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Fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam

Zum Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache in den Werken des Universalgelehrten Ibn Qutaiba (gest. 276 /899)

by Mahmoud Haggag (Author)
©2024 Monographs 226 Pages

Summary

Die Verbindung von Sprache und fiqh zeigt sich insofern klar, als die Normen (aḥkām) im theologisch-rechtlichen Kontext u.a. direkt von den arabischen Überlieferungstexten des Koran und der Sunna ergründet werden. Die Lehren tafsīr, fiqh bzw. uṣūl al-fiqh spielen hier eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Buch wird das Thema fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam thematisiert, indem das Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache anhand der Werke des Universalgelehrten Ibn Qutaiba (gest. 276/899) erforscht wird. In seinem Konzept zur Texthermeneutik, vor allem in Bezug auf die schwerverständlichen Texte des Koran und der Sunna, betont Ibn Qutaiba das Verhältnis von Sprache, adab und fiqh und appelliert für einen interdisziplinären sprachlich-theologisch Zugang. In diesem Konzept konzentriert er sich auf den Umgang mit der textuellen Ambiguität als Herausforderung der uṣūl-Lehre und legt Wert auf die Lehren ġarīb, muškil und muḫtalif, die im islamisch-rechtlichen Diskurs auf das Verstehen schwerverständlicher und scheinbar widersprüchlicher Passagen abzielen.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Hintergründe und Problemstellung
  • Methode und Ziel der Arbeit
  • Aufbau der Arbeit
  • Das Spannungsfeld von fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam
  • Hermeneutik als Lehre des Verstehens im islamisch-theologischen Diskurs
  • Tafsīr/taʾwīl als Hermeneutik im koranwissenschaftlichen Diskurs
  • Tafsīr/taʾwīl in den Schriften des Islam und klassischen Nachschlagewerken
  • Tafsīr als Genre der islamischen Theologie
  • Tafsīr-Schulen zur Zeit der Nachfolgegeneration des Propheten
  • Tafsīr zur Zeit der Kodifizierung der Wissenschaften (tadwīn)
  • Fiqh-Hermeneutik im rechtswissenschaftlichen Diskurs
  • Fiqh in den klassischen Nachschlagewerken und in den Quellen des Islams
  • Fiqh als Genre der islamischen Theologie
  • Hermeneutik im rechtsmethodologischen Diskurs
  • Exkurs: Das Spannungsfeld von Sprache und Religion im klassischen Islam
  • Die arabische Sprache und der Islam
  • Die arabische Sprache und der Koran
  • Sprache als Autorität und Macht im Koran
  • Das Spannungsfeld von Sprache, adab und fiqh bei Ibn Qutaiba
  • Ibn Qutaiba: Leben und Schaffen
  • Ibn Qutaiba und seine Zeit
  • Ibn Qutaiba als Universalgelehrter und Autor
  • Ibn Qutaiba als Theologe und Protagonist der adab-Literatur
  • Adab-Literatur als Genre in der Zeit Ibn Qutaibas
  • Ibn Qutaiba als Theologe und adīb in seinen Werken Adab al-kātib und ʿUyūn al-aḫbār
  • Sprache und adab im rechtlichen Denken Ibn Qutaibas
  • Ibn Qutaiba als adīb der Rechtsgelehrten und Rechtsgelehrter der udabāʾ
  • Fiqh als Lehre der arabischen Sprache bei Ibn Qutaiba
  • Exkurs: Sprachanthropologische Überlegungen im Faḍl al-ʿarab
  • Authentizität und Editionsgeschichte
  • Die Antwort auf die Šuʿūbīya als Intention für das Werk
  • Die Überlegenheit der Araber bei Ibn Qutaiba und al-Bīrūnī
  • Zum Inhalt des Faḍl al-ʿarab
  • Erster Teil: Über den Vorzug der Araber und des Arabischen
  • Zweiter Teil: Über die Wissenschaften der Araber
  • Fiqh an-nuṣūṣ als uṣūl-Frage bei Ibn Qutaiba
  • Fiqh an-nuṣūṣ als terminus technicus
  • Fiqh an-nuṣūṣ in den Werken Ibn Qutaibas
  • Sprachkenntnisse als Zugang zu fiqh an-nuṣūṣ
  • Fiqh an-nuṣūṣ und die Kritik der reinen Narrative
  • Fiqh an-nuṣūṣ im Sinne der Texthermeneutik anhand des Verses 3/7
  • Fiqh an-nuṣūṣ als Herausforderung der islamischen Theologie
  • Die Ellipse als Herausforderung des fiqh an-nuṣūṣ
  • Kognitive und theologische Überlegungen zur Ellipse im Koran
  • Die Rezeption von Ibn Qutaibas Konzept des fiqh an-nuṣūṣ in der islamischen Theologie
  • Exkurs: Koranübersetzung als Reflexion des fiqh an-nuṣūṣ anhand des Taʾwīl muškil al-Qurʾān
  • Koranübersetzung im islamischen Diskurs
  • Ibn Qutaiba zur Koranübersetzung
  • Die Ellipse als Grund für die Unübersetzbarkeit des Korans
  • Die Metapher als Grund für die Unübersetzbarkeit des Korans
  • Ambiguität als Herausforderung der uṣūl-Lehre bei Ibn Qutaiba
  • Ambiguität als sprachlich-stilistisches und kulturelles Phänomen der arabisch-islamischen Kultur
  • Die Ambiguität der Offenbarungstexte als Gegenstand der uṣūl al-fiqh
  • Ambiguität versus bayān im uṣūl-Diskurs
  • Ambiguität als Schlüsselbegriff bei Ibn Qutaiba
  • Ibn Qutaibas Herangehensweise an die Ambiguität
  • Die Ambiguität der Offenbarungstexte auf lexikalischer Ebene
  • Lexikalische Ambiguität im Koran oder ġarīb al-Qurʾān
  • Lexikalische Ambiguität in den Hadithen oder ġarīb al-ḥadīṯ
  • Die Ambiguität der Offenbarungstexte auf textueller Ebene
  • Textuelle Ambiguität im Koran oder muškil al-Qurʾān
  • Textuelle Ambiguität in den Hadithen oder muḫtalif al-ḥadīṯ
  • Exkurs: Lexikalische Ambiguität als Grund für rechtliche Meinungsverschiedenheiten in Ibn Qutaibas Kitāb al-Ašriba
  • Sprachlich-rechtliche Begriffsbestimmung: ašriba und ḫamr
  • Ḫamr in den Offenbarungstexten
  • Ḫamr im rechtlichen Diskurs
  • Das Kitāb al-Ašriba
  • Rechtlicher Inhalt in literarischem Stil
  • Die Frage der Begriffsbestimmung
  • Islamrechtlicher Pluralismus oder ḫilāf
  • Fazit
  • Literarturverzeichnis
  • Register der Eigennamen
  • Sachregister

