Die Zirkulation der „Avvenimenti tragici et esemplari di delitti puniti in Roma“ als Beispiel für die Vernetzung handschriftlicher Texte
Eine Edition von Mscr. Dresd. F.186
Zusammenfassung
Erzählungen über Verurteilungen von Häretikern, skandalöse und korrupte Kleriker, Vater- und Muttermörder, Geschichten über Blut und Rache in Adelskreisen begannen sich in Rom bereits ab dem Cinquecento zu verbreiten und zirkulierten in etlichen Miszellanhandschriften in ganz Italien und später auch Europa. Eines dieser Manuskripte, Mscr.Dresd.F.186, findet sich als Stellvertreter der italianità sommersa Dresdens in der Handschriftensammlung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB). Der Autor untersucht dieses einzigartige Artefakt besonders in diachronischer und diatopischer Hinsicht auf seine individuellen sprachlichen Charakteristika und präsentiert neue Erkenntnisse über die Autoren der einzelnen Texte. Er arbeitet die Verortung des Codex im gesamten Textnetzwerk durch textkritische Analysen mittels einer Teilkollationierung heraus und legt erstmalig eine Edition des Dresdner Textzeugen vor.
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Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Hintergrund
- 1.2 Kontextualisierung von Mscr.Dresd.F.186 innerhalb der Sammlung der Codices Italici der SLUB
- 1.3 Kodikologische Beschreibung von Mscr.Dresd.F.186
- 1.4 Thematische Ausgangslage – Die delitti puniti
- 1.5 Die bekannten Autoren von Mscr.Dresd.F.186
- 1.5.1 Giuseppe Biondi
- 1.5.2 Giovanni Battista Rinalducci
- 1.5.3 Gregorio Leti
- 1.5.4 Römische Inquisition
- 1.5.5 Petronilla Paolini Massimi
- 1.6 Die künstlerische Verarbeitung der Themen und Texte des Manuskripts
- 1.7 Die Verbreitung der Textzeugen von Mscr.Dresd.F.186
- 1.7.1 Multa scripta currunt
- 1.7.2 Schaulust im Textformat
- 1.7.3 Textzirkulation
- 1.7.4 Rolle der Kirche
- 1.7.5 Methodische Schlussfolgerungen
- 1.8 Textuelle Abhängigkeitsverhältnisse in theoretischer Hinsicht
- 1.8.1 Varianz als Strukturmerkmal handschriftlicher mittelalterlicher Texte
- 1.8.2 Theoretische Betrachtungen zur Analyse sprachlicher Netzwerke
- 2 Linguistische Beschreibung
- 2.1 Vorbemerkungen zur linguistischen Untersuchung
- 2.2 Graphematik
- 2.2.1 Interpunktion
- 2.2.2 Groß- und Kleinschreibung
- 2.2.3 Etymologische Schreibungen
- 2.2.4 Diakritische Zeichen
- 2.2.5 Gemination und Degemination
- 2.2.6 Einzelphänomene
- 2.2.7 Historisch-linguistische Einordnung der graphematischen Auffälligkeiten
- 2.2.7.1 Zeitgemäße Orthographie des Seicento
- 2.2.7.2 Archaisierende Tendenzen
- 2.3 Phonetik
- 2.3.1 Vokalismus
- 2.3.1.1 Diphthongierung
- 2.3.1.2 Vortoniges [e]/[ɛ] in der Anlautsilbe
- 2.3.1.3 [o] und [e] vor palataler Konsonanz
- 2.3.1.4 [ar] vs. [er]
- 2.3.2 Intervokalische Konsonanten
- 2.3.2.1 Ausgänge von innervokalischen lateinischem [ks]
- 2.3.2.2 Schwund von intervokalischem [v]
- 2.3.2.3 [k], [t] vs. [g], [d]
- 2.3.3 Konsonantenverbindungen
- 2.3.3.1 Die Verbindung [rj]
- 2.3.3.2 Ausgang des lateinischen Nexus [dj]
- 2.3.3.3 Die Verbindungen [ls], [ns], [rs]
- 2.3.3.4 Assimilation
- 2.3.4 Gemination und Degemination
- 2.3.5 Einzelphänomene
- 2.3.6 Historisch-linguistische Einordnung der phonetischen Auffälligkeiten
- 2.4 Morphologie
- 2.4.1 Verbalflexion
- 2.4.2 Pronomina
- 2.4.2.1 Personalpronomina
- 2.4.2.2 Demonstrativpronomina
- 2.4.2.3 Indefinitpronomina
- 2.4.3 Bestimmter Artikel
- 2.4.4 Numerale
- 2.4.5 Historisch-linguistische Einordnung der morphologischen Auffälligkeiten
- 2.5 Lexik und Stilistik
- 2.5.1 Lexik und Stil mit kirchlichem Bezug
- 2.5.1.1 Der Dualismus „peccato“ und „penitenza“
- 2.5.1.2 Lexik und Stil der Texte zur Ketzerei
- 2.5.1.3 Kirchliche Ämter und Institutionen
- 2.5.2 Lexik mit Bezug zu Mord, Hinrichtung und Tod
- 2.5.3 Lexik und Stil mit Bezug zur Justiz und Administration
- 2.5.4 Historisch-linguistische Einordung der lexikalisch-stilistischen Auffälligkeiten
- 3 Textkritische Untersuchungen
- 3.1 Beschreibung der für die Kollationierung genutzten Textzeugen
- 3.1.1 Ms.ital.qu.34
- 3.1.2 Urb.lat.1737
- 3.1.3 Mscr.Dresd.F.45
- 3.1.4 UPenn Ms. Codex 586
- 3.1.5 italien 172
- 3.1.6 Verteilung der Texte aus Mscr.Dresd.F.186 in verschiedenen Sammelhandschriften
- 3.2 Netzwerkanalyse der Textzeugen um Mscr.Dresd.F.186
- 3.2.1 Vorbemerkungen
- 3.2.2 Linguistische Varianten
- 3.2.2.1 Graphematik
- 3.2.2.2 Phonetik
- 3.2.2.3 Morphologie
