Das Dokumentarische und das Fiktionale im deutschsprachigen Drama nach 1945
Weiss – Kipphardt – Hochhuth
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 0. Einleitung
- 1. Dokumentarliteratur
- 1.1. Das dokumentarische Drama – Theorien und Fragestellungen
- 1.2. Bertolt Brechts und Erwin Piscators Theaterprogramme
- 2. Fakten und Fiktionen in literarischen Werken
- 3. Auf der Spur des Dokumentarischen in den Dramen von Peter Weiss, Heinar Kipphardt und Rolf Hochhuth
- 3.1. Das Leben und das dramatische Werk von Peter Weiss
- 3.2. Trotzki im Exil – Geschichte des verbannten Revolutionärs
- 3.3. Das Leben und das dramatische Werk von Heinar Kipphardt
- 3.4. Bruder Eichmann – Geständnisse des Naziverbrechers
- 3.5. Das Leben und das dramatische Werk von Rolf Hochhuth
- 3.6. Hitlers Dr. Faust – der Faustische Pakt des Raketenerfinders Hermann Oberth
- 4. Schlussbemerkungen
- Literaturverzeichnis
- Series Index
0. Einleitung
Die vorliegende Arbeit unter dem Titel Das Dokumentarische und das Fiktionale im deutschsprachigen Drama nach 1945. Peter Weiss – Heinar Kipphardt – Rolf Hochhuth setzt sich zum Ziel, die Wechselbeziehung zwischen Fakten und Fiktionen in dokumentarischen Dramen der Nachkriegsautoren zu untersuchen. Beleuchtet wird die Relation zweier Dimensionen von Texten – des Dokumentarischen und des Fiktionalen. Es wird der Frage nachgegangen, wie sie sich in einem Textstück manifestieren und wie sie sich darin zueinander verhalten. In den Vordergrund der Ermittlung rücken die dokumentarisch-dramatische Umsetzung der historischen Stoffe und deren literarische Fiktionalisierung in dokumentarischen Dramen. Eine Erörterung, die auf das Nachprüfen der Faktizität und des Fiktionalisierungsgrades der dokumentarischen Dramen ausgerichtet ist, liegt in der von mir ausgewählten Form bisher nicht vor. Als innovativ gilt der Versuch, die Untersuchung der analysierten Stücke über das Literarische hinaus zu erstrecken und das Augenmerk auf den historischen Stoff der ausgewählten Werke zu richten. Die Gegenüberstellung der Handlung der herangezogenen Stücke und des historischen, faktografischen Materials ermöglicht das Aufzeigen und die Beschreibung der dokumentarischen und fiktionalisierten Dimensionen der Dramen. Als Gegenstand der Analyse werden drei Stücke gewählt: Trotzki im Exil (1970)1 von Peter Weiss, Bruder Eichmann (1982)2 von Heinar Kipphardt und Rolf Hochhuths Hitlers Dr. Faust (2000).3 Den besagten Dramen wurde bis jetzt von Literaturwissenschaftlern kaum Anerkennung geschenkt, was das erste Kriterium der Auswahl der Werke ausmacht. Die nächsten sind mit Bedacht angelegt. Zum einen sind sie mit der Entstehungszeit der Dramen verbunden. Die herangezogenen Textstücke wurden nämlich – mit Ausnahme und kleiner Abweichung von nur einem Jahr bei Hochhuths Werk – in drei nacheinander folgenden Jahrzehnten verfasst. Es ist jedoch das Stück Hochhuths, welches nicht nur das ausgehende Jahrhundert, sondern auch – abgesehen von seinen im 21. Jahrhundert verfassten Schauspielen – die Tradition des Dokumentardramas des 20. Jahrhunderts und zum Abschluss bringt. Die Entwicklung der Gattung nach 2000 zu neuen Formen des Dokumentarischen4 und die dem Genre zuzuschreibenden Stücke gehen über den Forschungsgegenstand der vorliegenden Publikation hinaus und bieten sich als Anlass für eine eigene Monografie dar.
