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Italien Deutschland transnational

Politik und Kultur in zwei verflochtenen Gesellschaften seit 1848

von René Möhrle (Band-Herausgeber:in) Christian Jansen (Band-Herausgeber:in) Katharina Münchberg (Band-Herausgeber:in)
©2025 Sammelband 384 Seiten

Zusammenfassung

Der Band enthält Analysen zur Geschichte und Kultur zweier Nachbarstaaten, ihrer Verflechtungen und Gegensätze von 1848/49 über den Ersten Weltkrieg, Faschismus und Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Die Beiträge verbindet die Frage, wie Italiener:innen und Deutsche Geschichte zu „machen" oder ihr zu entgehen versuchten und wie sie sie reflektierten. Sie reichen von ironischer Brechung der Nationsbildung im Roman, von Frauen und Monarchen als Akteure 1848/49, über Divenkult vor 1914, die Wahrnehmung des frühen Faschismus durch deutsche Juden und den Versuch, jüdische Reformpädagogik von 1933 trotz Staatsrassismus in Italien fortzusetzen, bis hin zu SS-Propaganda im besetzten Norditalien und dem Leben italienischer Zwangsarbeiter in Berlin. Für die Zeit nach 1945 geht es um Demokratisierungen, auch in den Geschichtswissenschaften, Italiens Prägung durch kommunistische Kultur, die viele Deutsche anzog, den Vergleich Süditalien-Ostdeutschland und die Erinnerung an Mussolini heute.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Vom Glück des Verlusts. Die ironische Brechung der Geschichte in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo
  • Frauen auf den Barrikaden? Das revolutionäre Engagement von Frauen in Italien und in Deutschland 1848–1849
  • Der Monarch als Akteur der Revolution. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der italienischen Monarchien in der Revolution von 1848/1849
  • Cristina Trivulzio di Belgiojoso (1808–1871): die verkannte Ikone des Risorgimento. Zentrale Elemente des politischen Denkens der „prima donna d’Italia“
  • Nicht nur Diven: Besondere Attraktionen der Triester Kinos vor dem Ersten Weltkrieg
  • Zwischen Bewunderung und Bekämpfung. Mussolini und der Faschismus in der Einschätzung zeitgenössischer deutschsprachiger Juden (1922–1937)
  • „Eine Insel von Flüchtenden wären wir erst, wenn wir prinzipiell resignierten“. Jüdische Exilschulen im faschistischen Italien (1933–1939/1940)
  • Der faschistische Rassismus aus der Sicht des völkischen Blut-und-Boden-Gedankens
  • Die Propagandaaktivitäten der SS-Standarte Kurt Eggers in Italien 1943–1945
  • Italiener vor den Sondergerichten Berlin und Frankfurt/Oder. Hunger und Zwangsgemeinschaft in der NS-Kriegsgesellschaft 1940–1945
  • Der Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach 1945 in Italien und Deutschland
  • In between Marx and Jesus: The atypical proposal for democracy of the Italian Christian-Left
  • Zur Rezeption der deutschen Sozialgeschichte in Italien nach 1945
  • Die Toskana-Fraktion und andere Mängelwesen. Italien als Sehnsuchtsort der deutschen Linken in den 1970er und 1980er Jahren
  • Abgehängte Landschaften? Der Mezzogiorno als Menetekel ostdeutscher Rückständigkeit
  • Italienischer Faschismus, Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur
  • Autorinnen-Verzeichnis

Christian Jansen, René Möhrle, Katharina Münchberg

Einleitung

Wir präsentieren mit dem Band „Italien Deutschland transnational“ sechzehn sehr unterschiedliche Analysen zur Geschichte und Kultur zweier Nachbarstaaten, ihren Verflechtungen und Gegensätzen seit 1848/1849 bis in die Gegenwart. Die Verfasser:innen sind überwiegend Historiker:innen (plus eine Literaturwissenschaftlerin, eine Erziehungswissenschaftlerin und ein Filmwissenschaftler), deren Biografien und akademische Laufbahnen in unterschiedlichster Weise mit beiden Ländern verwoben sind. Die meisten lehren an deutschen Universitäten. Ihre Beiträge verbindet die Frage, wie Italiener:innen und Deutsche Geschichte gestaltet und reflektiert haben oder geschichtlichen Prozessen zu entgehen versuchten. Im Mittelpunkt stehen Akteur:innen, die ihre Gegenwart teilnehmend beobachtet haben, sie zu verändern oder zu verstehen versuchten, eine gesellschaftliche Utopie verfolgten oder auch „nur“ überleben wollten. Ihre Auseinandersetzungen mit Kultur, Gesellschaft, Politik und Geschichte gehen also sehr verschiedene Wege.

