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Die Khakismus-Diktatur in den Werken des irakisch-deutschen Schriftstellers Abbas Khider

von Imen Taleb (Autor:in)
©2024 Dissertation 256 Seiten

Zusammenfassung

Der Band bietet eine Auseinandersetzung mit der Dependenz zwischen Poetizität und Wirklichkeit, zwischen Schreiben als Engagement und Schreiben als Selbsttherapie, zwischen Erinnerung und Verfälschung. Es werden die Flucht der Figuren vor dem irakischen Regime seit Saddam Hussein und ihre Identitätskrise angesichts grausamer Haftbedingungen, harter Verhöre, Folter und Demütigungen nachgezeichnet. Abbas Khiders literarische Strategie ist die Verbindung der persönlichen Erfahrung mit Fiktion – bei seinen Erzählungen kann von Autofiktion gesprochen werden. Autofiktion wird verstanden als Fiktion, die reale Ereignisse und Fakten verstrickt. Der Autor schreibt über sich selbst und immer über das Andere in sich selbst, das Andere außerhalb seines Selbst. Das Buch macht deutlich, dass Khider mit der Kombination aus Fakten und Fiktion aufzeigt, wie irakische Menschen die Khakismus-Diktatur
Saddam Husseins erlebten und unter ihr litten und wie Geschichte nicht von einfachen Menschen geschrieben wird, sondern von Regierungen und Herrschern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Einleitung
  • 1 Der Begriff des autokratischen Regimes und seine Bedeutung
  • 1.1 Autoritäre Regime des 20. und 21. Jahrhunderts in der arabischen Welt
  • 1.2 Abbas Khiders Ansichten zur arabischen autoritären Diktatur
  • 1.3 „Khakismus–Intellektuelle Verbrechen im Irak“
  • 2 Leben zwischen den Zeilen: Khiders Werke als Autofiktion
  • 3 Abbas Khiders Werke
  • 3.1 Der falsche Inder – Ein moderner Schelmenroman
  • 3.2 Die Orangen des Präsidenten
  • 3.3 Brief in die Auberginenrepublik
  • 3.4 Ohrfeige
  • 3.5 Palast der Miserablen
  • II Fluchtwege aus der Khakismus-Diktatur
  • 1 Die Flucht vor der Khaki-Diktatur
  • 1.2 Nicht-Orte als Fluchträume
  • 1.2.1 Geistige Flucht als imaginierter Nicht-Ort
  • 1.2.2 Flucht in die Resignation
  • III Die Identitätsproblematik
  • 1 Zum Begriff Identität
  • 1.1 Rasul Hamids Identitätssuche: Die Spannung zwischen Individualitätsanspruch und diktatorischen Restriktionen
  • 1.1.1 Entfremdung und Suche nach Identität in der Heimat
  • 1.1.2 Rasul Hamids Identitätssuche als Geflüchteter
  • 1.2 Die erschütterte Identität: Eine exemplarische Auseinandersetzung
  • IV Khiders Schreiben: „Ein fliehender Geist aus einer Horrorgeschichte“
  • 1 „Das Schreiben ist gefährdet und gefährlich“
  • 2 Das Trauma als „Friedhof von Erinnerung“
  • 2.1 Salim Al-Katebs Brief: Eine Traumabewältigung
  • 2.2 Die Wirkungsweise der Traumata auf die Schreibform
  • 3 „Die fremde Sprache bedeutet Freiheit“
  • V Irakisches Frauenbild unter Khakismus Diktatur
  • 1 Musen statt Khakismus-Diktatur
  • 1.2 Die Frauen als Helferinnen
  • 2 Die Unterdrückung der Frau im Rahmen der patriarchalisch-diktatorisch strukturierten Herrschaft
  • 3 Miriam Khalifa: Stimme der weiblichen Stummen
  • 4 Weiblichkeitsdiskurse: Najat und Miriam Al-Sadwun
  • VI Politische Verhaftung und Folter: Vernichtung der Humanität
  • 1 „Switzerland: Kingdom beyond the Sun“
  • 1.1 Die Wirkungen der Inhaftierung: Verlust des Glaubens
  • 1.2 Die psychologische Zeit: Ein Mittel gegen den Gewaltraum
  • 2 Die Folter
  • 2.1 Verhör und Verhörpolizist: Ein Teil einer Foltermaschinerie
  • 2.2 Die Hungerfolter: Die „Degradierung von Menschen zu tierähnlichen Wesen“
  • 2.2.1 Lachen als Abwehrsystem gegen die Folter
  • 2.2.2 Der Folterer
  • 2.2.3 Die Banalität der Wärter im Roman Die Orangen des Präsidenten
  • 3 Die Handlungsverweigerung: Mahdi Hamama als problematischer Held
  • 4 Das Orangen-Motiv: Eine Unterdrückungskontinuität
  • 5 Das Tauben-Motiv- die verlorene menschliche Freiheit
  • VII Fazit und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