- 3.2.2.4 Lexik und Stil
- 3.2.3 Varianten inhaltlich-formaler Art
- 3.2.3.1 Tilgungen und Ergänzungen
- 3.2.3.2 Umstellungen und Transpositionen
- 3.2.3.3 Vollkommen abweichende Textelemente
- 3.2.3.4 Wechselseitige Bezüge zwischen Texten
- 3.2.4 Einordnung in den theoretischen Kontext
- 3.3 Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Textzeugen
- 3.3.1 Vorbemerkungen
- 3.3.1.1 Theoretische Überlegungen
- 3.3.1.2 Überlegungen pragmatischer Natur
- 3.3.2 Hauptüberlieferungslinien
- 3.4 Ermittlung weiterer Autoren von Mscr.Dresd.F.186
- 3.4.1 Bonsignore Cacciaguerra
- 3.4.2 Giovanni Domenico Missori
- 3.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
- 4 Zusammenfassung und Ausblick
- 5 Bibliographie
- Tabellenverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
- Anhang – Übersicht über die Textzeugen von Mscr.Dresd.F.186
1 Einleitung
1.1 Hintergrund
Firenze sull’Elba, „Elbflorenz“ oder „Florenz des Nordens“ – der Ursprung all dieser Epitheta für die sächsische Landeshauptstadt Dresden reicht zurück bis ins Jahr 1577, als Giovanni Delfino, der Bischof von Torcello, die kurfürstliche Residenz bei seinem Nuntiaturbesuch bereits als „altera florentia“ bezeichnete.1 Dabei ist diese Beschreibung nicht nur auf die äußerlich ähnlich anmutende Stadtansicht zurückzuführen, wie sie schon 1570 in einer Zeichnung Gabriele de Tolas zu sehen ist,2 sondern hat ihre Wurzeln auch im kulturellen Austausch zwischen Sachsen und Italien.
Es war zunächst Moritz von Sachsen, Gegenspieler Karls V., der 1547 im Rahmen seines Konzepts der monarchia universalis und im Zuge seiner Ernennung zum Kurfürsten damit begann, diplomatische Kontakte mit den italienischen Höfen zu pflegen. So brachte er von einer kurzen Reise mit Zwischenstationen in Ferrara, Venedig, Mantua und Mailand mehrere Künstler3 in seinem Gefolge mit sich, die gleichsam auf dem Gebiet der Musik, Malerei, Mode und Architektur bewandert waren und u.a. dem Dresdner Schloss einen typisch italienischen Stil verliehen.4 Sein jüngerer Bruder und Nachfolger August gründete 1560 die Kunstkammer und engagierte 1575 den Künstler Giovanni Maria Nosseni, der die Dresdner Sammlungen in florentinisch-mediceischer Manier prägte.5 Augusts Sohn Christian I. wurde schon früh in der italienischen Sprache unterrichtet und hatte enge Kontakte zu den Medici, was sich durch viele Geschenke dieser Dynastie für die Dresdner Kunstkammer zeigte, die heute noch im Grünen Gewölbe,6 in der Skulpturensammlung7 und der Porzellansammlung8 der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen sind.9 Noch deutlicher manifestiert sich die italienische Präsenz jedoch vor allem auf künstlerischem Gebiet im Dresden des 18. Jahrhunderts. Man denke nur an die Gemäldegalerie Alte Meister, die 1746 im Rahmen des sogenannten Modeneser Bilderverkaufs, einem Handel zwischen dem Dresdner Regenten August III. und Francesco III d’Este, um einhundert Werke der Galleria Estense bereichert wurde, darunter u.a. Coreggios Heilige Nacht.10 Derselbe italophile Fürst holte Bernardo Bellotto, auch Canaletto genannt, nach Dresden, welcher die Silhouette des „Elbflorenz“ in einem bekannten Gemälde festhielt.11
1754 veranlasste er auch den Erwerb der berühmten Sixtinischen Madonna von Raphael, welche auch gegenwärtig noch zur hohen kunstgeschichtlichen Bedeutung der Galerie beiträgt.12
Weiterhin ist in dieser Zeit ein italienischer Einfluss in der Architektur der Residenzstadt zu verzeichnen: Die katholische Hofkirche wurde von Gaetano Chiaveri, einem Römer, errichtet und gilt immer noch als Sinnbild für den Dresdner Barock. In seinem Gefolge führte der Baumeister italienische Handwerker, Künstler und Bildhauer, die sich auf dem Bauplatz vor der Kirche niederließen, weshalb dieser Ort bald „Italienisches Dörfchen“ genannt wurde. Diese Bezeichnung spiegelt sich auch heute noch im Namen eines nahegelegenen italienischen Restaurants wider.13
Neben diesen öffentlich sichtbaren Erscheinungen eines italienischen Kulturtransfers gibt es jedoch auch eine italianità sommersa, Spuren italienischer Präsenz in Dresden, die im Laufe der Zeit verloren gegangen sind und die es wiederzuentdecken gilt. Dazu gehört u.a. ein Bestand italienischsprachiger Manuskripte, welche früher in den kurfürstlichen Bibliotheken sowie den Sammlungen hochrangiger Adliger gesammelt wurden und nunmehr in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) aufbewahrt werden.
