterrichtsstunden. Viele der Phänomene, die unter den Aspekten von Identitätsentwicklungsprozessen interessant sind, finden nicht unter direkter Aufsicht von Lehrkräften statt. Hierbei lässt sich eine Vielzahl von sprachlichen und kommunikativen Spezifika und Regelmäßigkeiten erkennen, ←13 | 14→die insbesondere im Hinblick auf ihren institutionsspezifischen und jugendtypischen Charakter analysiert werden sollen.
Die Arbeit gliedert sich in drei Großkapitel. Kapitel I beschreibt den theoretischen Rahmen der Arbeit sowie den aktuellen Forschungsstand. Kapitel II konkretisiert die den Analysen von Gesprächsdaten- und Fragebogenkorpus zugrundeliegenden methodischen Zugänge und formuliert konkrete Fragestellungen im Hinblick auf das Datenmaterial. Kapitel III. bildet den eigentlichen Kern mit der Beschreibung und Analyse kommunikativer Praktiken und Ausdrucksformen. Es widmet sich im Unterkapitel 5 Aspekten des Gesprächsverhaltens, wie Regelmäßigkeiten und Musterhaftigkeiten im Gespräch in ernsthaften (Kap. 5.5) und spaßhaften Gesprächssequenzen (Kap. 5.6), sowie den Aspekten: Emotionalität (Kap. 5.2), Facework und Höflichkeit (Kap. 5.3) und Spuren nonverbaler Praktiken (Kap. 5.4). Thematisch-lebensweltliche Kontexte (Kap. 6) sind im Zusammenhang mit Positionierungen im Rahmen von individueller und sozialer Identitätsbildung der Probanden relevant, die in die Bereiche Freizeit und Lebenswelt (Kap. 6.1), Medien (Kap. 6.2) und Schule (Kap. 6.3) eingeteilt und diskutiert werden sollen. In Kapitel 7 wird ein stärker an der Sprachoberfläche orientierter Analysefokus eingenommen, um bewerten zu können, inwiefern der Sprachgebrauch der Probanden als jugendtypisch beschrieben werden kann. Hierzu werden lexikalische (Kap. 7.1) und gesprächslinguistische Aspekte (Kap. 7.2) betrachtet. Kapitel 8 fasst übergeordnete Stilmerkmale im Hinblick auf institutionelle Spiegelungen (Kap. 8.1), Einflüsse der außersprachlichen Variablen (Kap. 8.2) Geschlecht, Schulform, Alter, Deutsch als Zweitsprache und Region sowie spezifische Merkmale der Einzelgruppen (Kap. 8.3) zusammen. Abschließend werden anhand einiger Desiderate der Arbeit linguistische Ausblicke (Kap. 9) gegeben sowie einige didaktisch-pädagogische Anknüpfungspunkte der Ergebnisse der Arbeit skizziert.
1 Als Peergruppe wird hier die Bezugsgruppe Gleichaltriger verstanden.
1.Soziale Rahmung aus pädagogischsozialwissenschaftlicher Perspektive
Peer-Gespräche im Schulkontext vollziehen sich unter spezifischen sozialisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen. Peerkultur nimmt im institutionellen Kontext eine besondere Rolle ein. Die sozialen Organisationsprinzipien, die ihr zugrunde liegen, können unter Rückgriff auf Goffman (1974) als Rahmen bezeichnet werden. Es handelt sich hierbei zu einem großen Teil um – aus Perspektive der meisten Teilnehmenden – um eher unbewusste, implizite Normen, die sich im sozialen Miteinander entwickeln, durch sprachliche Interaktion herausgebildet werden und sich im Sprachgebrauch widerspiegeln. Goffman selbst beschreibt das Konzept der sozialen Rahmen bewusst als offen und unabschließbar:
„Primary frameworks vary in degree of organization. Some are neatly presentable as a system of entities, postulates, and rules; others – indeed, most others – appear to have no apparent articulated shape, providing only a lore of understanding, an approach, a perspective.“ (Goffman 1974: 21)
1.1Sozialisatorische Bedingungen sprachlichen Handelns im Jugendalter
Konzepte von Jugend variieren je nach sozialem oder kulturellem Kontext und sind einem stetigen historischen Wandel unterworfen. In den meisten Nationen weltweit endet die Jugend im juristischen Sinne heute mit dem 18. Lebensjahr. Die Vereinten Nationen definieren Jugend als Zeitspanne zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr (United Nations (Hrsg.) 2018: World Youth Report: 1). Unabhängig von äußeren Festsetzungen hängt das Jugendalter mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Jugendalter zusammen.