I Einleitung

Aufgrund von Diktatur und Unterdrückung sind Menschen gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen und nach einem neuen, freieren Leben zu suchen. Einige, die diesen Staaten wegen der Repressalien der Herrschenden den Rücken kehren, wenden sich dem Schreiben zu, um die Erfahrungen ihres Lebens unter der Diktatur aufzuarbeiten. In diesem Kontext bewegt sich auch der irakisch-deutsche Autor Abbas Khider. Khider wurde am 3. März 1973 im Irak geboren und erlebte die Diktatur Saddam Husseins als Kind und Jugendlicher: „[Er] wurde Teil einer Generation, die er als Generation der Wütenden auf Saddam Hussein bezeichnete“1. Wegen seiner politischen Aktivitäten, die sich gegen das irakische Regime richteten, wurde er für zwei Jahre inhaftiert und gefoltert:

Wir lebten damals in großer Angst. Keiner durfte Kritik an der Regierung üben. Jemand, der sich dennoch das Recht dazu nahm, wurde, wenn es ganz schlecht lief, von regierungstreuen Beamten auf offener Straße hingerichtet. Ich konnte Saddam Hussein und seine Regierung einfach nicht ausstehen. In meinem Freundeskreis lasen wir verbotene Bücher von Exil-Irakern, verteilten Flugblätter mit regierungskritischen Texten und wurden eines Tages dabei erwischt. Ich kam ins Gefängnis, was mein ganzes Leben verändert hat2.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahre 1996 floh Khider aus dem Irak. Er lebte im Anschluss zunächst in verschiedenen arabischen Ländern. Das Leben als geflüchtete Person und im Exil war für ihn demnach keine freie Entscheidung: Das unfreie und repressive Leben unter der Diktatur zwang ihn, sein Heimatland Irak zu verlassen. Dem Zufall ist es zu verdanken, dass Deutschland seit dem Jahr 2000 Khiders zweite Heimat wurde:

Er passierte diverse Länder in Asien und Nordafrika, bis er in Europa auf dem Weg nach Schweden im bayrischen Ansbach von der deutschen Polizei aufgegriffen wurde. Man holte ihn aus dem Zug, nahm seine Fingerabdrücke und erklärte ihm, dass er nun in Deutschland und in keinem anderen europäischen Land Asyl beantragen müsse. So kam Khider nach Deutschland und nicht nach Schweden, wo er sich die besten Chancen ausgerechnet hatte, seinen Traum zu verwirklichen: Studieren3.