Nachdem bereits zu Beginn der 2000er die Dresdner italianità vor allem vor einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund näher beschrieben wurde, z.B. die Verbindungen der sächsischen Hauptstadt zu italienischen Städten und Fürstentümern wie Ferrara und Venedig, der kulturelle Import italienischer Musik und des Musiktheaters sowie von Kunst (Gemälde/Bildhauerei) am Dresdner Hof etc.,14 wurde in den letzten Jahren auch die Erforschung des Bestandes der italienischsprachigen Manuskripte der SLUB massiv vorangetrieben.
Die wissenschaftliche Analyse der Sammlung basiert dabei auf mehreren Säulen. In den letzten Jahren fanden am Institut für Romanistik der TU Dresden unter der Leitung von Maria Lieber Seminare zur Editionsphilologie statt, in denen exemplarisch Handschriften der SLUB untersucht werden. Auch im Rahmen von Workshops in der Bibliothek und Angeboten der Summer School arbeiteten Studenten, Examenskandidaten und Doktoranden 2014 an der Transkription und Edition von Texten der SLUB und konnten so bereits den Charakter des Korpus als heterogene fürstliche Sammlung herausstellen.15
Aus diesem universitären Kontext heraus sind bereits einige Qualifikationsarbeiten und Dissertationen entstanden, welche sich v.a. mit einzelnen herausragenden Manuskripten beschäftigen.16 Eine der untersuchten Handschriften stellt exemplarisch das 1579 entstandene Mscr.Dresd.J.448 dar, die Regolette et precetti della grammatica volgare von Sigismund Kohlreuter. Dieses Werk wurde für den Kurfürsten Christian I. (1560–1591) aus dem Hause Wettin geschrieben und gilt als erste italienische Grammatik, die in Deutschland verfasst wurde. Katharina Plein hat dabei vor allem die von Kohlreuter beschriebenen Eigenheiten im Bereich der Graphematik beschrieben.17 Josephine Klingebeil hat eine analytische Edition des Mscr.Dresd.Ob.47 (1438–1463/4) vorgelegt, einer Übersetzung der Historiae Alexandri Magni des Quintus Curtius Rufus durch den Italiener Lodrisio Crivelli, und damit einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der humanistischen Manuskripte der SLUB geleistet.18 Viele andere solcher Forschungsvorhaben laufen aktuell noch bzw. befinden sich in Vorbereitung.19
Weitere Einzelstudien widmen sich vor allem größeren Themenkomplexen, die die Sammlung der italienischsprachigen Handschriften in ihrer Gesamtheit betreffen. Dabei handelt es sich meist um die Erforschung der Provenienz sowie die kodikologische Beschreibung der Schriften, wie sie exemplarisch Lieber, Klingebeil und Pedron für die humanistischen Manuskripte mit der Signatur „Ob“ initiiert haben, die von einem Gelehrten aus Bologna namens Gabriello Brunelli geliefert wurden.20 Des Weiteren fand vom 07. bis 09. November 2018 die Tagung Die italienischsprachigen Handschriften der SLUB Dresden – Neue Perspektiven der Forschung in der Bibliothek statt, deren Ergebnisse in einer gleichnamigen digitalen Veröffentlichung herausgegeben wurden.21 Bei den Beiträgen handelt es sich – neben Liebers und Mayers kulturwissenschaftlich angesetzter Kontextualisierung der Dresdner Codices in der Hofkultur – hauptsächlich um Untersuchungen besonders prestigeträchtiger Autoren und seltener Codices des (späten) Mittelalters. Allein drei Aufsätze von Eef Overgaauw, Adriana Paolini und Umberto Dassi widmen sich Dante, von dem eine Handschrift der Divina Commedia (Mscr.Dresd.Ob.25/um 1372/2. Hälfte des 15. Jh.) in der Bibliothek aufbewahrt wird und von dem weitere Terzinen in Mscr.Dresd.Dc.152 (1400–1500) enthalten sind. Fabio Forner beschäftigte sich hingegen mit der Petrarca-Rezeption in Dresden von den Manuskripten bis zur Drucklegung. Auch ein Großteil der weiteren analysierten Manuskripte hat seine Wurzeln vor 1500, z.B. die von Michele Coscia untersuchte Leggenda di sant’Antonio abate (Mscr.Dresd.Ob.6/15. Jh.) und die Handschrift Della falconeria e ricette (Mscr.Dresd.Ob.21/15.Jh.), die Marica di Pietro studiert hat. Einen größeren zeitlichen Sprung zum Ende des 16.Jh. bis ins 18. Jh. machen die Autoren der letzten vier Aufsätze, z.B. befasst sich Fabio Marri mit Lyriksammlungen zwischen dem Sei- und Settecento. Die Aufsätze haben thematisch gesehen meistens einen kodikologischen, teilweise aber auch einen eher linguistischen Schwerpunkt.22
Von 2015 bis Mitte 2021 wurden die Codices Italici in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zur Erschließung und Digitalisierung von Handschriften in italienischer Sprache der SLUB schließlich neu inventarisiert und in der Datenbank Manuscripta Mediaevalia katalogisiert. Durch die Aufarbeitung der Manuskripte in elektronischer Form wurde für die Forschung ein ungehinderter Zugang geschaffen, bei dem die Originale vor zu starker Beanspruchung bewahrt werden können.23 Zudem konnte gleichzeitig eine neue Ordnung in die unzureichende Katalogsituation gebracht werden, da z.B. die Angaben zur Provenienz und Geschichte der Handschriften nicht mehr dem heutigen Forschungsstand entsprachen und ferner auch die Inhalte einiger Manuskripte noch völlig unbekannt waren. Plein und Schürer schreiben in diesem Zusammenhang:
Das Projekt zur Erschließung und Digitalisierung der italienischsprachigen Handschriften der SLUB kann mit der Perspektive arbeiten, dass das von ihm generierte Wissen vonseiten der literatur- und sprachwissenschaftlichen Forschung auf verschiedenste Art und Weise genutzt, weitergeführt und vertieft werden wird.24
Genau an dieser Stelle soll die vorliegende Arbeit ansetzen: Für die Sammelhandschrift Mscr.Dresd.F.186 mit dem Titel Avvenimenti tragici et esemplari di delitti puniti in Roma liegt bisher lediglich die formale kodikologische Beschreibung des DFG-Projekts vor, ansonsten ist der Codex für die Manuskriptforschung noch nahezu unbekannt.
