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Spanische Somatismen in deutschen Übersetzungen des Don Quijote: Fixierte Wortverbindungen im diachronen Übersetzungsvergleich

von Judith Strunck (Autor:in)
Dissertation 796 Seiten

Zusammenfassung

Phraseologismen, die über mindestens ein Lexem verfügen, das auf ein Organ oder einen anderen Bestandteil des menschlichen Körpers referiert, werden als Somatismen bezeichnet. Ziel der Arbeit ist, sich unter Einbezug des Einflusses unterschiedlicher, diachronisch geprägter übersetzungstheo-retischer Prinzipien mit der Frage der Übersetzbarkeit von Somatismen auseinanderzusetzen, was aufgrund ihrer inhärenten Mehrdimensionalität als komplex einzustufen ist: Ihnen ist nicht nur eine denotative Bedeutung zu eigen, sie verfügen zudem über Merkmale, die sich auf ihre formal-ästhetische Struktur und ihre Funktionalität (im Text) beziehen und im Idealfall auch zielsprachlich reflektiert werden. Als Untersuchungskorpus dienen aus Cervantes‘ Don Quijote (1605/1615) extrahierte Somatismen und deren in drei deutschen Quijote-Übersetzungen vorzufindende Entsprechungen, die vor diachronischem Hintergrund hinsichtlich ihrer Übersetzungsäquivalenz denotativ, formal und funktional betrachtet werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Hinführung zum Thema: Zur deutschen Übersetzungs- und Forschungstradition des Quijote
  • 1.2 Konkretisierung der Fragestellung
  • 1.3 Methodik, materielle Basis und theoretische Vorüberlegungen
  • 1.4 Aufbau der Arbeit
  • 2. Die Herausbildung der Phraseologie zu einer eigenständigen Disziplin: Strömungen und Tendenzen
  • 2.1 Sowjetische Sprachwissenschaft
  • 2.1.1 V. V. Vinogradov
  • 2.1.2 I. A. Mel’čuk
  • 2.1.3 N. N. Amosova
  • 2.1.4 I. I. Černyševa
  • 2.2 Nordamerikanische Sprachwissenschaft
  • 2.2.1 J. J. Katz und P. M. Postal
  • 2.2.2 U. Weinreich
  • 2.2.3 B. Fraser
  • 2.2.4 A. Makkai
  • 2.3 Westeuropäischer Strukturalismus
  • 2.3.1 H. Wissemann
  • 2.3.2 H. Burger
  • 2.3.3 A. Rothkegel
  • 2.3.4 W. Fleischer
  • 2.3.5 E. Coseriu
  • 2.3.6 H. Thun
  • 2.3.7 A. Zuluaga
  • 2.4 Poststrukturalistische Strömungen: Eine Perspektivenerweiterung der Phraseologie
  • 2.4.1 Kognitive Linguistik
  • 2.4.2 Konstruktionsgrammatik
  • 2.4.3 Korpuslinguistik
  • 3. Freie und fixierte Wortverbindungen: Über Phraseologismen und Somatismen
  • 3.1 Phraseologismen und ihr linguistischer Status
  • 3.2 Phraseologische Charakteristika
  • 3.2.1 Fixiertheit
  • 3.2.2 Polylexikalität
  • 3.2.3 Idiomatizität und Motivation
  • 3.3. Klassifikation
  • 3.4 Somatismen im Universum phraseologischer Wortverbindungen
  • 3.4.1 Somatismen in der Forschung
  • 3.4.2 Konzeptioneller Hintergrund und Übertragung auf das Feld der Kognitiven Linguistik
  • 3.4.3 Definition
  • 4. Zur Übersetzbarkeit von Somatismen: Übersetzungstheoretische Vorüberlegungen
  • 4.1 Problemfelder phraseologischer Einheiten in der Übersetzung: Somatismen als Übersetzungsbarriere?
  • 4.1.1 Expressiver Mehrwert
  • 4.1.2 Textueller Mehrwert
  • 4.1.3 Pragmatisch-rhetorischer Mehrwert
  • 4.1.4 Interkultureller Mehrwert
  • 4.2 Übersetzungstheoretische Grundbegriffe
  • 4.2.1 Was ist Übersetzung?
  • 4.2.2 Zur Qualität der Übersetzung
  • 4.2.2.1 Invarianz
  • 4.2.2.2 Äquivalenz
  • 4.2.2.3 Adäquatheit
  • 4.3 Generierung der Analysekriterien
  • 4.3.1 Denotative Ebene
  • 4.3.2 Formale Ebene
  • 4.3.2.1 Polylexikalität
  • 4.3.2.2 Fixiertheit
  • 4.3.2.3 Idiomatizität
  • 4.3.2.4 Bildkraft
  • 4.3.3 Funktionale Ebene
  • 4.3.3.1 Expressivität
  • 4.3.3.2 Textuelle Integration
  • 4.3.3.3 Pragmatisch-rhetorischer Effekt
  • 4.3.3.4 Kulturelle Markiertheit
  • 4.4 Äquivalenzklassifikation
  • 5. Somatismen in ausgewählten Quijote-Übersetzungen
  • 5.1 Quijote-Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch (1775–1777): Im Zeitgeist der Aufklärung
  • 5.1.1 Quantitativer Überblick über die Gesamtverteilung der Übersetzungsäquivalenzen
  • 5.1.2 Qualitative Auswertung
  • 5.1.2.1 Denotativ-korrekte Übersetzungen
  • 5.1.2.1.1 Totale Äquivalenz
  • 5.1.2.1.2 Partielle Äquivalenz
  • 5.1.2.1.3 Null-Äquivalenz
  • 5.1.2.2 Denotativ-inkorrekte Übersetzungen
  • 5.1.2.2.1 Schein-Äquivalenz
  • 5.1.2.2.2 Fehlende denotative Äquivalenz
  • 5.1.2.2.3 Fehlende Übersetzungen
  • 5.1.3 Zwischenresümee
  • 5.2 Quijote-Übersetzung von Ludwig Tieck (1799–1801): Im Zeitgeist der Frühromantik
  • 5.2.1 Quantitativer Überblick über die Gesamtverteilung der Übersetzungsäquivalenzen
  • 5.2.2 Qualitative Auswertung
  • 5.2.2.1 Denotativ-korrekte Übersetzungen
  • 5.2.2.1.1 Totale Äquivalenz
  • 5.2.2.1.2 Partielle Äquivalenz
  • 5.2.2.1.3 Null-Äquivalenz
  • 5.2.2.2 Denotativ-inkorrekte Übersetzungen
  • 5.2.2.2.1 Schein-Äquivalenz
  • 5.2.2.2.2 Fehlende denotative Äquivalenz
  • 5.2.2.2.3 Fehlende Übersetzungen
  • 5.2.3 Zwischenresümee
  • 5.3 Quijote-Übersetzung von Susanne Lange (2008): Im Zeitgeist der historisch-philologisch geprägten Gegenwart
  • 5.3.1 Quantitativer Überblick über die Gesamtverteilung der Übersetzungsäquivalenzen
  • 5.3.2 Qualitative Auswertung
  • 5.3.2.1 Denotativ-korrekte Übersetzungen
  • 5.3.2.1.1 Totale Äquivalenz
  • 5.3.2.1.2 Partielle Äquivalenz
  • 5.3.2.1.3 Null-Äquivalenz
  • 5.3.2.2 Denotativ-inkorrekte Übersetzungen
  • 5.3.2.2.1 Schein-Äquivalenz
  • 5.3.2.2.2 Fehlende denotative Äquivalenz
  • 5.3.2.2.3 Fehlende Übersetzungen
  • 5.3.3 Zwischenresümee
  • 5.4 Synthese der Ergebnisse: Gegenüberstellung der Quijote-Übersetzungen
  • 6. Resümee
  • 7. Literaturverzeichnis
  • 8. Anhang

Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Wintersemester 2023/2024 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde.

Die Dissertation entstand unter der Betreuung meines Doktorvaters Franz Lebsanft, an dessen Lehrstuhl ich einige Jahre tätig war und dabei wertvolle Erfahrungen in den Bereichen Forschung und Lehre sammeln durfte. In seinen Lehrveranstaltungen wurde mein Interesse für die Phraseologie und der Wunsch zur Promotion geweckt. Dafür und für all die Dinge, die ich von ihm gelernt habe, gebührt ihm mein größter Dank. Ich danke ihm für die exzellente Betreuung und fachliche Förderung, für seine stetige Unterstützung und Geduld sowie für das große Vertrauen in meine Arbeit. Ebenso möchte ich den Mitgliedern der Prüfungskommission Paul Geyer, Anke Grutschus und insbesondere Daniela Pirazzini als Zweitgutachterin meinen herzlichsten Dank aussprechen.

Ich freue mich über die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe Bonner romanistische Arbeiten und bedanke mich sowohl bei den Reihenherausgebern als auch bei Wanda Mohandas, Yerriswamy Nakka und Benjamin Kloss für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung. Für die Bereitstellung der äußerst großzügigen Druckkostenbeteiligung bedanke ich mich wiederum vielmals bei Franz Lebsanft und dem Romanischen Seminar der Universität Bonn.

Ebenso danke ich meinen lieben Kollegen am Lehrstuhl, im Besonderen Thea Göhring, Judith Harzheim, Sebastian Greußlich, Désirée Cremer, Felix Tacke und Anne Real. Ich bedanke mich für die Hilfsbereitschaft, die gute Zusammenarbeit, den motivierenden, fachlichen Austausch und für die schöne Zeit.

Mein persönlichster Dank gilt schließlich meiner Familie und meinen Freunden, die mich in dieser besonderen Zeit auf vielfältige Weise unterstützt und begleitet haben. Dazu zählen an erster Stelle meine Eltern, auf deren bedingungslosen Rückhalt ich immer zählen kann. Zu ganz besonderem Dank bin ich meiner lieben Freundin Julia Furmanczyk für ihre äußerst sorgfältige Durchsicht der gesamten Arbeit verpflichtet. Meinem Mann danke ich von Herzen für seine grenzenlose und liebevolle Unterstützung, die größte Geduld und seinen immerwährenden Glauben an mich. Mein größter Dank gebührt meiner Tochter. Alma, dieses Buch ist für dich.