Vorwort

Die vorliegende Arbeit entwickelte sich über viele Jahre hinweg an unterschiedlichen Orten. In Kairo beschäftigte mich die Frage nach dem Spannungsfeld von Sprache und Religion bereits, als ich 2000 meine Magisterarbeit über die Übersetzungsproblematik islamischer Begriffe ins Deutsche geschrieben und in diesem Kontext über dieses Spannungsfeld mit meinem Mentor an der Al-Azhar-Universität in Kairo, Professor Dr. Mohammed Mansour, oft gesprochen habe. Diese wissenschaftlichen Diskussionen vertieften sich während und nach meiner Promotion 2009 zum Thema der Koranübersetzung, mit dem ich mich im Rahmen der Textlinguistik und der Koranwissenschaften anhand eines interdisziplinären Ansatzes auseinandersetzte. Mein Betreuer Professor Dr. Andreas Gardt (Universität Kassel) eröffnet mir damals neue Horizonte der interdisziplinären Forschung. Später beschäftigte ich mich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Dr. Sebastian Günther (Universität Göttingen) mit diesem Spannungsfeld anhand der Werk Ibn Qutaibas (gest. 276/899). Bei meinem inzwischen verstorbenen Lehrer Professor Dr. Mansour sowie bei Professor Dr. Gardt und Professor Dr. Günther bedanke ich mich herzlich für diese bereichernden wissenschaftlichen Gespräche.