Aufgrund ihrer Akteursorientierung untersuchen fast alle Beiträge ihre Forschungsfelder auf der Mikroebene und fokussieren Individuen, Kleingruppen oder lokale Zusammenhänge. Sie sind außerdem der Perspektive einer „histoire croisée“, der Verflechtungsgeschichte1 verpflichtet – am häufigsten Verflechtungen der italienischen mit der deutschen Geschichte, aber auch mit der österreichischen, französischen und anderen.

Vor den historischen Beiträgen steht ein romanistisch-literaturwissenschaft- licher Essay, der sich mit einem der berühmtesten historischen Romane zum Risorgimento beschäftigt und die lange unkritisch tradierte Gleichsetzung historischer Faktizität und Erzählung in Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo einer kritischen Analyse unterzieht. Denn das zentrale Stilmittel Lampedusas ist die Ironie, die der italienischen Nationalstaatsgründung ihre episch-heroische Inszenierung nimmt.

Die folgenden, allesamt auf historischen Quellen basierenden und geschichtswissenschaftlich argumentierenden Aufsätze sind chronologisch gereiht, weisen aber thematische Beziehungen untereinander auf, die im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit angedeutet seien.

Aus einer dezidiert frauen- und geschlechtergeschichtlichen Perspektive argumentieren die Beiträge von Gabriele Clemens über das Engagement von Frauen in den Achtundvierziger Revolutionen diesseits und jenseits der Alpen sowie von Karoline Rörig zu einer lange vergessenen Protagonistin des Risorgimento, der lombardischen Adligen, Freiheitskämpferin, Journalistin und Historikerin Cristina Trivulzio di Belgiojoso.

Die am stärksten einem verflechtungs- und transfergeschichtlichen Ansatz verpflichteten Beiträge von Ulrich Wyrwa, Meike Sophia Baader, Andrea D’Onofrio, René Möhrle und Kay Kufeke handeln nicht zufällig von Fascismo und Nationalsozialismus. Denn so eng wie damals waren beide Länder in ihrer neueren Geschichte nie miteinander verbunden – auf der Grundlage einer geteilten extrem nationalistischen und xenophoben politischen Ideologie, im gemeinsamen Kampf für eine Alternative zum westlichen Liberalismus wie zum marxistischen Bolschewismus, die in einer autarken und ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“ verwirklicht werden sollte und in Genozide und den Zweiten Weltkrieg mündete. Während die drei ersten genannten Aufsätze sich mit den Auswirkungen des Antisemitismus beschäftigen, handeln die anderen beiden von besonders brutalen und erschütternden Begleiterscheinungen des von Deutschland und Italien begonnenen Zweiten Weltkriegs.

Meike Sophia Baader präsentiert eine Fallstudie zu einem Feld voller Forschungsdesiderate, nämlich dem Transfer reformpädagogischer Ansätze ins faschistische Italien durch die Gründung jüdischer Exilschulen in Nord- und Mittelitalien. Neben der traditionellen bildungsbürgerlichen Italiensehnsucht gründete sich dies auf politische Hoffnungen, die spätestens 1938 bitter enttäuscht wurden. Ulrich Wyrwas Recherche zu zeitgenössischen jüdischen Publikationen über die ersten fünfzehn Jahre faschistischer Herrschaft und insbesondere zum Antisemitismus und Rassismus des Regimes bis 1937 zeigt ebenfalls, wie schwierig es für die Mitlebenden war, die politischen Entwicklungen einzuschätzen. Der quellengesättigte Beitrag zeigt die Vielfalt journalistischer Reaktionen, die von realitätsfernen Illusionen über den Widerwillen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, bis hin zu realistischen Prognosen reichten.