1. Einleitung

1.1 Hinführung zum Thema: Zur deutschen Übersetzungs- und Forschungstradition des Quijote

Mit seinem Meisterwerk Historia del ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, dessen erster Teil 1605 und zweiter Teil 1615 erschienen ist, schreibt Miguel de Cervantes Saavedra seit nun mehr als 400 Jahren Literaturgeschichte. Nach der Bibel handelt es sich um eines der meist rezipierten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke weltweit (Cantera Ortiz de Urbina 2005: 7). So scheint es wenig verwunderlich, dass der Quijote auch im deutschen Sprachraum auf eine lange und stets fortwährende Rezeptions- und Übersetzungstradition blicken kann. Während der Quijote auf internationaler Ebene erstmals im Jahr 1612 von Thomas Shelton ins Englische übersetzt wurde, gilt als erste deutschsprachige, jedoch unvollständige Übersetzung des Quijote die Arbeit von Joachim Caesar aus dem Jahr 1648.1 Unter dem Pseudonym Pahsch Basteln von der Sohle, das mit Lange (2004: 89 f.) „la estructura del nombre Don Quijote de la Mancha“ spiegelt, übertrug Caesar, basierend auf dem spanischen Urtext und nicht wie bis 1775 üblich (Kronacher 1924, García Albero 2013: 180) auf französischen Übertragungen, die ersten 23 Kapitel des ersten Teils ins Deutsche. Aufgrund der Qualität dieser Übersetzung diente sie im weiteren Verlauf trotz ihrer Unvollständigkeit in Teilen immer wieder als Orientierungshilfe für nachfolgende Übersetzungen (García Albero 2013: 178). Nach weiteren (z. T. unvollständigen) Übersetzungen, die ihre Grundlage in französischen Versionen haben, lieferte schließlich Friedrich Justin Bertuch 1775–1777 die erste vollständige und tatsächlich auf dem spanischen Original beruhende Übersetzung des Quijote und verschrieb sich dabei ganz dem Zeitgeist der Aufklärung. Folglich zeichnet sich die Übersetzung Bertuchs u. a. durch Kürzungen längerer Textpassagen oder Streichungen ganzer Episoden, die nicht unmittelbar mit der Haupthandlung in Verbindung stehen, sowie die Nicht-Übersetzung der im Quijote vorhandenen Poesie aus.

Auch das 19. Jahrhundert erwies sich für die Quijote-Rezeption und Übersetzungstradition als außerordentlich fruchtbar und brachte neben den drei sich z. T. noch heute großer Beliebtheit erfreuenden Übersetzungen von Ludwig Tieck (1799–1801), Dietrich Wilhelm Soltau (1800–1801) und Ludwig Braunfels (1883) sechs weitere, aber weniger erfolgreiche Übersetzungen des Quijote hervor (García Albero 2013: 196). Dazu zählen die Arbeiten von Gotthelf Leberecht Förster (1825), Hieronymus Müller (1825), eine anonyme Übersetzung (1837) mit einem Prolog von Heinrich Heine, die Übersetzung von Friedrich M. Duttenhofer (1839), Edmund Zoller (1867) und Ernst von Wolzogen (1884). Für das Verlagswesen des 19. Jahrhunderts war es dabei symptomatisch, dass die Mehrheit dieser Übersetzungen weder über einen kritischen Apparat noch über ein Vorwort des Übersetzers verfügte (García Albero 2013: 197):

Las diferentes editoriales lanzaban al mercado los clásicos universales en ediciones hechas con rapidez y con fecha de caducidad, pues rara vez volvían a reeditarse. No se prestaba mayor atención a la calidad de la traducción y, pese a que las versiones anteriores no hayan alcanzado grandes cotas de popularidad, sí son una buena muestra del interés alemán por la obra de Cervantes (García Albero 2013: 197).

Ein umso größeres Echo erzielten die bereits erwähnten Übersetzungen von Tieck, Soltau und Braunfels: Initiiert durch die Gebrüder Schlegel erschien um die Jahrhundertwende Tiecks Quijote-Übersetzung, die deutlich vom „nuevo movimiento romántico“ (García Albero 2013: 266) geprägt ist, dem sich Tieck zuvor, ebenfalls dank der Gebrüder Schlegel, anschloss. Mit seiner Neuübersetzung des Quijote verfolgte Tieck die Absicht, den „espíritu de la obra“ (García Albero 2013: 279) zurückzugewinnen, indem der „Ton und die Farbe des Originals“ (Schlegel/Schlegel 1798–1800: 324, zit. nach García Albero 2013: 279) nach Möglichkeit stets wiedergegeben werden sollte. Mit diesem sich merklich vom Zeitalter der Aufklärung entfernenden Ansatz schuf Tieck – trotz einiger Unsicherheiten im Umgang mit der spanischen Sprache (García Albero 2013: 267) – eine noch heute verlegte, romantische Version des Quijote, dank derer er sich in die Reihen der „grandes traductores de la historia“ (García Albero 2013: 268) hinzugesellen darf.

Parallel zu Tieck fertigte auch Soltau eine Übersetzung des Quijote an, die 1800–1801 erschien. Die unmittelbare Übersetzerkonkurrenz, in der Tieck und Soltau folglich miteinander standen, führte zu einem in der Zeitschrift Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur Zeitung öffentlich ausgetragenen Disput, an dem auch die Gebrüder Schlegel, auf deren Vorschlag Tieck vom Berliner Verleger Unger den Auftrag zur Quijote-Übersetzung bekam, beteiligt waren (Zybura 1994: 40 ff., García Albero 2013: 272). Während Tieck die Unterstützung der Romantiker auf seiner Seite hatte, gruppierten sich um Soltau Persönlichkeiten wie Falk, Voss, Wieland und Schütz, „also eine eindeutig aufklärerisch orientierte Literatur-Garde der Zeit“ (Zybura 1994: 46), was sich entsprechend in beiden Übersetzungen reflektiert:2

A pesar de su perfecta comprensión de la lengua, Soltau vulgariza la obra en su traducción, la pone al nivel del público general y la simplifica. La lengua se ve atenuada y se contenta con efectos fáciles […]. Fue […] una traducción al servicio de la Aufklärung y al gusto de las revistas literarias ilustradas de la época, una traducción en la que primaba el gusto satírico y en el que todo aquellos elementos que no se correspondieran con la parodia de las novelas de caballerías no merecían ser incluidos en la versión alemana […]. Por el contrario, la concepción romántica de la obra y de la traducción contemplaba como virtud precisamente aquello que los ilustrados consideraban una falta; la mezcla de formas literarias en una misma obra era esencial para aquella poesía romántica que buscaban los nuevos literatos (García Albero 2013: 286).

1883 erschien schließlich die ebenfalls noch heute verlegte Quijote-Übersetzung von Braunfels, die aufgrund ihrer Genauigkeit und Methodik als die philologisch akkurateste Quijote-Übersetzung gilt (García Albero 2013: 287). Sie entstand in einer Zeit, in der sich in Deutschland die Neuphilologie herausbildete und sollte folglich auch in diesem Kontext, in dem sich „la traducción y la exégesis filológica“ (García Albero 2013: 287) zusammenschließen und eine Übersetzung „sowohl nach Treue des Sinnes und der Form strebt, als auch von möglichst vielen Daten über das Werk und dessen Deutung begleitet werden soll“ (García Albero 2013: 603), gesehen werden.3 Braunfels, der über umfangreiche Kenntnisse des Spanischen, des Landes und der Epoche verfügte (Vollmöller 1885: 289), bereitete sich ausgiebig auf die Übersetzung des Quijote vor und sammelte vorab verfügbare Literatur zu dem Werk, die er bei Problemen während der Übersetzungsarbeit konsultierte und zu einer persönlichen Bibliothek zusammenführte. Ursprünglich sollte seine Übertragung, die auf neuphilologischen Erkenntnissen der Zeit basiert, aber in der Einleitung keine Angaben zur Übersetzungskonzeption nennt (García Albero 2013: 288), eine philologisch kritische Ausgabe des Quijote werden, die neben dem Urtext und seiner mit sprachlichen Erläuterungen versehenen Übersetzung auch einen vollständigen Kommentar enthielt. Aufgrund der zeitlichen Dimension dieses Vorhabens konnte Braunfels dieses Vorgehen jedoch nur bis zum sechsten Kapitel des ersten Teils einhalten; es wäre für ihn zeitlich schlicht unmöglich gewesen, die Übersetzung des gesamten Quijote „con su esmero y escrupulosidad“ (García Albero 2013: 274) zu vollenden (García Albero 2013: 274, 288). Somit musste er von seinem ursprünglichen Vorhaben absehen und gab 1883 ‚lediglich’ eine Übersetzung mit Anmerkungen heraus, die „philologisch und sprachlich [nichtsdestotrotz eine] hervorragende Leistung von bleibendem Wert“ (Rheinfelder 1955: 559) darstellt. Vollmöller spricht ihr in „Text und Kommentar“ (Vollmöller 1885: 281) sogar wissenschaftlichen Charakter zu und hebt sowohl die „Korrektheit im Einzelnen“ als auch die Wiedergabe des „koncisen, ernsten, männlichen Stil[s]‌“ von Cervantes, „ohne dadurch an Wohllaut und Gefälligkeit des Ausdrucks einzubüßen“ (Vollmöller 1885: 291), lobend hervor.4

Der Einfluss der neuen philologischen Strömung dominiert auch die Quijote- Übersetzungen des 20. und 21. Jahrhunderts, sodass die Arbeit Braunfels’ gewissermaßen als ‚neuphilologische Brücke’ zwischen vorherigen und nachfolgenden Übersetzungen gesehen werden kann. Vor der vielgelobten und gegenwärtig aktuellsten Neuübersetzung des Quijote durch Susanne Lange (2008) zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bei der die möglichst authentische Wiedergabe des cervantinischen Sprachstils im Vordergrund steht, brachte das 20. Jahrhundert Übersetzungen von Konrad Thorer (1908), dessen Arbeit auf der anonymen Quijote-Übersetzung von 1837 basiert, Roland Schacht (1951) und Anton M. Rothbauer (1963), der sich der Übersetzung der kompletten Werke Cervantes verschrieb (García Albero 2013: 204), hervor. Es ist jedoch Langes reflektierte Übersetzung, die nicht zuletzt aufgrund ihres umfassenden kritischen Apparats, der Studien zur Quijote-Rezeption, vorherigen Übersetzungen und tiefgreifende Überlegungen zu ihrer eigenen Übersetzung enthält, mit den Übersetzungen von Tieck und Braunfels konkurrieren kann (García Albero 2013: 204).