In München und Potsdam studierte er Literaturwissenschaft und Philosophie. 2007 erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit und begann, Texte in deutscher Sprache zu verfassen. Die irakische Diktatur prägte nicht nur sein Leben, sondern entwickelte sich auch zu einem Motor seines Schreibens und zum zentralen Thema seiner Romane. Im deutschen Exil schrieb Khider antidiktatorische Werke, die das Regime Saddam Husseins in den Fokus rückten. Er debütierte 2008 mit dem Roman Der falsche Inder4, für den er in den Medien positive Resonanz erhielt. In den darauffolgenden Jahren veröffentlichte er zwei weitere Romane: Die Orangen des Präsidenten5 (2010) und Brief in die Auberginenrepublik6 (2013). Anfang 2016 erschien sein vierter Roman Ohrfeige7, auf den 2020 der Palast der Miserablen8 folgte. Seine Werke verfügen über einen starken autobiographischen Aspekt, sie speisen sich aus seinen Erfahrungen in der Diktatur9. Khider hat sich in der deutschen Literaturszene durch seine Auseinandersetzung mit dem irakischen Unrechtsregime etabliert. Er erhielt zahlreiche Arbeitsstipendien wie 2009 das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste, 2009–2010 das Stipendium des deutschen Literaturfonds, 2011 ein Arbeitsstipendium der Robert Bosch Stiftung und das Villa-Aurora-Stipendium, 2013 das Edenkoben-Stipendium des Edenkobener Künstlerhauses, das Grenzgänger-Stipendium, das London-Stipendium und die Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau sowie 2015 das Berliner Senatsstipendium. Darüber hinaus wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt Khider 2010 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Seit 2010 ist er Mitglied des PEN. Im Jahre 2013 gewann er den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil ebenso wie den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund. Weiterhin erhielt Abbas Khider den Spycher Literaturpreis Leuk (2016), die Heinrich-Heine-Gastdozentur (2016) und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2017. Darüber hinaus wurde er zum Mainzer Stadtschreiber für das Jahr 2017 erklärt.

Trotz der Brisanz und der neuerlichen Aktualität von Diktaturen beschäftigen sich bisher nur wenige Arbeiten mit den Werken von Abbas Khider. Der tunesische Germanist Mohamed Tabassi setzt sich in seinem Beitrag [I]m Fegefeuer von Diktaturen. Die Darstellung arabischer Diktaturen im Prosawerk von Abbas Khider10 mit dem Thema Diktatur in der arabischen Welt in dessen Werken auseinander. Moritz Schramm diskutiert in seinen Arbeiten Ironischer Realismus. Selbstdifferenz und Wirklichkeitsnähe bei Abbas Khider11 und Experimentelle Erkundungen. Überlegungen zu Verhältnis von Anerkennungstheorie und Literaturwissenschaft am Beispiel von Abbas Khiders Roman Die Orangen des Präsidenten12 die formalen Mechanismen der Konstruktion von Realität in der Diktatur und das Verhältnis der Figuren zur Folter und zur Person des Folterers. Katherine Anderson untersucht in ihrer Dissertation Foreign writing agency: Abbas Khider& María Cecilia Barbetta writing towards catharsis in german as a foreign language after trauma13 den Themenkomplex Trauma in Khiders Schreiben. Dieser Schwerpunkt wurde auch in der vorliegenden Arbeit übernommen, die das – und insbesondere Khiders – Schreiben als Bewältigungsstrategie gegenüber dem Trauma der Diktatur aufgreift. Es ist anzunehmen, dass Khiders Werke mitwachsender Präsenz im deutschen Literaturbetrieb in Zukunft größere literatur wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren werden. Wie die angeführten Arbeiten zeigen, hat die Literaturwissenschaft hierbei bislang die Themen Flucht, Identität und Schreiben in Khiders Romanen zentral behandelt, die Diktatur jedoch lediglich als Ursache der Flucht und der Identitätskrise des Einzelnen verstanden. Die vorliegende Arbeit stellt dagegen diese Khakismus-Diktatur14 selbst, wie Khider das irakische Regime bezeichnet, in den Vordergrund. Eine Arbeit mit dem Fokus auf dieser Khakismus-Diktatur kann einen Einblick in diese Lebenswelt bieten, die für die deutschen Leser*innen in der Regel noch eine fremde Welt darstellt. Khiders Romane präsentieren die Khakismus-Diktatur im Licht „eine[s] neuen Realismus“15, der das Leben der irakischen Menschen bereits lange Zeit prägt und dessen Auswirkungen bis heute zwischen seinen Zeilen in gewisser Weise erspürt werden können. Khider verwandelt die Diktaturerfahrung durch seine umgestaltende Arbeit in etwas Produktives. Damit ist gemeint, dass seine Werke sowohl als Resultat der Wirkung äußerer Prozesse auf die literarische Formgebung als auch als Schaffung einer neuen Welt unter Einsatz von Ironie und Humor zu verstehen sind:

Ich glaube, ich schreibe über bittere Wirklichkeiten und über harte Realitäten“, erklärt er im Interview. „[…] Ich würde sagen, dass es zwei Arten von Autoren gibt: Autoren wie Primo Levi, die diese harte Realität so dargestellt haben, wie sie ist. Solche Menschen haben immer irgendwann den Freitod gewählt. Sie konnten nicht mehr. Es gibt die zweite Sorte von Autoren, die mit diesen bitteren Wirklichkeiten mit Humor, Situationskomik und Ironie umgegangen sind, und die haben irgendwie überlebt, bis sie achtzig oder neunzig geworden sind. Ich glaube, es ist mehr eine Entscheidung für das Leben an sich. Und ich glaube, ich habe mich für die zweite Variante entschieden16.

Alle seine Romane und viele seiner Interviewstatements vermitteln Khiders Entschlossenheit dahingehend, die gegenwärtige Realität des despotischen, irakischen Regimes sichtbar zu machen. Khiders „Rückkehr zur Realität“17 der Diktatur Saddam Husseins ist allerdings keine bloße Wiedergabe derselben, sondern vielmehr „ein ironischer Realismus“18, wie Moritz Schramm dies beschreibt. Khider entwickelt einen Realismus der Lächerlichkeit über ein Zeitalter voller Unterdrückung.

Im Zuge einer intensiven Auseinandersetzung mit der Diktatur im Irak in Khiders Werken wird deutlich, dass Khiders Figuren auch auf der Flucht und im Exil weiterhin Gefangene bleiben – in diesem Fall Gefangene des Diktatur-Traumas. Obwohl die Erfahrung der Repression und der Gefangenschaft für die Protagonisten zu einem Teil ihrer Vergangenheit geworden ist, kann diese Erfahrung nie endgültig überwunden und verbalisiert werden. Meine Bearbeitung dieser Thematik eröffnet daher neue Perspektiven auf offene Fragen innerhalb dieses Problemfelds, bspw. inwiefern Khiders Figuren (nicht) imstande sind, sich sinngemäß von den Fesseln der Diktatur zu befreien. Sie bleiben bis zum Ende der jeweiligen Erzählung psychisch labil, entweder durch das Trauma der Erinnerung, wie im Roman Der Falsche Inder, durch die Erfahrung der Folter und der Haft wie in Die Orangen des Präsidenten oder durch das Schreiben selbst, wie im Roman Brief in die Auberginenrepublik, in dessen Mittelteil Salim Al-Kateb einen Brief verfasst und darin eine Facette eines unfreien Ortes zutage treten lässt, „an dem die Sonne im Osten untergeht und im Westen aufgeht“(DFI, S. 64).

Die vorliegende Arbeit möchte die Frage nach der Darstellung der Khakismus-Diktatur und deren Wirkungsweise in Khiders Prosawerken beantworten:

Wie also stellt Khider in seinen Prosawerken die Khakismus-Diktatur und deren Wirkungsweise dar? Dahingehend wird ebenfalls eine Rolle spielen, wie sich diese Wirkungsweise in der Erzählstruktur niederschlägt. Ein besonderes Augenmerk soll auf der narrativen Verarbeitung von Schmerz- und Gewalterfahrungen und den damit verbundenen Aspekten wie Flucht, Identität, Schreiben, Frauen, Folter und Gefängnis liegen.

Khider verleiht seinen Figuren die Rollen des erzählenden Ichs und des erlebenden Ichs. Er wählt damit das Mittel der „zweipoligen Ich-ich-Struktur“19. Ein zutiefst menschliches Leiden unter Diktatur, Gefängnis, Folter und Flucht wird durch die Augen von Ich-Erzählern nachvollzogen. Die Flucht, die das Schicksal der Protagonisten bestimmt, kann als Inbegriff der Instabilität und der örtlichen Entfremdung der Figuren verstanden werden. In diesem Zusammenhang bilden Studien zur Lokalität und Lokalisierung des Menschlichen wie Wilhelmers Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit von Marc Augé sowie Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika von Ottmar Ette einen theoretischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Khiders Werken in dieser Arbeit. Im Rahmen der instabilen Identität werden psychologische, soziologische und philosophische Ansätze einbezogen, um der Wirkung einer Identitätskrise auf die Figuren differenziert und von verschiedenen Perspektiven aus nachzugehen. Schreiben stellt für sich ein wesentliches Motiv in Khiders Werken dar. Die Figuren nutzen das Schreiben als Mittel, um das Trauma der Verfolgung zu bewältigen. Khider wählt die deutsche Sprache für seine Werke, denn das Arabische bleibt für ihn letztendlich unterbewusst eine Sprache der Zensur:

Früher schrieb ich auf Arabisch und hatte das Gefühl, eine neue Sprache finden zu müssen, eine schöne Sprache, gegen all die Hässlichkeit. Im Irak waren Zeitungen und Bücher voll mit Worten wie „Tod“, „Krieg“ und „Märtyrer“, und ich wollte dagegen Worte wie „Mensch“ und „Leben“ stellen. Anfangs in Deutschland waren da zwei Menschen in mir, ein arabischer Abbas und ein deutscher Abbas. Der eine wollte in Arabisch und der andere in Deutsch denken, und beide haben mich geärgert. Und weil ich kein arabischer Diktator bin, habe ich die beiden in Ruhe gelassen und beobachtet. […]In der fremden Sprache wird es möglich, über alles zu reden. Ich kann über mehr Dinge offener sprechen auf Deutsch. Man kann sagen, dass die Selbstzensur der Kultur wegfällt mit der neuen Sprache. In der eigenen Sprache stecken Gebote und Verbote, die in einer fremden Sprache nicht existieren. […] Ich kann über alles schreiben, es gibt, wenn ich auf Deutsch schreibe, keine Grenzen. Ich habe überhaupt keine Angst, wenn ich auf Deutsch schreibe. Das ist mit dem Arabischen ganz anders20.

Anhand der Rahmenerzählung ebenso wie der Binnengeschichte im Debütroman Der falsche Inder wird bei näherer Betrachtung offensichtlich, dass in dem Werk ebenfalls die zwei prägenden Sprachen Khiders behandelt werden–das Arabische und das Deutsche. Der Ich-Erzähler in der Rahmenerzählung berichtet:

Außen in schnörkeliger Handschrift auf Arabisch: „Erinnerungen“. Mein Platznachbar ist wahrscheinlich kurz auf der Toilette oder im Bordrestaurant. Bestimmt kommt er bald wieder zurück. Ich freue mich schon auf einen arabischen Gesprächspartner. Unter Umständen sogar einen Poet, oder zumindest jemand, der sich fürs Lesen und Schreiben interessiert (DFI, S. 9).

Der Sprachwechsel zwischen dem arabischen Manuskript und der auf Deutsch erzählten Geschichte ist ein Hinweis auf den Versuch, das Erinnerungstrauma auf Distanz zu halten. In diesem Kontext bilden der Beitrag Brigitta Buschs… und Ihre Sprache? Über die Schwierigkeiten, eine scheinbar einfache Frage zu beantworten, ihre Monographie zum Thema Mehrsprachigkeit sowie der von Brigitta und Thomas Busch veröffentlichte Sammelband Mitten durch meine Zunge, in dem offengelegt wird, dass das Verfassen eines Textes in einer fremden Sprache eine Form der Distanzierung und Bearbeitung von Erinnerungstraumata darstellen kann, einen wichtigen theoretischen Rahmen.