Allgemein gesagt, handelt es sich bei Mscr.Dresd.F.186 um eine Miszellanhandschrift, die in einem Zeitraum vom Ende des 17. bis zur ersten Hälfte des 18. Jh. entstanden ist25 und in der größtenteils verschiedene, besonders aufsehenerregende Verbrechen und Gerichtsprozesse aus Rom in literarischer Prosa nacherzählt werden. Das Themenspektrum der Delikte reicht dabei von Mord innerhalb der eigenen Familie über verbotene magische Rituale und weitere Häresien bis hin zur Urkundenfälschung.
Zur Verbreitung dieser Textgattung schreibt Visceglia:
Scritture intitolate Giustizie seguite in vari tempi o Avvenimenti tragici in Roma sotto diversi pontefici o Avvenimenti tragici et esemplari di delitti puniti in Roma o semplicemente Notizie diverse appartengono, come è noto, a una tipologia di testi normalmente presenti, in forma manoscritta, nelle maggiori biblioteche europee. Si tratta di raccolte compilate da autori anonimi […]: il loro interesse non nasce tanto o non soltanto dalle vicende narrate […] ma […] dall’ampiezza della loro diffusione.26
Allein aufgrund der recht ungewöhnlichen Textsorte, aber auch wegen der außergewöhnlichen Überlieferungssituation und der hohen Textzirkulation, welche gar zu einem gesamteuropäischen Kulturtransfer beiträgt, stellt das Manuskript in dem sehr heterogen angelegten und auf Raritäten bedachten Gesamtbestand der Italica der SLUB ein Kuriosum dar, das es wert ist, untersucht zu werden.
Ziel der vorliegenden Arbeit soll deshalb die editionsphilologische und eine damit einhergehende sprachwissenschaftliche Erschließung der Handschrift sein.
Voraussetzung für die Beschäftigung mit diesem Vorhaben ist zunächst eine allgemeine Beschreibung des Manuskripts, seiner Inhalte und der übergeordneten kulturellen Zusammenhänge. Besonders in den Blick genommen werden dazu die kodikologischen Eigenheiten von Mscr.Dresd.F.186, die Beschreibung der jeweiligen delitti puniti in den einzelnen Texten, die Darstellung der bekannten Autoren, die künstlerische Verarbeitung der Themen des Manuskripts sowie eine allgemeine Darlegung der Textüberlieferung im benannten Zeitraum in Verbindung mit einigen theoretischen und methodischen Überlegungen textkritischer Art.
Im Fokus soll dann jedoch alsbald die Beschreibung der sprachlichen Eigenheiten der Handschrift selbst stehen, da sie wiederum die Grundlage für nachfolgende Analysen im Hinblick auf die Textgenese bildet. Die linguistische Untersuchung soll dabei Einblick in den konkreten historischen Sprachzustand des Italienischen im Codex gewähren, zumal dies bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nie beschreiben worden ist. In eklektischer Manier sollen die der Handschrift eigenen, individuellen und besonders auffälligen sprachlichen Phänomene herausgearbeitet werden, um sie anschließend in ihrem Verhältnis zu den zeitgenössischen Normvorstellungen einzuordnen. Die zu untersuchenden Bereiche umfassen dabei Grafie, Phonetik, Morphologie und Lexik. Dabei spielen vor allem diachronische und diatopische Besonderheiten eine wichtige Rolle, weil daraus wiederum Rückschlüsse auf die Provenienz, aber auch auf das soziokulturelle Umfeld der Entstehung des Manuskripts gezogen werden können. Zudem hilft die linguistische Analyse vorbereitend, im Rahmen der Textkritik die Leitvarianten von bloßen sprachlichen Varianten zu unterscheiden.
Wie Visceglia erwähnt, sind die Texte aus Mscr.Dresd.F.186 sehr weit verbreitet, jedoch ist im Hinblick auf die einzelnen Erzählungen und Berichte wenig darüber bekannt, welche konkreten textkritischen Konsequenzen dies zur Folge hat. Die wenigen Angaben, die man dazu findet, dienen meist nur dem Überblick und sind eher allgemeiner Natur, so schreibt Corrado Ricci exemplarisch über den im Manuskript erscheinenden Fall der Familie Cenci:
Si trova in pubbliche biblioteche ed archivi ed anche presso privati un numero stragrande di copie o di parafrasi di una stessa relazione sulla morte dei Cenci: e l’esame da noi fatto, di una cinquantina di esse, ci ha rivelato, anche in quelle che non sono pertettamente uguali, una stessa derivazione, riscontrandovi gli stessi errori, spesso identiche frasi, identici periodi, e, talora, identiche pagine.27
Bertolotti schreibt zur selben Erzählung:
[…] delle molteplici cronache o relazioni sulla tragedia dei Cenci, le quali si trovano nelle pubbliche e private biblioteche, non una è di quel tempo; e sono tutte dello stesso stampo, con aggiunte o varianti, che vi furono fatte in seguito.28
Es bleibt dabei unklar, was im Detail mit „nicht perfekt gleichen“ Berichten, „denselben Fehlern“ und Sätzen, die „oft“ identisch sind, gemeint ist, bzw. welcher Natur „die im Nachhinein gemachten Varianten und Ergänzungen“ sind. Daher soll in der vorliegenden Veröffentlichung herausgestellt werden, auf welche Weise und über welche Mechanismen die Textzeugen der Avvenimenti tragici miteinander vernetzt sind, wobei Mscr.Dresd.F.186 dabei die Rolle einer Referenzhandschrift zukommt. Es gilt die Frage zu beantworten, welche Elemente die Textzeugen als zu einer Einheit gehörig ausweisen, was sie konkret voneinander trennt, d.h. wo sie voneinander abweichen und bis zu welchem Grad man überhaupt noch von demselben Text sprechen kann bzw. inwiefern man sie also noch demselben Ursprung zuordnen kann.