Auf der anderen Seite spielte die Autorschaft der Stücke eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Auswahl der Schauspiele. Die der Analyse unterzogenen Dramen gehen auf drei Schriftsteller zurück, die man als Pioniere der Gattung anzusehen pflegt. Durch derartige Aufstellung der Auslesekriterien erhoffe ich mir, mögliche (teilweise) Fortführung der literarischen Tradition, bzw. etwaige, erkennbare Entwicklungstendenzen der Gattung über drei Jahrzehnte zu erfassen, diverse, theoretische Auffassungen des dokumentarischen Dramas aufzuzeichnen und verschiedene, autoreneigene, dokumentarisch-dramatische Umsetzungsstrategien der historischen Stoffe und deren literarische Fiktionalisierung in dokumentarischen Dramen zu beschreiben.5 Desgleichen die Problematik und das historische Geschehen, die den analysierten Dramen zugrunde liegen, waren bei der Auswahl von großem Belang. In der Handlung dreier Stücke werden geschichtliche Ereignisse aufgegriffen, die aus der Sicht des Rezipienten heutzutage nach wie vor bedeutend und aktuell sind, u.a. die Russische Revolution 1917, der Holocaust und die Frage der Schuld, die Zusammenarbeit weltbekannter, hervorragender Wissenschaftler mit dem NS-Regime und dem Militär anderer Länder an todbringenden Waffen und die sich daraus ergebende Frage nach der moralischen Verantwortung der Forscher.
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im ersten Kapitel werden die Merkmale und die Geschichte der Dokumentarliteratur behandelt. Im Mittelpunkt steht das dokumentarische Drama. Die gattungseigenen Eigenschaften dokumentarischen Stücks werden anhand von dokumentarischen, politischen und historischen Dramen erläutert. Aufgezeigt werden die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der Gattungsformen. Miteinbezogen werden die ästhetisch-theoretischen Überlegungen der Schriftsteller. Hinterfragt wird das Verhältnis zwischen der Kunst, dem Dokumentarismus und der Geschichtswissenschaft. Im Folgenden wird die Arbeit der Schriftsteller am faktografischen Material untersucht. Der abschließende Teil des ersten Kapitels gilt dem dokumentarischen, dem politischen und dem epischen Theater.
Im Fokus des zweiten Kapitels stehen Fakten und Fiktionen in literarischen Werken. Die Begriffe der „Faktizität“ und der literarischen „Fiktion“ bilden den Ansatzpunkt für weitere Untersuchung. Aufgezeigt werden ihre Komponenten. Des Weiteren wird auf Dimensionen und Elemente der literarischen Texte eingegangen, die im Schreibprozess fiktionalisiert werden. Ergänzend wird ein Vergleich zwischen der „Fiktionalität“ und der „Fiktivität“ angestellt.
Das dritte Kapitel umfasst die literarische Analyse der herangezogenen Dramen und die Biografien der Schriftsteller: Peter Weiss‘, Heinar Kipphardts, Rolf Hochhuths, mit besonderer Berücksichtigung deren dramatischen Werks.
Peter Weiss wurde 1916 in Nowawes bei Potsdam geboren. 1934 emigrierte seine Familie wegen jüdischer Herkunft des Vaters nach London. Als 17-Jähriger versuchte Peter Weiss seine Kunstbegabung in der Malerei zu entfalten. Im schwedischen Exil erfolgten seine ersten schriftstellerischen Versuche. Internationalen Erfolg erzielte der Schriftsteller mit dem dokumentarischen Drama Die Ermittlung (1965), in dem er den Auschwitz-Prozess darstellte. Peter Weiss starb 1982 in Stockholm.6
Der Revolutionäre Leo Davidowitsch Trotzki ist die Hauptfigur des Schauspiels Trotzki im Exil. Geschildert werden im Werk Stationen seiner politischen Laufbahn und seines Exils. Die Zeit der Handlung umfasst vierzig Jahre (ungefähr von 1900–1940) und somit bedeutende Ereignisse nicht nur aus der Geschichte der Sowjetunion, sondern auch aus der Weltgeschichte. Behandelt werden u.a. die letzten Jahre des zaristischen Russlands, die Russische Revolution 1917, die Entstehung der Roten Armee, Lenins Tod 1924, Stalins Machtergreifung, die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 und nicht zuletzt die Ermordung Leo Trotzkis von einem Agenten der Politischen Polizei der Sowjetunion (GPU) im Jahre 1940.
