Loading...

Ein Tempel aus Lobgesang

Das dritte Kapitel des griechischen Danielbuches

by Simeon Gloger (Author)
©2024 Thesis 468 Pages

Summary

Diese Studie beschreitet innerhalb der Septuaginta-Forschung zum Danielbuch neue Wege. Das längste Kapitel des griechischen Danielbuches wird als eine eigenständige Textkomposition ernstgenommen und eingehend untersucht, unter anderem anhand einer erweiterten rezeptionsästhetischen Leseperspektive. Der Autor zeigt, dass die zwei großen poetischen Abschnitte in Dan 3, das Gebet des Azarja und der Lobgesang der drei Männer, sowohl kunstvoll komponierte und zutiefst biblisch vernetzte Texte als auch integrale Bestandteile der Kapitelstruktur sind. Diese bisweilen als sekundäre Zusätze verstandenen hymnischen Gesänge verändern zudem grundlegend das kompositorische Textgefüge von Dan 3 in seinem theologischen Aussagegehalt. Das aus dieser Studie folgende, zurechtgerückte Verständnis von Kult und Macht bildet das Fundament, auf dem eine biblische Theologie des Gotteslobes aufbauen kann.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Die griechische Textüberlieferung von Daniel 3
  • 3 Motiv- und Strukturanalyse von Daniel 3,1–97LXX/Θ
  • 4 Die erweiterte Lektüreperspektive von Daniel 3LXX/Θ
  • 5 Ausblick: Daniel 3LXX/Θ im Kontext des griechischen Danielbuches
  • 6 Epilog
  • Literaturverzeichnis
  • Deutsche Zusammenfassung
  • English Abstract
  • Schriftstellenverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Ausgangslage und Problemstellung: Die griechische Textüberlieferung in Daniel 3 zwischen Vernachlässigung und Verschleiß

Insgesamt 66 Verse und damit annähernd zwei Drittel des dritten Kapitels des Danielbuches in der Septuaginta sind ausschließlich auf Griechisch überliefert: Dan 3,24–90EÜ (= nach der Einheitsübersetzung). In der hebräisch-aramäisch tradierten Textfassung (MT) und auch in den Schriften von Qumran sind diese Verse nicht enthalten.1 Konsequenterweise wird der ausschließlich auf Griechisch vorhandene umfangreiche Abschnitt in Bibelausgaben, denen der masoretische Text zugrunde liegt, als „deuterokanonischer Zusatz“ ausgeschieden bzw. als sekundäre redaktionelle Bearbeitung ad acta gelegt. Im „kanonischen Danielbuch“2 folgt auf V. 23MT sogleich V. 24MT, der nach der Zählung des griechischen Textes jedoch erst V. 91 ist. Als eine fast unvermeidliche Folge ist daher eine nahezu durchgängige Nichtkommentierung bzw. eine Nicht-Wahrnehmung dieses Abschnitts in den einschlägigen Kommentaren zum Buch Daniel zu beobachten.3

Zu diesem ersten Befund hinzu kommt eine bisweilen in der Septuagintaforschung eher marginale Beschäftigung mit dem Danielbuch. In den beiden großen englischsprachigen Kommentarreihen zur Septuaginta, „SBL Commentary on the Septuagint“ (= SBLCS) und „Brill Septuagint Commentary Series“ (= BSCS), ist bis dato noch kein Kommentarband zur griechischen Fassung des Buches Daniel erschienen. Gründe für diese Bilanz können zum einen der komplexen Textgeschichte des griechischen Danielbuches geschuldet sein. Als einziges Buch in der Septuaginta wurde es nicht mit der eigentlich ursprünglichen LXX-Textversion („LXX“ bzw. „Old Greek“), sondern in der Theodotion-Fassung („Θ“) in den Kanon der griechischen Bibel aufgenommen (vgl. Abschnitt 2.1). In gewisser Weise liegen somit zwei konkurrierende griechische Übersetzungen zum Danielbuch vor, die beide kanonische Dignität beanspruchen.

Außerdem besteht eine aufschlussreiche Eigenart des Danielbuches gerade darin, dass es sich als einziges apokalyptisches Buch des AT, von der Geschichte der Kanonbildung her, weder eindeutig den geschichtlichen noch den prophetischen Büchern zuordnen lässt. Sein Platz im biblischen Kanon in der jüdisch-christlichen Tradition divergiert so stark wie bei keinem anderen biblischen Buch. Die jüdische Tradition legt den Schwerpunkt auf die geschichtliche Darstellung und ordnet Dan unter die Schriften bzw. Ketubim ein, meist zwischen dem Esterbuch und den Büchern Esra- Nehemia.4 Im christlichen Kanon (EÜ u. Luther) gehört Dan grundsätzlich zu den prophetischen Schriften und ist hinter Ezechiel und vor dem Zwölfprophetenbuch zu finden. Daniel wird dabei an vierter Stelle den Großen Propheten hinzugerechnet: Jes, Jer, Ez, Dan.5 In der Septuaginta-Tradition steht das Buch an letzter Stelle, hinter dem Dodekapropheton, wo es passend zu seiner apokalyptischen Thematik das letzte Buch der griechischen Bibel bildet.6

Die vielfältigen Möglichkeiten der Zuordnung, die dem Danielbuch von Grund auf eine gewisse Fluidität seines Standortes im Kanon zwischen Geschichts- und Prophetieschrift verleiht, liegt dabei schon in seiner inhärenten Zweiteilung begründet. Die erste Buchhälfte (Dan 1–6) lässt sich inhaltlich vor allem als Erzählteil charakterisieren. Hier finden sich die sogenannten Hofgeschichten, die das Schicksal Daniels und seiner drei Gefährten in der babylonischen Diaspora beschreiben.7 Dieser Teil grenzt sich deutlich von den Kapiteln Dan 7–12 ab, in denen Visionsberichte des Propheten Daniel einen breiten Raum einnehmen.

Die beiden griechischen Textversionen LXX und Θ unterscheiden sich dadurch gemeinsam vom der masoretischen Textfassung, dass sie zusätzliche Danieltraditionen enthalten. Sie weisen damit insgesamt einen „beinahe fünfzig Prozent umfangreicheren Text als der MT“8 auf. Neben den bereits oben erwähnten 66 zusätzlichen Versen in Dan 3LXX/Θ (V. 24–90), die außer dem Gebet des Azarja und dem Lobgesang der drei Männer auch zusätzliche Prosapartien einschließen, sind außerdem die Erzählung über Susanna (Dan 13) und die Erzählung von Bel und dem Drachen (Dan 14) als 13. bzw. 14. Kapitel nach der Vulgata-Zählung dem Danielbuch beigefügt.