In der Tat entstehen aber gewisse Probleme bei der Beantwortung dieser Fragen, wenn man streng nach den klassischen Regeln der Textkritik vorgeht. Diese beginnen bereits bei den heuristischen Analysen, da es aufgrund der hohen Anzahl nur bedingt möglich ist, alle Textzeugen zu finden, und sie setzten sich fort bei der ekdotischen Kategorisierung und Einordnung der vorgefundenen Varianten sowie der damit verbundenen Erstellung der Stemmata codicum. Auch hier soll daher ein selektives Verfahren zur Anwendung kommen, indem nur ein Teil der Textzeugen kollationiert wird und genau auf die unübersichtliche Überlieferungssituation der Textzeugen um Mscr.Dresd.F.186 angepasste Kriterien zur recensio verwendet werden. Ziel ist dabei die Nachzeichnung der intratextuellen Prozesse zur Verbreitung der Texte und die Einordnung der Dresdner Handschrift innerhalb dieses Komplexes.
Im Rahmen der textkritischen Untersuchungen und mit der Zunahme der exakten Kenntnis über die verglichenen Textzeugen können ferner noch unbekannte Autoren der Texte der Sammelhandschrift ermittelt werden.
Mittels der benannten Analysen soll schließlich auch eine Edition der Sammelhandschrift mit einer teilweisen Kollationierung erstellt werden, die ihrerseits wiederum die Basis für die weitere fundierte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Inhalten dieses codex Italicus submersus darstellt. Dazu kommt außerdem, dass für den benannten Entstehungszeitraum bisher praktisch keine Codices des Korpus analysiert wurden, die in Prosa geschrieben sind.
Die Darstellung des Textes folgt dem Leithandschriftenprinzip, d.h. der konstituierte Text richtet sich grundsätzlich nach dem Wortlaut von Mscr.Dresd.F.186, alle editorischen Eingriffe hingegen werden gesondert im kritischen Apparat angemerkt.
Die Wahl dieser Methode ergibt sich einerseits aus der Orientierung am übergeordneten Ziel der Neuentdeckung der italianità sommersa in Sachsen, d.h. es soll der Text herausgegeben werden, der auch tatsächlich bei Hofe in Dresden gelesen wurde, zum anderen aus der Tatsache, dass alle Texte in ihrer Gesamtheit, Verbundenheit und Anordnung in dieser Form nur in der Dresdner Sammelhandschrift überliefert sind.
1.2 Kontextualisierung von Mscr.Dresd.F.186 innerhalb der Sammlung der Codices Italici der SLUB
Zur Klärung der Frage, wie italienische Handschriften bzw. exemplarisch Mscr.Dresd.F.186 nach Dresden und anschließend in die heutige Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek gelangten, soll zunächst ein kurzer historischer Abriss über die Entstehung der Sammlung italienischer Manuskripte in der sächsischen Landeshauptstadt einen Überblick verschaffen.
Die Ursprünge des Korpus italienischer Codices gehen bereits auf das 16. Jahrhundert zurück, als Kurfürst August von Sachsen (1526–1586), ein humanistisch gebildeter Souverän, zunächst personaliter Bücher, Kupferstiche, Karten u. Ä. sammelte und später systematisch erwerben ließ, sodass man ab 1556 von einer Bibliothek im eigentlichen Sinne sprechen kann.29 Bei Assmann ist diesbezüglich zu lesen: „Der Kurfürst berücksichtigte eben bei seinen Büchererwerbungen alles, was zu seiner Zeit das Erlesenste war, und nicht nur in deutscher, sondern auch in französischer und italienischer Sprache.“30 In einem Bibliothekskatalog von 1595 sind dabei die Regolette et precetti della grammatica volgare von Sigismund Kohlreuter (Mscr.Dresd.J.448) und Teile der Discorsi delle fortificazioni von Carlo Theti (Mscr.Dresd.Ob.14) verzeichnet, welche beide am Dresdner Hof entstanden sind.31
Generell ist für den Bestand des 16. Jahrhundert jedoch zu erwähnen, dass die Anzahl italienischer Manuskripte deutlich geringer ausfällt als zu späteren Zeiten. Lieber und Mayer schreiben dazu:
Das Korpus der SLUB besteht für den Renaissance-Humanismus aus 15 Handschriften, wobei eine sehr frühe Handschrift auf das Jahr 1346 zu datieren ist […], acht Manuskripte aus dem 15. Jahrhundert stammen […] und sieben Handschriften an die Schwelle des 16. Jahrhunderts reichen […]. Die zeitlich im Humanismus verorteten Manuskripte spiegeln die sich auf den neulateinischen Gattungen gründende italienische Literatur in der Umbruchphase der Schaffung der italienischen Nationalsprache vom 15. zum 16. Jahrhundert wider.32