Neben dem enormen Wert, den der Quijote (und seine Übersetzungen) für die Literaturgeschichte im Allgemeinen innehat, stellt Cervantes’ Meisterwerk auch aus wissenschaftlicher Perspektive eine reiche Quelle für diverse Untersuchungen in zahlreichen Forschungsdisziplinen – so auch für die Sprachwissenschaft – dar und vereint um sich eine umfassende Forschungstradition. Die Fülle an monographischen Arbeiten und spezifischen Einzeluntersuchungen zur Quijote-Forschung scheint dabei schier unendlich. Bevor ich das Forschungsvorhaben dieser Arbeit, die sich im Bereich der übersetzungswissenschaftlich orientierten Phraseologieforschung ansiedelt und den Quijote sowie ausgewählte Übersetzungen ins Deutsche als Materialbasis heranzieht, konkretisiere, möchte ich zu diesem Zweck vorab einen kursorischen Blick auf die Forschungslage zu den deutschsprachigen Quijote-Übersetzungen werfen. Obwohl sich thematische Überschneidungen in den auszugsweise vorzustellenden Untersuchungen nicht ausschließen lassen, ist die Anordnung dieses Vorhabens primär sachlich motiviert, wobei ich zwischen übersetzungsvergleichenden Arbeiten, Arbeiten zu spezifischen Quijote-Übersetzungen und parömiologischen Fragestellungen unterscheide.

Einen vorwiegend übersetzungsvergleichenden Ansatz verfolgen diese Arbeiten: Kronacher (1924) befasst sich in ihrer Dissertation mit der Quijote- Übersetzung Bertuchs und den dieser zeitlich nächstgelegenen Übersetzungen von Tieck und Soltau. Colón (1974) setzt sich mit Übersetzungen des Quijote des 17. Jahrhunderts auseinander und liefert mit seiner Arbeit „sowohl dem Sprach- als auch dem Literaturwissenschaftler“ (1974: 9) einen kontrastiven Einblick in italienische, französische, englische, deutsche, holländische sowie am Rande auch in jüngere portugiesische, katalanische und rumänische Quijote-Übersetzungen. Aus linguistischer Perspektive lässt sich dabei „[e]‌inerseits […] beobachten, wie die romanischen Sprachen in der Übertragung eines Lexems oder eines Syntagmas dem spanischen Original infolge ihrer Verwandtschaft nahestehen; andererseits, wie das System der germanischen Sprachen oft zu einer dem Romanischen entgegengesetzten Lösung zwingt“ (Colón 1974: 9). In der Smitten (1983) verfolgt in seiner primär germanistischen Arbeit, in der er den spanischen Urtext sowie sechs deutsche Übersetzungen des Quijote (Caesar 1648, Bertuch 1775, Tieck 1799–1801, Soltau 1800–1801, Anonymus 1837 und Braunfels 1883) analysiert, einen rezeptionsästhetischen leseaktorientierten textvergleichenden Ansatz. Das erklärte Hauptziel besteht dabei darin,

dazu beizutragen, den Quixote von der Patina des unantastbaren, den greisen Gelehrten vorbehaltenen Klassikers mit vierhundertjährigem Kometenschweif zu befreien; ihn von der Klischeeüberfrachtung zu entlasten und darunter den subversiven ursprünglichen Charakterzug freizulegen, der die Quixotelektüre für jeden Leser zu einem ganz ausserordentlichen Abenteuer des Geistes macht, wenn er nur genügend Musse und Ausdauer mitbringt, sich den einzigartigen Problemen, Herausforderungen dieses Protoromans zu stellen (In der Schmitten 1983: 16 f.).

Von Stackelberg (1995) untersucht in seinem Aufsatz anhand ausgewählter Beispiele, wie die cervantinische Sprachkomik in deutschen Übersetzungen des Quijote wiedergegeben wird und kommt dabei zu der Erkenntnis, „daß die ‚freieste Übersetzung‘ oftmals die beste, angemessenste ist“ (Von Stackelberg 1995: 134). Die Übersetzerin und studierte Philologin Susanne Lange setzt sich in ihrem Aufsatz (2004) mit Quijote-Übersetzungen des 17. bis 19. Jahrhunderts auseinander und diskutiert die Frage, was vor diesem Hintergrund bei der Übersetzung des Quijote im 21. Jahrhundert beachtet werden sollte. Losgelöst von den „concepciones fijas que hoy tenemos de los personajes ni por las convenciones literarias que han ido adoptándose en torno a esta obra“ (Lange 2004: 85) stellt die Autorin dabei besonders die Rolle der Sprache ins Zentrum. In seinem Aufsatz „Traducciones alemanas de El Quijote (1907–2007): notas para una traducción del siglo XX“ vergleicht Valero Cuadra (2007) die Quijote- Übersetzungen von Braunfels (1848) und Rothbauer (1964) anhand eines spezifischen Quijote-Kapitels (die Geschichte des Morisken Ricote, DQ II, Kapitel 54) mit dem Original. Zugleich liefert der Autor eine Übersicht der prominentesten deutschen Quijote-Übersetzungen und zahlreicher Quijote-Adaptierungen für ein jüngeres Publikum, deren Basis häufig die Übersetzung von Braunfels darstellt.

Mit einzelnen Quijote-Übersetzungen befassen sich die Arbeiten von Bertrand (1948), Jacobs (1992), Parada (1999) und Barsanti Vigo (2005b): Im Zentrum bei Jacobs (1992) steht die Quijote-Übersetzung Bertuchs, mit der er sich kritisch in einem eigenen Kapitel seiner Essay Sammlung Don Quijote in der Aufklärung auseinandersetzt. Mit der ersten, aber unvollständigen Quijote-Übersetzung durch Pahsch Basteln von der Sohle befassen sich Bertrand (1948) sowie Parada (1999). Dabei kommt letztgenannter Autor in seiner Arbeit zu dem Schluss, „que el primer traductor del Quijote respondía a la perfección a las exigencias que se le pudieran plantear a un ‚mediador cultural‘: amplitud de miras, competencia profesional, rigot y entusiamso por su tarea“ (Parada 1999: 381). Anders als in ihrer noch vorzustellenden Monographie (s. u.) behandelt Barsanti Vigo (2005b) parömiologische Phänomene in ihrem Aufsatz „El Quijote en la versión de Tieck“ nur am Rande; im Zentrum stehen hier allgemeinere Aspekte im Zusammenhang mit der Entstehung der Tieck’schen Version des Quijote.

Mit einer dezidiert parömiologischen Fragestellung befassen sich u. a. Barsanti Vigo (2005a) und García Albero (2013): Wie bereits angedeutet, wirft Barsanti Vigo in ihrer kontrastiv ausgerichteten Arbeit einen parömiologischen Blick auf sprichwörtliche Redensarten des Quijote und stellt diese ihren Versionen aus der Übersetzung Tiecks vergleichend gegenüber. Dabei nimmt die Autorin eine „perspectiva sociolingüística“ (Corvo Sánchez 2008: 59) ein, indem sie „los criterios básicos de clase social y de género“ (Corvo Sánchez 2008: 59) der Protagonisten in ihre Betrachtung miteinbezieht. Auch García Albero (2013) hat sich in seiner Dissertation der Analyse sprichwörtlicher Redensarten („paremias, refranes o proverbios“, García Albero 2013: 9) aus dem Quijote und ihren Übersetzungen ins Französische und Deutsche verschrieben: Aus einer „perspectiva multidisciplinar“ (García Albero 2013: 9) nimmt er dabei „aspectos de la historia y la crítica de la traducción, la teoría de la traducción, la teoría de la literatura y la moderna ciencia de la paremiología“ (García Albero 2013: 9) ins Blickfeld und zeichnet neben einem interessanten Einblick in die Quijote-Rezeption in Frankreich und Deutschland vom 17. bis zum 21. Jahrhundert sowohl Probleme als auch Lösungsansätze in der Übersetzungsarbeit solch sprachlicher Einheiten und ihrer Funktionen nach.

Wie der Fokus der beiden zuletzt vorgestellten Forschungsarbeiten zeigt, bietet sich der Quijote durch seinen spezifischen Sprachstil, der sich u. a. durch eine Vielzahl von Phraseologismen auszeichnet, hervorragend für sprachwissenschaftlich orientierte Untersuchungen an. Wie ich im folgenden Abschnitt erläutern werde, setzt dies auch den Forschungsrahmen der vorliegenden Arbeit fest.

1.2 Konkretisierung der Fragestellung

Vergleicht man die deutschen Übersetzungen des Don Quijote, kann man feststellen, dass sie ein Spiegel der Geistesgeschichte sind. Von der moralistischen Sichtweise der Aufklärer, über das romantische Bild des freien Künstlers, der die Gegensätze vereint, gehen sie mit Braunfels in die realistisch-naturalistische Betrachtung über, die Don Quijote korrekt in sein historisch-regionales Umfeld einbetten will (Lange 22014 [2008]: 762).

