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Spielarten des Religiösen im deutschen Märchen um 1800

Studien zu den Märchensammlungen von Christoph Martin Wieland, Johann Karl August Musäus, Benedikte Naubert, den Brüdern Grimm, Wilhelm Hauff und Ludwig Bechstein

by Evelin Ruhnow (Author)
©2024 Thesis 402 Pages

Summary

Religion und Märchen – beide scheinen auf den ersten Blick wenig gemein zu haben. Bei genauerem Hinsehen offenbart das profane Märchen jedoch reichhaltige Spuren des Religiösen: Neben Hexen und Heiligen spricht es von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und der Erdenwanderung der Götter. Die Auswahl der untersuchten Sammlungen ermöglicht eine Öffnung des wissenschaftlichen Blicks über die viel erforschten Kinder- und Hausmärchen hinaus auf die Hoch-Zeit des Märchens. Die Analyse zeigt, wie im Medium des Märchens auf unterschiedlichste Weise Stellung zum Religionsdiskurs um 1800 bezogen wird. Zudem können die Märchen als Stimme der Kritik an zeitgenössischen Phänomenen wie der christlich imprägnierten Pseudo-Wissenschaft der Physiognomik oder dem verhängnisvollen Volksglauben an Hexerei nutzbar gemacht werden. Das Märchen erweist sich damit als oftmals unterschätzter, in der Forschung bislang wenig beachteter Beiträger zu gesellschaftsrelevanten Debatten seiner Zeit.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Widmung
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Zur Definitionsproblematik des Religionsbegriffs
  • 1.2 Von der Relevanz des Märchens
  • 2. Sechs deutsche Märchensammlungen um 1800 und ihr historischer Stellenwert
  • 2.1 Verliebte Derwische und ägyptische Adepten in Wielands Dschinnistan
  • 2.2 Pontifex und Teufelsspuk: Die Volksmährchen der Deutschen des Johann Karl August Musäus in pontificalibus
  • 2.3 Himmlische Erscheinungen und lebendige Heilige in Benedikte Nauberts Neuen Volksmährchen der Deutschen
  • 2.4 Verchristlichungstendenzen in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen
  • 2.5 Spiegelwelt Orient: Das allusive Wechselspiel in Hauffs Märchen-Almanachen
  • 2.6 Das „Eldorado der Poesie“: Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch
  • 3. Spielarten des Religiösen
  • 3.1 Gut und Böse
  • 3.2 Gott und Teufel
  • 3.3 Hexen und Heilige
  • 3.4 Versuchung und Erlösung
  • 3.5 Himmel und Hölle
  • 3.6 Orient und Okzident
  • 4. Von Schulwandbildern und Lesefibeln – Die zeitgenössische Rezeption der Märchen und ihre Bedeutung im schulischen Diskurs
  • 5. Aus den Spinnstuben in die Schulzimmer: einige Schlussbemerkungen
  • 6. Literaturverzeichnis
  • 6.1 Quellen
  • 6.2 Forschungsliteratur
  • 7. Pädagogische Stimmen zur Rolle des Märchens im erzieherischen Diskurs
  • Reihenübersicht

Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Richter, Adrian Ludwig: Gottfried erweckt Blanca durch die Reliquie vom Tode. Illustration zu Musäus’ Märchen Richilde, 1861. Holzstich 96 x 110 mm. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 1: Grimm, Ludwig Emil: Brüderchen und Schwesterchen, 1819. Bildnachweis: ORKA / Bibliothek Universität Kassel.

Abb. 2: Richter, Adrian Ludwig: Titelbild zu Ludwig Bechsteins Märchenbuch, 1853, Bildnachweis: Deutsche Fotothek / Rous, André.

Abb. 3: Dürer, Albrecht: Die Hexe, Kupferstich um 1500. Bildnachweis: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe..

Abb. 4: Richter, Adrian Ludwig: Der Heiland und der Schwab. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 5: Die Titelkupfer des Abenteuerlichen Simplicissimus (1668) und des Höllischen Proteus (1690). Bildnachweis: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel <http://diglib.hab.de/drucke/lo-2309/start.htm?image=00007> <http://diglib.hab.de/drucke /hr-145/start.htm?image=00006>.

Abb. 6: Richter, Adrian Ludwig: Herzog Heinrich fliegend mit Löwen und Drachen. Illustration zum Volksmärchen Melechsala, 1861, Holzstich 125 x 76 mm. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 7: Herr, Michael: Flugblatt Zauberey (ca. 1626). Bildnachweis: Universitäts- und Landesbibliothek Erlangen-Nürnberg.

Abb. 8: Richter, Adrian Ludwig: Illustration zu Die Hexe bannt die Hirschkühe. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 9: Richter, Adrian Ludwig: Weib mit dem Kochlöffel tanzt nach des Teufels Schalmeispiel. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 10: Richter, Adrian Ludwig: Die Beichte der Gräfin. Illustration zu Musäus’ Märchen Richilde, 1855. Holzstich, 75 x 85 mm. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 11: Schellenberg, Johann Rudolf: König Mark lässt sich von Misfragmutosiris’ Zauberkünsten blenden (1786). Bildnachweis: Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign.: Wiel 115 (1).

Abb. 12: Jordan, Rudolf: Friedbert erwartet die von ihm beraubte Jungfrau in seiner Zelle. Illustration zu Musäus’ Märchen Der geraubte Schleier, 1842. Holzstich, 117 x 106 mm. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 13: Michelangelo Buonarroti: Der Sündenfall (1508-1512). Sixtinische Kapelle. Bildnachweis: Néret, Gilles: Michelangelo. Köln/London u.a. 2005, S. 34.

Abb. 14: Richter, Adrian Ludwig: Prügelei der Betrunkenen. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 15: Richter, Adrian Ludwig: Titelbild mit Initiale V, Papst Gregor IX., der zum Kreuzzug aufruft. Illustration zu Musäus’ Märchen Melechsala, 1842. Holzstich, 148 x 109 mm. Bildnachweis: Bildarchiv Hamburger Kunsthalle.

Abb. 16: Kaempffer, Eduard: Graf von Gleichen wird im Kampf gefangen genommen (1883). Bildnachweis: Stadtarchiv Erfurt.