Andrea D’Onofrio untersucht die politische Funktion des Antisemitismus im Faschismus, einerseits in der Übernahme nordisch-rassistischer Paradigmen als ideologische Annährung an den immer dominanteren deutschen Bündnispartner, andererseits innenpolitisch als Herrschaftsstrategie, die die Faschisierung der Gesellschaft vorantreiben und ein rassistisch fundiertes Überlegenheitsgefühl steigern sollte. Antisemitismus spielt auch im Zuge der deutschen Besatzung Italiens und der hier operierenden SS-Propagandaeinheiten eine Rolle. Obwohl René Möhrle im Kern den Mythos der SS-Standarte Kurt Eggers über den Vergleich zu Strukturen deutscher und gegnerischer Kampfpropaganda dekonstruiert, thematisiert er auch die Propagandainhalte, ihre Effekte und Macher.

Kay Kufeke behandelt in seiner detailreichen Untersuchung die Verfahren vor deutschen Sondergerichten gegen italienische (Zwangs-)Arbeiter und Kriegsgefangene. Es gelingt ihm, die wenig bekannten Lebensverhältnisse und Überlebensbedingungen der italienischen Zivil- und Zwangsarbeiter in NS-Deutschland aus kaum beachteten Gerichtsakten präzise und anschaulich rekonstruieren.

Die Aufsätze von Martin Loiperdinger über die Wahrnehmung der Diven des frühen europäischen Films, Asta Nielsen und Lyda Borelli, in der noch zur Habsburgermonarchie gehörenden italienischen Großstadt Triest und von Vito Gironda zu den Übersetzungen wichtiger sozialgeschichtlicher Werke der Nachkriegszeit ins Italienische beschäftigen sich mit Rezeptionsgeschichte. Loiperdinger tut dies auf der Basis einer Totalerhebung der Kinowerbung in der italienischen Tagespresse unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Gironda untersucht die Rezeption der westdeutschen Sozialgeschichtsschreibung in Italien unter Rückgriff auf die Nachlässe prominenter Fachvertreter wie Hans Rosenberg und Hans-Ulrich Wehler.

Untersuchungen zu spezifischen Gruppen der politischen Linken steuern Thomas Mergel und Massimiliano Livi bei. Mergel analysiert mit der milden Ironie des Nachgeborenen die utopischen Projektionen westdeutscher Linker vor 1989 auf die vermeintlich besseren politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse im „roten Gürtel“ Mittelitaliens, in den von Kommunisten und Sozialisten regierten Regionen Toskana, Emilia-Romagna und Umbrien. Die marxistischen Katholiken, mit denen sich Massimiliano Livi beschäftigt hat, hatten ihren politischen Zenit zwar längst überschritten, als deutsche Linke verfallene Häuser in der Toskana kauften, aber ihren kulturellen Einfluss, insbesondere in Mittelitalien, nicht verloren.Sie hatten unmittelbar nach 1945 der durch Kollaboration mit Faschismus und Nationalsozialismus belasteten Kirche ein Zukunftskonzept vorgeschlagen, das die Abkehr von Konservativismus und Kapitalismus und die Fokussierung auf soziale Gerechtigkeit, die Bedürftigen und einfachen Leute beinhaltete.

Ebenso wie Livi verzichten auch die Beiträge von Thomas Kroll und Stefano Cavazza weitgehend auf verflechtungsgeschichtliche Argumente und analysieren inneritalienische Konstellationen. Kroll vergleicht die Reaktion der italienischen Monarchen auf die Revolutionen von 1848/1849, die wider Willen zu Akteuren des Risorgimento avancierten, um ihre Throne zu retten. Durch die verwandtschaftlichen Verflechtungen innerhalb des europäischen Hochadels, durch die Abhängigkeit der italienischen Monarchen von den Großmächten Österreich, Spanien und Frankreich und nicht zuletzt durch die gemeinsame Abwehr liberaler, demokratischer und nationalistischer Bewegungen ergeben sich aber auch hier immer wieder transnationale Bezüge. Und Stefano Cavazza bezieht sich in seiner, bis in die Gegenwart unter der Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni reichenden Analyse der auf den Faschismus bezogenen Erinnerungskultur auf die Entwicklung in Deutschland als Vergleichsfolie. Bis heute ist die Gegenüberstellung von bravi Italiani (anständige Italiener) und cattivi Tedeschi (böse Deutsche) ein beliebtes Entlastungsnarrativ in der Erinnerung an den Faschismus.

Vergleiche auf einer Makroebene sind in diesem Band die Ausnahme. Die Beiträge von Christian Jansen und Constantin Goschler analysieren gleichwohl epochale Entwicklungen in Deutschland und Italien: einerseits den durchaus unterschiedlichen, aber in beiden Fällen erfolgreichen Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach der totalen Niederlage und vollständigen Besetzung 1945, andererseits die Versuche einheitliche Lebensverhältnisse im ganzen Land trotz unterschiedlicher ökonomischer und sozio-kultureller Voraussetzungen herzustellen, die im italienischen Süden, dem Mezzogiorno, schon 150 Jahre dauern, im Fall der deutschen „neuen Bundesländer“ erst 30.

Am Anfang dieses Bandes stand eine Konferenz am 28./29. April 2022 zur Verabschiedung von Prof. Dr. Christian Jansen, der seit 2013 Neuere Geschichte an der Universität Trier gelehrt hat. Gemeinsam mit René Möhrle hatte Christian Jansen seit 2014 durch „Italientage“ und Filmreihen zur Politik und Kultur Italiens im 19./20. Jahrhundert das Interesse an italienischer Geschichte und Kultur wiederbelebt. Seit 2018 bauten sie zusammen mit der dritten Herausgeberin, Katharina Münchberg (Romanistik/Italianistik), Massimiliano Livi (Geschichte) und Mara Onasch (Fachdidaktik und Sprachpraxis Italienisch) das Italienzentrum an der Universität Trier auf. Durch Ringvorlesungen, Lehrveranstaltungen sowie ein Italienzertifikat als Zusatzqualifikation für Studierende hat das Italienzentrum Trier die Beschäftigung mit Italien in Forschung und Lehre intensiviert. Weggefährt:innen von Christian Jansen, die sich mit Italien wissenschaftlich beschäftigen, waren zu der Konferenz eingeladen, weitere wurden anschließend um Beiträge aus ihren laufenden Forschungen gebeten.

Sarah Bors und Dana Hempel, Mitarbeiterinnen der Professur für romanistische Literaturwissenschaft, waren in der Endphase der Manuskriptbearbeitung große Hilfen beim Lektorat der Texte und der Vereinheitlichung der Fußnoten. Bei ihnen möchten wir uns ebenso wie beim Team des Peter Lang Verlags, insbesondere bei Wanda Mohandas, Murali Kuruva und Anja Lee, sehr herzlich bedanken.


1 Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.

Katharina Münchberg

Vom Glück des Verlusts. Die ironische Brechung der Geschichte in Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo

Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo, 1958 postum erschienen, hat in der Forschung eine eher einseitige Aufmerksamkeit erfahren: Er gilt als historischer Roman, der aus der Perspektive der Nachkriegszeit zurückblickt auf die politischen und sozialen Umwälzungen des Risorgimento. Die Tatsache, dass im Roman konkrete Zeitangaben (von Mai 1860 bis Mai 1910) genannt werden, und die deutlichen Verweise auf historische Ereignisse (Garibaldis Zug der Mille, das Ende des Bourbonenreichs, das Plebiszit zugunsten der Annexion des Königreichs Sizilien durch das Königreich Piemont-Sardinien, Garibaldis Niederlage in Aspromonte) haben zu der einschlägigen Forschungsthese geführt, dass in Lampedusas Il Gattopardo die „historisch spannungsreiche Konstellation im Rhythmus von Revolution und Restauration“1 dargestellt sei. Was bei dieser Betrachtung zu übersehen werden droht, ist die narrative Dynamik des Romans, die der historiographischen Deutung nicht entgegensteht, ihr aber die fundamentale und ausschließliche Bedeutung nimmt. Denn die Ereignisse, von denen der Roman erzählt, sind keine unmittelbar erlebten Ereignisse, sondern über einen Zeitraum von fast hundert Jahren angewachsene Erzählungen, die zu einem Mythos des Risorgimento geronnen sind. Das Risorgimento steht in einem weiten Feld von symbolischen und rhetorischen Zuschreibungen, die gerade in der Nachkriegszeit in Italien reaktiviert werden. Lampedusas Roman relativiert diese Zuschreibungen, er hinterfragt den Mythos einer gelungenen Einigung Italiens und eines sozialen Fortschritts im Risorgimento. Dies geschieht im Text durch ironische Brechungen, durch eine komplexe Leitmotivstruktur und immanente Spiegelungen, wobei eine semantische Relativierung der einzelnen Szenen entsteht.

Aufschlussreich ist dabei gerade die Zeitstruktur des Gattopardo, die eine doppelte, historische und ahistorische, ist. Den historischen Ereignissen, vermittelt durch die Figurenperspektive des Fürsten von Salina, stehen sinnliche Wahrnehmungssituationen, in der Liebe, der Natur und der Kunst, gegenüber, die eine Eigenzeit beanspruchen. Die Zeit der sinnlichen Wahrnehmungssituationen ist nicht mit der Zeit der Historie zu verrechnen; im Raum der Geschichte öffnen sich Momente einer ästhetischen Erfahrung, als zeitlose Idealität einer Epoche der Dekadenz, als eine Stimmung des Verfalls, als ein Zeitgefühl des „zu spät“.2 Die vitale Erneuerung durch die schöne, aber bürgerliche Angelica kommt für den bald fünfzigjährigen Fürsten zu spät, so wie auch die Erneuerung des Adels im Prozess des Risorgimento nicht gelingen kann. So steht der Gattopardo im Zeichen einer ästhetischen Trauer: Die Lebenswelt des sizilianischen Adels ist unaufhaltsam verloren, im Verlust aber ist das Glück ihrer literarischen Vergegenwärtigung möglich.

1.Die Liebesgeschichte, die keine ist

Im Gattopardo gibt es ein progressives, am Handlungszusammenhang orientiertes Erzählen und ein reflexives, auf einzelne Wahrnehmungssituationen konzentriertes Erzählen. Das progressive Erzählen bezieht sich auf die chronologisch strukturierte Handlung im historischen Kontext; das reflexive Erzählen erfasst die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle der Figuren.

Die Liebesgeschichte von Angelica und Tancredi steht im Zentrum des progressiven Erzählens. Es ist eine Erzählung über die sozialen Konflikte im Risorgimento am Paradigma eines jungen Paares: Das aufsteigende Bürgertum (Angelica) verbindet sich mit einem neuen politisch agierenden Adel (Tancredi). Durch die offenkundigen ökonomisch-politischen Ziele der beiden Figuren relativiert sich die romantische Liebesleidenschaft; es entsteht eine ironische Brechung. Diese Brechung wird verstärkt durch die intertextuellen Verweise und Assoziationen, mit denen die Figuren ausgestattet sind. Der Name „Angelica“ ist eine Anspielung auf Ariosts Orlando Furioso, in dem die schöne Angelica den Ritter Orlando in den Liebeswahn treibt. In Lampedusas Text wird dieser Verweis deutlich markiert, wenn Padre Pirrone seine Nichte Angelina, die den gleichen, plebeisch verkürzten Namen trägt, mit Angelica vergleicht: „paragoni fra essa, meschina come il plebeo diminutivo del proprio nome e quell’Angelica, sontuosa come il nome ariostesco“.3 Der Name „Tancredi“ ist gleichfalls einem rinascimentalen Heldenepos entnommen: Tassos La Gerusalemme liberata. Tancredi ist in Tassos Epos ein christlicher Kreuzritter, der sich in die Heidin Clorinda verliebt, die er unerkannt in einem Kampf gegen die Sarazenen tötet.

Das Liebespaar Angelica und Tancredi erscheint so im Horizont einer literarischen Kultur, vor dem die individuelle Lebensgeschichte der jungen Liebenden relativiert und zur Wiederholung von längst literarisch reflektierten Mustern von Liebeswahn und Liebesverrat wird. Die Liebesgeschichte verliert damit ihre Authentizität. Auch wenn sie mit den Elementen einer romantischen Liebesleidenschaft beginnt (die sinnliche Schönheit Angelicas, die bei Tancredi eine Liebe auf den ersten Blick hervorruft, das Geschenk der Pfirsiche als Liebeswerbung, das intensive erotische Begehren), so ist durch die fortlaufenden ironischen Brechungen klar, dass diese Liebe nicht andauern wird. Die jugendliche Leidenschaft ist nur ein momentanes Aufflammen, zu deutlich sind die Hinweise auf den späteren Ehebruch, den sowohl Tancredi wie auch Angelica begehen werden.

Wie prekär die Liebe von Tancredi und Angelica von Beginn an ist, zeigt sich auch in den Briefen, die Tancredi bei seiner Abwesenheit in Caserta an den Fürsten schreibt, und deren Inhalt der Fürst Angelica in einer Zusammenfassung wiedergibt, wobei er, um sie zu schonen, Tancredis Verhältnis zu der Ballerina Aurora Schwarzwald verschweigt:

queste precauzioni verbali corrispondevano assai bene ai propri sentimenti nei riguardi della ragionata passione di Tancredi mal o irritavano in quanto lo stancavano; esse erano del resto soltanto un esemplare di cento raggiri di linguaggio e di contegno che da qualche tempo era costretto a escogitare; ripensava con rimpianto alla situazione di un anno prima quando diceva tutto quanto gli passasse per il capo (104–105).

Die Verstellung der Rede, die indirekte Lüge und das Verschweigen der Wahrheit ermüden den Fürsten, der darin ein Kennzeichen der veränderten gesellschaftlichen Situation sieht. Eine authentische Rede, in der Denken und Sprache widerspruchslos zusammenfinden, ist in den Umwälzungen des Risorgimento nicht mehr möglich. Sie verschwindet zugunsten einer persuasiven Rhetorik, die den Abgrund zwischen Denken und Sprache ausnutzt, um strategische Ziele zu erreichen. Die Rede wird zu Dissimulation und Täuschung und steht im Zeichen einer Entfremdung von Subjekt und Gesellschaft.

Auch der Verlobungsring, den Tancredi für Angelica bei seiner Rückkehr nach Donnafugata mitbringt, ist nur oberflächlich das Zeichen einer leidenschaftlichen Liebe. Indirekt ist er mit einer Reihe von Konnotationen verbunden, die dieses Symbol der ewigen Liebe relativieren. Der Ring vermittelt einen „düsteren Anblick“, er ist geprägt durch einen modischen „Friedhofsgeschmack“, und Tancredi hat ihn so günstig erworben, dass er seiner Tänzerin noch eine Brosche schenken konnte.

Das vitale Naturgesetz der Liebe, das die beiden jungen Leute verbinden soll, ist nur Schein, die darunterliegenden Motive sind ökonomische und arrivistische. Die distanzierenden Kommentare des Erzählers enthüllen diese Motive; die Liebe Angelicas ist zwar emotionale Verliebtheit, beruht aber ebenso auf dem Kalkül, mit Tancredi einen Gatten zu gewinnen, der ihr den Weg in die Hocharistokratie öffnen kann:

Se da questa attitudine di Angelica si volesse dedurre che essa amava Tancredi, ci si sbaglierebbe: essa possedeva troppo orgoglio e troppa ambizione per essere capace di quell’annullamento, provvisorio, della propria personalità senza il quale non c’è amore […]; però, pur non amandolo, essa era, allora, innamorata di lui. (146)

Tancredi hingegen, der durch den verschwenderischen Lebenswandel seines Vaters verarmt ist, sieht in der Heirat mit der wohlhabenden Angelica die Möglichkeit, neuen Reichtum zu gewinnen. Der Fürst von Salina, der mit Don Calògero die Verhandlung um Tancredis Brautwerbung und die Mitgift Angelicas führen muss, greift daher bewusst zu einer Lüge, wenn er sagt: „l’amore di questi due giovani è la base di tutto, l’unico fondamento sul quale può sorgere la loro felicità futura.“ (134)

Ist es die historische Situation, ist es der soziale Wandel, der die Figuren dazu zwingt, die Liebe zu verraten? Es gibt jedoch eine zweite, misslingende Liebe, die diese These nicht zu stützen scheint. Neben der öffentlich diskutierten und gefeierten Verlobung von Angelica und Tancredi gibt es die geheime, nur im Badezimmer zwischen Padre Pirrone und dem Fürsten von Salina besprochene Liebesbeziehung zwischen Concetta und Tancredi. Concetta, die Tochter des Fürsten von Salina, ist verliebt in Tancredi, der Fürst aber ist der Ansicht, dass Concetta Tancredi bei seiner dynamischen Karriere am Hof behindern wird und fördert daher die Interessen der eigenen Tochter nicht. Concetta und Tancredi entzweien sich, als Tancredi sich vor Angelica mit einer erotischen Erzählung über die Novizinnen eines Nonnenklosters brüstet, eine für Concetta inakzeptable Handlung, die ihn darauf von den Privilegien der Familie Salina ausschließt (sie sorgt dafür, dass er keinen Zutritt im Kloster San Spirito erhält). Erst in der Rückschau des letzten Kapitels erfährt die alternde Concetta von einem Militärkameraden Tancredis, dass dieser die Geschichte mit dem Nonnenkloster erfunden hat. Concetta hat ihre Entscheidung gegen Tancredi auf einer fiktiven Erzählung aufgebaut, sie hat Tancredis Zuneigung zu ihr nicht erkannt und das Feld gleichsam kampflos ihrer Rivalin Angelica überlassen:

non vi erano stati ma na sola avversaria, essa stessa; il suo avvenire era stato ucciso dalla propria imprudenza, dall’impeto rabbioso di Salina; le veniva meno adesso, proprio nel momento in cui dopo decenni i ricordi ritornavano a farsi vivi. (259)

Auf der einen Seite gibt es also eine Liebesgeschichte, die durch die vitalistische Kraft des politisch handelnden Tancredi angetrieben wird, der aus der Kraft der Gegenwart an seiner Zukunft baut; auf der anderen Seite eine gescheiterte Liebe, da Concetta die vergangenen Traditionen des Adels nicht loslassen kann, um in der Gegenwart zu leben. Auch der Fürst sucht Trost im Gewesenen, wird damit handlungsunfähig und versinkt in melancholischer Selbstreflexion. Entscheidend für das Lebensglück ist nicht die Geschichte, nicht die politische und soziale Revolution des Risorgimento, die im Grunde nichts Revolutionäres hat. Entscheidend ist vielmehr die Einsicht der Figuren in ihre eigenen, unbewussten Motivationen, ihre Gefühle und Gedanken.

Die ironische Brechung der Liebesgeschichte hat eine weitreichende Funktion: Sie ermöglicht es den Lesenden, die Inkongruenz zwischen historischem Geschehen und historischer Erzählung (über die Revolution, die keine Revolution ist) zu erkennen, und damit auch die Unabhängigkeit des individuellen Lebensglücks von der Geschichte, eine Einsicht, die den Figuren auf der narrativen Handlungsebene verwehrt bleibt. Denn die Liebe hat ihre eigene Zeit jenseits der Geschichte – und die Missachtung ihrer Eigenzeitlichkeit bedeutet den eigentlichen Liebesverrat.

2.Heterotopien, die Heterochronien sind

Wir haben im Gattopardo zwei Modelle der Zeit: die äußere Zeit, die chronologische und historische Zeit, die Zeit der Politik und der Revolution, präsent gehalten im progressiven Erzählen der Handlung, in der sich die andere Zeit als Aufhebung des Historischen ins Zeitlose vollzieht. Diese Aufhebung ins Zeitlose ist eng verbunden mit einer semantisierten Raumdarstellung. Auffällig ist die Strukturierung in offene und geschlossene Räume. Die Städte sind offene, ja öffentliche Räume und Schauplatz des historischen Geschehens: Palermo ist die Stadt der Aufstände gegen die Bourbonen; auf der Piazza von Donnafugata findet das Plebiszit statt. Die Paläste des Fürsten in Palermo und in Donnafugata hingegen sind geschlossene Räume, unterteilt in eine lange Reihe von Zimmern (der Salon, das Arbeitszimmer, das Badezimmer, die atopischen, vergessenen Zimmer im Labyrinth von Donnafugata). In diese geschlossenen Räume tritt das historische Geschehen nur durch markante Grenzüberschreitungen ein: durch den toten Soldaten, der sich zum Sterben in den Garten der Villa in Palermo zurückgezogen hat, durch Briefe und die Zeitung, in denen von den politischen Umwälzungen berichtet wird, oder durch mündliche Berichte der Besucher und Zeitzeugen (Tancredi, Chevalley, Pallavicino, der von seiner Begegnung mit Garibaldi in Aspromonte erzählt).

Die Innenräume sind geprägt durch einen sich ankündigenden Verfall, sie sind verbunden mit den Leitmotiven der Einsamkeit und des Todes. Ein Beispiel ist hierfür der Spiegel, in dem sich der Fürst in seinem Rasierzimmer in Palermo betrachtet, und in dem das Gesicht Tancredis im Hintergrund auftaucht, der ihm gesteht, dass er sich den Piemontesen anschließt. Das räumliche, im Spiegel reflektierte Nebeneinander von Jugend und Alter veranlasst den Fürsten zum Nachsinnen über den eigenen körperlichen Verfall, das Abnehmen seiner erotischen Kraft und die Nähe des Todes. Im Spiegel ist die Zeit gleichsam gefangen: die Heterotopie des Raumes wird zu einer Heterochronie. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in eine zeitlose Spiegelung gebannt, und Tancredis bekannter Satz „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi“ (47), bezeichnet genau jene zyklische Struktur einer Zeit, in der die ewige Wiederkehr des Gleichen jeden progressiven Fortschritt aufhebt.4

In Viscontis filmischer Umsetzung des Gattopardo ist diese Überlagerung von Heterotopie und Heterochronie noch deutlicher ins Bild gesetzt: Es werden Fenster, Türen, Gemälde, Spiegel und Gegenstände in einem geschlossenen und in sich reflektierten Innenraum gezeigt, in den die geschichtliche Außenwelt gewaltsam und zerstörerisch einbrechen wird. Das, was man sieht, ist nur eine Oberfläche: Es gibt immer noch einen anderen Außenraum hinter dem Innenraum, den wir nicht sehen; eine verborgene historische Tiefe hinter der Oberfläche der scheinbar zeitlosen Dinge.

Details

Seiten
384
Erscheinungsjahr
2025
ISBN (PDF)
9783631918876
ISBN (ePUB)
9783631918883
ISBN (Hardcover)
9783631918869
DOI
10.3726/b21822
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Dezember)
Schlagworte
Rassismus Antisemitismus Reformpädagogik Stummfilm il gattopardo Faschismus Frauen 1848/49 Verflechtungsgeschichte Deutschland Italien Erinnerungskultur mezzogiorno Toskana-Fraktion Sozialgeschichte Demokratiegründung Zwangsarbeit SS Nationalsozialismus
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 384 S., 1 farb. Abb., 12 s/w Abb., 1 Tab.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

René Möhrle (Band-Herausgeber:in) Christian Jansen (Band-Herausgeber:in) Katharina Münchberg (Band-Herausgeber:in)

Christian Jansen ist Professor i.R. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Seine Forschungsinteressen umfassen die deutsche und italienische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. René Möhrle ist Historiker, er war an der Universität Trier und der Universität Jerusalem tätig. Er forscht zu Faschismus, Nationalsozialismus, zur Shoah und zu Kontinuitäten in der deutschen Presse nach 1945. Katharina Münchberg ist Professorin für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Sie forscht u.a. zu Romanischen Literaturen des Mittelalters und der Moderne sowie Poetiken der Freundschaft.

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Titel: Italien Deutschland transnational