In den westlichen Industrienationen sind die Geburtenraten seit etwa 1900 stetig gesunken. Dies hängt u.a. mit dem Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaates und dem damit verbundenen Schwund der Bedeutung von Kindern für die eigene ökonomische Absicherung zusammen. Durch das Aufkommen von sexuellen Verhütungsmethoden ist der Kinderwunsch im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer bewussten Entscheidung geworden, bei der emotionale und soziale Bereicherungen gegen individuelle Verpflichtungen, Einschränkungen und Investitionen abgewägt werden (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012: 12).
←17 | 18→Wie die sozialhistorische Kindheitsforschung beschreibt (vgl. Bühler-Niederberger 2011), als deren wichtiger Wegbereiter der Sozialhistoriker Aries (1978) gelten kann, sind Kindheit (beginnend im 17./18. Jahrhundert) und Jugend (beginnend im 20. Jahrhundert) historisch gewachsene soziale Kategorien, die nicht ausschließlich vom biologischen Alter bestimmt – wohl aber durch die Verlängerung des Gesamtlebensalters bedingt – sind. Krüger / Grunert / Bruning (2018: 802f.) charakterisieren Jugend für die Zeit der 1950er und 1960er Jahre in Westdeutschland noch als kurzen „Lebensabschnitt von geringer Eigenständigkeit […], der in erster Linie als Einstiegsphase in berufliche und familiale Erwachsenenlaufbahnen diente [und] sich vor allem seit den 1970er Jahren, bedingt durch die Verlängerung der Pflichtschulzeit und die Ausweitung des Besuchs weiterführender Bildungsgänge […] verallgemeinert, verlängert und zugleich entstrukturiert [hat].“
In der darauffolgenden Zeitspanne bis heute wurde Jugend u.a. als Moratorium mit gesellschaftlichem Freiraum für Entwicklungsprozesse (v.a. Bildung; vgl. Zinnecker 1991) beschrieben. Die feste gesellschaftliche Verankerung der Institution Schule und der damit verbunden Entkoppelung sowohl von familiären Pflichten als auch von der Arbeitswelt hat diese Entwicklung begünstigt, sodass die Jugend einen ausgedehnteren „eigenen Entwicklungs- und Entfaltungsraum […] anbot“ (Hurrelmann / Quenzel 2012: 21). Jugend wird anderseits auch als Transitionsphase (vgl. Reinders / Wild 2003) zwischen Kindheit und Erwachsenenalter klassifiziert, in der die Jugendlichen nicht von Verpflichtungen befreit sind, sondern spezifischen gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen haben.
Hurrelmann/Quenzel beschreiben in Anlehnung an Havighurst (1948) einige „Entwicklungsaufgaben“ an den Übergängen vom Kindes- zum Jugendalter und Jugend- zum Erwachsenenalter, die sich als Wechsel in unterschiedliche gesellschaftlich relevante Kontexte beschreiben lassen. Im Übergang von Kindheit zur Jugend sind dabei folgende Aspekte zentral:
–„Selbstverantwortete Leistungserbringung“ sowie
–„Selbstverantwortete Gestaltung der Sozialkontakte“ (ebd.: 41)
Den Übergang von Jugend zum Erwachsenenalter sehen Hurrelmann/Quenzel (2012: 41) hingegen gekennzeichnet durch:
–den „Übergang in die Berufsrolle“ mit zunehmender ökonomischer Selbstversorgung,
–den „Übergang in die Partner- und Familienrolle“, die durch die „Familiengründung mit Kinderbetreuung“ gekennzeichnet ist,
←18 | 19→–den „Übergang in die Konsumentenrolle“ samt „selbstständige[r] Teilhabe am Kultur- und Konsumleben“,
–den „Übergang in die politische Bürgerrolle“, die sich durch politische Teilhabe auszeichnet. (ebd.: 41)