Als ich 2017 die Vertretungsprofessur für islamisches Recht und Religionspraxis am Institut für islamische Theologie der Universität Osnabrück übernahm und mich intensiver mit der islamischen Normenlehre und der Rechtsmethodologie beschäftigte, verfestigte sich vor dem Hintergrund meines bisherigen wissenschaftlichen Schaffens die Idee zum Schreiben des vorliegenden Buches. So behandelt die vorliegende Arbeit fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam, genauer das Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache in den Werken des Universalgelehrten Ibn Qutaiba. Mein aufrichtiger Dank gilt meinen Kolleg*innen am Osnabrücker Institut für ihre wissenschaftlichen Anregungen und die konstruktive Zusammenarbeit. Professor Dr. Bülent Ucar und Professor Dr. Habib El Mallouki danke ich insbesondere für ihre Motivation während des Schreibprozesses und ihre wissenschaftlichen Anregungen. Frau Jana Newiger danke ich herzlich für ihre präzises Korrektorat des Manuskripts.

Meiner Familie danke ich herzlich für ihre moralische und geistige Unterstützung und vor allem auch für ihre Liebe, Geduld und Ermutigung. Enden möchte ich mit dem Satz: Gott sei gelobt und Ihm sei gedankt.

Göttingen, Februar 2024

Einleitung

1.1 Hintergründe und Problemstellung

Es gibt eine direkte Beziehung in jeder Religion zwischen dem, was Religiöses und was Sprachliches ist.1 Dieses Verhältnis zeigt sich besonders im Islam. Sprache und Religion sind im Islam insofern eng miteinander verbunden, als uns die islamische Religion anhand arabischer und zugleich religiös-heiliger Texte des Koran und der Sunna vorliegt. So fungiert im Islam die arabische Sprache sowohl als Instrument zur Übermittlung religiöser Botschaften aber auch als Teil der Religion selbst, indem an elf Koranstellen darauf hingewiesen wird, dass der Koran arabisch sei (z.B. Koran 12/2, 13/37, 16/103). Wobei die erste Funktion hier als Instrument zur Übermittlung der religiösen Botschaft theologisch-hermeneutisch in den Lehren tafsīr und fiqh anhand der Methodik der Koranexegese und Rechtswissenschaft (d.h. uūl at-tafsīr und uūl al-fiqh) thematisiert wird, wird die zweite Funktion sprachlich-rhetorisch vor allem in der arabischen Rhetoriktheorie (balāġa) anhand des Konzeptes des Wundercharakters (iʿǧāz) des Koran erforscht. So erklärt es sich, dass für viele muslimische Philologen, Theologen und Rechtsgelehrte wie Imam aš-Šāfiʿī (gest. 204/820), al-Ǧāi (gest. 255/868), Ibn Ǧinnī (gest. 392/1002), Ibn Fāris (gest. 395/1005), al-Ġazālī (gest. 505/1111), az-Zamašarī (gest. 538/1143), Ibn azm (gest. 456/1164), Ibn Rušd (gest. 595/1198), Ibn Taimīya (gest. 728/1328), aš-Šāibī (gest. 790/1388), Ibn aldūn (gest. 808/1406) und viele andere die arabische Sprache auf das Engste mit der islamischen Religion verbunden ist.2

Dieses Spannungsfeld zwischen Sprache und ihrer Verwendung in der Religion des Islams zeigt sich im klassischen theologisch-rechtlichen Diskurs, indem die islamischen theologisch-rechtlichen Texte nach Regeln der arabischen Sprache, auf lexikalischer, morphologischer, syntaktischer sowie semantischer und textlinguistischer Ebene erschlossen werden. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine islamische theologisch-rechtliche Hermeneutik anhand der o.g. Lehren der uūl at-tafsīr und uūl al-fiqh, und zwar als Methodik bzw. Regelwerk innerhalb der Koranexegese und Rechtswissenschaft, das sowohl sprachliche als auch theologische Elemente berücksichtigt. Diese Idee zeigt sich insbesondere in den Werken des Universalgelehrten Ibn Qutaiba (gest. 276/899).3