Bezüglich der Frage nach dem arabischen Frauenbild im Spannungsfeld der Khaki-Diktatur können Vera und Ansgar Nünning in Erzähltextanalyse und Gender Studies herangezogen werden. Anhand der Frauenfiguren wird in Khiders Romanen thematisiert, wie die Diktatur im Privaten herrscht. Unter dem Einfluss der patriarchalischen Gesellschaft und der militärischen Diktatur wird die weibliche Figur im Verhältnis zum männlichen Subjekt als ‚anderes Geschlecht‘ und als Objekt– wie Simon de Beauvoir21 die Position der Frau zum Männlichen zum Ausdruck bringt –bezeichnet.

Inhaftierung und Folter spielen bei Khider eine wesentliche Rolle; Die Folter in der Literatur: Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis „nach Auschwitz“ von Sven Kramer, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses von Michel Foucault, Komik und Gewalt: zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah von Anne Peiter und der Text von Abbas Khider Switzerland: Kingdom beyond the Sun22 bieten Ansätze für die Auseinandersetzung und die Betrachtung jener Szenen mit direktem Bezug zu Haft und Folter.

Um die genannten Fragestellungen hinreichend analysieren und diskutieren zu können, ist die Arbeit in sieben Teile gegliedert:

Der erste Teil umfasst eine Untersuchung der Diktatur in der arabischen Welt und vor allem der Khakismus-Diktatur, die Abbas Khider als „[i]ntellektuelle[s] Verbrechen im Irak“23 bezeichnet.

Im zweiten Teil soll, die Relativität der Begrifflichkeiten Autobiographie und Autofiktion berücksichtigend, die Frage erörtert werden, inwiefern hinsichtlich Khiders Literatur entweder von einer Autobiographie oder von einer Autofiktion die Rede sein könnte, resp. inwiefern sich autobiographische oder autofiktionale Aspekte auf der Textebene manifestieren. Zur Klärung dieser Frage soll die Autobiographie in Abgrenzung zur Autofiktion untersucht werden. Die Intention eines autofiktionalen Schreibens wird durch folgende Stellungnahme des Autors nahegelegt: „Wenn die Leute über meine Bücher reden, reden sie häufig nur über meine Autobiographie. Doch selbst das, was mich daraus vielleicht zum Schreiben inspiriert hat, verfremdet sich im Text“24.

In einem Interview erläutert Khider die Praxis der Verfremdung seiner autobiographischen Erfahrungen, worin sich umfangreiche Parallelen zwischen seiner Biographie und denen der Hauptfiguren seiner Werke auftun und daher eine Art von Autofiktion darstellt:

Das Sich-im Bild-des-Anderen-Wiederfinden, die Bedeutung der Namen und das Verhältnis von Namen und Identität werden wiederum im Roman auf vielfältige Weise thematisiert. Die Referenz auf die Wirklichkeit – der Einbezug nicht- fiktiver Personen, Situationen, Orte, Gegenstände –erweist sich in diesem Roman als Mittel zur Erzeugung eines autofiktionalen Raums, in dem sich der Autor als halbwahre Existenz zwischen Literatur und Wirklichkeit ansiedelt25.

Vor dem historischen Hintergrund ist von zentralem Interesse zu analysieren, inwieweit sich die Gewaltherrschaft, die der Autor selbst erlebt hat, auf sein Schreiben auswirkt. Es wird daher die vorläufige These aufgestellt, dass die Autofiktion seiner Werke eine Vielzahl von Aspekten aufweist, die unmittelbar mit seinen Unterdrückungserfahrungen in Verbindung gebracht werden können. Die Autofiktion in Khiders Romanen dient dazu, das Faktische durch die Konstruktion des Fiktionalen zu gestalten und eine Positionierung dazu zu ermöglichen. Der dritte Teil der Arbeit bezieht sich auf die Flucht vor dem Regime, dessen Härte Khiders Protagonisten dazu zwingt, als Geflüchtete einem von Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt zerstörten Land den Rücken zu kehren. Khiders Romane zeigen damit einerseits Individuen, die dem Regime zum Opfer fallen, andererseits aber auch Menschen, die versuchen, trotz Überwachung und Verfolgung zu überleben. Der Autor erschafft Figuren, die die Unterdrückung durch das System erfahren haben und gegen dieses zu kämpfen versuchen. Auch wenn sie wiederholt auf Hindernisse stoßen, unternehmen sie zumindest den Versuch, die Lebenswelt der Diktatur zu erschüttern. Die khiderschen Figuren befinden sich in einem Zwischenraum; sie sind zwischen der Diktatur und deren weiterer Einflusssphäre gefangen. Dieses ‚Dazwischen‘, dieser Übergang, hat dabei sowohl die Bedeutung einer Transformation zum Streben nach Freiheit als auch die einer Grenzüberschreitung, etwa zwischen der Khaki-Diktatur im Irak und der ‚neuen Welt‘ in Europa. Karim Mensy in Ohrfeige fasst seine Situation und gleichsam die aller Figuren in Khiders Romanen treffend zusammen: „Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf?“ (O, S. 19) Khiders Figuren sind Figuren des Zwischenziels und des Dazwischen26. Dieser Zustand erweist sich als ein ständiger Versuch, das irakische Unrechtsregime künstlerisch in Worte zu fassen und bestimmt ununterbrochen ihr Schicksal.