Wie aus den Worten Langes mit einem allgemeinen Blick auf deutsche Übersetzungen des Quijote hervorgeht, hinterlässt der jeweils zur Entstehung vorherrschende Zeitgeist in einer jeden Übersetzung unausweichlich seine Spuren. Dies geschieht jedoch nicht unmittelbar, sondern vielmehr über die der jeweiligen Übersetzung zugrundeliegenden und zum Teil deutlich voneinander divergierenden übersetzungstheoretischen Konzeptionen, d. h. also den Ansätzen und Idealen des ‚korrekten Übersetzens’ als Reflex ebendieses Zeitgeistes. Dieses Faktum soll nun zum Anlass genommen werden, um nachzuvollziehen, ob und inwiefern sich solch unterschiedliche Konzeptionen des ‚korrekten Übersetzens‘ – abseits einer allgemeinen Perspektive auf die Übersetzung – bereits in der Art und Weise der Übersetzung von spezifischen sprachlichen Einheiten, gemeint sind hier im Speziellen Somatismen als Gegenstand der Phraseologie, manifestieren, da insbesondere deren Übersetzung mit einer gewissen Komplexität einhergeht. Das illustrieren im Folgenden der im Quijote (1605/1615) verwendete Somatismus span. mamarse el dedo und dessen in den Quijote-Übersetzungen von Bertuch (1775–1777), Tieck (1799–1801) und Lange (2008) vorzufindende Entsprechungen:

Beispiel 1:Übersetzungen des Somatismus span. mamarse el dedo.
span. mamarse el dedo
Cervantes, DQ I 29: 295 f. Bertuch, DQ 2. Buch, 5: 115 f. Tieck, DQ I 29: 265 Lange, DQ I 29: 318 f.
—[…] ¡No, sino dormíos, y no tengáis ingenio ni habilidad para disponer de las cosas y para vender treinta o diez mil vasallos en dácame esas pajas! Par Dios que los he de volar, chico con grande, o como pudiere, y que, por negros que sean, los he de volver blancos o amarillos. ¡Llegaos, que me mamo el dedo! „[…] Soviel Verstand hab ich schon, daß ich das machen will; denn es gehört, meiner Treu! nicht so viel Geschicke darzu, dreyzig oder vierzig tausend Sclaven zu verkaufen! Nur her damit, Gros und Klein, wie sie kommen! Bey Gott! und wenn sie schwarz wie die Teufel wären, ich will sie schon weiß und gelb machen. Wenn ich sie nur erst habe, ihr sollt schon sehen, daß ich ein Kerl bin, der sich zu helfen weiß.“ „[…]: wenn ich Kopf und Verstand habe, so ist es ein leichtes, die Sachen einzurichten, und wenn ich dreißig- bis vierzigtausend Vasallen verkaufe, so wird es mir gut schmecken. Wahrhaftig, verkaufen will ich sie groß und klein, wie sie der Hirt zum Tore hinaustreibt, und wenn sie auch kohlschwarz sind, so sollen sie sich unter meinen Händen in Blanke und Gelbe verwandeln! Alle fünf Finger will ich danach lecken.“ „[…] Ja, immer schön wach und rege, so viel Verstand und Geschick wirst du doch haben, dass du dreißig- oder zehntausend Vasallen in einem Schwupp an den Mann bringst! Bei Gott, die will ich im Nu verschachert haben, paarweise oder im Haufen, und so pechschwarz sie auch sein mögen, ich will sie mir versilbern und vergolden. Nur her zu mir, ich bin ein harmloser kleiner Windelschisser!“

Don Quijote und Sancho befinden sich in Begleitung des Pfarrers und des Barbiers auf einem Abenteuer, bei dem Don Quijote von der Prinzessin von Micomicón gebeten wird, sie bei der Rückeroberung ihres Königtums zu unterstützen. Überzeugt davon, äußerst strategisch zu handeln, malt sich Sancho derweil in seiner Vorstellung ein Bild davon aus, wie sein Herr durch dieses Vorhaben an der Seite der Prinzessin zum König aufsteigen und er selbst durch den Verkauf zahlreicher Vasallen endlich zu Reichtum und in Folge einem eigenen Titel gelangen könnte. Wie beim ersten Blick auf die zitierten Textpassagen unschwer zu erkennen ist, weisen die zielsprachlichen Entsprechungen des ausgangssprachlichen Somatismus span. mamarse el dedo in den drei hier gewählten Quijote-Übersetzungen deutliche Differenzen auf:5 Aus ausgangssprachlicher Perspektive handelt es sich um einen bildhaften, semantisch motivierten Ausdruck, dessen Denotat im DDA mit ‚phrase vulgar con que se da a entender que alguna persona es simple o mentecata, porque ordinariamente los bobos trahen metido el dedo en la boca’ (DDA, s. v. dedo) paraphrasiert wird und sich kontextuell auf die Tatsache bezieht, dass Sancho sich als besonders vertrauenswürdig zu präsentieren glaubt. Betrachtet man den entsprechenden Auszug aus der Quijote-Übersetzung Bertuchs, so wird deutlich, dass dieser mit der zielsprachlichen Entsprechung dt. sich zu helfen wissen, bei der es sich um einen nicht phraseologischen oder anderweitig (figurativ) abstrahierten Übersetzungsvorschlag handelt, weder den exakt durch den ausgangssprachlichen Ausdruck indizierten denotativen Kern noch das ausgangssprachlich evozierte Bild gänzlich angemessen aufzugreifen vermag. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass zielsprachlich keine unmittelbare Referenz auf die (Selbst-)Charakterisierung der hier sprechenden Person als ‚einfach‘ oder ‚harmlos‘ – ob mit ironischem Unterton oder nicht – hergestellt wird. Zum anderen wird mit der gewählten zielsprachlichen Entsprechung auf jegliche Bildhaftigkeit verzichtet, sodass dessen semantische Prägnanz anzuzweifeln und ein formal bedingter Informationsverlust zu verzeichnen ist.

Rückt man nun den Fokus auf Tiecks Quijote-Übersetzung, vermag auch seine zielsprachliche Entsprechung dt. sich alle fünf Finger nach etwas lecken, die mit ‚auf etwas begierig sein’ (Nennform: dt. sich die Finger/alle zehn Finger nach etwas lecken, Duden online s. v. Finger) umschrieben wird, nicht die eigentlich ausgangssprachlich indizierte Bedeutung korrekt aufzugreifen: Zwar handelt es sich aus zielsprachlicher Perspektive um einen ebenfalls phraseologischen bzw. somatischen Ausdruck, der darüber hinaus nahezu vollständig dem ausgangssprachlich evozierten Bild entspricht, jedoch wird mit diesem in der Zielsprache eine in eine völlig andere Richtung weisende Bedeutung assoziiert, sodass sich auch hier trotz des zielsprachlichen Erhalts formaler Kriterien semantische Verluste feststellen lassen.6

Im Gegensatz zu Bertuch und Tieck rekurriert Langes Übersetzungslösung dt. ein harmloser kleiner Windelschisser sein durchaus auf den ausgangssprachlich angezeigten Bedeutungskern, da auch damit sinngemäß eine Referenz auf die Charakterisierung einer Person als ‚einfach‘ bzw. ‚harmlos‘ oder ‚vertrauenswürdig‘ erzeugt wird: Es handelt sich dabei zwar um eine freie, d. h. keine phraseologische bzw. somatische Wortverbindung, jedoch basiert diese auf einer dem ausgangssprachlichen Ausdruck recht ähnlichen Bedeutungsgrundlage, die analog zur Ausgangssprache ebenfalls auf frühkindliche Verhaltensweisen, die folglich im Sinne einer (kognitiv) tendenziell ‚einfachen‘ oder ‚harmlosen‘ Person konzeptualisiert werden, verweist. Eine solche Bedeutungsrekonstruktion muss dabei jedoch eigenständig durch den Rezipienten erfolgen, da es sich bei dieser zielsprachlichen Entsprechung um keinen phraseologischen bzw. somatischen und folglich um keinen mit einer definierten Bedeutung assoziierten Ausdruck handelt. Je nach Rekonstruktionsvermögen des Einzelnen kann dies somit unter Umständen ebenfalls zu gewissen semantischen Ungenauigkeiten führen, sollte die oben genannte Verknüpfung von frühkindlichen Verhaltensweisen mit einer ‚einfachen‘ bzw. ‚harmlosen‘ Person und damit die Referenz auf das ausgangssprachlich indizierte Denotat entfallen.

Wie die Kontrastierung dieser drei Übersetzungen, die den zielsprachlichen Erhalt ganz unterschiedlicher Merkmale fokussieren, zeigt, kommen aus qualitativer Perspektive bei der Übersetzung von Phraseologismen (im Allgemeinen) und Somatismen (im Speziellen) diverse Aspekte zum Tragen, die sich nicht ausschließlich auf eine rein inhaltliche Betrachtungsebene reduzieren lassen. Das Ziel dieser Arbeit besteht folglich darin, sich unter Einbezug des Einflusses unterschiedlicher, diachronisch geprägter übersetzungstheoretischer Prinzipien mit der Frage der Übersetzbarkeit von Somatismen als eine spezielle Klasse phraseologischer (d. h. fixierter) Wortverbindungen, die mindestens ein Lexem beinhalten, das sich auf ein Organ oder einen anderen Bestandteil des menschlichen (oder tierischen) Körpers bezieht, auseinanderzusetzen. Wie die oben aufgeführten Beispiele bereits anzudeuten vermögen, geht solch ein Vorhaben jedoch mit einer Reihe von Schwierigkeiten einher, die in der spezifischen Natur von Phraseologismen (im Allgemeinen) bzw. Somatismen (im Speziellen) und ihrer inhärenten Mehrdimensionalität, dem sogenannten ‚phraseologischen Mehrwert’, begründet liegt: So ist ihnen nicht nur eine denotative Bedeutung zu eigen, sondern sie verfügen zudem über eine Vielzahl an weiteren Merkmalen, die sich sowohl auf ihre formal-ästhetische Struktur als auch ihre Funktionalität (im Text) beziehen können und damit einen die reine Ebene des Denotats übersteigenden Mehrwert implizieren. Möchte man diese sprachlichen Phänomene nun möglichst umfassend und ohne Sinn- bzw. Informationsverlust übersetzen, besteht die Kunst des Übersetzers folglich darin, nicht nur das dem Ausdruck zugewiesene Denotat in die Zielsprache zu übermitteln, sondern im Idealfall auch solche Werte, die zusätzlich von diesem Ausdruck ausgehen, zielsprachlich zu reflektieren, damit die Übersetzung in ihrer Gesamtheit weder an semantischer Präzision noch an formal-ästhetischer und funktionaler Qualität verliert. Betrachtet man dies nun vor dem diachronischen Hintergrund verschiedener übersetzungstheoretischer Prinzipien bzw. Ideologien,7 mit denen stets eine voneinander divergierende Schwerpunktsetzung bezüglich der in der Zielsprache zu erhaltenden Werte einhergeht, gewinnt das erklärte Vorhaben an Vielschichtigkeit.