Der rabbinische Kanon hat diese Stücke, anders als der christliche Kanon, nicht aufgenommen bzw. wieder ausgeschieden. In den kirchlichen Gemeinschaften der Reformation finden sich die griechischen Zusätze unter den „Apokryphen“ wieder, da ihnen ein hebräisch-aramäischer Urtext fehlt.9 Das Konzil von Trient hielt jedoch für die römische Kirche an der Kanonizität fest, sodass in heutigen katholischen wie auch in orthodoxen Bibelausgaben die nur auf Griechisch überlieferten Daniel-Texttraditionen als fester Bestandteil des Danielbuches wiedergegeben werden. Zu Recht weist in diesem Zusammenhang A. Portier-Young auf eine Schieflage in der exegetisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Danielbuch hin, zumal wenn hier die Unterscheidung in protestantische und katholische (bzw. orthodoxe) Bibelausgaben und dabei der Gebrauch der jeweiligen Bibelfassung in der jeweiligen Konfession in Rechnung gestellt wird: „While these two large groups hold as authoritative two very different versions of Daniel, commentaries and scholarship on Daniel only rarely place the two side by side or give equal attention to both.“10 Gerade die divergierenden Textausgaben verlangen jedoch eine adäquate exegetische Auseinandersetzung.

Auch und vor allem im Blick auf die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Danielbuches und seiner Erzählungen entbehrt dieser oben festgestellte Befund nicht einer gewissen Ironie. Denn gerade mit Blick auf Dan 3LXX/Θ lässt sich konstatieren, dass es, konträr zur überwiegend vernachlässigten Behandlung in den Danielkommentaren, gerade diese Schriftabschnitte sind, die mit der erweiterten detailreichen Ausschmückung der Erzählung von den drei jungen Männern im Feuerofen (Dan 3,46–51) und den poetischen Abschnitten, dem Gebet des Azarja (Dan 3,24–45) und dem Lobgesang der drei Männer (Dan 3,51–90), das dritte Danielkapitel zu einem der prominentesten Kapitel des Danielbuches überhaupt machen.11

So spricht die Wirkungsgeschichte des griechischen dritten Danielkapitels in Ikonographie, Liturgie, Musik, Patristik und Märtyrer- wie Befreiungstheologie Bände. In der römischen Katakomben-Kunst und -wandmalerei ist es neben „Daniel in der Löwengrube“ (Dan 6) gerade das Sujet der drei Männer im Feuerofen, das als Motiv für die christliche Auferstehungshoffnung angetroffen wird.12 In der lateinischen Liturgie ist es der Lobgesang der drei Männer, dem als alttestamentliches Canticum ein herausragender Platz im Morgengebet der Stundenliturgie zukommt und der zudem auch in der überlieferten Sterbe- und Messliturgie erscheint.13 In der Feier der Osternacht findet der Gesang Ananjas, Azarjas und Misaëls in fast allen westlichen und östlichen Liturgietraditionen Verwendung. Die Kommentare und Auslegungen zum Buch Daniel in der Patristik sehen im „Engel des Herrn“, der zu den drei jungen Männern in den Feuerofen hinabsteigt, um ihr Schicksal mit ihnen zu teilen und sie vor dem sicheren Tod zu erretten, ein Vorausbild der Erscheinung Christi auf Erden.14 In der zeitgenössischen Musik schließlich ist vor allem an das zentrale Frühwerk des Komponisten Karlheinz Stockhausen „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ zu denken, das für die Entwicklung der elektronischen Musik von herausragender Bedeutung war.15 Ananja, Azarja und Misaël werden zudem als vorbildliche Märtyrergestalten angesehen, die um ihres Glaubens willen den Feuertod nicht scheuen.16 In der Befreiungstheologie spielt das Motiv der drei Jünglinge eine besondere Rolle, wenn in Bezug zu staatlichen Repressionen auf die Einschränkung der Religionsfreiheit verwiesen wird.17

Somit wird paradoxerweise der meistrezipierte Abschnitt des Danielbuches (Dan 3,24–90LXX/Θ), da er ursprünglich nicht in DanMT vorlag, von etlichen modernen Kommentaren zum Buch Daniel fallen gelassen.18 Die generelle Akzeptanz dieses Danielkapitels in der Zeit der frühen Kirche und in den darauffolgenden Jahrhunderten verlangt dagegen nicht nur eine kompositorische Betrachtung:19 „The vast majority of people who studied the book of Daniel through additional centuries encountered it either in a Greek form or in a translation based on a Greek form of the work.“20 Auch aus kanonisch-kompositorischer Perspektive erscheint eine vollzogene Aufteilung in Texte erster und zweiter Klasse nicht gerechtfertigt, vor allem, wenn allein mit dem Nichtvorhandensein der Textpassagen im masoretischen „Urtext“ argumentiert wird.21

In der aktuellen exegetischen Forschung, in der auch die Septuaginta generell wieder stärker in den Fokus rückt, wird vermehrt auf die Auseinandersetzung bzw. die Kommentierung der griechischen Textversionen des Danielbuches als Desiderat in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aufmerksam gemacht.22 In jüngster Zeit sind in diesem Zusammenhang einige Beiträge zu den beiden poetischen Textpartien in Dan 3LXX/Θ erschienen, die aber entweder das Gebet des Azarja (Dan 3,24–45) oder den Lobgesang der drei jungen Männer (Dan 3,51–90) jeweils getrennt in den Blick nehmen. Der kompositorische Konnex zum griechischen Gesamtkapitel Dan 3 wird dabei fast ganz außer Acht lassen.23

Gerade dieser vernachlässigten Perspektive und der Wahrnehmung der gesamten Textarchitektur des umfangreichen Kapitels Dan 3LXX/Θ widmet sich die vorliegende Arbeit.24 Damit geht die folgende Untersuchung über den bisherigen Forschungskontext zu Dan 3LXX/Θ hinaus, der sich vor allem mit der Text- und Redaktionsgeschichte und dem Verhältnis der beiden Versionen (LXX u. Theodotion) zueinander beschäftigt hat (vgl. Abschnitte 2.1 und 2.3).25 Die Bedeutsamkeit, die dem dritten Kapitel aufgrund seines signifikanten Umfangs von insgesamt 97 Versen innerhalb des griechischen Danielbuches zukommt, ist im Vergleich zum hebräisch-aramäischen Danielbuch zu groß, als dass dieses kunstvoll komponierte Textgefüge einfach übergangen werden könnte.26

1.2 These und Fragestellung: Eigenständigkeit der griechischen Textkorpora – Verändert die kompositionelle Neubewertung die Lektüre von Dan 3?