Abb. 17: Die Titelkupfer zu Heinrich Dittmars Lesebüchern Der Knaben Lustwald (1822) und Der Mägdlein Lustgarten (1823). Bildnachweis: Bayerische Staatsbibliothek München, Paed.pr.2232-2,2, S. 5 sowie Res/Paed.pr.2232 s-2, S. 5.

Abb. 18: Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis des Deutschen Lesebuchs von Rave/Schlette von 1861. Bildnachweis: Leibnitz-Institut für Bildungsmedien / Georg-Eckert-Institut.

Abb. 19: Klassenfoto aus den ca. 1920er Jahren mit vier Märchenschulwandbildern von C.C. Meinhold & Söhne, Dresden. Bildnachweis: Sammlung Dathe, Brüder Grimm-Haus Steinau.

Abb. 20: Bildergestell aus dem Schulwart von 1914. Bildnachweis: University of Illinois Archive.

Abb. 21: Schulwandbild: Hänsel und Gretel, Entwurf Willy Claudius, Verlag C.C. Meinhold & Söhne, Dresden 1906, 97 x 66 cm. Bildnachweis: Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien Würzburg.

Abb. 22: Anzeigen zu den Märchenwandbildern der Verlage C. C. Meinhold & Söhne sowie Hollerbaum & Schmidt aus dem Schulwart-Katalog von 1914. Bildnachweis: University of Illinois Archive.

Abb. 23: Werbeplakate des Verlags Hollerbaum & Schmidt. Bildnachweis: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Dietmar Katz (4) / Jens Ziehe (1).

Abb. 24: Hänsel und Gretel (Knusperhäuschen), Entwurf vermutlich Marie von Geldern-Egmond, Verlag Hollerbaum & Schmidt, Berlin um 1914, 70 x 28 cm und 28 x 12 cm. Bildnachweis: University of Illinois Archive.

Abb. 25: Hänsel und Gretel, Entwurf Kopfbilder Gertrud Caspari, Aktiengesellschaft für Druck und Verlag, Kassel 1926, 68 x 56,5 cm. Bildnachweis: Saarländisches Schulmuseum Ottweiler.

Abb. 26: Hänsel und Gretel, Entwurf Müller Wachsmuth, Verlag F. E. Wachsmuth, Leipzig 1928, 75 x 55 cm. Bildnachweis: Saarländisches Schulmuseum Ottweiler.

Abb. 27: Schulwandbild: Hänsel und Gretel, Entwurf unbekannt, Plagiat, Verlag Flemmings, Hamburg o. A., 87,5 x 59 cm. Bildnachweis: Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien Würzburg.

Abb. 28: Der Arme und der Reiche, Entwurf Paul Hey, Verlag C. C. Meinhold & Söhne, Dresden vor 1914, 97 x 66 cm. Bildnachweis: Saarländisches Schulmuseum Ottweiler.

1. Einleitung

„Gewiß: ist irgend etwas je auf Dörfern im Schwange gewesen, wodurch Aberglaube und Dummheit begünstigt wurden – so sind es die Spinnstuben. Hier“, so meint es das Journal von und für die Deutschen beobachtet zu haben, „werden alle Nachrichten von Geistern, Hexen, Erscheinungen u. s. w. zusammen getragen, alle alte Mährchen, seyen sie auch noch so albern, aufgekocht, den Erzählenden wie den Zuhörern tief ins Gedächtniß eingepräget.“1 Diese 1786 im Journal geäußerte Auffassung trifft im 18. Jahrhundert auf breiten Anklang – zumindest in den herrschenden Gesellschaftskreisen, die Verordnungen zur Aufhebung jener „der Ehrbar- und Anständigkeit offenbar entgegen laufende[n] Spinnstuben“ erlassen.2 Ebenjenen Ort des einfachen, geselligen Beisammenseins des Bürgertums, führen deutsche Märchensammler wie die Brüder Grimm als wichtige Bezugsquelle an. So behauptet auch August von Kotzebue, Neffe und Schüler des Musäus, sein Onkel habe für seine Volksmährchen der Deutschen „wirklich eine Menge alte Weiber mit ihren Spinnrädern um sich versammelt[…], sich in ihre Mitte [ge]setzt[…], und von ihnen mit ekelhafter Geschwäzigkeit vorplaudern [lassen], was er hernach so reizend nachplauderte.“3 Ebenjene Geschichten sind es, welche die Spinnstuben, diese Tummelplätze „einer rüden Phantasie“, zum Dorn im Auge der Obrigkeiten werden lassen.4 Die dort verbreiteten „Ammenmärchen“ widersprechen dem Geiste der Aufklärung und dessen Abneigung gegenüber dem Aberglauben. Doch nicht nur die Märchen, die mit Gottsched lediglich „zum Spotte und Zeitvertreibe müßiger Dirnen, und witzarmer Stutzer“ erzählt werden,5 sind in den Spinnstuben im Umlauf; auch christliches Gedankengut wird auf diesem Wege erfolgreich verbreitet.6 Die bereits im 16. Jahrhundert von Kardinal Karl Borromäus angeregten Geschichten erweisen sich als „ausgezeichnetes Mittel zur religiösen Unterweisung, weil sie in unauffälliger, oft gar nicht merkbarer Weise die Kenntnis eines geschlossenen Glaubens- und Sittenkodex vermitteln, nach dem sich Gläubige auch im Alltag zu richten vermochten.“7

Religion und Märchen haben ihren Platz in den Spinnstuben des 18. Jahrhunderts. Trotz der scheinbar großen thematischen Distanz werden bereits von den Zeitgenossen Gemeinsamkeiten ausgemacht. „Höchst sonderbar“, so bemerkt Novalis, „ist die Ähnlichkeit unserer heiligen Geschichte mit Märchen.“8 Über die Frage, wie viel Religion in den Märchen enthalten ist, wird in der literatur- und religionswissenschaftlichen Forschung bis heute lebhaft gestritten: „[W]er nach ‚Gott im Märchen‘ fragt, muss damit rechnen, ganz und gar gegensätzliche, ja eventuell sogar einander sich ausschließende Antworten zu erhalten.“9 Die Frage nach der Präsenz Gottes in den Märchen reicht freilich nicht aus, um ihren religiösen Gehalt zu bestimmen. Selten sind die Begebenheiten, in denen Gott höchstpersönlich in Erscheinung tritt – so etwa in Ludwig Bechsteins Der Gevatter Tod oder in Der Arme und der Reiche aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm; in den Märchensammlungen der Aufklärung sucht man häufig vergebens nach ihm. Und doch sind die Märchen nicht frei von religiösen Spuren, die sich im Laufe der Jahrhunderte ihrer Existenz angesammelt haben.