1.3 Methodik, materielle Basis und theoretische Vorüberlegungen

Um untersuchen zu können, welche konkrete Rolle dezidierte übersetzungstheoretische Ideologien bei der mit sowohl inhaltlichen als auch formal-ästhetischen Problemen assoziierten Übersetzung von Somatismen (in einem literarischen Text) spielen, führe ich in dieser Arbeit einen Übersetzungsvergleich von ausgangssprachlichen Somatismen und ihren deutschen Entsprechungen durch. Die Quelle der sprachlichen Daten bildet aus ausgangssprachlicher Perspektive Cervantes’ Meisterwerk Don Quijote (1605/1615) – ein historischer Text mit einer, wie bereits erwähnt, nunmehr seit 400 Jahren andauernden Tradition und Rezeption. Zielsprachlich basiert das Korpus auf den Quijote- Übersetzungen von Friedrich Justin Bertuch (1775–1777) als Vertreter der Aufklärung, Ludwig Tieck (1799–1801) als Vertreter der Frühromantik und Susanne Lange (2008) mit einer historisch-philologisch fundierten, gegenwärtigen Übersetzung. Die konkrete Wahl der herangezogenen Quijote- Übersetzungen, die ein recht weites Rezeptionsspektrum abdecken, liegt dabei im Forschungsziel dieser Arbeit begründet: Um nachvollziehen zu können, inwiefern sich unterschiedliche Übersetzungskonzeptionen auf die Übersetzungsqualität von Somatismen (in einem literarischen Text) bezüglich des Erhalts ihrer semantischen, formal-ästhetischen und funktionalen Präzision in der Zielsprache auswirken, ist es sinnvoll, auf zielsprachliche Arbeiten zurückzugreifen, die auf möglichst diversen Übersetzungskonzeptionen basieren. Auf diese Weise steigt die Wahrscheinlichkeit für die Ermittlung signifikanter Unterschiede. Mit Bertuchs aufklärerischer, Tiecks romantischer und Langes gegenwärtiger Übersetzung, die von den übersetzungstheoretischen Erkenntnissen der Frühromantik und der historisch-philologischen Methode geprägt ist, als besonders charakteristische Repräsentanten des jeweiligen Ansatzes wird man diesem Anspruch gerecht.

Wie der kursorische Einblick in die Übersetzungstradition des Quijote in Abschnitt 1.1 gezeigt hat, nimmt in diesem Rahmen auch Braunfels’ Übersetzung einen besonderen Stellenwert ein: Mit seiner qualitativ hochwertigen Arbeit schlägt er eine ‚neuphilologische Brücke’ zwischen dem zuvor romantisch geprägten Übersetzungsansatz einerseits und den auf der historisch- philologischen Methode basierenden Übersetzungen des 20. und 21. Jahrhunderts, zu denen auch Langes Arbeit zählt, andererseits. Nichtsdestotrotz habe ich mich aus methodischen Gründen dagegen entschieden, Braunfels’ Übersetzung als übersetzungskonzeptionelle Repräsentation der historisch- philologischen Methode in das Untersuchungskorpus zu integrieren. Stattdessen fiel die Wahl auf Langes aktuellere, ebenfalls historisch-philologisch geprägte Neuübersetzung, da hier, aufgrund der nunmehr etablierten Methode, ein markanter Einfluss ebendieser zu erwarten ist.

Das analysierte Korpus umfasst 206 ausgangssprachliche Einheiten, die im Ausgangstext insgesamt in 621-facher Okkurrenz vorliegen. Bezogen auf die drei ausgewählten Übersetzungen umfasst das Gesamtkorpus somit 1863 Vergleichspaare. Im Zentrum des Übersetzungsvergleiches steht die Ermittlung der zwischen den selektierten Vergleichspaaren bestehenden Übersetzungsäquivalenz, die als die Gleichwertigkeit der kontrastierten Vergleichspaare in Ausgangs- und Zielsprache auf diversen Betrachtungsebenen zu verstehen ist. Ihre spezifische Ausprägung ermöglicht wiederum Rückschlüsse auf die semantische, formal-ästhetische und funktionale Präzision der übersetzten Einheiten. Für die Erhebung der Äquivalenz berufe ich mich in weiten Teilen und sofern es die zu betrachtenden Werte gestatten auf (denotative) Angaben, Erläuterungen und Markierungen der betreffenden Ausdrücke aus gängigen lexikographischen Hilfswerken, was neben dezidiert phraseologischen und/oder parömiologischen Wörterbüchern auch die Konsultation allgemeinsprachlicher Wörterbücher sowie sprachlicher Korpora miteinschließt. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass aufgrund der diachron ausgerichteten Fragestellung auch das Hinzuziehen primär diachron ausgerichteter Wörterbücher bzw. Korpora oder solcher, die zumindest über eine „diachronische Tiefendimension“ (Lebsanft 2011: 73) verfügen, notwendig ist. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, empfehlen sich aus ausgangssprachlicher Perspektive aufgrund ihrer langen Tradition insbesondere die Wörterbücher der Real Academia Española; für die Analyse der zielsprachlichen Entsprechungen greife ich, neben weiteren Titeln, bevorzugt zu den Wörterbüchern der Dudenredaktion, da auch diese eine zumindest bis ins 19. Jahrhundert reichende Tradition aufweisen. Jenseits der Arbeit mit lexikographischen Hilfsmitteln ist die Ermittlung und Analyse der Übersetzungsäquivalenz einiger Werte auch von der subjektiven Einschätzung des Betrachters geprägt.

Um der Frage nach der Übersetzbarkeit von Somatismen wissenschaftlich adäquat und umfassend nachgehen zu können, werden aus methodischer Sicht verschiedene Theorien miteinander kombiniert: Die grundlegende, strukturalistische Definition phraseologischer bzw. somatischer Wortverbindungen wird dabei durch poststrukturalistische Ansätze sowie zu Analysezwecken durch übersetzungswissenschaftliche Prinzipien ergänzt und erweitert. Um eine kohärente Integration dieser Ansätze zu gewährleisten, empfiehlt sich als theoretisches Fundament das ‚Drei-Ebenen-Modell des Sprechens‘ nach Coseriu (22007 [1988]) heranzuziehen. Die darin vorgestellte Theorie des Sprechens führt nämlich „‚über den Strukturalismus hinaus’ zu einer ‚integralen Linguistik’, die nicht nur die Einzelsprachen, sondern das ganze Sprechen umfaßt“ (Weber 22007 [1988]: XIII) und sich daher besonders eignet, um aufzuzeigen, inwiefern die diskutierten Ansätze ineinandergreifen. Um an entsprechenden Stellen in dieser Arbeit auf das Coseriu’sche Drei-Ebenen-Modell des Sprechens zurückgreifen zu können, sei es zunächst überblicksartig dargestellt. Den Ausgangspunkt bildet das Verständnis des Sprechens als ‚kulturelle Tätigkeit‘:8

Das Sprechen ist eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die jeweils von individuellen Sprechern als Vertretern von Sprachgemeinschaften mit gemeinschaftlichen Traditionen des Sprechenkönnens individuell in bestimmten Situationen realisiert wird (Coseriu 22007 [1988]: 70).

Aus dieser Definition leitet Coseriu drei Ebenen ab, „die stets im Zusammenspiel wirksam werden“ (Cremer 2015: 10): die universelle, die historische und die individuelle Ebene des Sprechens. Angelehnt an Aristoteles und Humboldt kann die Sprechtätigkeit zudem nach drei Gesichtspunkten – die kreative Tätigkeit des Sprechens und Verstehens (energeia), das dieser Tätigkeit zugrundeliegende Wissen (dynamis) und das aus der Sprechtätigkeit resultierende Produkt (ergon) (Coseriu 22007 [1988]: 71) – differenziert werden. Coseriu betont, dass es sich bei den genannten Aspekten um „Unterschiede des Gesichtspunkts handelt, unter denen dieselbe reale Sprechtätigkeit betrachtet wird, nicht um verschiedene reale Gesichtspunkte“ (Coseriu 22007 [1988]: 71). Unter Einbezug der Aspekte des sprachlichen Inhalts sowie des Urteils seitens der Sprachverwender, die im Folgenden noch präzisiert werden, ergibt sich aus dem bisher Erläuterten das folgende Schema (nach Coseriu 22007 [1988]: 75, 89):

Abb. 1:Das Drei-Ebenen-Modell des Sprechens nach Coseriu (22007 [1988]: 75, 89).