Die übliche Herangehensweise der „Sezierung“ des integralen Ganzen von Dan 3 in einen erzählenden, ursprünglichen Haupttext (Dan 3,1–24.91–97) und einen später eingefügten, sekundären Zusatz (Dan 3,25–90) und die damit einhergehende implizite Wertung wird dem überlieferten griechischen Text nicht gerecht und erscheint geradezu anachronistisch, denn eine gesonderte Behandlung ist in keiner Weise von der traditionellen griechischen Textüberlieferung gedeckt.27 Die ältesten Textzeugen zeigen die poetischen Abschnitte nie getrennt, sondern immer eingebunden in den Kontext von Dan 3. Die Manuskriptüberlieferung verlangt daher eine ganzheitliche Betrachtung der griechischen Fassung und seines Aussagegehalts.28 Die Eigenständigkeit der griechischen Überlieferungen muss ernst genommen werden: „Die DanLXX dient nicht nur zur Rekonstruktion eines ursprünglichen Textes, sondern findet in ihrer inhaltlichen Aussage und als eigenständiges literarisches Werk Beachtung.“29 Die in vielen Bibelausgaben vorgenommene Unterscheidung zwischen kanonischen und deuterokanonischen Texten ist bereits eine voreingenommene Interpretation, die der Analyse der griechischen Danielversionen als Ganzes und den griechischen Textüberlieferungen in ihrem Eigenwert nicht gerecht wird.

Die nicht im Aramäischen bzw. Hebräischen tradierten, vor allem poetischen Abschnitte prägen das dritte Kapitel des Danielbuches und das gesamte Danielbuch von seinem Anfang an grundlegend – nicht nur in seinem Kompositionszusammenhang, sondern auch hinsichtlich seiner theologischen Aussage. Bei allen Fragen zur Text- und Redaktionsgeschichte von Dan 3 darf daher das kompositorische Gesamtwerk nicht aus dem Blick geraten.30 Auffallend bei allen redaktionsgeschichtlichen Theorien, die sich zum Teil auf detaillierte Untersuchungen zur textgeschichtlichen Untersuchung einzelner Verse konzentrieren, ist die teilweise fehlende Auseinandersetzung mit kompositorischen Fragen.31 Der vorliegende griechische Text verlangt eine einheitliche Betrachtung, die versucht, die theologische Sichtweise des Gesamttextes von Dan 3 aufgrund der historisch- kritischen Untersuchungen zusammenzufassen und in den gewachsenen Traditionskomplex des Danielbuches zu integrieren. Wenn in der griechischen Textüberlieferung zwei Drittel des Textvolumens ein Kapitel „auffüllen“, noch dazu mit überwiegend poetischer Literatur, dann bedeutet dies eine nicht zu unterschätzende Neuakzentuierung des vorliegenden dritten Kapitels des Danielbuches in seiner Kompositionsaussage. Damit einher ist dann zwangsläufig auch eine Um- bzw. Neuinterpretation der hebräisch- aramäischen Textgestalt gegeben.

Die folgende Untersuchung zu Dan 3LXX/Θ will zeigen: Allein von ihrer Textfülle, aber auch von ihrer Aussagekraft her, die die nur auf Griechisch überlieferten Stücke dem Kapitel hinzufügen, wird Dan 3 in seiner Theologie und Statik, aber auch das gesamte griechische Danielbuch im wahrsten Sinne auf den Kopf gestellt.32 Die poetischen Textpassagen sprengen die ursprüngliche Erzählung und legen an die Textkomposition des dritten griechischen Danielkapitels neue (theologische) Maßstäbe an. All dies bedeutet eine erweiterte Lektüreperspektive und einen veränderten Fokus gegenüber der masoretischen Textüberlieferung.

Wesentlicher Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist also das Plädoyer für die Eigenständigkeit der griechischen Textkomposition. Die im masoretischen Text nicht vorhandenen Textabschnitte werden nicht unmittelbar als „Einschübe“ bzw. „Zusätze“ gesehen, die lediglich zur inhaltlichen Glättung des Textes eingefügt worden sind: „When each major Greek version of Daniel is viewed as an integrated whole, rather than as a fragmented textual artifact, it becomes possible to appreciate the fluidity of genre within the Daniel traditions and the distinctive generic features of each.“33 Dan 3 in der griechischen Textgestalt (LXX bzw. Theodotion) ist ein wohlstrukturiertes und sinnvoll lesbares Gesamtkunstwerk. Unabhängig von der Übersetzerfrage muss der Septuagintafassung des Danielbuches dabei Autorität und Eigenständigkeit zuerkannt werden und es gilt, was B. Braasch konstatiert: „An die DanLXX soll unter keinem anderen Vorzeichen herangegangen werden als an den MT, den Repräsentanten der aramäischen/hebräischen Textform.“34

Eine auffallende erste Beobachtung ist die Gliederung der vorliegenden Textstruktur von Dan 3 entlang der unterschiedlichen Textgattungen.35 Das Gebet des Azarja (V. 26–45) und der Lobgesang der drei Männer (V. 52–90) – insgesamt über die Hälfte der Verse des Kapitels – sind poetische Texte. Nur sechs Verse sind erzählender Text (V. 46–51), der im Stil der Rahmenerzählung (V. 1–25.91–97) zwischen Gebet und Lobgesang steht. In neuzeitlichen Kanonausgaben, die sich ausschließlich auf die aramäisch-hebräische Textversion beziehen, wird in Dan 3 nur der Erzählteil der Rahmenhandlung geboten (V. 1–25.91–97). Im Zuge der bisherigen Exegese, die sich vor allem mit hebräisch-aramäischen Texten beschäftigt, tauchen die poetischen Texte, inklusive des erzählenden Mittelteils, erst im Anhang der Kommentare auf oder werden sogar ganz ausgelassen (s. oben). Folglich steht in den masoretischen Bibelausgaben der Erzählstoff von Dan 3 „für sich allein“. Durch diese Priorisierung erfährt damit die Prosapassage des dritten Danielkapitels mit ihren 30 Versen eine enorme Aufwertung.36