Heinar Kipphardt wurde 1922 in Heidersdorf (Schlesien) geboren. Als 18-Jähriger entschied er sich das Medizinstudium mit Fachrichtung Psychiatrie aufzunehmen. Nach Kriegsende promovierte er in Düsseldorf. Kipphardt wurde vor allem als Dramatiker bekannt. Zu Klassikern modernen Theaters gehört sein dokumentarisches Stück In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964). Er starb 1982 in München.7
Im Stück Bruder Eichmann wird der Fall des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann untersucht. Nach seiner Entführung aus Argentinien 1960 wird er als Häftling in Israel, nicht weit von Haifa, gefangen gehalten. Bis zu seinem Prozess wird Eichmann von dem Polizeibeamten Chess verhört. Die Verhörgespräche stehen im Mittelpunkt der Handlung. Eichmann erzählt sein Leben. Er bearbeitet seine Kindheit, seinen Beitritt zur SS und zum SD, die von ihm mitorganisierten Deportationen der jüdischen Bevölkerung und gibt es zu Protokoll. Das Drama erschöpft sich nicht in der Dokumentation Eichmanns Geschichte. Bezeichnend sind für das Werk die von Heinar Kipphardt eingebauten Analogie-Szenen. In ihnen unternimmt der Schriftsteller den Versuch, die Beispiele der Haltung „eines funktionalen Menschen“ – deren Muster anhand von Eichmanns Profil abgeleitet wird – in anderen historischen Kontexten zu beleuchten. Somit thematisiert das Stück sowohl den Nationalsozialismus, als auch weitere Probleme der jüngsten Vergangenheit.
Rolf Hochhuth wurde 1931 in Eschwege (Nordhessen) geboren. Seit 1950 arbeitete er in Buchhandlungen. Auf diese Zeit fallen seine ersten Schreibversuche. 1955 wurde Hochhuth Verlagslektor. Weltweites Aufsehen erregte sein dokumentarisches Stück Der Stellvertreter, das der Schriftsteller 1959 während seines Aufenthaltes in Rom verfasste. Das Schauspiel wurde 1963 von Erwin Piscator uraufgeführt. Hochhuth lebte als freier Schriftsteller in Basel und Berlin.8 Er starb 2020.
Ein Aufriss des literarischen Faust-Stoffes wird dem nächsten Teil des Kapitels vorangestellt. Daraufhin wird auf das Stück Hitlers Dr. Faust eingegangen. In den Mittelpunkt des Geschehens rückt die Lebensgeschichte Hermann Oberths. Von seiner Jugend an träumte er von dem Bau einer Rakete zu Planetenräumen. Die Finanzierung der kostspieligen Forschung und teuren technischen Versuche konnte nur dank der Zusammenarbeit mit dem Militär zustande kommen. Mit seinem Schüler und späteren Mitarbeiter Wernher von Braun konstruierte Oberth das Modell der V2 Rakete, die von Hitler als Vergeltungswaffe in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges zum Einsatz gebracht wurde. Während der Forschungsarbeiten an der Verbesserung der todbringenden Rakete kam Oberths Tochter ums Leben. Die größte Erfindung Oberths, den Weltraumspiegel, beabsichtigte der amerikanische Präsident in modifizierter Form im Rahmen des SDI-Programms („Krieg der Sterne“) als Waffe einzusetzen. Neben der dokumentarisch-dramatischen Umsetzung Hermann Oberths Lebensgeschichte greift Rolf Hochhuth die Frage nach der moralischen Verantwortung der Wissenschaft und deren Verhältnis zur Politik auf.