Allerdings befinden sich die Figuren nicht nur in einem ‚Dazwischen‘, sondern auch ihre Geschichten werden zwischen Räumen und Grenzen erzählt. Das Manuskript im Roman Der falsche Inder, das zufällig in einem Zug gefunden wird, spiegelt die Instabilität und die Positionslosigkeit der Geschichte von Rasul Hamid wider, der sich zwischen verschiedenen Zeiten und Räumen bewegt. Mahdi Hamama in Die Orangen des Präsidenten befindet sich an der irakisch-kuwaitischen Grenze, als er einen Stift nimmt und seine Geschichte von Inhaftierung, Folter und Taubenzucht niederzuschreiben beginnt: „[…][Ich] sitze in einer anderen Art von Gefängnis ein: ein Flüchtlingslager an der irakisch-kuwaitischen Grenze, im Herzen der Wüste. […] Das Beste wird sein, mir ein Heft und einen Stift zu besorgen und in die Vergangenheit zurückzukehren“ (DODP, S. 7f.). Im Roman Brief in die Auberginenrepublik schreibt Karim Al-Kateb einen Brief, den er illegal zu seiner Geliebten im Irak senden wird. Durch die Bewegung des Briefs innerhalb verschiedener und über verschiedene Räume von Nordafrika bis nach Asien hinweg werden Geschichten von Menschen erzählt, die ihr instabiles und orientierungsloses Leben ihrerseits wiedergeben.

Der vierte Teil der Arbeit widmet sich der Identitätskrise und dem Trauma der Unterdrückung, die ihren jeweiligen Ausdruck in Erfahrungen, Rückblenden und Erinnerungen des Ich-Erzählers finden.

Im fünften Teil der Arbeit wird die Funktion des Schreibens als eine Art der Selbsttherapie und Selbsthilfe mit Fokus auf dem Verhältnis von Diktaturerfahrung und Schreiben thematisiert. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die politische Unterdrückung auf die Form des Schreibens auswirkt und wie sich das Schreiben kritisch konstituiert. Im sechsten Teil der Arbeit wird die irakische Frau als Witwe, Prostituierte, unterdrückte Ehefrau und Denkerin in den Mittelpunkt gestellt. In Folge der Herrschaft Saddam Husseins und seiner Kriege gegen die Nachbarländer wurden viele irakische Frauen zu Witwen und leben fortan ohne männliche Unterstützung. Obwohl die weiblichen Figuren jeweils Nebenrollen spielen, sind sie für die Ich-Erzähler auch eine Ermunterung, mittels derer sie ihren durch die Diktatur geprägten Alltag zu überwinden vermögen. Die Frauen stellen außerdem Trägerinnen der Kritik innerhalb einer männlich dominierten diktatorischen Gesellschaft dar. Von besonderem Interesse wird sein, zu zeigen, wie die Frau einen Wandlungsprozess im Widerstand gegen die bestehende diktatorische Institution durchläuft.