Diese Gemeinsamkeiten, die Novalis zwischen dem „ganz und gar weltliche[n]“ Märchen und religiösen Schriften zu erkennen glaubt, sind nach wie vor ein Thema von großem Interesse, auf das bislang keine abschließende Antwort gefunden werden konnte.10 Kontrovers sind die Diskussionen in der Forschung, die ein breites Spannungsfeld offenlegen: Die Standpunkte reichen von der Überzeugung, die Märchen tragen „immer einen Grundton von Religion“ in sich,11 bis hin zu der Ansicht, dass die seltenen Verweise auf Gott nichts als „eingedrungene Fremdkörper“ seien.12 So weist beispielsweise Max Lüthi darauf hin, dass die „echte[…] Märchenwelt“ nicht von Gott abhängig sei, da sich die interne Ordnung von alleine wiederherstelle.13 Rölleke geht noch einen Schritt weiter, indem er meint:

Gott ist häufig redensartlich vertreten, aber keiner kümmert sich wirklich um ihn, und er selbst bekümmert sich um gar nichts. […] Gott scheint nichts als eine redensartliche Floskel zu sein, noch substanzloser als einige dämonische Wesen, die bei redensartlicher Nennung doch immerhin gelegentlich persönlich zu erscheinen pflegen.14

Folgt man hingegen Solms, so könne man die Volksmärchen „durchaus in den Dienst der christlichen Lehre stellen“, sie verlören sich gleichwohl nicht darin.15

Vor allem die theologische Forschung hat sich auf die Suche nach Überschneidungen zwischen christlicher Lehre und Märchen – vorrangig denen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – gemacht. Religionspädagogen wie Halbfas oder Betz gelangen zu dem Schluss, dass die Geschichten aus der Grimmschen Sammlung zwar nicht von Grund auf als christlich einzustufen sind, sich jedoch im besonderen Maße als Werkzeug zur Vermittlung religiöser Inhalte eignen.16 Lange bezeichnet das Märchen gar als „Propädeutikum“, welches die Menschen in einer sinnentleerten Welt wieder behutsam an die Religion heranführen kann, „indem es Anschauungen von Gnade und Erlösung vorgibt und die Frage nach der Berechtigung eines solchen Menschenbildes der Erlösungsbedürftigkeit auf eine breite Basis stellt.“17 Aber auch im wissenschaftlichen Diskurs der Theologen herrscht über die Parallelen zwischen Märchen und Religion kein Konsens. Gerade zur protestantischen Theologie steht das Märchen in einem schwierigen Verhältnis: „Wie Feuer und Wasser wurden Märchen und Offenbarung einander entgegengesetzt, die naive Identifizierung von Schrift und Offenbarung erstickte jede Diskussion über Aussagewertigkeit und Wahrheitsanspruch des Märchens im Ansatz.“18 Und doch lässt sich nicht abstreiten, dass die Bibel einige märchenhafte Elemente beinhaltet,19 beziehungsweise dass im Märchen universell religiöse Vorstellungen wie der Kampf von Gut und Böse oder die Allverbundenheit des Helden mit seiner Umgebung zu finden sind.20

Der wissenschaftliche Diskurs über die Existenz religiöser Inhalte im Märchen, so zeigt sich, ist weit davon entfernt, eindimensional zu sein. Anders als in der theologischen sind in der literaturwissenschaftlichen Forschung vergleichsweise wenige Beiträge zu diesem Thema zu finden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle Jürgen Jannings Aufsatzsammlung Gott im Märchen, die jedoch ebenfalls zu einem hohen Anteil aus religionspädagogischen Abhandlungen besteht, sowie die Beiträge Dietz-Rüdiger Mosers.21 Des Weiteren haben sich Claudia Maria Pecher, Heinz Rölleke und Wilhelm Solms in Essays mit der Frage auseinandergesetzt, wie religiöse Aspekte in deutschen Märchen ausgestaltet sind.22 Unabhängig von den Märchen ist das Verhältnis von Dichtung und Religion in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Fokus der Literaturwissenschaft geraten. „Gesellschaftlich wie wissenschaftlich ist das Interesse für Religion spätestens im neuen Jahrtausend außerordentlich gewachsen und hat zu einer ganzen Fülle von Forschung geführt, die noch schwer zu überblicken ist.“23 Davon zeugt nicht zuletzt der 2019 erschienene Auftaktband Literatur / Religion der neuen Reihe Studien zur Literatur und Religion. „Migration und Globalisierung“, bemerken darin die Herausgeber Braungart, Jacob & Tück, „lassen vermeintlich abgelegte Fragen wieder heranrücken und sorgen für Bewegung auch im Blick auf Reichweite und Geltung eingespielter Überzeugungen.“24 Die aktuellen weltpolitischen Geschehnisse und die Wahrnehmung der Gegenwart als „Zeitalter der Verunsicherung“ verdeutlichen nicht nur, dass die Menschen noch immer Religion als Trostspender und Sinnstifter beanspruchen;25 es wird zugleich sichtbar, dass die klassische Säkularisierungsthese in dieser Form nicht haltbar ist, sondern ihrerseits als das „Element eines ideologie-affinen Aufklärungsmythos“ erscheint.26 „Selbst in den Regionen Europas, in denen die Säkularisierung […] weit fortgeschritten ist, ist die Religion in den öffentlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs zurückgekehrt.“27

Die Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Rang des Menschen unter den anderen Lebewesen sind keine Fragen, die erst die Moderne hervorgebracht hat. Allerdings wird ihre Beantwortung durch aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend erschwert. Ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal ist die Gabe des Menschen zur Fiktion: „[Sie] ist ein Resultat der hervorragendsten Vermögen des menschlichen Geistes, sie bemüht gleichermaßen die Kraft der Sprache und die Macht der Imagination.“28 Durch die Fiktion ist der Mensch in der Lage, neue, vermeintlich reale Welten zu erschaffen und Wirklichkeit zu simulieren – und das, wie Forschungsergebnisse belegen, im „Modus unbestreitbarer Echtheit“, mit der Möglichkeit, „gleichermaßen affektive und handlungsbestimmende Kräfte“ freizusetzen.29 Die Wirkmächtigkeit der Literatur ist damit nicht zu unterschätzen. Bereits Platon bescheinigte ihr deshalb den Hang zur Lüge und warnte davor, die Kinder nicht mit „beliebige[n] Geschichten von beliebigen Märchendichtern“ zu konfrontieren.30

Das Märchen trägt den Verdacht, die Unwahrheit zu erzählen, bereits im Namen.31 Abgeleitet vom mittelhochdeutschen mære, was zunächst „Kunde“ oder „kleine Erzählung“ heißt, deutet das Diminutiv des Wortes gleichzeitig nicht nur die Kürze der Geschichten, sondern auch eine gewisse Unwahrscheinlichkeit dergleichen an.32 Bei dem Versuch, eine vorläufige Definition des Märchens aufzustellen, greift Neuhaus auf den Begriff der ‚Fantastik‘ zurück, dessen genaue Konturierung in der Forschung nach wie vor kontrovers diskutiert wird.33 Dementsprechend will Neuhaus die Fantastik auch nicht als Gattungsbezeichnung verstanden wissen, sondern als ein Merkmal literarischer Texte, die ihrerseits den verschiedenen Gattungen angehören – wie etwa dem Märchen.34

Märchen sind fantastische, d. h. ‚über den Realismus hinausgehende‘ Texte, erweitert um die Kategorie der nicht primär religiös geprägten Transzendenz, die sich als das Wunderbare bezeichnen lässt. Das Wunderbare ist die Aufhebung oder Veränderung von Naturgesetzen durch Eingriff von ‚übernatürlichen Kräften‘. Märchen als Gattungsbegriff schließt als weiteres Merkmal die (wie immer geartete) Verwendung von Stoffen und Motiven ein, die sich (literar-)historisch innerhalb der Gattung entwickelt haben.35

Damit wird das Wunderbare als konstituierende Eigenschaft des Märchens ausgemacht. Diese Transzendenz wird zwar weniger von Religion als von animistischen Vorstellungen geprägt, sie schließt jedoch religiöse Einflüsse keineswegs aus. Die Definition ließe sich um die Tatsache ergänzen, dass die Heldinnen und Helden der Märchen transzendenten Figuren und Vorkommnissen zumeist gleichmütig begegnen. Das Unerklärliche ist in die Alltagswelt des Märchens integriert und löst in der Regel weder Scheu noch Erstaunen aus, ein Umstand, der das Märchen von Sage und Legende unterscheidet.36

Dass das Märchen in besonderem Verhältnis zur Fiktion steht, haben auch die Märchensammler erkannt. Wilhelm Hauff und Ludwig Bechstein beispielsweise bezeichnen es als Kind der Fantasie37 und Musäus drückt seine Hoffnung aus, „durch die Zauberlaterne der Phantasie das ennüyierte Publikum eine Zeitlang mit dem schönen Schattenspiel an der Wand zu unterhalten.“38 Gleichzeitig werden in den Geschichten – trotz allem Märchenhaften – essenzielle Wahrheiten des Menschen transportiert.39 „Es scheint seltsam“, konstatiert Wieland in der Vorrede seiner Märchensammlung Dschinnistan, „daß zwey so widersprechende Neigungen, als der Hang zum Wunderbaren und die Liebe zum Wahren, dem Menschen gleich natürlich, gleich wesentlich seyn sollen, und doch ist es nicht anders.“40 Beiden Neigungen, sowohl Fiktionalem als auch Realem, wird in den Märchen Raum gegeben. Als „Poesie der Poesie“ sind sie jedoch die Erhöhung des Spiels mit dem Wunderbaren, da die Märchen-Welt an „keine naturgesetzlichen Wahrscheinlichkeiten“ gefesselt ist.41

Die Religion hingegen steht in einem weit problematischeren Verhältnis zur Fiktionalität als das Märchen. „[D]as religiöse Bewusstsein kann die Einsicht, dass Jesu Wandeln über den See eine Fiktion ist, nicht mit der gleichen Gefasstheit ertragen wie das kulturelle Bewusstsein damit leben kann, dass die Verwandlung von Gregor Samsa in einen Käfer Fiktion ist.“42 Der Anspruch, Wahrheiten zu vertreten, kollidiert seit der Aufklärungszeit mit historischen Erkenntnissen und dem zunehmend wissenschaftlichen Blick auf die Geschehnisse der Welt. Der Versuch der Kirche, die Deutungshoheit gegen die modernen Wissenschaften zu verteidigen, hat nicht zuletzt zu ihrem Glaubwürdigkeitsverlust beigetragen. „Die Theologie“, so befindet auch Eugen Drewermann, „hätte sich nie einbilden dürfen, Antworten zu haben, die richtiger oder besser wären als die naturwissenschaftlichen Antworten.“43 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Religion von Menschen gemacht ist.44 Heilige Schriften wie die Bibel verdeutlichen dies: Die zahlreichen darin vertretenen literarischen Gattungen verleihen ihr den Charakter eines Sammelbandes, in dem die „biblischen Schriftsteller […] ohne Scheu [auch] die in ihrer Umwelt bekannten märchenhaften Motive“ verwenden und in einen neuen Zusammenhang stellen.45 Als ästhetisches und imaginatives Gebilde sind sowohl Literatur als auch Religion seit ihren Ursprüngen im ständigen Schaffensprozess eingebunden.46 Dies ist somit eine grundlegende Gemeinsamkeit von Religion und Literatur – und damit auch der Märchen: beide sind Menschenwerk und beide sind für den Menschen seit jeher von zentraler Bedeutung gewesen, da sie „grundlegende Diskurse menschlicher Selbstreflexion und menschlicher Selbstbegegnung“ darstellen.47