Plein und Schürer erwähnen zudem, dass Kurfürst Christian I. zwar durch den Ankauf der Sammlung der Grafen von Werthern 1589 den Umfang der Bibliothek maßgeblich erweiterte, dass es sich bei den italienischen Handschriften jedoch nur „um Stücke italienischer Herkunft, nicht aber um solche in italienischer Sprache handelte“.33 Zu begründen ist die geringe Anzahl mitunter dadurch, dass Kurfürst August das Italienische nicht beherrschte.34 Die Vermittlung der Italienischen als Fremdsprache ist gemäß Reutner und Schwarze dabei zwar bereits ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Deutschland belegt, jedoch hauptsächlich auf den kaufmännischen Bereich beschränkt, bevor im 17. Jh. die Abfassung systematischer Wörterbücher, Grammatiken und Sprachlehrwerke zunimmt und im 18. Jh. u.a. eine intensivere Reisetätigkeit die Verbreitung italienischer Sprachkenntnisse fördert.35
Im 17. Jh. ebbte die Erweiterung der Manuskriptbestände durch den Dreißigjährigen Krieg und die damit verbundene Pest und Teuerung etwas ab, im 18. Jh. erlebt die Fürstenbibliothek jedoch ein „goldenes Zeitalter“.36 Zu verdanken ist dies vor allem August dem Starken (in Personalunion gleichzeitig Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen und König von Polen als August II.) sowie dessen Sohn Friedrich August II. (als König von Polen August III.). Ersterer hatte bereits Italienischunterricht unter dem Musiker Christoph Bernhard erhalten und sehr viele italienische Musiker, Handwerker, Architekten und Künstler an den Dresdner Hof geholt, die er zwar 1694 aufgrund seiner Präferenz für die französische Kultur und Sprache größtenteils wieder entließ, jedoch später auf Drängen seines Sohnes 1716 wieder einstellte.37 Durch die Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus 1697 kamen außerdem viele Jesuiten aus Italien an den Dresdner Hof u.a. Carlo Maurizio Vota, Annibale Albani, Giovanni Battista Salerni und Pater Ignazio Guarini.38 Diese hatten einerseits die Aufgabe, die königliche Familie in der korrekten Ausübung der katholischen Religion zu unterweisen und besetzten andererseits wichtige Funktionärsposten im sächsischen Staat, darunter auch die Direktion der kurfürstlichen Bibliothek.39
Friedrich August II. war es, der zum einen italienische Kunstsammler und Agenten wie z.B. Francesco Algarotti und Bonaventura Rossi anstellte, zum anderen aber auch den Erwerb wertvoller Bücher und Manuskripte aus Italien anstrengte.40 Der König schickte dazu den 1734 zum Oberinspektor der kurfürstlichen Bibliothek berufenen Johann Christian Götze, der als einstiger Protestant über die in Dresden anwesenden Jesuiten zum Katholizismus konvertiert war, auf Reisen nach Italien.41 Zu diesem schreibt Plein:
Die erste Reise führte ihn im Jahr 1739 durch Österreich und Italien bis nach Rom und zurück über Wien, wobei es ihm gelang, etwa 300 gedruckte Bücher und Handschriften anzukaufen. Die zweite Reise unternahm er während des Sommers 1747, sie verlief über Wien, Graz, Padua und Verona bis nach Venedig. […] Nach dem derzeitigen Stand der Erschließung sind es 14 italienischsprachige Handschriften, die Johann Christian Götze aus Italien nach Dresden brachte, […]42
Außerdem ist v.a. in Briefen aus den Jahren 1763/4 belegt, dass auch ein gewisser Gabriello Brunelli, ein Gelehrter aus Bologna (1728–1797), in Verbindung mit Heinrich Jonathan Clodius, dem Sekretär der kurfürstlichen Bibliothek, stand und acht Manuskripte an die Bibliothek lieferte, darunter auch eine Handschrift der Divina Commedia (Mscr.Ob.25).43
Weitere Bestandszuwächse italienischsprachiger Manuskripte ergaben sich im 17. und 18. Jahrhundert durch den Erwerb von privaten Bibliotheken. Besonders nennenswert sind dabei die Sammlungen der Grafen Heinrich von Bünau (1764) und des Premierministers Heinrich von Brühl (1768), deren Codices Italici insgesamt 27 % des heutigen Gesamtkorpus der SLUB ausmachen.44 Beide Bibliotheken sind von ihrer Anlage her sehr unterschiedlich und wohl auch aus einem gewissen Konkurrenzdenken zueinander entstanden: Die Bibliothek des Grafen von Bünau war eher als Forschungsbibliothek angelegt und umfasste insgesamt 42.000 Bände mit 149 Handschriften, darunter 10 italienischsprachige, jene des Grafen von Brühl enthielt eher bibliophile Schätze, d.h. an die 62.000 Bände mit 784 Manuskripten, darunter 57 in italienischer Sprache.45 Interessant zu erwähnen ist, dass viele der italienischen Manuskripte Brühls auch aus der Sammlung des Grafen von Watzdorff stammten, welche der Premierminister nach dessen Tod erworben hatte. Watzdorff wiederum hatte die Handschriften über Umwege aus der Bibliothek des venezianischen Gelehrten Bernardo Trevisan erhalten.46
Zum Bestand der Italica der SLUB gehören heute auch jene Codices, die im 19. Jh. aus der Bibliothek des Schlosses zu Oel nach Dresden gelangten, da sie König Albert von Sachsen (1828–1902) testamentarisch vermacht wurden, sowie verschiedene italienischsprachige Dokumente aus der Königlichen Privat- Musikaliensammlung und der Prinzlichen Sekundogenitur-Bibliothek.47