In jedem der genannten Dramen versuche ich das Dokumentarische und das Fiktionale aufzuzeigen. Um die Analyse möglichst präzise durchzuführen, gehe ich größtenteils auf das Geschehen jeder Texteinheit (Szene, Akt, bzw. Teil) ein, um im Nachhinein den Inhalt des Dramas dem faktografischen Material und geschichtlicher Fachliteratur gegenüberzustellen. Diese Arbeitsweise gewährleistet die Kohärenz und die Kausalität der angestellten Untersuchung. Das zusammengestellte historische Bild geht jeweils über die Handlung einzelner Dramen hinaus. Somit werden die historisch-politischen Kontexte, in denen die besprochenen Stücke eingebettet sind, näher betrachtet. In der Abhandlung verweise ich auf die fiktionalisierten Dimensionen der Texte. Obendrein zeige ich epische Elemente in den untersuchten Werken. Hingewiesen wird in den analysierten Stücken auf die Schnittpunkte der dokumentarischen, politischen und historischen Dramen.
Das vierte Kapitel umfasst die Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und die Schlussfolgerungen. Dem letzten Teil der Arbeit wird das Literaturverzeichnis nachgestellt.
1 Weiss, Peter: Trotzki im Exil. Frankfurt a.M. 1970.
2 Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek bei Hamburg 1986.
3 Hochhuth, Rolf: Hitlers Dr. Faust. Reinbek bei Hamburg 2000.
4 Gemeint ist das Werk der Gruppe Rimini Protokoll, u.a. Volker Lösch, Dirk Lauke, Alvis Hermanis, Björn Bicker, Peter Kastenmüller, Andreas Veiel, Gesine Schmidt, Lola Arias, Hans-Werner Kroesinger. Weiterführende Informationen zum Thema: vgl. Engelhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart. München 2013, S. 112–116.
5 Der Autor der Arbeit ist sich dessen bewusst, dass das Miteinbeziehen eines dokumentarischen Stücks aus den 1960er-Jahren das Aufzeigen etwaiger Entwicklungstendenzen, bzw. der Fortführung der literarischen Tradition auf mehrere Jahrzehnte erstrecken und somit vervollständigen würde. Da aber die dokumentarischen Stücke der 1960er-Jahre, allen voran Hochhuths Der Stellvertreter (1963), Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964), Weiss’ Die Ermittlung (1965) mittlerweile nicht nur in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ausführlich untersucht wurden und bis heute als Klassiker der Gattung gelten, wird keins aus dem besagten Zeitraum in der vorliegenden Arbeit einer Analyse unterzogen (das vom Autor aufgestellte Kriterium des Erkenntnisstandes eines Werks). Nichtsdestoweniger werden die Dramen, die in dem genannten Zeitabschnitt entstanden, nicht außer Acht gelassen. Auf viele wird nämlich Bezug genommen (Handlung, Interpretation, Bedeutung für die Entwicklung der Gattung), so z.B. in den in der Arbeit befindlichen Lebensläufen der Schriftsteller, indem die ausgewählten wissenschaftlichen Beiträge der Literaturwissenschaftler herangezogen werden. Dies gewährleistet komplexe und vollständige Erfassung des Phänomens.
6 Vgl. Schulz, Genia: Weiss Peter. In: Lutz, Bernd; Jeßing, Benedikt (Hg.): Metzler. Lexikon Autoren. Stuttgart/Weimar 2010, S. 815–818.
7 Vgl. Williams, Rhys W.: Kipphardt Heinar. In: Lutz, Bernd; Jeßing, Benedikt (Hg.): Metzler. Lexikon Autoren. Stuttgart/Weimar 2010, S. 422–424.
8 Vgl. Pohl, Christian: Hochhuth Rolf. In: Lutz, Bernd; Jeßing, Benedikt (Hg.): Metzler. Lexikon Autoren. Stuttgart/Weimar 2010, S. 341–343.