Teil sieben der vorliegenden Arbeit geht auf das Thema des Gefängnisses und der Folter ein. Der Folter kommt in den irakischen Gefängnissen eine wesentliche Bedeutung zu. In den Folterpassagen herrscht in diesem Sinne die Sprache des Schmerzes. Die Thematisierung des Körpers unter der Folter ist ein geeignetes Feld, um die Banalität der Folterer darzustellen und ein ironisches Bild der Wärter zu zeichnen. Die Folterszenen eignen sich mithin, um unverstellte Kritik an dem gesamten System zu üben.

In seinen Werken erschafft der irakisch-deutsche Autor eine innovative Erzählstrategie, um die Khakismus-Diktaturerfahrung zu verarbeiten und „mit seiner verknappten Sprachhaltung eine neue Öffnung zur politischen und gesellschaftlichen Realität des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts [vorzulegen]“27.

1 Der Begriff des autokratischen Regimes und seine Bedeutung

Im Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft argumentiert Hans-Joachim Lauth, dass Diktatur und Demokratie beide als politische Herrschaftsformen und Regime angesehen werden müssten28. Sowohl die Demokratie als auch die Diktatur charakterisiert das Gewaltmonopol, das für die Konstituierung einer Regierung notwendig ist.

Politikwissenschaftler*innen wie Juan Linz (1926–2013) bevorzugen den Begriff der Autokratie gegenüber dem der Diktatur. Lauth seinerseits adaptiert in seinem Beitrag eine These von Juan Linz, wonach die Diktatur eine „spezifisch[e] Fassung ist, [die] lediglich auf Krisen-Regierung und kürzere Phasen begrenzt ist, in denen eine Beschneidung von Bürgerrechten aufgrund eines Notstandes erfolgt“29. Lauth differenziert den Autokratiebegriff weiterhin in autoritäre und totalitäre Regime aus. Andere Politikwissenschaftler*innen, etwa Jürgen Hartmann, sind der Auffassung, dass es sich bei den Begrifflichkeiten Diktatur, autoritäres Regime sowie Autokratie um Synonyme handelt; um „[…] technische Begriffe, mit denen sich einigermaßen neutral umgehen lässt“30:

Der Begriff [Autokratie] konkurriert mit eingeführten Bezeichnungen von gleicher Bedeutung wie der Diktatur und dem autoritären Regime. Im Folgenden wird denn auch von der Diktatur oder vom autoritären Regime die Rede sein, wenn Autoren mit dem Begriff der Autokratie nicht ausdrücklich so hantieren, als ob es sich dabei um etwas anderes handelte. So viel schon vorweg. Selbst dort, wo vom alten, zu unvermutet neuer Blüte gelangten Wort der Autokratie die Rede ist, wechseln die Autoren häufig und ohne Übergang in Diktatur und Autoritarismus31.

Innerhalb dieser Arbeit werden die historischen Begrifflichkeiten totalitäres und autoritäres Regime genutzt, die als Diktaturen verstanden werden. Somit werden auch die Begriffe Diktatur sowie diktatorisches Regime mit Totalitarismus oder Autoritarismus geleichgesetzt.

Details

Seiten
256
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631917541
ISBN (ePUB)
9783631917558
ISBN (Hardcover)
9783631917534
DOI
10.3726/b21760
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juli)
Schlagworte
Irakische Khakismus-Diktatur Nicht-Orte als Fluchträume Die erschütterte Identität „Das Schreiben ist gefährdet und gefährlich“ Trauma das irakische Frauenbild unter der Khakismus-Diktatur Verhaftung und Folter das Orangen-Motiv das Tauben-Motiv
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024., 256 S.

Biographische Angaben

Imen Taleb (Autor:in)

Imen Taleb ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Das Studium hat sie an der Leuphana Universität Lüneburg absolviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diktatur und Literatur, Folter und Gefängniserfahrungen sowie Gender-Thematiken. Sie verfügt über eine sechsjährige Erfahrung im Unterrichten und war Dozentin an der Université de la Manouba in Tunesien.

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Titel: Die Khakismus-Diktatur in den Werken des irakisch-deutschen Schriftstellers Abbas Khider