Unoriginelle Literatur um 1800
Nachahmung nach der Nachahmungspoetik
Zusammenfassung
Der Band untersucht die Eigenlogiken unorigineller Texte und sondiert ihre Funktionen für Literaturtheorie und -kritik. Die Beiträge widmen sich Poetologien des Unoriginellen, fragen nach dem Einsatz von ‚Unoriginalität‘ als Beschreibungskategorie und zeigen, dass Originalität auch und vor allem ein Produkt historisch wandelbarer Diskurspraktiken ist.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Unoriginelle Literatur um 1800. Einführung
- I. Unoriginalität als Beschreibungskategorie
- Einige Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption unorigineller Literatur um 1800
- Fortsetzen, Wiederholen, Kopieren, Vollenden. Schreibweisen der Unoriginalität in Karl Ludwig Schönes „Fortsetzung des Faust von Göthe“ (1823)
- ‚Plumpe Nachahmungen‘ oder echte ‚Originalschauspiele‘? Originalitätsansprüche als Boundary-Work am Beispiel von Gottlieb Stephanies Militärdrama „Die abgedankten Officiers“ (1770)
- II. Unoriginalität/Originalität: Übergänge
- Boccaccio rockt. Pope, Mylius und Chodowiecki machen Novellen aus dem „Decamerone“ populär
- Unoriginelle Originale. Nachahmung und die Ästhetik des Unverfälschten in Volksliededitionen des späten 18. Jahrhunderts
- „Dieß Eigenthümliche … nennt man den Styl“: Karl Philipp Moritz’ „Vorlesungen über den Styl“ (1793/1794) und „Allgemeiner deutscher Briefsteller“ (1793)
- III. Poetologien und Praktiken des Unoriginellen
- Adaptierte Geschichten. Crossdressing und Feminismus in Charlotte von Steins Drama „Die zwey Emilien“ (1803)
- Karl Moor und seine Genossen. Der räuberische Umgang mit Schillers „Räubern“ (1781)
- Kleists kompilatorische Poetik
- IV. Kontexte von Unoriginalität
- „Pasteboard pageantries and German spectres“ (Anonym). Genealogien theatralischer Popularität und Originalität zwischen Deutschland, London und New York
- Geheimbünde und Ordensritter. Konvergenzlinien zwischen origineller und unorigineller Literatur (Schiller/Naubert)
- Unoriginalität als Programm. Österreichische Literatur und österreichischer Buchmarkt um 1800
- Autorinnen und Autoren
Annika Hildebrandt und Erika Thomalla
Unoriginelle Literatur um 1800. Einführung
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Nachahmung aus dem Zentrum der schönen Künste in deren Peripherie verbannt.1 Die regelgeleitete Imitation klassischer Vorbilder, die in der rhetorischen Tradition der Frühen Neuzeit selbstverständlich gewesen war, wurde mit der Durchsetzung der Genieästhetik und des Originalitätskonzepts als minderwertige, dilettantische oder epigonale Kunst abgewertet.2 Bereits 1759 hatte Edward Young die Bedingungen dafür neu definiert, dass auch die neuere Literatur Originalwerke hervorbringe, die es mit den antiken Meisterwerken aufnehmen könnten. In seinen Gedanken über die Originalwerke kam er zu dem paradoxen Schluss, „daß wir, je weniger wir die berühmten Alten copiren, um so viel mehr, ihnen ähnlich seyn werden“.3 Die Nacheiferung der Antike – verstanden als aemulatio, die auf eigenen Ideen basiert – wurde als erstrebenswerte Form der Vorbildorientierung bestimmt; die Nachahmung – im Sinne einer imitatio, die nichts Eigenständiges hervorbringt – als minderwertige künstlerische Praxis: „Die Nachahmung ist knechtisch, die Nacheiferung ist edel“, so Young.4
Die Hierarchie von Original und Kopie war seitdem so stabil, dass man leicht übersieht, wie wichtig die Imitation von Vorbildern und Mustern in der Literatur auch um und nach 1800 blieb. In mehrfacher Hinsicht lässt sich eine Diskrepanz zwischen poetischer Theorie und Praxis beobachten. Das betrifft nicht nur den Umstand, dass die sogenannte originelle Literatur sich häufig stärker in rhetorischen Bahnen bewegte, als es die poetologischen Schriften ihrer vielfach kanonisierten Autoren vermuten lassen.5 Vor allem existierte jenseits der überschaubaren Anzahl kanonisierter Originalwerke auf dem deutschen wie auf dem europäischen Buchmarkt6 eine breite Masse an Texten, die gar nicht erst den Anschein erwecken sollten, originell zu sein, und aus ihrer Orientierung an prominenten Vorbildern kein Geheimnis machten. Dazu zählen Adaptionen, die Erfolgsmodelle wie den Briefroman nach dem Vorbild Samuel Richardsons oder die Gothic Novel durch verschiedene nationale Literaturen verbreiteten;7 empfindsame Gedichte, in denen Klopstock- Leser ihrem Idol nacheiferten, ohne dass ihre Verfasser dies als Widerspruch zum Anspruch auf Originalität begriffen;8 oder Dramen im Militär- und Rittergenre, die dem Publikum Minna von Barnhelm (1767) und Götz von Berlichingen (1773) in Erinnerung riefen.9
Der vorliegende Band hat zum Ziel, die Eigenlogiken solcher unorigineller Texte zu untersuchen und den Funktionen nachzugehen, die ihnen nicht nur auf dem Buchmarkt, sondern auch in der Literaturtheorie und -kritik um 1800 zukamen.10 Originalität und Unoriginalität sind keine inhärenten Eigenschaften von Texten, sondern auch und vor allem Produkte von Zuschreibungen und Diskurspraktiken, die sich im Zeichen der Genieästhetik herausbildeten und, bewusst oder unbewusst fortgeschrieben, speziell für die deutschsprachige Literaturkritik und -wissenschaft für lange Zeit maßgeblich blieben.11 Unter ‚unorigineller Literatur‘ verstehen wir dabei Texte, die zwar solchen diskursiven Zuschreibungen unterliegen, aber ihrerseits nicht notwendig Anspruch darauf erheben, den zeitgenössischen Wertungsmaßstäben des Originellen gerecht zu werden.
In der älteren Forschung wurden die unoriginellen Texte um 1800 vor allem unter den Namen der Genre-, Schema-, Unterhaltungs-, Trivial- oder Massenliteratur behandelt.12 Das Interesse richtete sich dabei in der Regel nicht auf ihre ästhetischen Merkmale, sondern vornehmlich auf ihren sozialhistorischen Wert. So sollte die Analyse wiederkehrender Motive in ‚trivialen‘ Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts Aufschlüsse über die Weltanschauung des sogenannten Massenpublikums geben,13 oder die stabile Form vermeintlich überholter, epigonaler Lyrikgenres wurde mit Blick auf den Gebrauchscharakter von Unterhaltungsliteratur ausgewertet.14 Eine eigene literarische Qualität wurde diesen Texten indessen auch in wohlwollenden Darstellungen zumeist abgesprochen.15
Durch neuere Arbeiten zu Diskursen literarischer Popularität beginnt sich diese Auffassung zu differenzieren.16 Vermittelt durch die Frage nach Echos des Populären im Kanon17 öffnet sich der Blick sukzessive für die ästhetischen Potenziale von Texten, die den literarischen Diskurs seit der Genieästhetik mitbestimmten, ohne sich eindeutig dem Originalitätsparadigma zuzuordnen.18 Originelles und Unoriginelles ist aus dieser Perspektive nicht mehr kategorial geschieden, sondern steht im theoretischen Diskurs wie in der literarischen Praxis immer in einem Wechselbezug und bedarf fortwährender Aushandlungen. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass ein- und derselbe Text als einfallslose Nachahmung und eigenständiges Originalwerk gelesen werden konnte: Sophie von La Roches Debütroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) wurde etwa von einem zeitgenössischen Rezensenten als „platte“ Nachahmung von „Richardsonschen Wendungen“ identifiziert,19 während andere das Buch als Bekenntnisse einer einzigartigen „Menschenseele“ verstanden.20 Welchem dieser beiden Urteile sich die Leserschaft anschloss, hing u. a. davon ab, ob sie sich von der paratextuellen Rahmung des Textes beeinflussen ließ, die La Roches Produktionsweise als intuitiv, nicht regelgeleitet und originell charakterisierte – oder ob sie innerhalb des Textes nach Motiven fahndete, die bereits aus der Gattungstradition bekannt waren.21 In beiden Varianten ließ sich die Bewertung des Briefromans als originell oder unoriginell zusätzlich durch das Geschlecht der Autorin plausibilisieren, das ebenso als Argument für eine im positiven wie negativen Sinne kunstlose Gestaltung herangezogen wurde.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Ausdifferenzierung von Originalität und Unoriginalität um 1800 zwar begonnen hatte, aber noch nicht zum Abschluss gekommen war. Wie hier ergab sich die Beurteilung eines Textes anhand der neuen Leitdifferenz oftmals erst aus einem Zusammenspiel von dichtungstheoretischen Diskursen, literarischen Verfahren, publizistischen Praktiken und sozialen Faktoren. Der vorliegende Band möchte anhand von konkreten Beispielen den Kriterien auf den Grund gehen, die kontext- und perspektivenabhängig über Zuschreibungen von Originalität und Unoriginalität entschieden, und die literarischen Handlungsoptionen ausloten, die sich aus der bewussten Entscheidung für imitierende Schreibweisen ergaben.
I. Poetologien des Unoriginellen. Methodische Perspektiven und Sondierungen
Dass der Begriff des Unoriginellen nicht automatisch mit Einfallslosigkeit, Banalität oder Monotonie gleichgesetzt werden sollte, hat bereits der Philosoph Daniel Jenisch im Jahr 1801 festgestellt. „Wenn Denker, Dichter, Künstler, die alle nach großen Originalen arbeiten, in ihrer Gattung schlecht sind; so sind sie’s doch ein jeder auf seine Art, versetzt mit der Manier des erkornen Originals“, schrieb er in seinem Universalhistorischen Ueberblick der Entwicklung des Menschengeschlechts: „[U]nd, bey aller Gleichheit der Nachahmung, sind sie gewöhnlich eben so sehr einer von dem andern unterschieden, als alle – von dem gemeinschaftlichen Original. Fast jeder hat seine originelle Manier, unoriginell zu seyn.“22 Auch wenn Jenisch von dem Gegensatz zwischen einer genialen Vorlage und minderwertigen Formen der Nachahmung ausgeht, macht er auf einen wichtigen Umstand aufmerksam, der die Relation von Originellem und Unoriginellem betrifft: Selbst da, wo scheinbar bloß bestehende Formschemata, Figuren, Motive, Handlungselemente und Erzählmuster übernommen werden, geschieht dies oft auf eigenwillige Art und Weise. Auch unoriginelles und nachahmendes Schreiben ist nicht mit mechanischer Reproduktion gleichzusetzen. Vielmehr ist es gerade die Art der Wiederholung und der Adaption, die Neues, Innovatorisches hervorbringt.
Diese Überlegung ist für den vorliegenden Band leitend. Die dichotome Unterscheidung zwischen Originellem und Unoriginellem verstellt den Blick darauf, dass es eine große Bandbreite unorigineller Textumgangspraktiken gibt, die jeweils in ganz unterschiedlicher Weise mit existierendem Material verfahren. Sie reichen von Techniken der Rekombination, Kompilation oder Variation von Texten oder Textelementen über die Fortsetzung eines Handlungsstrangs oder die Erfindung eines alternativen Endes, die Kombination von Gattungen, die Imitation eines Tons oder Stils bis hin zur Nachahmung der paratextuellen oder materiellen Ausstattung von Vorbildern. Diese unterschiedlichen Aneignungsformen und Bezugnahmen auf literarische Vorbilder, in denen sich Inter-23 und Paratextualität24 vielfach auf konstitutive Weise verschränken, sind bislang nicht ausreichend differenziert und historisch kontextualisiert worden. Ziel ist es, diesen produktiven Umgang mit Vorbildern im Sinne einer historischen Praxeologie an paradigmatischen Fällen auszuleuchten, um auf dieser Grundlage nach den Eigenlogiken des literarischen Imitierens und Adaptierens zu fragen.25
Der zuletzt genannte Aspekt der Materialität und Paratextualität wirft zudem die Frage nach dem Ort der unoriginellen Literatur auf dem zeitgenössischen Buchmarkt auf. In welchen Medien, in welchen Verlagen und Formaten wurden Texte, die sich als Nachahmungen, Adaptionen oder Fortsetzungen prominenter Vorbilder präsentieren, vorzugsweise publiziert? Die Aneignung literarischer Figuren, Stoffe oder Handlungselemente war zwar um 1800, anders als der Nachdruck von Büchern, nicht offiziell verboten, stellte aber doch eine Verletzung informeller Regeln dar.26 Verlage, die sich auf die Publikation unorigineller Literatur spezialisierten, entwickelten deshalb unterschiedliche Strategien, um diese juristische Grauzone so weit wie möglich auszureizen.27
Ein weiterer Punkt, der einen differenzierteren Blick auf die unoriginelle Literatur um 1800 nahelegt, betrifft die kulturelle Varianz dieser Texte. Die Aneignung poetischer Motive, Formen, Handlungselemente bleibt nicht kontextübergreifend stabil, sondern verändert sich in Abhängigkeit von sozialen, politischen oder religiösen Zusammenhängen. Dabei macht sie nicht an nationalliterarischen Grenzen Halt, sondern zeitigt bemerkenswerte Transfers; dies gilt zumal, da Imitationen und Aneignungen auf dem europäischen Buchmarkt rasch durch Übersetzungen zugänglich gemacht wurden.28 Gerade bei Genres, die mit festen Formschemata arbeiten, sind es mitunter Details, die den Deutungsrahmen grundlegend verändern können. Ein Beispiel für so eine kontextabhängige Adaption bietet der Briefroman Eleonore. Kein Roman, eine wahre Geschichte in Briefen des österreichischen Autors Johann Friedel aus dem Jahr 1781.29
Friedels Geschichte lehnt sich formal stark an den Briefroman nach Richardsons Vorbild an: Wie in fast allen Erzählungen dieses Genres steht auch hier eine Frau im Zentrum, deren Tugend in Gefahr ist.30 In diesem Fall allerdings handelt es sich nicht wie bei Richardson um eine ledige, sondern um eine verheiratete Frau und um keinen standesübergreifenden, sondern einen innerständischen Konflikt. Die adlige Eleonore ist mit dem Grafen Flett verheiratet, der sich in Paris mit Prostituierten vergnügt und sich von seiner Frau schließlich per Brief trennt, um eine andere Dame zum Schein zu heiraten. Beide Frauen finden sich nach einer Reihe von Intrigen im Kloster wieder, geraten an Zuhälter, werden verhaftet und erleben nur durch glückliche Zufälle noch ein Happy End. Friedel greift mit dieser Geschichte eine Reihe von Motiven auf, die im Briefroman seit langem etabliert sind: darunter die Scheinehe, den sittenlosen Libertin, die unschuldige Tugendhafte, das Motiv der Vergewaltigung, der unfreiwilligen Schwangerschaft und die verhinderte Flucht mit einem neuen Geliebten. Für die Leserschaft findet sich hier also viel Vertrautes wieder.
Entscheidend sind aber die Abweichungen von der bekannten Struktur. Im Gegensatz zu den Gattungsvorbildern gibt es in Friedels Adaption des Modells keine providenzielle Logik. Der Briefroman in der Tradition Richardsons ist zumeist durch typisierte moralische und soziale Dichotomien gekennzeichnet: Der höfisch konnotierten Kunst der Verstellung und Intrige wird die Tugend und Aufrichtigkeit gottesfürchtiger Frauen und Männer gegenüberstellt.31 In Eleonore hingegen haben solche Schematismen keine Geltung mehr. Unabhängig von ihrer sozialen Position oder ihrem institutionellen Ort lassen sich die Figuren von unmoralischen Eigeninteressen leiten. Nicht nur einzelne Personen am Hof, auch die Klöster, die Polizei und die rechtlichen Institutionen, die im Roman vorkommen, erweisen sich als dysfunktional. Die Funktion der Geschichte weist daher in eine neue Richtung: Problematisiert wird nicht die Amoralität eines individuellen Libertins, sondern die Machtausübung der religiösen, staatlichen und höfischen Akteure, die dessen Verhalten ermöglichen und indirekt unterstützen.
Vor diesem Hintergrund ist signifikant, dass die Romanhandlung von Friedel um acht Jahre, auf das Jahr 1773, rückdatiert wurde. Friedel war ein Anhänger der Politik Josephs II., der 1780 mit dem Tod Maria Theresias alleiniger Regent des Habsburgerreichs wurde und maßgebliche Reformen von Justiz, Kirche, Staat und Verwaltung umsetzte.32 Er führte u. a. geregelte Strafverfahren ein, beschränkte die Befugnisse des Klerus, stiftete von der Kirche unabhängige soziale Einrichtungen wie Heime, Armen- und Krankenhäuser und öffnete den Weg für die Zivilehe.33 All dies wurde 1781, als Eleonore erschien, eingeleitet oder bereits umgesetzt. Seit sich der ‚Kirchenkampf‘ des Kaisers verschärfte, begann der Aufschwung einer neuen Wiener Romanliteratur, die sich zum Sprachrohr der Josephinischen Aufklärung machte.34 Das Reformprogramm bildet daher eine Art positiven Verweishorizont für die Probleme, mit denen Friedels Romanfiguren konfrontiert sind. Statt dem habsburgischen Publikum Tugend und das Vertrauen auf göttliche Vorsehung zu empfehlen, plädiert Friedel indirekt für die Josephinische Agenda, die die Macht des Klerus begrenzen und juristische Selbstbestimmung ermöglichen sollte.
Der Reiz einer Adaption ergibt sich also häufig gerade aus den Reibungspunkten und den Momenten der Abweichung zwischen Original und Nachahmung. Ausgehend von solchen Friktionen stellt sich die Frage, wie unoriginelle Texte das Verhältnis von Imitation und Variation nutzen, um die unrealisierten Möglichkeiten und Leerstellen literarischer Werke zu erkunden und sie im Hinblick auf veränderte politische, soziale und ästhetische Rahmenbedingungen nutzbar zu machen. Das gilt nicht nur für ‚konventionelle‘ Nachahmungen erfolgreicher Genres und Formate wie Friedels Briefroman, sondern auch und gerade für jene Formen der Aneignung, die man im Anschluss an Matthew Birkhold mit dem anachronistischen Begriff der Fanfiction belegen kann: Texte, die eine Geschichte aus der Perspektive einer anderen Figur neu erzählen, einen Seitenstrang ausbauen, das Ende einer Handlung umschreiben oder eine ganz neue Vorgeschichte erfinden.35 Derartige Aneignungen, die es um 1800 in großer Zahl gab, stellen die Zwangsläufigkeit von Ereignisverläufen in ihrer jeweiligen Vorlage infrage. Sie entwerfen Alternativen zu den Welterklärungsmodellen jener Texte, die sie als Vorbilder wählen, und treten damit immer auch in Konkurrenz zu ihnen.
Dies kann so weit gehen, dass Fanfiction die Hierarchie von Vorlage und Nachahmung selbst infrage stellt.36 Das Verhältnis von Original und Imitat muss nicht stabil bleiben, sondern kann sich mitunter umkehren. Christian August Vulpius etwa griff bei der Fortsetzung seines an Friedrich Schillers Drama Die Räuber (1781) orientierten Erfolgsromans Rinaldo Rinaldini (1799/1800)37 u. a. Ideen auf, die aus einer von dem Leipziger Notar und Anwalt Johann Jakob Brückner anonym publizierten Adaption stammten: Dianora, Gräfin Martagno, Rinaldo Rinaldinis Geliebte. Ein Anhang zu Rinaldo Rinaldini (1799).38 Brückner erzählt die Geschichte des Räuberhauptmanns aus der Perspektive einer der vielen Geliebten von Rinaldo, Dianora. Dabei wird aus dem Abenteuerroman, an dessen Ende der Held stirbt, ein Liebesroman mit Happy End. Dianora ist bei Brückner nicht mehr eine unter anderen. Die Begegnung mit ihr wird zu einem schicksalhaften Erlebnis, auf das Rinaldos ganzes Leben zugelaufen ist. Zudem nutzt Brückner eine Leerstelle in Vulpius’ Roman, um Rinaldos prekäre Existenz zu einem Ende zu bringen: die Herkunft des Protagonisten. Rinaldo erhält bei Brückner einen adligen Vater und damit eine Möglichkeit, dem Räuberdasein zu entsagen, indem er eine Offizierslaufbahn einschlägt. Auch wenn Vulpius in seiner eigenen Fortsetzung sowohl auf das Liebesglück als auch auf die Rehabilitation des Räubers verzichtete, griff er mehrere Handlungselemente aus Brückners Version – darunter die Figur des Vaters – auf und spann sie in eigener Weise fort.39 Die schicksalhafte Sinnstruktur, die Brückner der Geschichte verlieh, übernahm Vulpius, auch wenn er sie im weiteren Verlauf der Handlung und in diversen Fortsetzungen immer wieder aufbrach.
Wie oft bei populären Fortsetzungsromanen besteht auch hier kein streng hierarchisches Verhältnis zwischen dem ‚einen‘ Original und seinen sekundären Nachahmungen, Bearbeitungen oder Fortsetzungen.40 Vielmehr existiert ein Wechselverhältnis, das sich erst durch einen umfassenden Blick auf die vielfältigen hypertextuellen Verknüpfungen zwischen den Texten erschließt.41 Die Beschäftigung mit unorigineller Literatur kann damit Vorstellungen einer strengen Hierarchie von Vorlage und Nachahmung differenzieren, die sich von den Originalitätsdiskursen um 1800 in Logiken der Kanonbildung fortgeschrieben haben. Die Untersuchung unorigineller Literatur bietet die Chance, eine netzwerkwerkförmige Perspektive auf die Literaturgeschichte einzunehmen. Statt des autoritativen Geltungsanspruchs eines einzigen Vorbilds rückt ein gestuftes Referenzgefüge in den Blick, in dem Elemente aus mehreren Vorlagen, die mitunter wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, aufgegriffen und weitergeführt werden. Die Frage danach, wie vermeintlich unoriginelle Texte auch auf Werke von Autoren mit erklärtem Originalitätsanspruch zurückwirkten, eröffnet nicht zuletzt Räume, um schematische Vorstellungen der literaturgeschichtlichen Umbruchszeit um 1800 auf die Probe zu stellen und auf blinde Flecken von Kanonisierungsprozessen aufmerksam zu machen.
II. Beiträge zu diesem Band
Die Beiträge zu diesem Band teilen das Anliegen, unoriginelle Texte jenseits traditioneller Wertungen in den Blick zu nehmen und sie auf ihre Relevanz für die Literaturtheorie- und -praxis um 1800, aber auch für kritische und literaturwissenschaftliche Deutungsroutinen zu befragen. Anhand von paradigmatischen Texten und Textkonstellationen stellen sie die dichotome Gegenüberstellung von Originalität und Unoriginalität infrage, richten den Fokus auf die ästhetischen Potenziale imitierenden, adaptierenden, kompilierenden und fortsetzenden Schreibens und untersuchen, welche Praktiken, Diskurse und Konstellationen dazu führten, dass Texte seit dem späten 18. Jahrhundert als unoriginell beurteilt wurden. Umgekehrt zeigen sie auf, dass es nicht notwendig auf kategorial neue poetische Verfahren zurückzuführen war, wenn Autorinnen, Autoren oder Texten der Status des Originalen zugesprochen wurde.
Konstitutiv für alle Beiträge ist eine Verbindung von systematischen und historischen Zugängen, die erlaubt, das Feld der unoriginellen Literatur um 1800 multiperspektivisch auszuleuchten. Dabei setzt die erste Gruppe von Beiträgen den Schwerpunkt darauf, Unoriginalität als Beschreibungskategorie zu konturieren. Ausgehend von einer breiten Materialbasis charakterisiert Holger Dainat zunächst die ästhetischen, sozialgeschichtlichen und juristischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Produktion und Rezeption von unorigineller Literatur um 1800 vollzog. Sein Beitrag geht nicht nur auf die Eigenlogiken unorigineller Literatur selbst ein, sondern reflektiert auch die Voraussetzungen für ihre Erforschung. Die Funktionen, die entsprechende Texte für die Ausdifferenzierung der Dichotomie originell/unoriginell in der Literaturkritik um 1800 erhielten, stellt Nora Ramtke am Beispiel der Fortsetzung des Faust von Göthe heraus, die Karl Schöne 1823 angesichts des bald erwarteten Todes von Goethe vorlegte. Ausgehend von der hohen kritischen Aufmerksamkeit für das Werk, das die Rezensenten im direkten Vergleich zu Faust I mit immer neuen Argumenten zerrissen, veranschaulicht der Beitrag die Dynamiken einer Negativkanonisierung, in der an einem konkreten Text die Zuschreibung von Originalität und Unoriginalität eingeübt wurde. Die Relevanz, die solche Konstellationen für spätere wissenschaftliche Ordnungsansätze hatten, zeichnet Tilman Venzl mit Blick auf die Wertungstradition von Gottlob Stephanies Militärdrama Die abgedanckten Officiers (1770) nach. Die Behauptung von Lessings Bruder Karl Gotthelf, es handle sich um eine Nachahmung von Minna von Barnhelm (1767), wurde unreflektiert in die Literaturgeschichtsschreibung übernommen und diente als Bezugspunkt, um ein Genre des unoriginellen ‚Soldatenstücks‘ zu konturieren. Der Beitrag verortet das Stück dagegen im österreichischen Kontext und schlägt vor, die zeitgenössische Verwendung des Schemas originell/unoriginell als Boundary Work zu betrachten, dessen Leistung für die Akteure kritisch zu prüfen ist.
An diese Reflexion von Zuschreibungspraktiken schließt die zweite Gruppe von Beiträgen an, die Wechselverhältnisse und Übergänge von origineller und unorigineller Literatur untersucht. Alexander Košenina richtet die Aufmerksamkeit auf Boccaccio-Adaptionen des 18. Jahrhunderts, mit denen Alexander Pope, Eustache le Noble und Christlob Mylius Novellen aus dem Decamerone popularisierten, ohne sich dem Vorwurf der Unoriginalität auszusetzen. Die Gründe dafür werden zum einen im kanonischen Status der Vorlage identifiziert, der die amourösen Stoffe eher auf- als abwertete, zum anderen in den aufwändigen Illustrationen, mit denen Künstler wie Daniel Chodowiecki die Buchgestaltung als Innovationsmoment ins Spiel brachten. Dass nicht nur Autoren, sondern auch Genres um 1800 im Spannungsfeld von Originalität und Unoriginalität standen, zeigt Alexandra Hertlein anhand von Volkslied- Sammlungen, die in dieser Zeit zu florieren begannen. Der Fokus liegt auf den paratextuellen und editorischen Praktiken, mit denen die Lieder als original, unverfälscht und mündlich überliefert inszeniert wurden, obwohl Textübernahmen und -varianten Abhängigkeiten zwischen den Sammlungen erkennen lassen. Gezeigt wird, dass gerade die Nachahmungsverhältnisse zwischen den Editionen dazu führten, dass sich der Kriterienkatalog von Echtheit und Ursprünglichkeit verfeinerte. Eine ähnliche Verschränkung von unoriginellen Praktiken und originellem Programm rekonstruiert Yulia Mevissen an den ästhetischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Nicht nur auf konzeptioneller Ebene zeichnen sich Moritz’ Vorlesungen über den Styl (1793/1794) und sein Allgemeiner deutscher Briefsteller (1793) durch den paradoxen Anspruch aus, individuellen Ausdruck zu lehren. Gelöst wird dies mit Mitteln der Rhetorik, durch eine Umstellung der Vermittlung von praecepta auf exempla. Auch produktionsästhetisch setzt Moritz sein Originalitätsprogramm nur bedingt um, da beide Schriften textidentische Passagen aufweisen.
Den Innovationspotenzialen, die sich aus dezidierten Programmen unoriginellen Schreibens ergaben, wendet sich die dritte Gruppe von Analysen zu. Helene Kraus nimmt Charlotte von Steins Drama Die zwey Emilien (1803) in den Blick, das von Cotta als anonyme Übersetzung vertrieben wurde. Tatsächlich handelt es sich um eine in doppelter Hinsicht produktive Adaption. Nicht nur überträgt von Stein die Handlung des Romans The Young Lady’s Tale: The Two Emilys (1798) von Sophia Lee in die Dramenform. Zugleich nimmt sie eine Neujustierung der Figurenkonstellation vor, die emanzipatorischen Charakter hat: Der Plot um zwei Cousinen, die um Ehemann und Erbe konkurrieren, organisiert sich bei Stein nicht mehr entlang der Differenz zwischen ‚guter‘ und ‚böser‘ Emilie; der Konflikt ergibt sich aus der Benachteiligung beider Frauen durch die Geschlechterordnung, die sie mittels Crossdressing infrage stellen. Ein ganzes Spektrum von Texten betrachtet Nikolas Immer, der sich Adaptionen von Schillers Räubern (1781) widmet. Der Vergleich zwischen vielfältigen Bearbeitungen öffnet den Blick für verschiedene Kontextwechsel, die Variationen zeitigen. Diese reichen von bühnenpraktischen Anpassungen, die in Carl Martin Plümickes Spielfassung (1783) eingehen, über politische Aktualisierungen, die der anonyme Text Die Grafen von Moor 1785 im Kontext des Pugatschow-Aufstands vornimmt, bis zur Korrektur von Gesellschaftskritik, die Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodts im ‚Seitenstück‘ Karl Moor und seine Genossen (1801) in einem neuen, harmonisierenden Schluss aufhebt. Dass auch vermeintliche ‚Originaldichter‘ mitunter systematisch auf Verfahren der Nachahmung setzten, demonstriert Alexander Nebrig an Heinrich von Kleist. Sein Beitrag identifiziert die Kompilation als übergreifende Technik des Kleist’schen Werks. Im Zentrum steht die Beobachtung, dass das wiederkehrende Motiv der unwissentlichen Vergewaltigung mehrfach aus der literarischen Tradition aktualisiert wird: in Amphitryon (1807) aus Molière, in der Marquise von O…. (1808) aus Cervantes, in Der Findling (1811) aus Matthew Lewis’ The Monk (1796) und in Der Zweikampf (1811) aus einer französischen Chronik. Die poetologische Funktion dieses Verfahrens besteht in einer fortgesetzten Auseinandersetzung mit tragischer Erkenntnis, die sich ausgehend vom Amphitryon auch in Kleists Erzählprogramm einschreibt.
Details
- Seiten
- 306
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783034348492
- ISBN (ePUB)
- 9783034348508
- ISBN (Paperback)
- 9783034346436
- DOI
- 10.3726/b21613
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (September)
- Schlagworte
- Literatur des 18. Jahrhunderts Literaturtheorie Literaturkritik Originalität Unoriginalität Nachahmung Fan Fiction Adaption Kanon
- Erschienen
- Lausanne, Berlin, Bruxelles, Chennai, New York, Oxford, 2024. 306 S., 2 farb. Abb., 12 s/w Abb.