Die Werke Ibn Qutaibas sind bis heute in der arabisch-islamischen Tradition von herausragender Bedeutung. Sie werden noch immer im wissenschaftlichen Kontext in Bezug auf tafsīr und fiqh zitiert. Ibn Qutaiba lebte zur Zeit der Abbasiden (132–655/750–1258) in der damaligen multikulturellen Hauptstadt Bagdad, wo unterschiedliche religiöse und geistige Strömungen das gesellschaftliche und wissenschaftliche Leben prägten. Nicht zuletzt bilden die interdisziplinäre Persönlichkeit Ibn Qutaibas sowie die religiöse, geistige und politische Vielfalt seiner Zeit in Bezug auf die Problematik der Arbeit, nämlich das Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache, das Motiv und die Grundlage dieses Forschungsvorhabens.4

Der Titel des vorliegenden Buches lautet „Fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam: Zum Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache in den Werken des Universalgelehrten Ibn Qutaiba (gest. 276/899)“. Dieser Titel beinhaltet Begriffe und Konzepte aus unterschiedlichen epistemologischen Bereichen der Sprach- und Rechtswissenschaft sowie der Theologie. Doch stellt sich bei genauerer Betrachtung dieser Bereiche heraus, dass sie eins gemeinsam haben: sie zielen darauf ab, Texte systematisch in gründlicher wissenschaftlicher Herangehensweise zu ergründen. Geht es um das Verstehen der religiösen Botschaft als solcher, so handelt es um den Begriff fiqh im allgemeinen früheren Sinne des tiefen Verstehens wie es oft im Koran benutzt wird. Möchte man diese Botschaft im rechtlichen Diskurs verstehen, so handelt es sich um fiqh im terminologischen aktuellen Sinne der Normenlehre wie der Begriff später nach der Entstehung der Rechtsschulen benutzt wird. Vor allem diese Thematik des Verstehens, fiqh im allgemeinen Sinne, wird hier anhand der Werke des Universalgelehrten Ibn Qutaiba erforscht.

Über die vorliegende Thematik zum Spannungsfeld von Normenlehre und Sprache in den Werken des Ibn Qutaiba gibt es bislang keine Forschungsliteratur. Insofern füllt die vorliegende Arbeit eine Forschungslücke bezüglich des behandelten Themas. So gibt es im deutschsprachigen bzw. westlichen Raum vor allem Literatur, die entweder fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam5 oder einzelne Themen in den Werken Ibn Qutaibas behandelt6. Im arabischen Raum gibt es über die Thematik des vorliegenden Buches im Vergleich zum westlichen Raum zwar mehr Literatur, doch behandelt diese eher allgemein Ibn Qutaiba und die Frage seiner Hermeneutik.7

1.2 Methode und Ziel der Arbeit

Die in der Arbeit angewandte Methodik basiert in erster Linie auf einer qualitativen Literaturanalyse klassischer Texte, nämlich der Werke Ibn Qutaibas und relevanter theologischer Literatur im klassischen Islam (2.-9/8.-15. Jahrhundert). Anhand einer deduktiven Vorgehensweise bzw. der Frage, inwiefern das Spannungsfeld von Sprache und Religion in Ibn Qutaibas Werken präsent ist, versucht die Untersuchung einen Beitrag zur Epistemologie der islamischen Geistesgeschichte zu leisten. Die Arbeit versteht sich deshalb vor allem als ein Beitrag zur Ideengeschichte des Islams. Anhand der Werke Ibn Qutaibas und einer intertextuellen Analyse wird sich die Studie vor allem mit den folgenden Punkten beschäftigen:

  • • dem Spannungsfeld von Sprache und Religion im klassischen Islam, vor allem anhand der Lehren tafsīr und fiqh
  • • dem Verhältnis von Sprache, adab und fiqh bei Ibn Qutaiba
  • fiqh an-nuū (Textverstehen bzw. Texthermeneutik) als rechtsmethodologische Frage der Lehre der uūl al-fiqh bei Ibn Qutaiba
  • • Ambiguität der islamischen Überlieferungstexte als Herausforderung der uūl-Lehre bei Ibn Qutaiba

1.3 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in vier Abschnitte mit jeweils einem Exkurs gegliedert. Nach der Einleitung befasst sich der erste Abschnitt mit dem Spannungsfeld von fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam. In diesem Kapitel wird das Spannungsfeld von fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam zuerst anhand der Lehren tafsīr und fiqh, die sich mit dem Verstehen als solchem befassen, einschließlich deren Entwicklung im theologisch-rechtswissenschaftlichen Diskurs hinterfragt. Im Exkurs zu diesem Abschnitt wird die Verbindung zwischen der arabischen Sprache als lingua sacra (heilige Sprache) und dem Islam thematisiert.

Im zweiten Abschnitt wird das Spannungsfeld von Sprache, adab und fiqh bei Ibn Qutaiba behandelt. Zuerst werden Ibn Qutaiba, seine Zeit sowie sein Leben und Schaffen, vor allem als Protagonist der adab-Literatur anhand seiner Werke Adab al-kātib (Das Regelwerk zur Ausbildung und Erziehung von Schreibern) und ʿUyūn al-abār (Die Essenzen der Nachrichten), vorgestellt. Die Bezeichnung Ibn Qutaibas als adīb al-fuqahāʾ wa-faqīh al-udabāʾ (Literat der Rechtsgelehrten und Rechtsgelehrter der Literaten) wird hier diskutiert. Im Exkurs werden sprach-anthropologische Überlegungen Ibn Qutaibas anhand seines Werkes Fal al-ʿarab ʿalā l-ʿaǧam (Der Vorzug der Araber gegenüber den Nichtarabern) dargelegt, in dem er auf die Šuʿūbīya als geistige und politische Bewegung in der Abbasiden-Zeit antwortet.

Im dritten Abschnitt wird das Konzept fiqh an-nuū (Textverstehen bzw. Texthermeneutik) als rechtsmethodologische Frage der Lehre der uūl al-fiqh bei Ibn Qutaiba hinterfragt, vor allem anhand seiner Werke Taʾwīl muškil al-Qurʾān (Die Interpretation der äußerlich widersprüchlichen Koranstellen), Taʾwīl mutalif al-adī (Die Interpretation der äußerlich widersprechenden Prophetenüberlieferungen), Ġarīb al-Qurʾān (Seltsame und schwerverständliche Koranverse) und Ġarīb al-adī (Seltsame und schwerverständliche Hadithe). Der Exkurs dieses Abschnitts befasst sich mit der Koranübersetzung als Reflexion des fiqh an-nuū bei Ibn Qutaiba anhand des Taʾwīl muškil al-Qurʾān.

Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit der Ambiguität als Herausforderung der uūl-Lehre bei Ibn Qutaiba, nämlich in Bezug auf die Offenbarungstexte auf lexikalischer und textueller Ebene. Dazu gehört die Frage der Begriffsbestimmung bei Ibn Qutaiba und wie diese eine Rolle auf die Ergründung der Normenbildung im theologisch-rechtlichen Kontext (istinbā) spielt. Vor diesem Hintergrund dreht sich der Exkurs zu diesem Abschnitt um die Frage der Ambiguität bezüglich der rechtlichen Bestimmungen über alkoholische Getränke anhand von Ibn Qutaibas Werk al-Ašriba (Die Getränke).


1 Vgl. dazu Alexander Lasch/Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Handbuch Sprache und Religion, Berlin u.a. 2017; Margit Eckholt/Habib El Mallouki (Hg.), Offenbarung und Sprache: Hermeneutische und theologische Zugänge aus christlicher und islamischer Perspektive, Göttingen 2021.

2 Vgl. die Verbindung zwischen der arabischen Sprache und dem Islam im Exkurs des ersten Kapitels (Das Spannungsfeld von Sprache und Religion im klassischen Islam).

3 Vgl. meine Beiträge „Rhetorische Stilmittel und religiöse Sachverhalte anhand der Ellipse im Koran“, 2014, und „Ethik in der Bildungskonzeption Ibn Qutaibas (gest. 276/889): Eine analytische Studie anhand seiner Werke Adab al-kātib und ʿUyūn al-abār“, 2013.

4 Vgl. dazu Sebastian Günther, „Praise to the Book! Al-Jahiz and Ibn Qutayba on the Excellence of the Written Word in Medieval Islam“, 2006.

5 Vgl. Hans-Thomas Tillschneider, Die Entstehung der juristischen Hermeneutik (uūl al-fiqh) im frühen Islam, Würzburg 2006; Hakki Arslan, Juridische Hermeneutik (uūl al-fiqh) der hanafitischen Rechtsschule am Beispiel des «uūl al-fiqh»-Werks «Mirqāt al-wuūl ilā ʿilm al-uūl» von Mulla usraw (gest. 885/1480), Frankfurt 2016; Wael Hallaq, Shariʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge/New York 2009; Carolyn A. Brunelle, From Text to Law: Islamic Legal Theory and the Practical Hermeneutics of Abu Jaʿfar Ahmad Al-Tahawi (D. 321/933), Philadelphia 2016, Kurnaz Serdar, „Methoden zur Normderivation im islamischen Recht. Eine Rekonstruktion der Methoden zur Interpretation autoritativer textueller Quellen bei ausgewählten islamischen Rechtsschulen“, Ebverlag, Berlin, 2016, David R. Vishanoff, “The Formation of Islamic Hermeneutics: How Sunni Legal Theorists Imagined a Revealed Law” ( New Haven: Conn: American Oriental Society,) 2011, Joseph E. Lowry, “Early Islamic Legal Theory: The Risāla of Muammad ibn Idrīs al-Shāfi'ī”. Studies in Islamic Law and Society, vol. 30, Leiden: Brill, 2007, Wael B. Hallaq, “A History of Islamic Legal Theories. An Introduction to Sunnī Uūl al-fiqh”. Cambridge: Cambridge University Press 1997, Birgit Krawietz, „Die Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam“. Berlin 2002, Birgit Krawietz, „Zum Verhältnis von Sprache, Recht und Theologie in der islamischen Rechtstheorie von Sayf al-Din al-Amidi“, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients vol. 72, 1995. S. 137-147.

6 Vgl. Gérard Lecomte, Ibn Qutayba (mort en 276/889): L’homme, son oeuvre, ses idées, Damaskus 1965; Ishaq Musa Huseini, The Life and Works of Ibn Qutayba, Beirut 1950; Ahmed Elhariri, Ibn Qutaibas (gest. 267 n. H.) Methode bei der Interpretation von Muškil al-Qurʾān: Eine analytische Studie im Lichte der dreisprachigen Koranforschung (unveröffentl. Magisterarbeit, Al-Azhar Universität), Kairo 2017.

7 Vgl. ʿAbd al-amīd Sanad al-Ǧindī, Ibn Qutaiba: al-ʿĀlim, an-nāqid, al-adīb, Kairo 1963; Fāī b. Mamūd ar-Raiāna, Manhaǧ Ibn Qutaiba fī taʾwīl muškil al-Qurʾān wa-aaruhu fī d-dirāsāt al-Qurʾānīya, Amman 2012; ʿAbdallāh al-Ǧabūrī, Ibn Qutaiba wa-š-Šuʿūbīya, Bagdad 1990.