Ebene Gesichtspunkt
Tätigkeit (energeia) Wissen (dynamis) Produkt (ergon) Inhalt Urteil
Universelle Ebene Sprechen im Allgemeinen elokutionelles Wissen Totalität der Äußerungen Bezeichnung Kongruenz
Historische Ebene konkrete Einzelsprache idiomatisches Wissen (abstrakte Einzelsprache) Bedeutung Korrektheit
Individuelle Ebene Diskurs expressives Wissen Text Sinn Angemessenheit

Auf universeller Ebene wird die kreative Tätigkeit durch das Sprechen im Allgemeinen repräsentiert. Dabei handelt es sich um eine allgemein-menschliche, universelle und übereinzelsprachliche Tätigkeit, die folglich „zu jedem Sprechen – gleichgültig in welcher Sprache – gehört“ (Coseriu 22007 [1988]: 76). Dieser allgemein-sprachlichen Kompetenz wird das elokutionelle Wissen zugrunde gelegt, das „universelle Prinzipien aller Sprachen und allen Sprechens wie Semantizität, Referenzialisierung und Alterisierung [umfasst]“ (Cremer 2015: 9). Wie Cremer hervorhebt, werden sprachliche Zeichen grundsätzlich dazu verwendet, „um etwas in der außersprachlichen Wirklichkeit zu bezeichnen und es zum Kommunikationsgegenstand zu erheben“ (Cremer 2015: 9); das elokutionelle Wissen erfordert somit bei allen Sprechern „die Kenntnis der allgemeinsten Prinzipien des Denkens“ sowie „die allgemeine Kenntnis der Sachen“ (Coseriu 22007 [1988]: 89). Das Produkt des Sprechens im Allgemeinen auf universeller Ebene besteht aus der Totalität aller Äußerungen, „die jedoch nicht exhaustiv erfasst werden kann“ (Cremer 2015: 10).

Auf historischer Ebene erfolgt das Sprechen immer aufgrund einer konkreten historischen Technik des Sprechens, d. h. aufgrund einer „bestimmten Einzelsprache, die einer historisch konstruierten Sprachgemeinschaft entspricht“ (Coseriu 22007 [1988]: 80). Dieser Ebene des Sprechens liegt das idiomatische Wissen zugrunde, womit der Bereich erfasst wird, der „dem Sprechen in einer bestimmten Sprache“ (Coseriu 22007 [1988]: 74) gleichkommt und folglich die einzelsprachliche Kompetenz konstruiert. Historische Einzelsprachen weisen dabei „eine innere Verschiedenheit auf“ (Cremer 2015: 10), die durch diatopische, diastratische und diaphasische Varietäten markiert ist, „von ihren Sprechern sowie von denen anderer Sprachen aber trotzdem als einend empfunden und durch ein adiectivum proprium identifiziert [werden]“ (Cremer 2015: 10). Coseriu definiert das Produkt des Sprechens auf historischer Ebene als „‚abstrakte Einzelsprache‘“, d. h. das, „was im Sprechen als gleichbleibend erkannt und zum Gegenstand der linguistischen Beschreibung gemacht wird“ (Coseriu 22007 [1988]: 75).

Auf individueller Ebene wird der einmalige Charakter des Sprechens als Tätigkeit betont, der sich dabei in zweierlei Hinsicht äußert: Zum einen wird das Sprechen immer von einem Individuum vollzogen, zum anderen findet es immer in einer determinierten, einmaligen Situation statt (Coseriu 22007 [1988]: 70 f.). Coseriu verwendet zur Bezeichnung dieser individuellen Tätigkeit den Begriff ‚Diskurs‘ und betont, dass dieser nicht mit dem Produkt der individuellen Ebene, d. h. dem konkreten Text als „materielle Manifestation“ (Cremer 2015: 10) gleichzusetzen ist.9 Das dieser Ebene zugrunde liegende Wissen ist das expressive Wissen, „das dem individuellen Sprechen entspricht und sich darauf bezieht, wie man Texte in bestimmten Situationen konstruiert“ (Coseriu 22007 [1988]: 74). Folglich referiert es damit auf die Textkompetenz und kann gemäß den jeweils geltenden Normen10 „das elokutionelle und idiomatische Wissen an Variabilität“ (Cremer 2015: 10) übersteigen: „Die universellen und historischen Wissensbestände sind als Teilsysteme in das expressive Wissen integriert. In jedem Kommunikationsakt manifestiert sich folglich ein Zusammenspiel von universellen, einzelsprachlichen und textuellen Kompetenzen“ (Cremer 2015: 11).

Einer jeden der aufgeführten Ebenen entspricht zudem „eine besondere Ebene des sprachlichen Inhalts“ (Coseriu 22007 [1988]: 79): Auf universeller Ebene ist die ‚Bezeichnung‘ als Referenz „zu außersprachlichen Gegenständen oder zur außersprachlichen ‚Wirklichkeit‘“ anzusiedeln, die Coseriu als „Sachverhalte selbst oder die entsprechenden Gedankeninhalte“ (Coseriu 22007 [1988]: 79) konkretisiert. Wie Cremer anmerkt, „geht [aus dieser Definition jedoch] keine eindeutige Bestimmung hervor, da erstens der Ausgangspunkt der genannten ‚Beziehung‘ nicht genannt und zweitens der Endpunkt der Relation nicht eindeutig determiniert wird“ (Cremer 2015: 12). Auf historischer Ebene entspricht der Inhalt, der mit ‚Bedeutung‘ benannt wird, dem „sprachlich gegebene[n]‌ Inhalt in einer Einzelsprache, d. h. die besondere Gestaltung der Bezeichnung in einer bestimmten Sprache“ (Coseriu 22007 [1988]: 79). Auf individueller Ebene manifestiert sich der besondere sprachliche Inhalt schließlich als ‚Sinn‘, der sich auf „das mit dem Sagen ‚Gemeinte‘“ (Coseriu 22007 [1988]: 79) bezieht und mit Hilfe der Bezeichnung und der Bedeutung ausgedrückt wird, „in einem individuellen Diskurs [aber] über beide hinausgeht und den Einstellungen, Absichten oder Annahmen des Sprechers entspricht“ (Coseriu 22007 [1988]: 79). Wie Cremer ausführt, kann der Sinn dabei „– analog zur Bezeichnung und Bedeutung – als relationale Kategorie verstanden werden, denn er ergibt sich aus der Beziehung zwischen der Symbiose von Bedeutung und Bezeichnung auf der einen Seite und der außersprachlichen Welt auf der anderen Seite“ (Cremer 2015: 14).

Wie aus der schematischen Darstellung des Drei-Ebenen-Modells des Sprechens ersichtlich wird, kann jeder Ebene zudem ein autonomes Urteil über das Gesprochene zugeordnet werden. So wird auf universeller Ebene über die ‚Kongruenz’ des Sprechens „in Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit entschieden“ (Cremer 2015: 11), während auf historischer Ebene die ‚Korrektheit’ „im Sinne einer aus der antiken ars recte dicendi hervorgegangenen Grammatik das Urteil über das Sprechen als einzelsprachliche Tätigkeit“ (Cremer 2015: 11) bildet. Neben der Korrektheit kann dabei auch die Exemplarität, „die als Standard den Referenzpunkt des Diasystems einer Sprache liefert“ (Cremer 2015: 11), das Bewertungskriterium darstellen. Auf individueller Ebene erstreckt sich das Urteil auf die Bewertung, ob „ein Text in einem bestimmten Fall den Erwartungen als Text entspricht“ (Coseriu 22007 [1988]: 86) und als angemessen (oder adäquat) einzustufen ist. Dabei wird nicht darauf geachtet, ob das Gesprochene einzelsprachlich richtig oder falsch ist, sondern es wird beurteilt, ob es in Bezug auf die Sache, die Situation oder den Hörer angemessen oder nicht angemessen erscheint (Coseriu 22007 [1988]: 174 f.). Die Angemessenheit ist demnach „der primäre Maßstab, nach dem Texte bzw. Diskurse bewertet werden“ (Coseriu 22007 [1988]: 175). Obwohl die drei vorgestellten Urteile autonom voneinander funktionieren, gilt für sie das Prinzip der Aufhebung: „Die Bewertung einer Ebene kann durch die jeweils determiniertere außer Kraft gesetzt werden“ (Cremer 2015: 11).

Abschließend sei das Zusammenspiel der drei Ebenen betont, die stets zur gleichen Zeit am Sprechen beteiligt sind:

Jeder erfolgreiche kommunikative Akt manifestiert sich in einem simultanen Wirken von Bezeichnung, Bedeutung und Sinn, denn sprachliche Zeichen werden nicht isoliert verwendet. Es gibt keinen fassbaren kommunikativen Akt, der nicht auf alle drei Wissensbestände zurückgreift. Als realistische Bezugsgröße fungiert immer das Textprodukt, von dem aus auf alle anderen Felder Rückschlüsse gezogen werden können. Der im Text befindliche Sinn kann nur durch die Rückkopplung mit allen sprachlichen Ebenen sowie dem Außersprachlichen zu Stande kommen (Cremer 2015: 15).

1.4 Aufbau der Arbeit

Strukturell wird das erklärte Ziel dieser Arbeit wie folgt realisiert: In einem ersten Arbeitsschritt ist es notwendig, ein für das erklärte Vorhaben wissenschaftlich adäquates, theoretisches Fundament zu schaffen, dessen Basis in Kapitel 2 dieser Arbeit („Die Herausbildung der Phraseologie zu einer eigenständigen Disziplin: Strömungen und Tendenzen“) ein prägnanter Forschungsüberblick über die sowohl traditionell-strukturalistisch geprägten Strömungen als auch post-strukturalistische Tendenzen bildet, die zur Herausbildung der Phraseologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin und neuerdings zu ihrer Perspektivenerweiterung beigetragen haben bzw. weiterhin beitragen. Die Systematisierung der zu diskutierenden Forschungsbeiträge ist dabei in Anlehnung an Thun (1978) historisch-areal bzw. sachlich motiviert: In Kapitel 2.1 werden ausgewählte Ansätze aus dem Bereich der sowjetischen Sprachwissenschaft vorgestellt; in Kapitel 2.2 wird der Fokus auf Beiträge aus dem Raum der nordamerikanischen Sprachwissenschaft gesetzt; Kapitel 2.3 diskutiert relevante Abhandlungen des westeuropäischen Strukturalismus; über Thun (1978) hinaus geht Kapitel 2.4 schließlich auf den Einfluss neuerer linguistischer Theorien wie etwa der Kognitiven Linguistik auf die Phraseologieforschung ein, die nicht zuletzt die methodische und analytische Herangehensweise in der vorliegenden Arbeit prägt.