Insgesamt hat die Lebensphase Jugend bis heute eine immer größere Ausdehnung erfahren. Eine zunehmende Individualisierung und Ent-Traditionalisierung der Lebensgestaltungen führen zudem dazu, dass die Übergänge zu Kindheit und Erwachsenenalter schwieriger abgrenzbar und zahlreiche Überschneidungsbereiche sichtbar werden. Traditionelle Vorstellungen der Lebensalter Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Seniorenalter haben an normativer Kraft sowie sozialer Verbindlichkeit eingebüßt und weisen im historischen Verlauf bis in die heutige Zeit immer mehr Überschneidungsbereiche auf (ebd.: 17f). Verlängerte Ausbildungszeiten führen zu späteren Übergängen in die Berufsrolle. Die Konsumentenrolle erwerben Kinder heute, indem sie früher als zuvor eine Teilselbstständigkeit im Konsum von Waren und Medien erwerben. Die weit verbreitete Kinderlosigkeit bei Erwachsenen2 ist ein weiteres Beispiel für den Wandel von ehemals gesellschaftlich verbindlicheren und heute stärker liberalisierten, individualisierten Lebensstilen. Ob die Beschreibung der Jugendphase angesichts ihrer Ausdehnung und der sich verändernden gesellschaftlichen Rollenerwartungen begrifflich um eine Phase der Postadoleszenz (Keniston 1968) ausdifferenziert werden sollte, ist Gegenstand anhaltender Diskussionen (vgl. hierzu Bahlo/Krain 2018: 129–132). Adoleszenz ist in diesem Kontext als enger eingegrenztes Konzept zu verstehen, das vor allem an körperliche, kognitive und emotionale Reifeprozesse geknüpft ist, während Jugend stärker vom gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext abhängt (vgl. Furlong 2013: 1f.).
1.2Zur Rolle der Schule während der Sozialisation
1.2.1Schule
aus institutioneller Sicht
Die Institution Schule stellt eine bedeutende Instanz während der Sozialisation der allermeisten Jugendlichen hierzulande dar. Das „Bildungsmoratorium“ (Zinnecker 1991) hat sich in den letzten Jahrzehnten ausgedehnt. Junge Menschen halten sich hierzulande heute länger in Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen ←19 | 20→auf. Mit den Bildungsreformen und der Bildungsexpansion seit den 1960er und 1970er-Jahren hat sich die Schulzeit für einen Großteil der Jugendlichen bis zu einem Lebensalter von 16, 17 oder 18 Jahren ausgedehnt, während die Schulzeit in den 1950er Jahren für 14 bis 15-jährige meist beendet war. Die Quote der in verschiedenen Schulformen erwerbbaren Hochschulzugangsberechtigung liegt aktuell bei 52,1 % auf anhaltend hohem Niveau mit leicht absteigender Tendenz (vgl. Bildungsbericht 2018: 155). Die Zahl der Studierenden an Hochschulen hat sich von etwa 300.000 Anfang der 1960er auf 2,7 Millionen im Jahr 2013 verneunfacht (Krüger / Grunert / Bruning 2018: 803).
Die in der Vergangenheit vorherrschenden geschlechtsspezifischen Benachteiligungen von Mädchen konnten in den letzten Jahrzehnten – zumindest quantitativ – ausgeglichen werden.3 Wenngleich alle Bevölkerungsschichten durch Bildungsexpansion Zuwächse an höheren Bildungsabschlüssen verzeichnen konnten, werden soziale Unterschiede im deutschen Bildungssystem nach wie vor zu einem großen Teil reproduziert, wie Testergebnisse im Rahmen von Bildungsstudien der vergangenen Jahre immer wieder belegen konnten (vgl. z.B. Ergebnisse der PISA-Studie 2015). Die Wahrscheinlichkeit einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben ist nach wie vor stark mit dem Bildungsabschluss der Eltern verknüpft.4 Bildungsunterschiede und -benachteiligungen stehen auch mit dem Migrationshintergrund von Schülerinnen und Schülern in Verbindung; die Abiturientenquote ist bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund im Jahr 2014 doppelt so hoch wie in der gleichen Altersgruppe Jugendlicher ohne Migrationshintergrund (vgl. Krüger / Grunert / Bruning 2018: 808).5
Details
- Seiten
- 358
- Erscheinungsjahr
- 2021
- ISBN (PDF)
- 9783631849446
- ISBN (ePUB)
- 9783631849453
- ISBN (MOBI)
- 9783631849460
- ISBN (Hardcover)
- 9783631845202
- DOI
- 10.3726/b18144
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (März)
- Schlagworte
- Peer-Gespräche Schule Ethnografie Gesprächsforschung Jugendsprache Höflichkeit
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 358 S., 19 s/w Abb., 36 Tab.
- Produktsicherheit
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