Kapitel I Das Spannungsfeld von fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam

In diesem Kapitel wird das Spannungsfeld von fiqh und Hermeneutik im klassischen Islam hinterfragt, indem die Beziehung der beiden Konzepte zueinander untersucht wird. Zuerst wird die Hermeneutik als Lehre des Verstehens im islamisch-theologischen Diskurs vorgestellt. Anschließend wird das Konzept tafsīr/taʾwīl als Lehre des Verstehens (im Sinne von Hermeneutik) im koranwissenschaftlichen Diskurs geschichtlich und inhaltlich skizziert und erläutert, wie diese Lehre zur Erschließung der Offenbarungstexte, vor allem des Korans, dient. Parallel dazu werden das Konzept fiqh/taʾwīl im rechtswissenschaftlichen Diskurs und dessen Entwicklung beschrieben. Schließlich wird im Rahmen eines Exkurses das Spannungsfeld von Sprache als Medium der Hermeneutik und Religion als solcher bzw. die Verbindung zwischen der arabischen Sprache als lingua sacra (heilige Sprache) und der islamisch- theologischen Haltung thematisiert. Dieser Exkurs dient als Einleitung zum zweiten Kapitel über „Das Spannungsfeld von Sprache, adab und fiqh bei Ibn Qutaiba“ sowie als theoretische Fundierung für das dritte und vierte Kapitel, in denen fiqh als hermeneutischer Ansatz und als Normenlehre empirisch in den Werken Ibn Qutaiba hinterfragt wird. Dort werden seine Werke über fiqh/taʾwīl als Fallbeispiel ausführlich behandelt.

1 Hermeneutik als Lehre des Verstehens im islamisch-theologischen Diskurs

Mit der Hermeneutik als Lehre, Theorie und Methode hängen im wissenschaftlichen Diskurs viele Konzepte, wie beispielsweise die Interpretation, die Analyse und das Übersetzen von Texten sowie das Verstehen und Deuten von sprachlichen Symbolen und Zeichen zusammen. In diesem Sinne dienen religiöse Texte, vor allem die Bibel, als Gegenstand der Hermeneutik. Von einer detaillierten Behandlung des Konzeptes der Hermeneutik im philosophischen, sozialen und christlichen Kontext nach Immanuel Kant (gest. 1804), Friedrich Schleiermacher (gest. 1834), Hans-Georg Gadamer (gest. 2002) u.a. wird hier aus Kapazitätsgründen abgesehen.8 Einige moderne muslimischer Denker und Philosophen, wie Fazlur Rahman (gest. 1988), Hasan Hanafi (gest. 2021) und sein Schüler Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010), befassten sich mit islamischen Offenbarungstexten im Rahmen neuer hermeneutischer Ansätze außerhalb klassischer Meinungen. Ihre Werke werden in der islamischen Theologie kontrovers rezeptiert.9

Im vorliegenden Buch geht es jedoch vielmehr um eine Hermeneutik im theologisch-rechtlichen Sinne des klassischen Islam. Vor diesem Hintergrund rücken vor allem die Ansätze der uūl al-fiqh (Normenlehre) und uūl at-tafsīr (Koranexegese) in den Vordergrund. Auch die islamisch-theologischen Konzepte tafsīr/taʾwīl im koranwissenschaftlichen Diskurs bzw. fiqh/taʾwīl im rechtswissenschaftlichen Diskurs sind hier bezüglich der hermeneutischen Herangehensweise zu Semantik und Rechtsnormen der islamischen Offenbarungstexte relevant.

Details

Pages
226
Publication Year
2024
ISBN (PDF)
9783631923696
ISBN (ePUB)
9783631923702
ISBN (Hardcover)
9783631923177
DOI
10.3726/b22139
Language
German
Publication date
2024 (October)
Keywords
Islam Scharia sharīʿah Theologie Verstehen schwerverständlicher und widersprüchlicher Texte muškil und muḫtalif Lehren ġarīb Normenlehre Ambiguität Texthermeneutik ibn Qutaiba adab und fiqh Verhältnis von Sprache uṣūl al-fiqh fiqh tafsīr
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 226 S.
Product Safety
Peter Lang Group AG

Biographical notes

Mahmoud Haggag (Author)

Mahmoud Haggag arbeitete als assoziierter Professor an der Al-Azhar-Universität in Kairo und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Göttingen. Seit Oktober 2017 hat er die Vertretungsprofessur für „Islamisches Recht und Glaubenspraxis“ an der Universität Osnabrück inne.

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