An diesen Forschungsüberblick anknüpfend wird in Kapitel 3 („Freie und fixierte Wortverbindungen: Über Phraseologismen und Somatismen“) zunächst das für diese Arbeit gültige Begriffsverständnis phraseologischer Phänomene im Allgemeinen sowohl aus terminologischer als auch konzeptioneller Perspektive erarbeitet, um darauf aufbauend den spezifischen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit – Somatismen – definitorisch zu erfassen. Dazu wird in Kapitel 3.1 erst der Status phraseologischer Wortverbindungen im System der Sprache erläutert, um davon ableitend in Kapitel 3.2 ihre fundamentalen Merkmale, durch die sie sich von freien Wortverbindungen abgrenzen, sowie ihre Klassifikation in Kapitel 3.3 zu explizieren. In Kapitel 3.4 wird das Augenmerk schließlich auf Somatismen im Speziellen gerichtet.

In Vorbereitung auf den Übersetzungsvergleich von Somatismen und ihren zielsprachlichen Entsprechungen in Kapitel 4 („Zur Übersetzbarkeit von Somatismen: Übersetzungstheoretische Vorüberlegungen“) wird in einem weiteren Arbeitsschritt sodann eine übersetzungswissenschaftliche Perspektive in die Betrachtung integriert: Im Zentrum des Interesses steht dabei die Frage nach der Übersetzbarkeit von Phraseologismen bzw. Somatismen, die aufgrund ihrer besonderen Natur mit einer spezifischen Übersetzungsproblematik assoziiert werden. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen und gleichermaßen den methodischen Weg für die Durchführung des Übersetzungsvergleiches zu ebnen, befasst sich Kapitel 4.1 mit vier Problemfeldern phraseologischer bzw. somatischer Wortverbindungen, die in der Übersetzung zu potenziellen Schwierigkeiten führen können. In Kapitel 4.2 werden anschließend elementare übersetzungstheoretische Grundkonzepte, die einerseits das Konzept der Übersetzung als solches definitorisch aufgreifen und es andererseits gestatten, einen Übersetzungsprozess aus qualitativer Perspektive zu beschreiben, eingeführt. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse erfolgt in Kapitel 4.3 schließlich die Ausarbeitung der für den Kontext der Fragestellung sowie des Untersuchungsgegenstandes geeigneter Analysekriterien, die letztlich die Ermittlung der Übersetzungsäquivalenz der zu betrachtenden sprachlichen Vergleichspaare ermöglichen. Das Fundament dafür bildet eine Äquivalenzklassifikation, die in Kapitel 4.4 erarbeitet wird, um die betreffenden Werte zwecks der Zuordnung zu spezifischen Äquivalenz-Typen zueinander in Bezug setzen zu können.

In Kapitel 5 („Somatismen in ausgewählten Quijote-Übersetzungen“), dem analytischen Herzstück der Arbeit, erfolgt schließlich die unmittelbare Umsetzung der zuvor theoretisch erörterten Prinzipien in Form des Übersetzungsvergleichs. Wie zuvor dargelegt, bildet die materielle Grundlage dazu ein sprachliches Korpus von insgesamt 1863 Vergleichspaaren, die anhand des erarbeiteten Analyseinstrumentariums, bestehend aus einem Katalog an Analysekriterien und einer umfassenden Äquivalenzklassifikation, mit dem Ziel der Ermittlung ihrer spezifischen Übersetzungsäquivalenz einander vergleichend gegenübergestellt werden. Das Analysekapitel gliedert sich dabei in vier Subkapitel: Eröffnet durch eine überblicksartige Darstellung der für die jeweilige Epoche dominierenden übersetzungstheoretischen Prinzipien setzen sich die Kapitel 5.1 („Quijote-Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch (1775–1777): Im Zeitgeist der Aufklärung“), 5.2 („Quijote-Übersetzung von Ludwig Tieck (1799–1801): Im Zeitgeist der Frühromantik“) und 5.3 („Quijote- Übersetzung von Susanne Lange (2008): Im Zeitgeist der historisch-philologisch geprägten Gegenwart“) exklusiv mit der Auswertung der Vergleichspaare aus einer der das Korpus formenden Quijote-Übersetzung sowohl aus quantitativer als auch aus qualitativer Betrachtungsperspektive auseinander. In Kapitel 5.4 („Synthese der Ergebnisse“) werden die zuvor im Einzelnen gewonnenen Erkenntnisse schließlich unmittelbar zueinander in Bezug gesetzt.

Vervollständigt wird die Arbeit durch ein Resümee in Kapitel 6, ein Literaturverzeichnis in Kapitel 7 sowie einen Anhang in Kapitel 8.


1 Die in der Literatur vorzufindenden Jahreszahlen bezüglich der Entstehung seiner Übersetzung variieren leicht: Während Kronacher 1621 angibt, setzt Colón (1974: 13) die Übersetzung „um 1617“ an; das Druckjahr lässt sich jedoch übereinstimmend auf 1648 festlegen (Kronacher 1924, Colón 1974: 13 f.).

2 Weitere Ausführungen zu diesem Disput erfolgen eingangs in Kapitel 5.2 (S. 365).

3 Passend dazu zitiert García Albero (2013: 287) Karl Mager, einen der bedeutendsten Akteure der Neuphilologie: „Dem exegetischen Geschäfte des Philologen schließt sich das Uebersetzen poetischer und prosaischer Kunstwerke an. Daß Uebersetzungen Kunstwerke sind und als solche einen absoluten Werth haben, in ihrer Vollkommenheit aber nur das Werk von Philologen sein können, leugnet wohl keiner, der je Vosens Homer, Schlegel’s Shakspear, Lange’s Herodot u.s.w. mit weniger gelungenen Uebersetzungen jener Autoren verglichen hat“ (Mager 1840: 22).

4 Aufgrund dieser Korrektheit rückt laut Lange „die Verteilung von Klang, Farbe und Licht der cervantinischen Prosa, die die Romantiker als so wesentlich erkannt hatten“ (Lange 22014 [2008]: 761) bei Braunfels jedoch bisweilen in den Hintergrund: „[O]‌ft wählt er den Weg des genaueren, umständlicheren Ausdrucks im Gegensatz zum rhythmisch fließenden. Diese Korrektheit kann hin und wieder Don Quijotes Ironie oder Sanchos Witz in die Parade fahren“ (Lange 22014 [2008]: 761).

5 Die Motive für die Auswahl dieser Quijote-Übersetzungen werden in Abschnitt 1.3 dargelegt.

6 An späterer Stelle wird diese Beobachtung unter dem Prinzip der Schein-Äquivalenz genauer betrachtet (s. Kapitel 5.2.2.2.1, Vergleichspaar T-120-01).

7 Die Termini ‚übersetzungstheoretisch‘, ‚übersetzungskonzeptionell‘ ‚übersetzungsästhetisch‘ und ‚übersetzungsideell‘ werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet.

8 Dass die Fähigkeit des Sprechenkönnens dabei „biologisch bedingt“ (Coseriu 22007 [1988]: 69) ist, erscheint offensichtlich und ist für die Ausarbeitung Coserius Theorie des Sprechens nur von sekundärem Interesse.

9 Wie Cremer (2015: 17) in Anlehnung an Lebsanft (2006: 531 f.) ausführt, werden die Begriffe ‚Diskurs‘ und ‚Text‘ „in der romanistischen Sprachwissenschaft meist mehr oder weniger synonym verwendet“, und das „[u]‌ngeachtet der terminologischen Unterscheidung nach dem Gesichtspunkt durch Coseriu, der […] den Diskurs als konkrete Tätigkeit auf der individuellen Ebene versteht, dessen sichtbares Produkt der Text darstellt“. Zudem umfasst der Begriff ‚Diskurs’ auch das von Coseriu eingeführte terminologische Substitut habla für den saussureschen Begriff der parole als individuelle Sprechtätigkeit (Lebsanft/Schrott 2015: 15).

10 „Das expressive Wissen ist dagegen enorm verschiedenartig, und die entsprechenden Normen sind von ganz unterschiedlicher Verbindlichkeit. Sie reichen von den ganz allgemeinen Normen für die verschiedenen Arten des Sprechens über präzisere Normen für Textsorten bis hin zu den sehr präzisen Normen für die Strukturierung bestimmter traditionell fixierter Textformen“ (Coseriu 22007 [1988]: 159).

2. Die Herausbildung der Phraseologie zu einer eigenständigen Disziplin: Strömungen und Tendenzen

Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist einerseits, mittels eines prägnanten Überblicks die Genese der Phraseologie zu einem eigenständigen Forschungszweig innerhalb der Linguistik, der zunächst traditionell-strukturalistisch geprägt ist, nachzuzeichnen und dabei gleichermaßen die vielfältigen Ansätze und Herangehensweisen, die im Kontext der Gegenstandsbeschreibung generiert wurden, zu demonstrieren. Andererseits soll aufgezeigt werden, inwiefern in jüngerer Vergangenheit auch neuere linguistische Theorien auf die Phraseologieforschung einwirken. Die Darstellung dieser Forschungsansätze wird zunächst in Anlehnung an Thun (1978) in relevanten Ausschnitten geboten und nach vier Hauptströmungen gegliedert, deren Systematisierung sich historisch- areal und/oder sachlich begründen lässt: Als erstes werden in Kapitel 2.1 die wesentlichen Ansätze zur Phraseologie aus dem Bereich der sowjetischen Sprachwissenschaft vorgestellt; Kapitel 2.2 geht auf den Raum der nordamerikanischen Sprachwissenschaft ein; Kapitel 2.3 befasst sich mit Ansätzen des westeuropäischen Strukturalismus, von denen insbesondere die theoretischen Konzepte von Coseriu, Thun und Zuluaga im weiteren Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen werden, während Kapitel 2.4 schließlich den von diesen Forschern noch nicht berücksichtigten Einfluss neuerer linguistischer Theorien auf die Phraseologieforschung diskutiert. Dabei ist für den Rahmen dieser Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die Kognitive Linguistik und ihre Darstellungen durch Langacker und Dobrovol’skij zu richten.