In den antiken Codices des Septuagintakanons und damit auch in den sich auf sie beziehenden neuzeitlichen Bibelausgaben, denen die griechische Textversion zugrunde liegt, erfährt die innerkanonische Aufteilung des Kapitelkorpus entlang der Textgattungen eine gegenteilige Gewichtung. Zwar stehen auch hier, im Buch der Oden, die poetischen Passagen getrennt von der Erzählung der drei Männer im Feuerofen (vgl. Od Od 7–8 in der Θ-Fassung), aber allein dadurch, dass sie zum wiederholten Mal im griechischen Kanon auftauchen, wird ihre Signifikanz erheblich betont.37 Demgegenüber ist der erzählende Handlungsstrang von Dan 3 unmittelbar mit dem Gebet und dem Lobgesang verbunden und erscheint nicht getrennt von diesen beiden hymnischen Stücken. Werden die poetischen Abschnitte als feste Textbestandteile des „strukturierten Gewebes“38 von Dan 3LXX/Θ wahrgenommen, führen sie zu nichts weniger als zu einer Neubewertung des kompositionellen Arrangements dieses Kapitels. Ein verändertes Lesekonzept nimmt nicht zuletzt Einfluss auf die theologische Aussage von Dan 3.

Die folgende Untersuchung von Dan 3 lässt daher jegliche Kategorisierung von „Zusätzen“, „Einschüben“, „Einschaltungen“ und „deuterokanonischen“ bzw. „apokryphen Texten“, wo sie nicht zwecks leichterer Lesbarkeit nötig sind, fallen. Vielmehr wird ein kompositioneller Textzusammenhang in den Blick genommen, der jegliche Klassifizierung in Primär- oder Sekundärtexte zugunsten des kompositionellen Zusammenhangs und der Eigenständigkeit der griechischen Textkomposition aufzuheben versucht.39 Es handelt sich also um die Betrachtung eines zusammenhängenden Textgewebes, das nicht im luftleeren Raum, sondern in einem komplexen redaktionellen Prozess entstanden ist, aber nichtdestotrotz als ein zusammenhängender Schrifttext der hellenistischen Gläubigen gelesen und als solcher in dieser „Lese- und Interpretationsgemeinschaft“40 interpretiert werden muss.

1.3 Methodische Grundentscheidung und konzeptioneller Aufbau: Die Herangehensweise an Daniel 3

Die folgende Untersuchung zum dritten Kapitel des griechischen Danielbuches geht von der Annahme aus, dass die vorliegende Textgestalt von Dan 3, so wie sie der LXX-Kanon überliefert, eine sinnvoll rezipierbare Komposition darstellt. Dabei muss beachtet werden, dass die Septuaginta selbst eine „Übersetzungs-Rezeption“41 darstellt, die sich am Originaltext des Danielbuches orientiert. Sie soll als eigenständiges Werk mit eigenem Aussagegehalt und eigener Theologie verstanden werden. „Die DanLXX als gestaltgewordene Rezeption soll als Resultat des Lesevorganges eines Rezipienten/Rezipientenkreises des Danielbuches und damit als greifbare Rezeptionsform des Danielbuches Beachtung finden.“42 In der vorliegenden Arbeit zum dritten Kapitels des griechischen Danielbuches stehen also nicht so sehr die Schritte der Textgenese im Vordergrund, sondern der Blick auf die vorliegende, gewachsene Textgestalt.

Über die Redaktions- und Kompositionskritik hinausreichend, stellt sich also die Frage nach der Wirkung des Textes. Die Untersuchung geht mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden der Frage nach: Was bewirkt bzw. was sagt die Textkomposition der Leserschaft? Dabei steht die Textpragmatik im Zentrum. Sie bedeutet nichts anderes, als dass sich zwischen der Entstehungswelt des Textes und dem Erfahrungshorizont der Lesenden ein „Erwartungshorizont“43 auftut. Indem ein Text gelesen wird, tritt ein Dialogprozess in Gang, eine Korrespondenz mit den Lesenden. Der vorliegende Text tritt auf die Lesenden zu, entfaltet seine Wirkung und gibt Kategorien der Sinndeutung frei: „Lesen ist aktives Geschehen, wobei der Sinn des Textes im produktiven Zusammenspiel von lesendem Subjekt und Text zustandekommt.“44 Es kann sogar gesagt werden, dass erst im Lesevorgang der konkrete Text durch die Interaktion mit den Rezipierenden „verkomplettiert“ und in seiner „Textgesamtheit hergestellt“45 wird. Dabei muss festgehalten werden, dass dieser Ansatz die Entstehungszeit, den Ursprungshintergrund und die Welt der Autorenschaft keinesfalls ignoriert. Der Text ist und bleibt ein Kind seiner Zeit.46 Jedoch ist hervorzuheben, „dass der Text in seiner aktiven Seite über seinen Entstehungshorizont strukturell, inhaltlich und diachron weit hinausgreift.“47 Während der Schreibprozess eines Textes im Leseprozess zwangsläufig in der Vergangenheit liegt und es sich um einen einmalig vorgenommen Akt handelt, ist der Leseprozess ein mehrmalig wiederholbarer Vorgang, eine Herangehensweise an den Text, die in Ort, Zeit und Anlass variieren kann. Natürlich muss ein Text in den Kontexten und Zusammenhängen untersucht werden, in denen er entstanden ist. Hier ist die Text- und Kompositionskritik anzusiedeln. Für ein Verständnis eines Schrifttextes ist die historisch-kritische Untersuchung unerlässlich.48 Doch einmal geschrieben, tritt ein Text in gewisser Weise aus „seiner Zeit“ heraus und ist von da an den Interpretationsmöglichkeiten, die in ihm angelegt sind, auf Seiten der Rezipierenden ausgesetzt. Schon die Primärlesegemeinschaft kann neben einer ursprünglich von den Verfassenden intendierten Textbotschaft andere Assoziationen mit dem Text verbunden haben. Jedoch in „weit stärkerem Maße gilt das für nachgeborene sekundäre Leser, die gar nicht direkt adressiert waren, nicht dem gleichen Sitz-im-Leben wie Autor und Primärleser zugehörten, womöglich eine anderen Sprache und andere Übersetzungen gebrauchten.“49 Dabei ist also nicht gesagt, dass allein die ursprünglich intendierte Erfassung eines Textes bei den Erstrezipierenden liegt.