1. Dokumentarliteratur
Den Ausgangspunkt für diesen Teil bildet der Begriff der Dokumentarliteratur. Die vorliegende Untersuchung erstreckt sich über die den dokumentarischen Dramen gattungstypologisch zugeschriebenen Eigenschaften. In meiner Erörterung werden sowohl Programme einzelner Schriftsteller als auch Beiträge der Literaturwissenschaftler berücksichtigt. Beleuchtet wird darüber hinaus die Arbeitsweise der Schriftsteller mit dokumentarischem Material. Die Untersuchung gilt überdies dem Dokumentarischen, Politischen und nicht zuletzt dem Epischen Theater.
Der Begriff der Dokumentarliteratur meint „literarische Texte, die aus nichtliterarischen Vorlagen und Quellen komponiert sind und diese ausdrücklich als unbearbeitete Dokumente präsentieren.“1 Die Dokumentarliteratur umfasst neben den dokumentarischen Dramen sowohl einige Genres der Lyrik und der Prosa, der Reportage, als auch die Gattung des Hör- und Fernsehspiels.2 In Opposition zu der fiktionalen Literatur beruht sie auf Fakten.3 Ihre Wesenheit besteht darin, dass den entstehenden Werken faktografisches Material, d.h. authentische Unterlagen, Dokumente verschiedener Art, zugrunde gelegt werden. Dazu gehören etwa: juristische oder historische Reportagen, Berichte, Tagebücher, Unterlagen wie auch Interviews, die als Quellen fungieren. Das dokumentarische, bzw. faktografische Material schließt neben faktualen Texten (Dokumente, wissenschaftliche Texte, historische Schriften – mehr dazu im Kapitel über Fakten und Fiktionen) Fotografien, Film- und Tonbandaufnahmen. Der Rückgriff auf Dokumente und Fakten der außerliterarischen Wirklichkeit „grenzt die Dokumentarliteratur programmatisch vom Entwurf fiktiver literarischen Welten […]. In den Mittelpunkt rückt […] der Authentizitätsanspruch des Dargestellten.“4 Dokumentarliteratur, so der Literaturwissenschaftler Andreas Blödorn, schließt gesellschaftskritisch und politisch orientierte literarische Formen ein, „die aus vorgefundenen Textmaterialien der Alltagswelt […] komponiert sind.“5 Die Merkmale der dokumentarischen Literatur listet der Literaturwissenschaftler Ingo Breuer in seiner Studie folgenderweise auf:
„1. Die Dokumentarliteratur basiert auf einem erkennbar dokumentarischen Stoff.
2. Die Dokumentarliteratur verleiht dem dokumentarischen Stoff Bedeutung und macht ihn so zu einem Medium einer zumeist politischen Aussage.
3. Die Dokumentarliteratur hebt den Materialwert des dokumentarischen Stoffs hervor und gibt so der durch ihn vermittelten Aussage die Form des Einblicks.
4. Die Dokumentarliteratur stellt das ihr eigene Montageprinzip in den Dienst vorgegebener Gattungen und bildet daher nur ansatzweise eine eigene literarische Form aus.“6
Die Geschichte der Dokumentarliteratur reicht in das 18. und das 19. Jahrhundert zurück. Als Vorläufer gelten C. F. Weißes Jean Calas (1774) und Georg Büchners Dantons Tod (1835).7 Der Literaturwissenschaftler Reinhard Döhl weist in diesem Zusammenhang auf die Reiseberichte, Tagebücher und Autobiografien des 19. Jahrhunderts, die kulturgeschichtlichen Dokumentationswert aufweisen.8
Im 20. Jahrhundert verfassten die Schriftsteller weiterhin Formen der Dokumentarliteratur. Das avantgardistische Prinzip der Montage, das Interesse der Autoren an nichtfiktionalen Formen zur Darstellung der Wirklichkeit, die auf die russische Faktografie-Richtung um Siergiej Tretjakov zurückzuführen sind9, wurden in Deutschland erprobt. Zudem sind hier die Neue Sachlichkeit („Präzisionsästhetik“), die Arbeiterliteratur, das Agitprop-Theater mit „seinen dokumentarisch angelegten nichtaristotelischen Spielweisen sowie das politische Theater“10 von Erwin Piscator zu nennen. Als Beispiel für die Dokumentarliteratur des 20. Jahrhunderts gilt obendrein das Werk Egon Erwin Kischs. 1912 wurden seine ersten Reportagen Aus Prager Gassen und Nächten veröffentlicht, in denen sich der Schriftsteller in der Rolle des Lokalberichterstatters sah. Es folgten: der Sammelband Der rasende Reporter (1924), die Reportagesammlungen Hetzjagd durch die Zeit (1926), Wagnisse in aller Welt (1927), Zaren, Popen, Bolschewiken (1927), Paradies Amerika (1930). Der Literaturwissenschaftler Michael Bauer behauptet, dass Kisch der Reportage als literarischer Form zu allgemeiner Anerkennung verhalf. Kischs Kunst, so Bauer, „bestand darin, die Wirklichkeit aus persönlichen Wahrheiten heraus dokumentarisch zu gestalten.“11 Gero von Wilpert verweist darüber hinaus auf Alfred Döblin, der in seine Werke Dokumente integrierte und Zitate einbaute.12 1929 berichtete Alfred Döblin: „Ich gebe zu, dass mich noch heute Mitteilungen von Fakta, Dokumente beglücken [...], dass ich mich kaum enthalten konnte, ganze Aktenstücke glatt abzuschreiben, ja ich sank manchmal zwischen den Akten bewundernd zusammen [...].“13
Mit dem Anbruch der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebte das Dokumentarische in der Literatur seine Blüte im deutschsprachigen Raum. Dies hängt mit einer Unmenge an politisch-sozialen Umwälzungen zusammen. Zu nennen wären an dieser Stelle die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, sowie der eskalierende Vietnam-Konflikt. Eine ganze Reihe an zeitgeschichtlichen Ereignissen war auch in Deutschland zu verzeichnen. In den Vordergrund wurde das Tagespolitische gestellt. Die konservative Politik Adenauers, die sog. „Kanzler-Demokratie“ (1949-1963), der Eichmann-Prozess (1961), die „Spiegel-Affäre“ (1962) und nicht zuletzt die Auschwitzprozesse (1963-1965, 1965-1966, 1967-1968) ließen die Grundprobleme der deutschen Innenpolitik sichtbar werden. Der zunehmende Zweifel an der bisherigen Politik der Regierung mit ihren Entwicklungstendenzen brachte das politische Erwachen mit sich. Zum Gegenstand der Debatten wurden die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit, die sozialpolitischen Probleme der BRD mit den ersten Anzeichen von schwächelnder Konjunktur, der sich zuspitzende Kalte Krieg, der Bau der Berliner Mauer (1961), die Kubakrise (1962) und das damit zusammenhängende Gefühl der Existenzbedrohung.14
Es überrascht demzufolge nicht, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Frankfurter Schule, die in dieser Hinsicht zumindest erwähnt werden sollte, immer größerer Beliebtheit in dem akademischen und im Nachhinein in dem öffentlichen Diskurs erfreute. Obgleich die wohl in dem besprochenen Zusammenhang wichtigste Leistung der Schule – mit der die Wissenschaftler verschiedener Disziplinen assoziiert werden, darunter T. W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Erich Fromm, Herbert Marcuse (die erste Generation), Jürgen Habermas, Axel Honneth (die zweite Generation), die von 1923 bis 1933 und erneut seit 1950 am, bzw. mit dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main (inzwischen 1933-1950 an der Columbia University in New York) zusammenarbeiteten und einem interdisziplinären Forschungsprogramm nachgingen – also die Entwicklung der Kritischen Theorie lange zuvor, in den 1930er-Jahren ansetzte, wurde sie von Adorno seit den 1950er-Jahren in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik zur Geltung gebracht und erschien letzten Endes in der Realität der 1960er-Jahre höchstaktuell und attraktiv.15 Dies erklärt sich dadurch, dass sie gerade 1937 von Max Horkheimer als praktische Philosophie bestimmt wurde, die an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts interessiert sei.16 Ihre Bezugspunkte sind die Studien von Karl Marx, Siegmund Freud und Max Weber. Unter der Kritischen Theorie wird eine Gesellschaftstheorie verstanden, deren Gegenstand die ideologiekritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist. Die Grundüberzeugung des Denkansatzes besagt, dass Nationalsozialismus, Sowjetsystem und die amerikanische Industriegesellschaft sich ähneln. Sie seien Varianten einer gesellschaftlich-politischen Organisation, die vom Terror und von subtilen Methoden zur Verdeckung der Machtstrukturen bestimmt wird.17 Kritisiert werden von den Denkern die bestehenden ökonomischen, sozialen, politischen und rechtlichen Verhältnisse.18 Die großen Hoffnungen der bürgerlichen Kultur (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Vernunft, Aufklärung, Glück, Humanität) wurden laut der Vertreter der Frankfurter Schule in der geschichtlichen Entwicklung nicht eingelöst.19 In den modernen Industriegesellschaften habe sich stattdessen eine Form totaler Herrschaft herausgebildet, in der demokratische Elemente nur eine Fassade darstellen. Die Entscheidungsfreiheit des Individuums, wessen es sich nicht bewusst ist, wird durch den gesellschaftlichen und den ökonomischen Zwang beschränkt, der bestimmte Muster aufzwingt und seine Verhaltensweisen beeinflusst.20 Demzufolge kann sich die Menschheit nicht als bewusstes, selbstbestimmendes Subjekt konstruieren und die eigenen Lebensformen bestimmen. Die Menschen nehmen die Welt als scheinbar unveränderliche Gegebenheit an. Adorno und Horkheimer verzichteten jedoch auf die Entwürfe idealisierter Gegenmodelle der Realität.21
Wie angedeutet war die Wirkung der Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie in den 1960er-Jahren durch Adornos öffentliche Vorträge, Interviews und Radiosendungen sehr stark. Dies trifft in noch höherem Maße auf Herbert Marcuse zu. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno betonte er die Notwendigkeit, gegen den Spätkapitalismus neue, mehrdimensionale, befreiende Lebensformen zu erproben. Die Studentenbewegung der 1960er-Jahre nahm diesen Ansatz intensiv auf.22 Unter der jungen Generation begann es zu gären. Ihre zunehmende Abneigung gegen die von dem Nationalsozialismus belastete Elterngeneration wurde spürbar.
Der Siedepunkt der Unzufriedenheit wurde 1968 mit der Studentenrevolte erreicht.23
Für die Entwicklung der Dokumentarliteratur der 1970er und 1980er-Jahre, sind darüber hinaus Überlegungen der Vertreter der Frankfurter Schule zur Kunsttheorie wesentlich. Adorno hielt sie in seinen Werken Negative Dialektik (1966) und Ästhetische Theorie (1970) fest. Im Kontext der vorliegenden Arbeit24 erweist sich die Theorie vom „Wahrheitsgehalt“ der Kunst als interessant. Den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks begreift Adorno entweder als die ästhetische Stimmigkeit oder als die unverfälschte Wiedergabe der Wirklichkeit.25 Er behauptet, dass die Entwicklung der Kunst über den Wandel der Moden und des Geschmacks hinausgeht. Jedes Kunstwerk, so Adorno, sei von der Zeit, in der es entstanden ist, geprägt. Er vergleicht Kunst mit der unbewussten Geschichtsschreibung. Einerseits gewahrt er in ihr einen Protest gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit26, andererseits erteilt er einer engagierten Kunst eine Absage.27 Darin unterscheidet er sich von Herbert Marcuse, der in seinen Werken Konterrevolution und Revolte (1973), Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik (1977) ihr politisches Potential betont, gegen Verhältnisse und Wirklichkeit zu protestieren, denen sie entspringt und die sie repräsentiert.28
Die Vielzahl an gesellschaftlich bedeutenden Ereignissen in den 1960er Jahren und die Veröffentlichungen der Vertreter der Frankfurter Schule über die Kunsttheorie wirkten sich auf die Literatur aus und ließen sie mit der Politik verbinden. Die sozialen Probleme der Gegenwart konnten nicht mehr außer Acht gelassen werden. In den 60er-Jahren setzte eine zunehmende Politisierung der Literatur ein.29
Dokumente, Protokolle, Zeitungsartikel wurden in literarischen Werken zusammengestellt und verarbeitet. Man hatte sich von dem unmittelbaren Schock der Kriegs- und Nachkriegszeitgeschehnisse erholt und begann die Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit. Anklagende Stimmen wurden laut, und die anschwellende Aggression entlud sich gegen Ende der 60er-Jahre in den erwähnten Studentenrevolten und Protesten. Die Jugend begehrte gegen die Unfähigkeit der Geschichtsbewältigung auf. Literatur konnte nicht mehr getrennt von Politik existieren, sie nahm sich der Fragen der Zeit an und versuchte, diese aufzuarbeiten. Die Kurzgeschichten und die Lyrik, die existenziellen Themen, die allen voran in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literatur vorherrschten, wurden von der Stilform des Dokumentarismus abgelöst.30
Der Schriftsteller Heinar Kipphardt stand auf dem Standpunkt, dass die nach dem Krieg misstrauisch gewordene Gesellschaft ihr Vertrauen lediglich dem Nachprüfbaren zu schenken neigte: „Ich glaube zudem, daß die Literaturentwicklung und die Etikettierung von Literatur auch etwas mit der Gewichtung unserer verschiedenen alltäglichen Wahrnehmungsweisen zu tun haben. Jede Ästhetik, aus welchem Gebiet auch immer, steht ja mit sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen in ihrer Zeit in einem engen Zusammenhang. […] Unsere Zeit hat beispielsweise einen unübersehbaren Zug zum Dokumentarischen und zum sachlich Nachprüfbaren. […] Und da ist es für mich beinahe logische Folge, daß ein Typus von historischem Drama entstanden ist, der näher am Faktischen und Authentischen unserer Zeit ist.“31 In dem Interview mit Thomas Thieringer machte der Schriftsteller auf die Manipulationsmöglichkeiten aufmerksam, die sich in der Zeit der Informationsüberfülle leichter durchführen lassen. Sie schafft – so Kipphardt – „keinen informierten Menschen.“32 Der Dramaturg war vielmehr der Meinung, dass die mit Informationen überhäufte Gesellschaft außer Stande ist, diese einzuordnen und zu bewerten. Die dokumentarische Literatur – gleich der wissenschaftlichen Forschung – „stellt eine gute Alternative dar, an die Wahrheit zu gelangen.“33
In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Idee der Weg gebahnt, dass die neue Literatur nach dem authentischen Leben zu suchen hat (Dortmunder Gruppe 61). Das Leben schreibe die besten Geschichten. Nicht ohne Bedeutung bleibt die auftauchende Behauptung, dass der Journalismus und die Schriftstellerei einhergehen. Zur Bekräftigung dessen wird häufig an die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts erinnert – Heine und Görres. Letzten Endes scheint dokumentarische Literatur als „Instrument politischer Meinungsbildung“ (Peter Weiss) sich besser zur seit dem 18. Jahrhundert, also seit der Aufklärung, bestrebten Belehrung und Mahnung der Bevölkerung zu taugen, weil sie auf den Fakten und Daten aus dem wirklichen Leben baut.34 Dokumentarische Literatur ist anti-illusionistisch. „Das Fiktive habe keinen „Zeugniswert“.35
Details
- Seiten
- 298
- Erscheinungsjahr
- 2023
- ISBN (PDF)
- 9783631910740
- ISBN (ePUB)
- 9783631910757
- ISBN (Hardcover)
- 9783631855119
- DOI
- 10.3726/b21326
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (Dezember)
- Schlagworte
- dokumentarisches Drama Fakten und Fiktionen literarische Fiktionalisierung Faktizität historisches Drama dokumentarisches Theater episches Theater
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 298 S.