2.1 Sowjetische Sprachwissenschaft

Den Ausgangspunkt des Forschungsüberblicks bildet die sowjetische Sprachwissenschaft: Aufbauend auf Saussures Schüler Charles Bally, der gemäß sowjetischer Literatur „als erster die Phraseologie als selbständigen Teil von der Lexikologie abgesondert habe“ (Thun 1978: 98), etablierte sich im russischen Sprachraum bereits gegen Ende der 1940er Jahre – und damit früher als in den Ländern Westeuropas – eine Tradition zur Erforschung phraseologischer Phänomene, aus der eine Vielzahl empirischer Publikationen und materialreiche phraseologische Wörterbücher resultierten. Neben einem praktisch- lexikographischen Forschungsschwerpunkt lagen auch recht früh Arbeiten, die sich speziell mit der Geschichte und Problematik der Phraseologie befassten, vor. Darüber hinaus wurde der Phraseologie in der Regel auch in Handbüchern zur Lexikologie, zur Stilistik, zu einzelnen Sprachen und zur allgemeinen Sprachwissenschaft ein eigenes Kapitel gewidmet. Der wissenschaftliche Diskurs wurde zudem durch eine beachtliche Anzahl von Kongressen zu Problemen der Phraseologie angeregt (Thun 1978: 104–106), sodass das, was anfänglich als bloßer Teilbereich der Lexikologie betrachtet wurde, sich nach und nach zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin etablierte; ein Prozess, zu dem die Forschungsaktivität V. V. Vinogradovs einen wesentlichen Beitrag leistete (Thun 1978: 106–110, Higi-Wydler 1989: 7 f.).

2.1.1 V. V. Vinogradov

Innerhalb der neueren russischen Phraseologie gelten Vinogradovs Ausführungen als Klassiker und er als der „eigentlich[e]‌ Begründer dieser Forschungsrichtung“ (Higi-Wydler 1989: 7). So ist es nicht verwunderlich, dass Vinogradov für eine Vielzahl nachfolgender Arbeiten das theoretische Fundament bildete und zum teilweise sehr kritischen Diskurs anregte (Thun 1978: 106 f.).

Als Vinogradovs theoretische Basis lässt sich – wie bereits erwähnt – das Werk von Charles Bally (1905, 31951 [1909])11 ausmachen. In seinem Artikel „Ob osnovnych tipach frazeologičeskich edinic v russkom jazyke“ [‚Über die Grundtypen der phraseologischen Einheiten in der russischen Sprache‘] (1947)12 diskutiert und präzisiert Vinogradov die von Bally vorgeschlagenen Klassifikationskriterien phraseologischer Einheiten (Thun 1978: 107), jedoch fokussiert er sich dabei nur auf diejenigen Einheiten, die sich unterhalb der Satzgrenze situieren und/oder als Satzteil funktionieren (Thun 1978: 107, Higi-Wydler 1989: 7). Dabei klassifiziert er die untersuchten Phänomene nach drei Kriterien: „der semantischen Zerlegbarkeit (gemeint ist die Motivierbarkeit), der syntaktischen Zerlegbarkeit und der Verbindbarkeit der Komponenten“ (Higi-Wydler 1989: 7 und sinngemäß Thun 1978: 107). Auf dieser Grundlage unterscheidet Vinogradov schließlich zwischen drei Typen der Wortverbindungen, wobei die zwei im Folgenden erstgenannten Typen im Gegensatz zum Letztgenannten auf unterschiedlichen Kriterien beruhen (Thun 1978: 107–110, Higi-Wydler 1989: 7):

  1. 1. Den ersten Typus bildet die „phraseologisch zusammengewachsene Einheit“ (Thun 1978: 107),13 die sowohl semantisch als auch syntaktisch völlig unzerlegbar ist; ihre Bedeutung zeichnet sich durch ein hohes Maß an Idiomatizität aus, da sie unabhängig und völlig unmotiviert von der Bedeutung der einzelnen Komponenten ist. Vinogradov subklassifiziert diesen ersten Typus in phraseologisch zusammengewachsene Einheiten mit: a. lexikalischen Archaismen, b. grammatischen Archaismen, c. „expressiver Individualisierung“ (Thun 1978: 107) oder d. vollkommen verschmolzenen Komponenten.
  2. 2. Den zweiten Typus stellt die „phraseologische Einheit“ (Thun 1978: 107) dar,14 die semantisch ebenfalls nicht zerteilbar ist; die Gesamtbedeutung entspricht auch hier nicht der Bedeutung der einzelnen Teile, sie ist „als ‚aus der Verschmelzung der Bedeutungen der lexikalischen Komponenten entstanden‘“ (Thun 1978: 108). Da sich die Gesamtbedeutung jedoch aus der Bedeutung der Komponenten motivieren lässt, handelt es sich um phraseologische Einheiten mit einer übertragenen Bedeutung. Des Weiteren sind „[i]‌m Gegensatz zu den ‚phraseologisch zusammengewachsenen Einheiten‘ […] die ‚phraseologischen Einheiten‘ auch grammatisch potentiell zerlegbar; die grammatischen Beziehungen zwischen den Komponenten sind leicht als lebendige syntaktische Verbindungen erkennbar“ (Thun 1978: 109), aber syntaktisch nicht frei.
  3. 3. Der letzte von Vinogradov postulierte Typus ist die „phraseologische Verbindung[…]/Gruppe“ (Thun 1978: 107).15 Wie bereits angedeutet, basiert dieser Typ auf einem anderen Kriterium, nämlich dem der begrenzten Verbindungsbildung: „Dieser Typ umfaßt FWG [= ‚fixiertes Wortgefüge‘], bei denen ‚gewöhnlich‘ nur die Bedeutung einer Komponente ‚nicht-frei‘ […] ist […]. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß sich die nicht-freie ihrer Komponenten nur mit bestimmten Wörtern verbindet, mit anderen, obwohl bedeutungsähnlichen Wörtern keine Verbindung eingeht“ (Thun 1978: 109).

2.1.2 I. A. Mel’čuk

Wie eingangs bereits angedeutet, bildet der – wie bei Thun (1978) dargestellt – Vinogradov’sche Ansatz die Diskussionsgrundlage vieler nachfolgender Arbeiten, die Vinogradovs Klassifikation des phraseologischen Materials – zum Teil in modifizierter Weise – übernehmen,16 präzisieren oder Alternativvorschläge generieren. Zu Letzterem gehört der distributionell-statistische Neuansatz von I. A. Mel’čuk: In seinem Aufsatz „Über die Termini ‚Fixiertheit‘ und ‚Idiomatizität‘“ (1960)17 versucht der Autor, „mit Hilfe statistischer Kategorien die Fixiertheit, den idiomatischen Charakter und die sog. verbindungsbildende[n]‌ Eigenschaften sowie die Beziehungen dieser Eigenschaften zueinander zu präzisieren“ (Thun 1978: 114):

Der Grad der Fixiertheit bzw. der Idiomatizität wird immer an einem Wort, das Element einer Wortverbindung sein kann, gemessen. Vollständige Fixiertheit liegt dann vor, wenn eine Komponente einer Wortverbindung die anderen bedingt, z. B. bei martel in se mettre martel en tête. Weniger stark ist der Grad der Fixiertheit bei marmot in croquer le marmot, da dieses Wort auch ausserhalb der Verbindung anzutreffen ist (Higi-Wydler 1989: 9).

Zur Ermittlung der Idiomatizität einer Wortverbindung führt Mel’čuk „den Begriff des ‚einmaligen Übersetzungsäquivalents‘ ein, das im innersprachlichen synonymen Ersatz einer sprachlichen Einheit durch eine andere (Einzelwort oder Periphrase) besteht“ (Thun 1978: 115). Darüber hinaus etabliert der Autor ein weiteres Konzept zur Beschreibung und Klassifizierung von Wortverbindungen – die ‚verbindungsbildende Eigenschaft‘: „Je größer nun die verbindungsbildende Eigenschaft eines Elements ist, desto geringer wird die Fixiertheit der Verbindung, die dieses Element enthält“ (Thun 1978: 116).

Auf der Grundlage der oben ausgeführten Kriterien nimmt Mel’čuk folgende Klassifizierung der phraseologischen Einheiten vor (Thun 1978: 117):

  • fixierte idiomatische Verbindungen,
  • fixierte nicht-idiomatische Verbindungen,
  • nicht-fixierte idiomatische Verbindungen sowie
  • nicht-fixierte und nicht-idiomatische Verbindungen, die wiederum in freie Verbindungen und nicht-freie Verbindungen subklassifiziert werden.

2.1.3 N. N. Amosova

N. N. Amosova (1963), die Mel’čuks Ansatz höchstens einen gewissen Wert für die automatische Übersetzung eingesteht, ihn abseits der maschinellen Linguistik aber weitestgehend verwirft (Thun 1978: 118), setzt sich gleichermaßen kritisch mit Vinogradovs Klassifizierung auseinander und bemängelt die Tatsache, dass dieser nicht durchgängig die gleichen Kriterien zugrunde liegen, weshalb sie eine alternative „kontextologische“ (Thun 1978: 118) Klassifikation des sprachlichen Materials vorschlägt. Diese zeichne sich dadurch aus, dass ihr ein einziges und objektives Analysekriterium zugrunde liegt, das zu einer präziseren Klassifizierung als jener Vinogradovs führe (Higi-Wydler 1989: 8).

Details

Seiten
796
ISBN (PDF)
9783631918845
ISBN (ePUB)
9783631918852
DOI
10.3726/b21821
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Oktober)
Schlagworte
Cervantes Don Quijote fixierte Wortverbindungen Somatismen Phraseologie diachroner Übersetzungsvergleich übersetzungstheoretische Prinzipien Übersetzungsäquivalenz Übersetzungswissenschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 786 S., 56 s/w Abb., 334 Tab.

Biographische Angaben

Judith Strunck (Autor:in)

Judith Strunck studierte Romanistik an der Universität Bonn und war dort einige Jahre am Institut für Klassische und Romanische Philologie in der Abteilung für Romanistik tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Phraseologie und Übersetzungswissenschaft.

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Titel: Spanische Somatismen in deutschen Übersetzungen des Don Quijote: Fixierte Wortverbindungen im diachronen Übersetzungsvergleich