Ein Schrifttext, der gelesen wird, kann erst bei diesem Akt des Lesens zu seinem eigentlichen Textsinn kommen: „Es gibt keine Bedeutung von Texten, abgesehen von derjenigen, die ihre Leserinnen und Leser ihnen im Akt des Lesens geben.“50 Damit ist auch nicht gesagt, ob der volle Textsinn von den Textschreibenden ganz erfasst worden ist. Im Gegenteil ist das Sinnpotential eines Textes größer als die Intention der Verfasserschaft: „Die Wahrheit der Schrift liegt nicht in dem Anliegen ihrer ursprünglichen Erstschriftsteller begraben, sondern wächst mit und durch die sie rezipierende Gemeinde.“51 Es ist sogar „vom Text vorgesehen, dass die Leser durch ihre Lektüre dem Text einen ‚Mehrwehrt an Sinn‘ zufügen. Die Auffüllung von Leerstellen gehört zu den Strategien des Textes.“52 Allerdings begegnet im und durch den Text den Lesenden auch eine Aussage, wie sie durch die Verfassenden intendiert worden ist. Einmal vorliegend, beeinflusst der Text, je nachdem in welchen Kontexten er gelesen wird.53 Auf der anderen Seite lassen sich die Lesenden vom Text als ein „Kommunikationsangebot“54 beeinflussen. Das Potential eines Textes jedoch, das jeder Lektüreprozess freisetzt, ist enorm und äußerst vielfältig. Die wenigsten Texte werden nur einmal gelesen. Durch die Geschichte hindurch und über Generationen hinweg tritt erst nach und nach zutage, was in einem Text enthalten sein kann. Je nach Epoche und sozialer Schicht wandelt sich die Rezeption eines Textes und zeigt dadurch mehr ein gesellschaftliches als ein individuelles Erscheinungsbild. Auch die Lesegemeinschaft ist Kind ihrer Zeit. Sie „übernimmt die Führung und wird zum Interpreten“, die „vor, während und nach der Lektüre unabhängig vom Autor Bezüge herstellen kann.“55 An dieser Stelle ist die Frage nach der Textpragmatik eng mit dem rezeptionsästhetischen Ansatz verknüpft. Wie bereits oben erwähnt, ist die Wirkungsgeschichte gerade für Dan 3 in seiner griechischen Fassung im Vergleich zu anderen Danielperikopen enorm: „Dabei sollte Rezeption nicht einseitig verstanden werden, so als wäre der Leserkreis allein aktiv und das Textmaterial mehr oder minder passiv. Wo Rezeption gelingt, ist sie immer auch Wirkung der so verstandenen Texte.“56

In diesem Zusammenhang muss auf zwei wesentliche Punkte hingewiesen werden. Zum einen bedeutet die Annahme dieses beschriebenen Lesekonzeptes, dass keine fiktiven Lesenden rekonstruiert werden. Aus der historischen Entfernung ist das trotz der Rekonstruktion der hellenistischen Welt, in der der Text entstanden ist, kaum möglich. Die Leserschaft bringt zudem immer wieder ihre eigene Erfahrung, Hintergründe und Lebenswelten mit: „Das lädt […] zu rezeptionsgeschichtlichen Interpretationen ein, welche Erstrezipienten, spätere Rezipienten in verschiedenen Zeiten und Kulturen und heutige Rezipienten unterscheidet. Eine differenzierte rezeptionsgeschichtliche Interpretation ist wichtig, weil sie heutige Leser/innen [sic!] und Leser vor einer Verabsolutierung ihrer eigenen Leseweisen und ihrer eigenen Verständnisse bewahren kann.“57 Dennoch ist die Ermöglichung des Lesevorgangs, den der vorliegende Text bietet und bereitstellt, jenseits der historischen Einordnung gleich. Hier ist vom Konstrukt eines „impliziten Lesekonzepts“58 auszugehen, das auf inhärente Textstrukturen und auf die sie reagierenden Lesevorgänge eingeht und diese untersucht.

Auf der anderen Seite bedeutet diese leserorientierte Auslegung keinen beliebigen Umgang mit dem Text. Vielmehr stellt der Text in der vorliegenden Komposition und Textstruktur Strategien zur Leselenkung bereit. Das Niedergeschriebene enthält selbst Mittel zu seiner lesenden Rezeption. Es ist die Hintergrundfolie, vor dem sich die Lesewelt der Lesenden konkretisiert. Es gibt Motive und Bilder, die im Erfahrungshorizont der biblischen Lesenden bestimmte Wirkungen erzeugten.59 Hier ist die Rede von einem implizierten Lesekonzept angebracht, um das Interagieren zwischen Text und Lesevorgängen zu beschreiben. Die Vorgehensweise bedeutet also keinen beliebigen Umgang mit dem Text, sondern eine Beachtung der vorliegenden Textstruktur, die einer systematisch sorgfältig geleiteten Lektüre unterzogen wird.

Als kompositionelle Merkmale, die lektürelenkend das Kapitel Dan 3 bestimmen, sollen zunächst zwei methodische Beobachtungen als Grundlage dienen: Zum einen der Blick auf die Makrostruktur und weitere Gliederungssignale und zum anderen die Beachtung der semantischen Vernetzungen:60 Eine auffallende Struktur, die auf der Textebene von Dan 3 wahrgenommen wird, ist der Gattungswechsel zwischen Prosa- und Poesie-Abschnitten. Nach einer einführenden Erzählung, die ungefähr ein Drittel des Kapitels ausmacht (V. 1–25), wird der erzählende Text durch zwei längere poetische Texte unterbrochen (V. 26–45.52–90). Jeweils zweimal wird die Erzählung in zwei kurzen Partien aufgenommen, in einem Mittelteil (V. 46–51), der das Azarja-Gebet vom Lobgesang trennt, und am Ende (V. 91–97), im Anschluss an den Lobgesang, und dort dann auch zum Abschluss geführt. Die beiden poetischen Texte sind von der Struktur deutlich verschieden, geben aber dem Kapitel ein klares Gepräge.

Darüber hinaus müssen diese makrostrukturellen Beobachtungen mit solchen zu semantischen Verbindungen verknüpft und ergänzt werden. Sosehr die erste Beobachtung eine deutliche Gliederung des Kapitels bedeutet, so lassen Stichwortverbindungen innerhalb des Kapitels aufhorchen und zeigen, wie sehr die fünf Teile aufeinander bezogen sind. Die Leserschaft kombiniert mit einzelnen Wörtern bestimmte Vorstellungen und Sinnzusammenhänge. Kombinationen und Assoziationen werden besonders durch wiederkehrende Ausdrücke hergestellt. Repetition, Aufzählungen, Duplikationen erzielen eine bestimmte Wirkung sowohl innerhalb der erzählenden und poetischen Textabschnitte als auch in Bezug auf das Kapitelganze.

Auch wenn im Hinblick auf syntaktische und semantische Überlegungen eine erste Einordnung des Kapitels erfolgt, so gilt doch vor allem die Leserichtung des Kapitels als erste Herangehensweise an Dan 3. Es ist eine „erste“ Rezeption des Kapitels, wenn es von V. 1 bis V. 97 gelesen oder gehört wird. Das bedeutet im Wesentlichen, dass gerade das Azarja-Gebet und der Lobgesang der drei Männer nicht für sich stehen, sondern in den Großzusammenhang der Kapitelerzählung eingebettet sind. Andererseits steht auch die Erzählung nicht für sich, sondern ist sinngebend für das Gebet und den Lobgesang, allein schon dadurch, dass sie den poetischen Textteilen vorangestellt bzw. nachgeordnet ist: „Der Leser muss den Transfer vom linearen Lesen zum Erfassen der Struktur und der sich daraus ergebenen Handlung leisten. Da hierzu eine aktive, kreative Leistung des Lesers gefordert ist, ist es offensichtlich, dass es zu unterschiedlichen Interpretationen kommt.“61 Die eingefügten Lieder geben aufgrund ihres Aufbaus, der von Wiederholungen und Parallelismen geprägt ist, eine neue Perspektive frei, die hin zu einer aktiven Lektüre führt, die in der Partizipation besteht, die wiederum zu einer „Liturgiesierung“ des gesamten Kapitels führt (vgl. Kapitel 4.2).62 Dabei ist die Abfolge bedeutsam, die eine narrative Struktur des Kapitels von der Krise und Katastrophe hin zur Lösung, zum Lob und zur Rettung erkennen lässt (vgl. Kapitel 4.1.3). Anfang und Ende der Erzählung sind aufeinander bezogen, genauso wie die Mitte des Kapitels den erzählerischen Wendepunkt bezeichnet. Eine beabsichtigte Wirkung des Textes führt die Rezipierenden dahin, dass sie mit einer Krisensituation vertraut gemacht werden und am Ende, nach dem rettenden Eingreifen der lenkenden Gottesmacht, „voll des Lobes“ sind (vgl. Kapitel 4.3.2).

Die Abfolge und der Wechsel von poetischen und narrativen Texten, wie sie in Dan 3 zu finden sind, lässt eine kapitelimmanente Spannung erkennen. Die Erzähltextanalyse, die bei der folgenden Interpretation von Dan 3 angewandt wird, geht davon aus, dass sich sowohl poetische wie auch narrative Abschnitte gegenseitig interpretieren und deren übergreifende Struktur maßgeblich für ein Verständnis des gesamten Kapitels ist (vgl. unten 4.1.1).63 Die Erzähltextanalyse oder narratologische Analyse, die die Wirkungssignale des Textes aufzeigt, kann wiederum die Rezipierenden nicht ignorieren. Im Gegenteil: Rezeptionsästhetische Fragestellungen und die Anwendung erzähltechnischer Methoden durchdringen einen Text und bestimmen seine Wirkung. Die Interpretation eines Textes wird nicht allein durch diesen selbst bestimmt, sondern durch die Weltsicht und Lebensgemeinschaft, durch die die Rezipierenden beeinflusst werden. Eine Erzähltextanalyse kann helfen, den Text zu erfassen und ihn im Rahmen eines Lesevorgangs von seinen inhärenten Wirkungen her zu deuten.64

Eine weitergehende Auseinandersetzung bzw. grundlegende Beschäftigung mit den methodischen Voraussetzungen der narratologischen Analyse, auch und insbesondere mit einem umfassenden Rückgriff auf die Literaturwissenschaft, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu Dan 3 sprengen.65 Die Arbeit konzentriert sich vielmehr auf das theologische Anliegen einer in den Vordergrund gestellten rezeptionsästhetischen Perspektive im Hinblick auf das dritte Kapitel des griechischen Danielbuches.

Konzeptioneller Aufbau der Arbeit

In einem ersten Schritt erfolgt die Untersuchung der griechischen Textüberlieferung (vgl. Kapitel 2). Hierbei ist vor allem das Verhältnis der beiden griechischen Textzeugen (LXX und Θ) im Hinblick auf Dan 3 zu untersuchen (2.1). Die historisch-kritische Untersuchung wird durch einen Verweis auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund abgerundet (2.2). Es folgt ein kurzer forschungsgeschichtlicher Überblick zur Text- und Redaktionskritik von Dan 3,1–97LXX/Θ (2.3). Nach einem knappen Überblick zu Aufbau, Gliederung und Gestalt des dritten griechischen Danielkapitels (2.4), steht eine eigene Arbeitsübersetzung von Dan 3,1–97LXX/Θ am Ende der Untersuchung zur griechischen Textüberlieferung von Dan 3 (2.5).

Im dritten Kapitel wird Dan 3 einer Motiv- und Strukturanalyse unterzogen, die auf einer detaillierten Vers-für-Vers-Analyse fußt. Das Augenmerk richtet sich dabei auch auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden griechischen Textfassungen (LXX/Θ). Diese exegetische Untersuchung bildet die Grundlage für die weitere Interpretation anhand der Erzähltextanalyse in Verbindung mit einem rezeptionsästhetischen Schwerpunkt auf Dan 3.

Kapitel 4, das mit „Die erweiterte Lektüreperspektive von Daniel 3“ überschrieben ist, kann als Kern der Arbeit angesehen werden. Hier wird von der Einzelversauslegung, von der Textstruktur (4.1) und der semantischen Voruntersuchung ausgehend, ein Kultkonzept zwischen Idolatrie und Liturgie thematisch vorgestellt. Dabei wird deutlich, dass sich zwei konkurrierende gottesdienstliche Modelle gegenüberstehen (4.2). Die theologische Synthese von Dan 3 zeigt sich in der neuen Kontextualisierung und in der veränderten Perspektive auf Dan 3, was Lektüre und Partizipation angeht (4.3). Hier wird der theologische Mehrwert gegenüber MT ersichtlich und es wird die neue Akzentuierung der Textkomposition des dritten griechischen Danielkapitels hervorgehoben.

Das Schlusskapitel wagt schließlich noch den Ausblick über das Kapitel Dan 3 hinaus und verortet die Erzählung von den drei Männern im Feuerofen als Teil der Hofgeschichten Dan 1–6 (5.1). Inhaltliche und strukturelle Bezüge insbesondere zu Dan 1 und Dan 6 werden deutlich. Im Blick auf das gesamte griechische Danielbuch fällt aufgrund des auffallend langen Kapitels Dan 3 die poetische Anfangsprägung des letzten Buches der Septuaginta auf (5.2).


1 Zur Diskussion um die mittelalterliche sogenannte „Chronik des Jerachmeel“, die angeblich die „Zusätze“ von Dan 3 auf ein semitisches Original zurückführt, siehe oben Abschnitt 2.3. Zur Übersicht, zu welchen Abschnitten des Danielbuches Qumranfragmente vorliegen siehe u. a. Collins, Hermeneia, 2 f.; Koch/Rösel, Polyglottensynopse, mit Anführung der Qumranfragmentenvarianten.

2 Kottsieper, Zusätze, 213.

3 Vgl. die nur knappe Erwähnung u. a. bei Albani, Daniel, 96 f.; Seow, Daniel, 58 f.; Flusser, Psalms, 553; Hammer, Apocryphal Additions, 212; Kottsieper, Zusätze, 222 f. mit ausführlicher Begründung. Stellvertretend s. Soesilo, Translation, 432: „Since not very many translators are working on the Deuterocanonical books, I will also not discuss here the addition to the book of Daniel which includes the Prayer of Azariah (Dan 3.24–45 in the Septuagint) and the Hymns of the Three Young Men (Dan 3.52–90 in the Septuagint).“ Ignorierung u. a. bei Hitzig, Daniel, 40–55; Bentzen, Daniel, 33–39; Lebram, Buch Daniel, 60–65; Anderson, Signs and Wonders, 27–38; Towner, Daniel, 46–59; Russell, Daniel, 58–71; Hammer, Book of Daniel, 35–44; Lacocque, Book of Daniel, 56–96; Howie, Book of Daniel, 105–108; Porteous, Danielbuch, 47; Driver, Book of Daniel. Andererseits Kommentierung von Dan 3,25–90 getrennt von Dan 3MT im Anhang u. a. bei Koch, BK, 314–375; Moore, Daniel, 38–76; Collins, Hermeneia, 195–207. Kommentierung als Dan 3,1–97 u. a. bei Nötscher, Daniel, 15–24; Riessler, Buch Daniel, 18–31; Goettsberger, Daniel, 25–35; Haag, NEB, 32–42; Collins, Daniel; Charles, Daniel, 72–75; Delcor, Daniel, 88–107.

4 Das gilt für die überwiegende Mehrzahl der bezeugten LXX-Codices: Vgl. Tov, Septuagint, 192. Die Endstellung der Großen Propheten in der LXX trifft sich zudem gut mit der christlichen Vorstellung, dass diese auf das Christusereignis im NT vorbereiten: Siehe v. a. Tov, Septuagint, 193: „Representing the wish to place them just before the New Testament.“ Vgl. auch Brandt, Endgestalten, 148 f. Andererseits gibt es auch die (jüdische) LXX-Tradition, die in der Reihung der hebräischen Bibel folgt: Vgl. Tilly, Rezeption, 237, mit Angabe der Gründe für die Abwertung des Danielbuches im antiken Judentum durch seine Einordnung unter den Hagiographen; vgl. auch Koch, Das Buch Daniel, 28 f.

5 Vgl. Koch, Profeten, 1–15; Niehr, Das Buch Daniel, 611.

6 Vgl. Tilly, Rezeption, 238: „Diese Endstellung Daniels entsprach wahrscheinlich seiner perspektivischen Deutung als eines eschatologischen – bzw. auf die Christusoffenbarung hinführenden – Abschlusses des Alten Testaments“; ebd., 251; Koch, Profeten, 5; Brandt, Endgestalten, 187 f.

7 Vgl. u. a. Poulsen, Diasporamotiver.

8 Braasch, LXX-Übersetzung, 12; vgl. auch Koch, Das Buch Daniel, 23.

9 So das Argument bei Luther. Zur Problematik der Entscheidung, sich ausschließlich am hebräisch-aramäischen Text nach dem rabbinischen Kanon zu richten, siehe Hartman/Di Lella, Daniel, 27, Anm. 47.

10 Portier-Young, Three Books, 146.

11 Siehe hier und im Folgenden vor allem Kulczak-Rudiger/Terbuyken/Perkams/Brakmann, Jünglinge im Feuerofen; vgl. auch den Bekanntheitsgrad im Vergleich zu anderen Texten aus Dan; heutiger umfassender liturgischer Gebrauch dieses hymnischen Abschnittes z. B. im Stundengebet der römischen Kirche, etc.; Harrington, 120 f.; Meadowcroft, Aramaic Daniel, 122 f.: „Their survival in religious tradition speaks for the quality of the compositions“; Bentzen, Daniel, 33 f.39; Wildgruber/Offermann, Engel, 18.57.

12 Vgl. v. a. Seeliger, Πάλει μάρτυρες. Auch Metzger, Mosaikinschrift, 277, stellt in Bezug auf die Nennung der Namen der drei Männer im Fußbodenmosaik der Synagoge in En Gedi fest: „Im Gebet Asarjas und im Gesang der drei Männer im Feuerofen finden sich nahezu alle inhaltlichen Elemente der Mosaikinschrift, ergeben sich aber auch inhaltliche Bezüge zu nahezu allen Bildinhalten auf figürlichen Mosaiken in spätantiken Synagogen.“ Grundlegend zur Rezeption in der östlichen Kunst: Altripp, Bild der „Drei Jünglinge im Feuerofen“.

13 Vgl. Albert-Zerlik, Rezeption; Benagh, Three Holy Children; Carmassi, Mysterium magnum; Franz, Bibel in der Liturgie; Hohmann, Gotteslob; Sumani, On fire; Barkhuizen, Romanos Melodos.

14 Siehe v. a. Voicu, Apocrypha, 443–457 u. Stevenson/Glerup, Daniel, 173–187; vgl. auch Bracht, Daniel; Tucker, Wirkungsgeschichte; Bucur, Christophanic Exegesis; Botha, Interpretation; Brottier, La Fournaise; Dulaey, Les trois Hébreux; Kritzinger, St Jerome’s Commentary; Perkams, Erzählung; Stander, Chrysostom’s Interpretation; Wegner, Nabuchodonosor-Bild.

15 Vgl. Ziolkowski, Fiery Furnace; Petersen, Daniel.

16 Vgl. Vette, Fiery Furnaces; Dabney, Courageously Living; van Henten, Daniel 3 and 6; Grillo, Roots of Resurrection; Somov, Martyrdom of Daniel. Das Motiv des Feuerofens aus Dan 3 wurde auch vor dem Hintergrund der Ereignisse der Shoa oft rezipiert: vgl. hier v. a. Saltin, Gesang im Feuerofen.

17 Vgl. u. a. Augustine, Fiery Furnace; Hays, Who Is the God.

18 Ebenso gibt keinen Hinweis, dass die Schriften des NT Dan 3,52–90LXX/Θ benutzt haben!

19 Vgl. Portier-Young, Three Books, 146: „Those who would interpret Daniel ‚for the church‘ do well to become more familiar with the Greek version of Daniel that have shaped Christian interpretation through the centuries.“

20 Yarchin, Book of Daniel, 216.

21 Vgl. Bennett, Prayer, 630; Knight, Prayer, 581 f.; Hammer, Apocryphal Additions, 211–214; Bauer, Daniel, 98–100. Für die Betrachtung der Pluriformität in Dan: Holm, Daniel 1–6, 156: „This strategy of searching for the Urtext, the autoritative and original text, has until recent years been considered by scholars to be the central task in any attempt at critically establishing biblical texts.“ Ebd., 158: „There is no need to post one Semitic original of Urtext from which all versions of the Daniel stories descended. One may better speak […] of core material behind each ‚telling‘ of the story.“

22 Vgl. v. a. Mittmann-Richert, Zusätze; Yarchin, Book of Daniel; Portier-Young, Three Books. Im Hinblick auf die Buchstruktur von MT-Dan und LXX-Dan siehe v. a. Finsterbusch, Analyse, 28–45, 30; vgl. aktuelle Ausgaben wie Lanier/Ross, Septuaginta.

23 Zum Azarja-Gebet: vgl. Koch, Märtyrertod; Haag, Sühnopfer; Neef, Gebet; Joosten, Prayer; Joosten, La Prière; Bons, La Prière; Bons, Azariah’s prayer; Newman, Prayer; Hieke, Atonement; Portier-Young, Prayer; Večko, Prayer; Eberhart, Metaphorik (im Druck); ältere Auseinandersetzung: Wiederholt, Gebet des Azarias; Gilbert, La prière.

Zum Lobgesang der drei jungen Männer: Mark, Lobgesang; Helbing, Transzendierung; Di Lella, Analysis; Portier-Young, Bless the Lord; Beentjes, Bless the Lord; ältere Auseinandersetzung mit beiden poetischen Stücken siehe v. a. Daubney, Three Additions.

24 In diese Richtung gehen schon ansatzweise v. a. Braasch, LXX-Übersetzung; Portier-Young, Prayer; Portier-Young, Bless the Lord; Grillo, Heavenly Worship u. Chan, Dissonant, mit dem Hinweis auf eine fehlende Beschäftigung mit der Textanalyse des gesamten Kapitels Dan 3LXX/Θ in der bisherigen exegetischen Forschung und die daraus resultierenden Beobachtungen.

25 Vgl. hier vor allem die Arbeiten von McLay, OG and Th; Ders., Questions; Ders., Relationship; Ders., Double Translation, und Meadowcroft, Comparison (1993); Ders., Comparison (1994); Ders., Aramaic Daniel.

26 Dagegen kann bei Finsterbusch, Analyse, 38, Anm. 24, sogar noch jüngst gelesen werden: „Der Abschnitt [sc. 3,24–91a] hat keine Auswirkungen auf die Gesamtstruktur des Buches, auch für den Plot der Einheit ist er nicht relevant.“

27 Vgl. Portier-Young, Three Books, 149: „That is, they [sc. Additions to Daniel] are presented as discrete, independent texts, namely two hymns conjoined by a few verses of prose, and two short, disjointed tales. They have become something new as ‚additions‘, and have been subtracted or divorced from the context in which they were previously transmitted.“

28 Vgl. Di Lella, Textual History, 604: „The translators of OG-Dan and Th-Dan were consciously at work on a canonical text. These Greek forms with the Additions served as canonical Scripture for the several Greek-speaking Jewish and Christian communities that received (or revised) them. Being Scripture, OG-Dan and Th-Dan deserve the same respect and consideration as the MT.“

29 Braasch, LXX-Übersetzung, 18.

30 Vgl. Mittmann-Richert, Daniel’s Prophecy, 108: „Failure in coming up with a historical-theological synthesis is due to her neglect of the poetic pieces that are pivotal for the understanding of the whole picture.“

Details

Pages
468
Publication Year
2024
ISBN (PDF)
9783631906170
ISBN (ePUB)
9783631906187
ISBN (Hardcover)
9783631906163
DOI
10.3726/b21800
Language
German
Publication date
2024 (October)
Keywords
Buch Daniel Theodotion Lobpreis Hymnus Theologie des Gotteslobes König Nebukadnezzar Jünglinge im Feuerofen Septuaginta
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 468 S.

Biographical notes

Simeon Gloger (Author)

Simeon Benedikt Gloger OSB, geb. 1988, ist seit 2015 Mönch der Abtei Dormitio B.M.V. in Jerusalem. Er studierte katholische Theologie in Trier, Jerusalem und München und wurde 2023 an der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit dem Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund promoviert.

Previous

Title: Ein Tempel aus Lobgesang