Es handelt sich bei diesem Korpus laut Plein und Schürer nach derzeitiger Rechnung um 384 Manuskripte,48 von denen etwa drei Viertel ins 17./18. Jahrhundert datiert werden können, während sich der Rest auf das 14. bis 16. und 19. Jahrhundert verteilt. Das thematische Spektrum der Sammlung ist breit gefächert und reicht von Theologie, Historiographie, Philosophie über Texte mit naturwissenschaftlichen Inhalten bis hin zu Alltagsdokumenten (Rechnungen, Urkunden, Rezepte, …). Es fehlen dabei aber auch nicht klassische Autoren wie Dante Alighieri oder Francesco Petrarca sowie Inhalte des höfischen Lebens, z.B. Festungsbau, Pferdehaltung, Feste und Spiele, Staats- und Militärwesen etc.49
Nicht zu vergessen sind zudem Opernmanuskripte, belletristische Schriften, aber auch diejenigen Werke, die heute den humanistischen Studien zugeordnet werden können. Die Heterogenität geht dabei entsprechend auf die beschriebene Fusion der verschiedenen Bibliotheken zurück, aber auch auf die Prestige- und Repräsentationsabsichten der jeweiligen Besitzer.50
Mscr.Dresd.F.186 ist im Bestand der italienischen Manuskripte der SLUB zeitlich in eine der Hochphasen der Handschriftenbeschaffung einzuordnen, da der Codex laut Plein auf der ersten von Friedrich August II. veranlassten Reise Christian Götzes erworben wurde. Thematisch ist die Einzelhandschrift ebenso heterogen wie das Korpus in seiner Gesamtheit, da darin sowohl theologische als auch historiographische, aber auch juristische Themen behandelt werden.
1.3 Kodikologische Beschreibung von Mscr.Dresd.F.186
a) Aufbewahrung der Handschrift
Die Avvenimenti tragici et esemplari di delitti puniti in Roma befinden sich aktuell in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek in Dresden und werden dort in einem genau auf die Größe des Manuskripts zugeschnittenen grauen Pappkarton verwahrt. Die derzeitige Signatur lautet „Mscr.Dresd.F.186“, als Olim-Signatur ist „Nr. 662“ überliefert.51 Der Codex ist zudem auch digitalisiert worden und über die Digitalen Sammlungen der SLUB für jedermann im Internet verfügbar.52
b) Beschreibung der Buchdecke
Wie der Einband in seiner Gesamtheit, so besteht auch der Vorderdeckel aus einem Pergamenteinband über einem Pappdeckel. Er ist weitestgehend vollständig erhalten und hat eine Größe von 18,5 x 12,5 cm.53 Lediglich an der rechten Kante im unteren Viertel ist ein kleines Loch von ca. 1,5 cm im Pergament, sodass der Pappdeckel durchscheint. Auch an der unteren Kante finden sich mittig drei kleine und nicht sehr tiefe Risse unterschiedlicher Größe im Pergament. Der größte ist ca. 1,8 cm lang, die beiden kleineren haben eine Größe von ca. 0,5 cm (von links nach rechts gesehen).
Nahe der rechten und oberen Kante des Vorderdeckels sind wenige, sehr kleine Farbsprenkel unbekannter Herkunft sichtbar. Die vordere Kante ist ungefähr mittig für ca. 3,0 cm leicht eingerissen. Größe und Material des Rückdeckels sind mit dem Vorderdeckel identisch, zudem weist dieser keinerlei Beschädigungen auf, bis auf die Kante, welche vom Fuß aus gesehen für ca. 8,5 cm eingerissen ist.
Im Gegensatz zum Rest der Buchdecke ist der Buchrücken insgesamt in einem eher schlechten Zustand und nicht vollständig erhalten.54 Seine Form ist abgerundet. Es finden sich drei tiefe Risse, sodass man ihn in vier Abschnitte einteilen kann. Die ersten 8,5 cm, vom Kopf aus gesehen, bilden den besterhaltenen Abschnitt und sind noch komplett mit Pappe bzw. dem darüberliegendem Pergament bedeckt. Als waagerechter Quertitel erscheint ca. 2,5 cm vom Kopf entfernt ein verblasstes und sehr schwer lesbares „Manoʃcri[t]│ti“;55 dahinter lässt sich mit noch größerer Mühe ein noch blasser geschriebenes Wort erkennen, welches allerdings nicht mehr lesbar ist.
Unter diesem ersten Abschnitt befindet sich ein über die gesamte Breite des Buchrückens verlaufender tiefer Riss, der sowohl das Pergament als auch die Buchrückeneinlage betrifft. Unter diesem folgt für 5,5 cm ein weiterer Abschnitt, der etwas besser erhalten ist. Auf der linken Hälfte sieht man dort die Rückeneinlage, rechts ist der Pergamentbezug, der sich allerdings schon sehr stark vom Untergrund gelöst hat. Darauf befindet sich ein rosafarbener Punkt, der während des Zweiten Weltkriegs angebracht wurde, um die vermutlich zweite Garnitur der im Katastrophenfall zu bergenden Manuskripte zu markieren.56
Der dritte Abschnitt des Buchrückens umfasst 2,7 cm und ist wie der erste Abschnitt auch noch mit Pergament bedeckt. Darüber ist außerdem ein Papierschild mit der Signatur „Mscr.Dresd.F.186“ aufgeklebt.