Untersuchungen dazu, in welchem Maße sich Literatur und Religion über die Jahrhunderte gegenseitig befruchtet haben, sind ein vielversprechender Forschungsansatz für die Literaturwissenschaft, da dieser Gesichtspunkt bislang überwiegend aus theologischem Blickwinkel betrachtet wurde.48 Über die hervorstechende Bedeutung der Religion für die Literatur kann es indes keinen Zweifel geben. „Das würden selbst diejenigen nicht bestreiten, denen Religion persönlich gleichgültig geworden ist oder überhaupt Schnee von gestern scheint.“49 Die starke Dynamik zwischen Religion und Literatur legt auch im wissenschaftlichen Forschen Interdisziplinarität in besonderer Weise nahe.50 „Literatur und Religion, emphatisch gelesen, stellt diese [disziplinären] Grenzen in Frage; das jeweils eine ist für das andere nicht einfach ein Gegenstand unter anderen, sondern betrifft das disziplinäre Selbstverständnis.“51 In diesem Sinne soll auch die Untersuchung der Märchensammlungen interdisziplinär historische sowie theologische Diskurse in den Blick nehmen, wenngleich der Schwerpunkt dieser Dissertation aus literaturwissenschaftlicher Sicht gestaltet wird.

Bevor eine Untersuchung der Märchensammlungen erfolgen kann, gilt es, eine Definition von Religion zu geben, die für die weitere Analyse bestimmend ist. Auch auf die Problematik eines Definitionsversuchs muss an dieser Stelle hingewiesen werden, da in der Religionswissenschaft bis heute kein Konsens darüber herrscht.52 Dem konsequent historisierenden Ansatz folgend, wird auch der Religionsbegriff historisiert. Es wird somit zu untersuchen sein, wie selbiger sich im geschichtlichen Rahmen von Aufklärung und Romantik verändert und welche Auffassungen in den Märchen wiederzufinden sind.

Bemerkenswerterweise ist gerade die Lösung der Einheit von Religion und Literatur, die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzieht, eine Grundvoraussetzung für eine fruchtbare Wechselbeziehung. Die Epoche der Aufklärung, in der sich der autonome Kunstbegriff etabliert, markiert somit einen wichtigen Einschnitt. Erst die Forderung nach einer Kunst, deren Zweck in der Kunst selbst liegt, ermöglicht es der Literatur, einen neuen Blickwinkel einzunehmen:

Ging es zuvor vor allem um Ausschmückung, Bebilderung und Bestätigung der religiösen Vorgaben, so entsteht nun ein Spannungsverhältnis, das für beide Seiten bereichernd ist: für die Theologie, weil sie sich immer wieder überprüfen und weiterentwickeln kann durch die Spiegelungen und Provokationen der Literatur; für die Literatur, weil sie Auseinandersetzungen mit den traditionellen Religionen, mit religiösen Erfahrungen und theologischen Reflexionen immer wieder künstlerisch fruchtbar machen kann.53

In ebendiesem Spannungsverhältnis stehen die sechs deutschen Märchensammlungen um 1800, die im Weiteren den Kern der Analyse bilden. Dazu gehören Christoph Martin Wielands Dschinnistan, die Volksmährchen der Deutschen von Johann Karl August Musäus, Benedikte Nauberts Neue Volksmährchen der Deutschen, die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, Wilhelm Hauffs Märchen sowie das Deutsche Märchenbuch des Ludwig Bechstein. Die Arbeit rubriziert damit eine Zeitspanne von rund 50 Jahren (1782-1826), die Kernphase, in der sich die deutschen Märchensammlungen vorwiegend neu akkumulieren. Lediglich die Märchen Bechsteins (1845) fallen aus diesem Rahmen. Da sie in einem hohen Maße bestehende Sammlungen, vor allem die Grimmschen KHM, beleihen, werden sie probeweise hinzugezogen, um das rezeptionsgeschichtliche Fortschreiben der religiösen Inhalte zu überprüfen.

Im Fokus sowohl theologischer als auch literaturwissenschaftlicher Untersuchungen standen bislang wie so häufig die Brüder Grimm und ihre Sammlung der Kinder- und Hausmärchen. Die Analysen haben ergeben, dass die KHM von Auflage zu Auflage einen erhöhten Anteil an frömmelnden Passagen aufweisen. Die Brüder Grimm, vorrangig Wilhelm, haben dafür gesorgt, dass die von ihnen ausgewählten Märchen einen religiösen Grundton annehmen. „Bis in die letzten Ausgaben hinein sind die Märchen im Hinblick auf christliche Züge zurechterzählt worden […].“54 Eine Beantwortung der Frage, welche dieser Passagen von den Grimms hinzugefügt wurden und welche nicht, ist nicht pauschal möglich und muss von Text zu Text neu überprüft werden. Eine derart detaillierte Forschungsarbeit, die nicht nur einzelne Märchen aus der Sammlung in den Blick nimmt, steht noch aus. Pecher betont zudem die Notwendigkeit der Hinterfragung der KHM auf ein religiöses Referenzsystem, „welches inter- und intratextuell angelegt ist“.55 Eine nähere Betrachtung der acht Märchen, denen die Grimms eine wundersame Ähnlichkeit mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht attestieren, könnte zudem weitere Erkenntnisse über die Einflüsse fremder Kulturen bringen.56 Doch darüber hinaus erscheint es besonders lohnenswert, weitere deutsche Märchensammlungen in den Blick zu nehmen, die Rückschlüsse über die Entwicklung der religiösen Motive im Märchen um 1800 zulassen – und bisher weitestgehend unbeachtet geblieben sind.

Die sechs Sammlungen sollen zunächst in Bezug auf ihre Funktion und ihren zeitgenössischen Stellenwert vorgestellt werden. Neben dem Pfarrerssohn Wieland, dem Verfasser des „erste[n] genuin deutsche[n] Kunstmärchen[s]“57, werden sein Schüler Musäus, der als erster den Begriff ‚Volksmärchen‘ für seine Sammlung verwendet, die in ihrer Zeit vielgelesene und hochgelobte, heute jedoch fast vergessene Benedikte Naubert, die gattungsprägenden, christlich aufgeladenen Kinder- und Hausmärchen der Grimms, Hauffs überwiegend im Orient angesiedelten „realistische[n] Märchen“58 sowie Bechsteins Deutsches Märchenbuch berücksichtigt, dessen „ungeheuerliche[r] Erfolg“ bereits 1838 zu einer Aufnahme in den Schulunterricht führte.59 Mit der Auswahl wird nicht nur ein epochenübergreifender Blick auf die Sattelzeit des deutschen Märchens ermöglicht, sondern gleichzeitig der Tatsache Rechnung getragen, „dass es doch neben diesen kanonisierten Buchmärchen [der Grimms] auch viele andere Märchen und kulturhistorische Zeugnisse der Vergangenheit gibt, die es zu entdecken gilt.“60

Das dritte Kapitel widmet sich den religiösen Dimensionen der Märchensammlungen. Nach einer induktiven Auswertung der einschlägigen Korpora und Forschungsliteratur wurden sechs Untersuchungskategorien ausgemacht. Sie setzen sich zusammen aus: 3.1 Gut und Böse, 3.2 Gott und Teufel, 3.3 Hexen und Heilige, 3.4 Versuchung und Erlösung, 3.5 Himmel und Hölle sowie 3.6 Orient und Okzident. Die Auswahl der Analysefelder verdeutlicht das Anliegen der Dissertation: In den verschiedenen Kategorien sollen nicht nur primär christliche Narrative wie die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen Berücksichtigung finden; gleichzeitig wird die Möglichkeit eröffnet, die Märchen auf pagane Motive sowie auf weitere Konfessionen wie den Islam hin zu erforschen. Damit wird der Forderung von Braungart, Jacob, Tück nachgekommen, auch die nichtchristlichen Glaubensrichtungen als Forschungsfeld des Verhältnisses von Religion und Literatur zu betrachten.61 Darüber hinaus machen die weit zurückreichenden Wurzeln des Märchens die Vermessenheit des Unterfangens offensichtlich, die darin enthaltenen religiösen Spuren auf das Christentum reduzieren zu wollen. Welche Konfessionen lassen sich also in den deutschen Märchen um 1800 ausmachen? Welche religiösen Spielarten sind es, die sich in ihnen wiederfinden?62 Und wie werden diese im dominant christlich geprägten Zeitalter der untersuchten Märchensammlungen in ein Interaktionsverhältnis gebracht? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Dissertation nachgegangen.

Im Anschluss an die Betrachtung der einzelnen Untersuchungsfelder folgt in Kapitel 4 eine rezeptionsgeschichtliche Analyse, welche die Bedeutung der herausgearbeiteten Spielarten des Religiösen im deutschen Märchen im Kontext von Aufklärung und Romantik beleuchten. Die historischen, politischen und geistigen Entwicklungen um 1800 sind unbedingt zu berücksichtigen, wenn es um die Ergründung der literaturgeschichtlich einschlägigen Phänomene geht. „[G]erade die erfahrene Auflösung geltender Ordnungsstrukturen ruft nach allgemein historischer Erkenntnis ein besonderes Interesse an Neuordnung auch in der Literatur hervor.“63 Mit eben solchen von Pecher beschriebenen Umbrüchen sieht sich die europäische Bevölkerung um 1800 in erheblichem Maße konfrontiert – seien sie politischer Natur wie die Französische Revolution oder geistiger wie die Aufklärung. Bekannte Systeme wie die staatliche Ordnung werden angezweifelt; besonders die religiösen Glaubenspraktiken und Denkmodelle werden von den Aufklärern auf den Prüfstand gestellt. Als Maßstab für die Glaubenswahrheit gilt die Vernunft. „Der ‚Prozess gegen das Christentum‘ […] beherrschte das Denken des 18. Jahrhunderts in einem Maße, wie das in unserer weitgehend säkularisierten Gesellschaft kaum noch vorstellbar ist.“64 Die Verpflichtung zur Rationalität sieht Rölleke als einen entscheidenden Faktor für die sich „gewaltig steigernde ‚Feenwut‘ […], in der sich die gegängelte Phantasie einen Freiraum und eine Art nachsichtig tolerierten Tummelplatz schaffte.“65 Die historischen, politischen und geistigen Entwicklungen um 1800 sind unbedingt zu berücksichtigen, wenn es um die Ergründung der literaturgeschichtlich einschlägigen Phänomene geht.

Erinnert man sich des historischen Kontexts, der militärischen Niederlage Preußens sowie der Legitimitätskrise eines herkömmlich absolutistischen Systems, so wird klar, dass dies auch eine immense pädagogische Herausforderung für die ‚allgemeine Menschenbildung‘ im Sinne einer freien ‚proportionierlichen‘ Entwicklung aller Kräfte der Menschen im Geiste Humboldts bedeuten muss.66

Es wird nicht nur zu erforschen sein, wie sich die historischen Ereignisse auf das literarische Schaffen der Märchensammler ausgewirkt haben, sondern auch, welche Verwendung den Märchen in ihrem zeitgenössischen Kontext zukommt. So wird die zunehmende Integration der Märchen in den Schulunterricht zu untersuchen sein, die in den Lesebüchern und Schulwandbildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ihren Ausdruck findet. Ausgesuchte KHM etwa werden durch die Stiehlschen Regulative in den literarischen Schulkanon Preußens aufgenommen.67 Hier zeigt sich eine „durchaus dubiose Verbindung“ von Märchen und Säkularisierung, die ergründet werden muss.68

Der rezeptionsgeschichtlichen Analyse folgt ein abschließendes Kapitel, das Überlegungen zur Bedeutung des Märchens und der Religion für die Gesellschaft um 1800 anstellt. Unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse wird die Frage zu klären sein, was Religion und Märchen verbindet und welche Antworten die Märchen auf zeitgenössische Diskurse und Fragestellungen geben können. Denn wie Braungart, Jacob & Tück bemerken: „Die Wissenschaft von der Literatur hat ebenso ihre jeweilige Zeitgenossenschaft zu bedenken – und ist darum gerade in der Gegenwart wieder einmal aufgefordert, die Religion als ein Thema wahrzunehmen, das für die Literatur besonders relevant ist.“69 Dieser Aufforderung möchte die Dissertation nachgehen und damit einen Beitrag zu einem bedeutsamen Diskurs unserer Zeit leisten. „Was den Inhalt selbst betrifft“, formuliert Wilhelm Grimm in seiner Suche nach dem Ursprung,

so zeigt er bei näherer Betrachtung nicht ein bloßes Gewebe phantastischer Willkür, welche nach der Lust oder dem Bedürfnis des Augenblicks die Fäden bunt in einander schlägt, sondern es läßt sich darin ein Grund, eine Bedeutung, ein Kern gar wohl erkennen. Es sind hier die Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter Glaube und Glaubenslehre in das epische Element, das sich mit der Geschichte eines Volkes entwickelt, getaucht und leiblich gestaltet.70

Diesem Kern gilt es auf den Grund zu gehen, sein Gewebe zu entschlüsseln und damit zu identifizieren, welche seiner Fäden mythologisch, konfessionell oder allgemein spirituell gefärbt sind. Die Dekodierung dieses Kerns wird dabei helfen, mehr über die religiösen Spielarten und die Beschaffenheit der Märchen in Erfahrung zu bringen.

1.1 Zur Definitionsproblematik des Religionsbegriffs

„Welche Religion ich bekenne?

Keine von allen, die du mir nennst.

– Und warum keine? – Aus Religion.“

(Friedrich Schiller)

In zwanzig Jahren wird der christliche Glaube völlig erloschen sein – diese Prophezeiung einer Berliner Zeitung stammt nicht etwa aus der Moderne; sie entsteht vielmehr zur Jahrhundertwende um 1800 und kann als Ausdruck des religiösen Zeitgeistes gewertet werden.1 Bereits im Verlaufe des 18. Jahrhunderts lässt sich sowohl für den Protestantismus (Rückgang der Abendmahlsbeteiligung) als auch für den Katholizismus (weniger Erstkommunionen sowie Berufungen zum Geistlichen) ein schwindendes Interesse der Gesellschaft an kirchlicher Bindung verzeichnen.2 Wenngleich nicht in allen Regionen der gleiche Autoritätsverlust zu beobachten ist, so schildert die Klage des bedeutenden protestantischen Theologen und Predigers Christoph Friedrich von Ammon doch eindrucksvoll, in welch prekärer Situation sich die Religion seinerzeit befindet:

Nicht genug, daß die Tempel verlassen stehen; nicht genug, daß die gottesdienstlichen Gebräuche und Handlungen mehr als jemals an der allgemeinen Teilnahme verloren haben; nicht genug endlich, daß der kirchliche Gemeingeist der Christen beinahe ganz entschwunden ist: auch der Glaube an die wesentlichen Wahrheiten der Religion hat für unendlich viele seine Gewißheit und Stärke verloren, Zweifelsucht und Gleichgültigkeit sind häufig an seine Stelle getreten, der Gedanke an Gott und eine künftige Welt ist ganzen Familien und Gesellschaften fremd geworden.3

Was sich um 1800 noch nicht durch Kirchenaustritte, sondern anhand der sinkenden Beteiligung an religiösen Praktiken belegen lässt, schlägt sich 220 Jahre später in deutlichen Zahlen nieder: Die Gruppe derjenigen, die keiner Religion angehören, ist in Deutschland mit 31,3 Millionen prozentual am stärksten vertreten.4 Die restlichen 62 Prozent der Deutschen sind an eine Konfession – überwiegend an das Christentum – gebunden. Die Prophezeiung des Untergangs der Religion, der bereits Schleiermacher eine Absage erteilt,5 hat sich – trotz des Erreichens eines historischen Höchststandes an Kirchenaustritten – nicht erfüllt.6 Selbst in einer aufgeklärten, dem wissenschaftlichen Fortschritt zugewandten Industrienation wie der Bundesrepublik Deutschland ist Religion also nach wie vor eine wichtige Größe. Doch was genau ist unter ‚Religion‘ zu verstehen und wodurch zeichnet sie sich aus?

Der Versuch, eine allgemeingültige Definition aufzustellen, soll an dieser Stelle unterbleiben, da er zum Scheitern verurteilt wäre: „Der Begriff der Religion ist völlig umstritten. Die Religionswissenschaft hat sich bis heute nicht auf eine Definition verständigen können.“7 Warum die Bestrebungen, einen Konsens zu finden, bislang gescheitert sind, ist nicht unmittelbar nachzuvollziehen.8 Stattdessen existieren eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionsversuche: So halten die substanzialistischen Definitionen Merkmale wie Transzendenz, Götter oder übernatürliche Wesen für grundlegend, während funktionalistische Ansätze auf die Leistung von Religionen (etwa die Sinnstiftung oder die Erzeugung eines sozialen Zusammengehörigkeitsgefühls) abzielen.9 Trotz oder gerade wegen der „unüberschaubaren Pluralität der substanzialistischen und funktionalen Definitionsmöglichkeiten und der ihnen zugrunde liegenden Begründungsprobleme“ hat bislang keiner der Vorschläge überzeugen können – „und dies wird voraussichtlich auch so bleiben“.10

Neuere Definitionen versuchen sich an einer polythetischen Begriffsbestimmung, die dem biologischen Verfahren der Taxonomie ähnelt. Darunter zählt etwa die Forschung von Benson Saler, der eine offene Liste von zunächst fünfzehn Charakteristika vorlegt (u.a. Rituale, Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod, religiöse Spezialisten usw.),11 wobei nicht alle Merkmale gegeben sein müssen, um ein Phänomen als Religion einzustufen: „Auf die Frage ‚Ist X eine Religion‘ wird man daher immer nur antworten können, dass X eine beachtliche oder weniger beachtliche Reihe an Charakteristika besitzt, die man derzeit als typisch für Religion ansieht […].“12 Damit bleibt der Zweifel bestehen, „dass eine so offene Definition für die konkrete religionswissenschaftliche Forschung hilfreich sein kann.“13 Waardenburg versucht die Religion hingegen als Orientierungssystem zu erklären, dessen sinngebender Rahmen es dem „denkende[n] und handelnde[n] Menschen“ ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden.14 Als solches benötige es transzendente Wesen, mit denen der Mensch Kontakt aufnehmen könne, „für absolut geltende Normen und Werte“, die es zu befolgen gelte sowie „jenseitige, unbedingt, ja absolut geltende Bezugspunkte, die sinngebend wirken“.15 Allein die wenigen hier ausgewählten Beispiele verdeutlichen, weshalb es nach wie vor keine einheitliche Definition von Religion gibt.

Der etymologische Ursprung wenigstens lässt sich ausmachen: Er liegt in dem lateinischen Wort religio, das bereits die Römer verwenden. „Nach der geläufigen Vorstellung, an die Cicero anknüpft, bezeichnet Religion nicht ‚fromme Hingabe‘, sondern: ‚die richtige Verhaltensweise im Umgang mit den Göttern‘.“16 Die sorgfältige Ausführung der Pflichten gegenüber Gott bleibt über Jahrhunderte der Kerninhalt des Wortes religio. „[Es] bezieht sich demnach nicht auf eine Gottheit, sondern auf Handlungen […].“17 Feil hat durch seine umfassenden Untersuchungen aufzeigen können, dass der Religionsbegriff kein Kontinuum ausmacht, sondern im 18. Jahrhundert eine entschiedene Zäsur erfährt. Das bestärkt die Tatsache, dass das Wort ‚Religion‘, wie Paul Anton de Lagarde erläutert, erst um 1750 im deutschen Sprachgebrauch Verwendung findet, einer Einschätzung, der auch Kant und Schleiermacher zustimmen.18 Einer der ersten, der Religion als innere Angelegenheit des Menschen bezeichnet, ist Johann Christian Edelmann in seiner Schrift Abgenötigtes jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekentniß. „[V]erbunden damit übt er heftige Kritik an den ‚Religionen‘, soweit sie existieren, und plädiert einzig für eine ‚Religion‘ als ‚Vereinigung mit Gott‘ und als ‚Liebe‘ bis hin zur Gleichsetzung der ‚Liebe‘ mit der ‚Religion‘.“19 In diesem Sinne wird die Religion nicht mehr gemäß der religio als pflichtgemäße Ausübung der Gottesverehrung angesehen, sondern als subjektive Angelegenheit dem Glauben entgegengesetzt.20

Einmal mehr offenbart sich hier die Bedeutsamkeit der Epoche der Aufklärung für die Religion. „Wenn die Aufklärer erwartungsgemäß die besondere Bedeutung der ‚Vernunft‘ herausstellen, so wundert man sich, daß sie doch auch von ‚Empfindungen der Religion‘ sprechen können, so bereits Reimarus.“21 Es setzt sich ein neues, „individualistisches, subjektivistisches, aufklärerisches Verständnis von Religiosität“ durch, das darum bemüht ist, Religion und Vernunft über die Interpolation einer Naturreligion miteinander in Einklang zu bringen.22 Für eine Religion, „die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt“, sieht der Philosoph Immanuel Kant keine Zukunft, da auf Dauer die ratio den Sieg davontragen werde.23 Er formuliert stattdessen den Begriff der Moraltheologie: „Da Gott widerspruchsfrei gedacht, aber nicht theoretisch erkannt werden kann, gründet die einzige vernunftmögliche Theologie auf moralischen Gesetzen.“24 Damit legt er die Verantwortung, gut und richtig zu handeln, und so den Grundstein für das menschliche Seelenheil in die Hand des einzelnen Individuums.25 Die Existenz einer transzendenten Instanz wird bei Kant zwar nicht geleugnet, ihre Relevanz für den Menschen allerdings infrage gestellt. Auch für Herder ist selbige nicht mit dem menschlichen Verstand greifbar. In seiner Schrift Gott. Einige Gespräche (1787) trennt er das göttliche Wesen, „das der Erkenntnis verschlossen [bleibt], aber als offenbares Geheimnis überall und immer wirkt, vom Daseienden in seinen systemischen Ordnungen.“26 Gleich mehrere Umstände sorgen dafür, dass die bis dahin in ihrem Wahrheitsanspruch kaum angetastete Religion in der Aufklärung an Glaubwürdigkeit verliert:

Erstens ermöglicht das Aufkommen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel methodisch einigermaßen präzise, die fiktionalen Anteile herauszuarbeiten. Zweitens erhöht das sich allmählich durchsetzende wissenschaftliche Weltbild den Druck auf den Wahrheitswert der Fiktion […]. Drittens weitet sich im Gefolge der modernen Religionskritik der Fiktionsverdacht auf das Ganze der Religion aus. Die großen dogmatischen Systeme wie Heilsgeschichte, Sünde und Erlösung geraten in den Verdacht, Narrative der religiösen Imagination und damit Fiktion zu sein.27

Details

Pages
402
Publication Year
2024
ISBN (PDF)
9783631916216
ISBN (ePUB)
9783631916223
ISBN (Hardcover)
9783631916209
DOI
10.3726/b21734
Language
German
Publication date
2024 (June)
Keywords
Märchen Versuchung Aufklärung Romantik Brüder Grimm Schulwandbilder Religion Wilhelm Hauff Benedikte Naubert Ludwig Bechstein Christoph Martin Wieland Johann Karl August Musäus Heilige Hexen Teufel Gott Orientalismus Erlösung Hölle Himmel Schulunterricht Literaturwissenschaft
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 402 S., 11 farb. Abb.

Biographical notes

Evelin Ruhnow (Author)

Evelin Ruhnow ist Journalistin und Literaturwissenschaftlerin. Einem zweijährigen Volontariat zur Lokalredakteurin folgten das Studium der Germanistik und Kunstwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen sowie die Promotion. Seit 2012 arbeitet Ruhnow für den SPIEGEL.

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Title: Spielarten des Religiösen im deutschen Märchen um 1800