Die letzten 1,8 cm bis zum Fuß des Buchrückens sind nur noch in der rechten Hälfte mit der Buchrückeneinlage und etwas losem Pergament bedeckt. Im Rest des Abschnitts sieht man die frei liegenden Lagen des Buchblockes, welche aber noch durch Leim zusammengehalten werden. Weiterhin sieht man unter dem Fuß einen frei liegenden und frei beweglichen Kapitalbund, der früher sicherlich unter dem Buchrücken lag, wie es auch am Kopf des Buchrückens zu sehen ist.
c) Beschreibung des Buchblocks
Analog zum Buchrücken ist der vordere Schnitt nach innen abgerundet (Hohlschnitt), Kopfschnitt und unterer Schnitt sind gerade. Alle Schnitte sind bräunlich gefärbt und weißen rötliche Sprenkel auf, die zum Teil auch auf den innenliegenden Seiten am unteren und rechten Rand zu erkennen sind. Der Kopfschnitt ist zudem stark verschmutzt.57
Am vorderen Schnitt ist zu erkennen, dass die Seiten des letzten Drittels vom Gesamtvolumen her gesehen relativ stark gewellt sind, wohingegen die ersten Seiten eher glatt wirken.
Das Manuskript beinhaltet insgesamt 266 Einzelblätter, wobei der vordere und hintere Spiegel nicht mitgerechnet werden. Für die Seitenangabe werden zwei unterschiedliche Systeme benutzt: Die ersten fünf Blätter (inklusive fliegendes Vorsatzblatt) tragen oben rechts die mit Bleistift geschriebenen Folio-Nummern I bis V. Die restlichen Blätter sind fast alle paginiert, jedoch von unterschiedlichen Händen und Schreibstoffen: Seite 1–306 – schwarze Tinte, Seite 307–510 – braune Tinte, Seite 511–516 – Bleistift.58 Dabei wirkt der Schriftduktus der mit Tinte geschriebenen Seitenzahlen älter als die Paginierung, die mit Bleistift ergänzt wurde. Einige Seiten tragen keinerlei Seitenzahl und sind auch sonst komplett leer: eine Seite nach Seite 165, zehn Seiten nach Seite 427, zwei Seiten nach Seite 467 und drei Seiten nach Seite 496. Auffällig ist ferner ein plötzlicher Sprung der Paginierung von Seite 439 auf 450.
Die Beschreibung der Lagen, aus denen die Handschrift zusammengeheftet wurde, gestaltet sich als ziemlich schwierig. Zum einem wurden vier Kombinationen von Doppelblättern benutzt (Binio, Ternio, Quaternio und Quinternio), zum anderen steckt kein System hinter der Benutzung dieser unterschiedlichen Lagen, sondern sie wurden relativ willkürlich aneinandergeheftet. Durch die Benutzung des Buches sind sie auch leicht gegeneinander verschoben. Ein weiteres Problem besteht darin, dass fol. II bis Seite 46 sowie die Seiten 79 bis 142 des Manuskripts stark verklebt bzw. miteinander verbunden sind, sodass es schwierig wird, die Lagen zu zählen, ohne das Buch zu beschädigen.
Trotz dieser Probleme soll mit folgender Tabelle der Versuch unternommen werden, zumindest einen Eindruck von der Lagenverteilung zu vermitteln:
fol. II–46 | nicht zu rekonstruieren | 324–335 | Ternio |
47–62 | Quaternio | 336–355 | Quinternio |
63–78 | Quaternio | 356–371 | Quinternio |
79–142 | nicht zu rekonstruieren | 372–387 | Quaternio |
143–158 | Quaternio | 388–407 | Quinternio |
159–179 | siehe Lagezeichnung | 408–419 | Ternio |
180–191 | Ternio | 420–429 | Quinternio (unnummerierte Leerseiten) |
192–211 | Quinternio | ||
212–223 | Ternio | ||
224–243 | Quinternio | 430–451 | Ternio |
244–259 | Quaternio | 452–469 | Quinternio |
260–275 | Quaternio | 470–481 | Ternio |
276–291 | Quaternio | 482–498 | Quinternio |
292–303 | Ternio | 499–510 | Ternio |
304–323 | Quinternio | 511–514 | Binio |
Der Zustand der Lage von Seite 159 bis 179 lässt sich am einfachsten mit einer Zeichnung verstehen:
Um das Heften der Lagen zu erleichtern, wurden im Haupttext auf der Retroseite jeweils unten rechts Reklamanten benutzt.59 Die Handschrift beinhaltet weiterhin keine Vorsatzblätter,60 was daran erkennbar ist, dass beim Umklappen des Vorder- und Hinterdeckels in der Mitte Schnüre zu erkennen sind, die der Buchbindung dienten. Dabei sieht man auch fünf Löcher, durch welche der Faden hindurchgezogen wurde. Auch derjenige, der die ersten fünf Folionummern aufgeschrieben hat, ist sich dieser Tatsache bewusst gewesen und hat sofort nach dem vorderen Spiegel mit der Foliierung begonnen. Aufgrund des fehlenden Schutzes durch ein Vorsatz weist der vordere Spiegel oben und an der linken Seite unten Risse auf.
Auf den beiden Buchspiegeln sind einige Eintragungen zu sehen, die vor allem für die Geschichte der Handschrift eine Rolle spielen, sie sollen im Punkt e) zur Geschichte der Handschrift näher erläutert werden.61
Details
- Seiten
- 364
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631916896
- ISBN (ePUB)
- 9783631916902
- ISBN (Hardcover)
- 9783631916889
- DOI
- 10.3726/b21694
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Juli)
- Schlagworte
- Kodikologie Quietismus Mascambruni Giacinto Centini Onofrio Santacroce Troilo Savelli Beatrice Cenci Historische Linguistik italianità sommersa Dresdner Manuskriptforschung Textkritik Netzwerkforschung romanesco Italianistik Textnetzwerke
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 364 S., 9 s/w Abb., 39 Tab.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG