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LGBTIQ* Communities

Lebenswelten und Diskurse seit 1970

by Lukas Spenlingwimmer (Author)
©2024 Monographs 274 Pages

Summary

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der LGBTIQ* Communities seit den 1970er Jahren, vornehmlichim deutschsprachigen bzw. österreichischen Raum. Neben der diskursanalytischen Darstellung einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Kontext sexualitätsbezogener Themen seit den 1970er Jahren bietet dieses Werk durch zahlreiche LGBTIQ* Erfahrungsberichte einen Einblick in die vielfältigen und teils ambivalenten Lebenserfahrungen. Es erzählt die Geschichten aus lebensweltlicher Perspektive und diskutiert die Einbindung in den öffentlichen Diskurs sowie in soziale, politische und rechtliche Strukturen aus einer queer denkenden Sichtweise. Im Zentrum dieses Buches steht die vielfältige Welt der LGBTIQ* Gemeinschaften – von Alltagserfahrungen, persönlichen Herausforderungen und dem Streben nach Gleichheit bis hin zu den Erfolgen im Kampf um Anerkennung und Akzeptanz.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • FM Epigraph
  • Inhalt
  • Vorwort des Reihenherausgebers
  • Einleitung
  • 1. Allgemeine Begriffsbestimmungen und historischer Abriss
  • 2. Forschungsdesign und Methodik
  • Zwischen Pathologisierung und Entpathologisierung
  • 1. Begrifflichkeiten
  • 2. Diskurse zu homosexuellen Menschen
  • 3. Diskurse zu trans* Menschen
  • 4. Diskurse zu inter* Menschen
  • 5. Diskursnotwendigkeiten und anstehende Diskurse
  • Gesetzliche Rahmenbedingungen
  • 1. Der Weg zur Strafrechtsreform 1971
  • 2. Strafrechtsreform 1971
  • 3. Anerkennung homosexueller Menschen als NS-Opfer
  • Institutionalisierungen der LGBTIQ* Bewegung
  • Autoritäts- vs. Diversitätsakzeptierende Gesellschaft
  • 1. Die Entwicklung im Kontext sexualitätsbezogener Themen
  • 2. Akzeptanz und individuelle Lebenswelten
  • 3. Heteronormativität versus Diversitätsakzeptanz
  • 4. Fortschreitende Individualisierung
  • LGBTIQ* Lebenserfahrungen
  • 1. Lebensberichte – eine methodische Annährung
  • 2. Coming-out: Ursprung und historischer Bedeutungswandel
  • 3. Die Perspektive queerer Menschen
  • 4. Heterosexismus, Diskriminierungen und Gewalt
  • 5. LGBTIQ* Selbstverständnis
  • Zusammenschau und Ausblick
  • Zeittafel
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literatur-, Abbildungs- und Quellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Schriftliche Beiträge und Interviewteilnehmer*innen
  • Reihenübersicht

Hubert Christian Ehalt

Vorwort des Reihenherausgebers

Mehr Akzeptanz für Diversität

Die Historisch-anthropologischen Studien setzen sich mit der Geschichte des Menschen im Spannungsfeld unterschiedlicher Bedingungen zwischen Evolution und Geschichte auseinander. Sie erweiterten die gesellschaftsgeschichtliche in Richtung einer anthropologischen Perspektive. In den letzten 75 Jahren, seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, wurde dieser erweiterte Blickwinkel historischer Forschung möglich. Historiker*innen interessieren sich für soziale Strukturen, für Herrschafts- und Machtverhältnisse, aber auch für andere Aspekte des „Funktionierens“ von Gesellschaft und für „dysfunktionale“ Elemente.

Der gesellschaftsgeschichtliche Zugang, der die Aufmerksamkeit stärker auf große Entwicklungslinien, auf makroökonomische Zusammenhänge, auf Geschichte als „Faktizität“, die mit quantitativen Methoden erkundet wird, lenkt, bedarf einer historisch-anthropologischen Ergänzung. Diese fokussiert auf mikrohistorische und -ökonomische Aspekte, die den Alltag, Erlebnisse und Sichtweisen im überschaubaren Raum, in den Blick nehmen. Diese historisch-anthropologische Sichtweise schärft jedenfalls den Blick für Bedeutung und Wirksamkeit von Ritualen und Symbolen für die individuellen Bewältigungsformen und -strategien.

Die Forschungen im Bereich der Cultural Studies des Instituts für historische Anthropologie haben das Bewusstsein für die Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung, für die Konstituierung von Formen des kollektiven Gedächtnisses sensibilisiert. Für die Historisch-anthropologischen Studien sind beide Paradigmen – das gesellschaftsgeschichtliche und das historisch-anthropologische – wichtig; sie repräsentieren nicht eine Alternative, sondern sind Anregung und Aufforderung zur Komplementarität. Das Institut für Historische Anthropologie, das diese Buchreihe herausgibt und das ich leite, bietet eine Diskussionsplattform für unterschiedliche Perspektiven auf den Menschen als Natur- und Kulturwesen.

Zu den Themen der historischen Anthropologie gehören die vielen Facetten der Auseinandersetzung des Menschen mit den ihn umgebenden Naturräumen und der ihm selbst innewohnenden „Natur“. In der Geschichte vor dem 19. Jahrhundert wurden Natur- und Menschenbilder wesentlich durch Philosophie, Religion und Politik bestimmt. Erst die Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes hat neue Formen und Wahrnehmungsweisen von Naturbewältigung geschaffen.

Die aktuellen Wissenschaften erforschen den Menschen in seinen Austauschbeziehungen mit der ihn umgebenden Welt in einer Panoramaperspektive und mit einem mikroskopischen Blick: Biochemie, Molekulargenetik und Nanotechnologie analysieren das Leben in seinen Grundbausteinen und -prozessen und verbuchen dabei gegenwärtig immer eindrucksvollere Erfolge. Die Arbeit der historischen Anthropologie analysiert immer genauer, wie die Menschen in unterschiedlichen kulturellen Situationen die Welt bewältigten, sie gestalteten, aber auch wie sie sie diskursiv erklärten, wahrnahmen und kommunizierten.

Mit den großen Erkenntnisgewinnen in den Bereichen der Naturwissenschaften waren massive Eingriffe in Lebensräume und Lebensmöglichkeiten verbunden. Flüsse wurden reguliert, transkontinentale Eisenbahnlinien und Straßen gebaut, Sümpfe trocken gelegt, Urwälder gerodet, ganze Landstriche wurden urbanisiert.

Bis vor 300 Jahren waren die Eingriffe der menschlichen Kulturen in die Zyklen der Natur verhältnismäßig sanft. Die Menschen passten sich in ihren Verhaltens- und Umgangsweisen mit der Natur und in ihrem Blick auf sie an die sie umgebenden pflanzlichen und tierischen Lebensformen an. Die Natur trat den Menschen machtvoll gegenüber und ließ nur geringe Spielräume.

Die Natur, mit der die Menschen konfrontiert waren – in den sie umgebenden Naturgewalten und in den Geschehnissen am eigenen Leib –, war mächtig und wurde als grausam, unberechenbar und nur schwer beeinflussbar erlebt. In der bäuerlichen Welt wäre es niemandem eingefallen, die Berge und die Wälder, die Flüsse und die Bäche autonom von ihrer Bedeutung als Naturgewalten und Ressourcen für das bäuerliche Leben wahrzunehmen. Die Thematisierung der Natur als „schöne, wilde, romantische Landschaft“ entspricht einer städtischen Wahrnehmungsweise, die zu einem Zeitpunkt entstehen konnte, als die Bedrohungen der Natur jedenfalls bereits teilweise erkannt waren.

Der Autor des vorliegenden Buches hat sich mit den Bewertungen und Normierungen im Bereich der Sexualität seit den 70er Jahren auseinandergesetzt. Er behandelt, inhaltlich-thematisch sehr breit, ein bisher nur in Einzelaspekten beforschtes Gebiet der Gesellschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Der behandelte Zeitraum war international, europäisch und auch in Österreich eine Phase gesellschaftlicher Öffnung und Neuorientierung im Umgang mit Sexualität. Lukas Spenlingwimmer zeigt, wie auch Homosexualität, nicht nur heterosexuell orientierte Lebensformen im Alltagsleben, in der Öffentlichkeit und in den Diskurskulturen einen neuen Stellenwert erhielten. Diskriminierende Haltungen und Einschätzungen und die damit verbundenen Begrifflichkeiten wurden zurückgedrängt, Anerkennung und Akzeptanz wurden möglich und gewannen, wie der Autor ausführt, in der Öffentlichkeit, in der Wissenschaft, im Alltag an Bedeutung.

Die Kultur wurde im Hinblick auf viele Aspekte dieses Themas offener und bereiter, Anderes, Neues, Ungewohntes zu akzeptieren.

Die von Lukas Spenlingwimmer vorgestellten Entwicklungen einer für Diversität offeneren Gesellschaft waren die Voraussetzungen dafür, dass sich eine stets wachsende Zahl von Persönlichkeiten zu ihrer individuellen sexuellen Orientierung bekannte und sich diesbezüglich outete. Ein eigenständiges Kapitel des Buches setzt sich mit diesem „Coming out“ und Erfahrungen von Betroffenen damit auseinander.

Das Buch von Lukas Spenlingwimmer gibt einen sehr guten Überblick, wie sich schrittweise und dynamisch das kulturelle Leben, das insbesondere im Hinblick auf sexuelle Orientierungen sehr autoritär und gebotsorientiert war, in die Richtung einer Diversität akzeptierenden Gesellschaft verändert hat. Der Band leistet einen wichtigen Beitrag, ein aktuelles Thema für die Öffentlichkeit zu erschließen.

Einleitung

„Wir stellen uns gerne als aufgeschlossene und tolerante Menschen dar und halten auch vor uns selbst an diesem Bild mit großer Beharrlichkeit fest. Prüfen wir jedoch die Vorstellung, die weite Kreise der Bevölkerung – und leider auch viele ‚Fachleute‘ aus den therapeutischen, sozialen und kirchlichen Berufen – von Lesben und Schwulen [LGBTIQ*1 Menschen allgemein] in sich tragen, so müssen wir feststellen, dass hier nach wie vor ungeprüfte Bilder bestehen und weitergegeben werden, die wenig mit der Lebensrealität dieser Menschen zu tun haben und durch grobe Einseitigkeiten und Verzerrungen geprägt sind.“2

In Anlehnung an Wahala (2007) und Rutherford (2018) liegt es nahe, dass ein drittes Geschlecht, genderfluide Geschlechteridentitäten bzw. gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken in allen unterschiedlichen Kulturen und Epochen, sowohl in der Tierwelt als auch beim Menschen immer schon existierten.3 4 US-amerikanischen zensusbasierten Studien und weiteren europäischen Hochrechnungen zufolge kann der Anteil an LGBTIQ* Menschen in Wien auf ca. 5 %–10 % der Gesamtbevölkerung geschätzt werden. Im Jahr 2014 (Gesamtbevölkerung 1.781.042) wären das ungefähr 90.000 bis 180.000 LGBTIQ* Menschen gewesen.5 6 Die Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen verweist in einem Info-Folder ebenso darauf, dass etwa 10 % aller Menschen ausschließlich oder vorwiegend homosexuell sind.7

Einleitend sind vier historisch-soziologisch relevante Dinge zu begreifen:

Bis zur Mitte des 19. Jahrhundert gab es die Begriffe „homosexuell“ und „heterosexuell“ bzw. bis ins 20. Jahrhundert die Begriffe „transgender“, „bisexuell“ und „intergeschlechtlich“ nicht. Die Sprache, um eine Geschlechteridentität bzw. sexuelle Orientierung auszudrücken, hat sich kontinuierlich weiterentwickelt. Ausgehend von einem modernen Diskurs über unterschiedliche Geschlechterkategorien wären z.B. auch „genderfluide“, „non-binäre“, „agender“, „genderqueere“ etc. Personen hinzuzufügen, die aktuell nach wie vor unter der Benachteiligung leiden, dass sie ihr Geschlecht in Österreich nicht in einem Personenstandsregister eintragen können – so bestehen ausschließlich die Eintragungsmöglichkeiten „Mann“, „Frau“, „Inter“, „Divers“, „Offen“ oder die Streichung des Eintrages, wodurch die Vielfalt an Geschlechteridentitäten nicht vollständig aufgezeigt werden kann. Um für ein besseres Verständnis zu sorgen und ein vermehrtes empathisches Bewusstsein gegenüber LGBTIQ* Lebenswelten und Diskursen aufzubauen werden in Kapitel Allgemeine Begriffsbestimmungen und historischer Abriss Begrifflichkeiten erklärt.

Im Mittelalter galt gleichgeschlechtlich orientiertes Verhalten als „unaussprechliche Sünde“. So wurden homosexuelle Handlungen bevor sich die einzelnen Begriffe entwickelten im alltäglichen Leben ausgeblendet oder, wie im antiken Griechenland, im Rahmen der Knabenliebe in die kulturellen, sozialen Strukturen miteingebunden.

Im deutschsprachigen Raum etablierte sich im 19. Jahrhundert in Bezug auf die Lebenswelten unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Identitäten die sexual- und humanwissenschaftliche Forschung, die in einem Abhängigkeitsverhältnis der jeweiligen Politik und Gesellschaftsform stand. Die Europäische Union bzw. die österreichische Politik hat unter dem Einfluss zur Sexual- und Humanwissenschaft ab den 1970er Jahren einen Weg der Vielfältigkeit unter Wahrung der Menschenrechte eingeschlagen.

Die Selbstdefinitionen „schwul“, „lesbisch“, „transgender“, „intergeschlechtlich“, „nicht-binär“, „genderfluid“ kamen erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. im 21. Jahrhundert auf. In diesem Sinne wurden reflektierte Entwürfe über deren Lebenswelten und sexualitätsbezogenen Partner*innenschaften entworfen, die heute öffentlich sichtbar gemacht werden und ab den 1970er Jahren eine zunehmende staatliche-gesetzliche Anerkennung bekamen, jedoch nach wie vor gesellschaftlich und rechtlich benachteiligt sind.8

Die Akzeptanz und die Wahrnehmung von Menschen, die „schwul“, „lesbisch“, „bisexuell“, „intergeschlechtlich“, „transgender“, „nicht-binär“, „genderfluid“ sind, hat sich durch die Sichtbarmachung und öffentliche Auseinandersetzung der 1970er bzw. 1980er Jahren deutlich gewandelt.9 In diesem Zusammenhang werden in dieser Arbeit Diskurse über die Entwicklung einer gebotsorientierten Autoritätsgesellschaft (Nachkriegsjahre bis 1970) in eine diversitätsakzeptierende Gesellschaft aus einer soziologischen und historischen Sichtweise in einem eigenen Kapitel (vgl. Kapitel Autoritäts- vs. Diversitätsakzeptierende Gesellschaft) untersucht und in ihrem Kontext analysiert. Dabei werden Gründe zur Erklärung dieser Entwicklung gesucht bzw. wird die Frage gestellt wie diversitätsakzeptierend unsere heutige Gesellschaft und unser gegenwärtiges rechtliches System bzw. die Politik in Österreich tatsächlich sind. Das Zentrum dieses Buches bilden die Lebenswelten von LGBTIQ*10 Menschen und Diskurse über LGBTIQ* Themen. Mit einem Diskurs ist gemeint, wie Menschen in einer Gesellschaft über LGBTIQ* Themen bzw. über Lebensentwürfe abseits der Heteronorm sprechen. Als zentraler Aspekt dieses Buches kann die Frage gesehen werden, wie sich der Übergang einer gebotsorientierten Autoritätsgesellschaft in eine diversitätsakzeptierende Gesellschaft auf Lebenswelten und Diskurse von LGBTIQ* Menschen auswirkte?

Das Buch LGBTIQ* Communities – Lebenswelten und Diskurse seit 1970 lässt sich in fünf Kapitel bzw. Themenbereiche gliedern. Das Kapitel über die Entwicklung von einer gebotsorientierten Autoritätsgesellschaft in eine diversitätsakzeptierende Gesellschaft wurde bereits genannt. Zudem beschäftigt sich ein Kapitel mit dem Diskurs über die Strafrechtsreform 1971 (Entkriminalisierung von Homosexualität unter Erwachsenen) bis zur Anerkennung von homosexuellen Menschen als NS-Opfer (Gesetzliche Rahmenbedingungen). In diesem Zusammenhang wird auch erläutert, warum die Lebenswelten von transgender Personen nur am Rande miteingebunden werden. Das Kapitel Zwischen Pathologisierung und Entpathologisierung bezieht sich auf die Pathologisierung bzw. den Gegentrend der Entpathologisierung von sexuellen Orientierungen bzw. Geschlechteridentitäten die nicht der Heteronormativität entsprechen und legt dabei ihren Fokus auf gleichgeschlechtliche Liebe, transgender sowie intergeschlechtliche Lebenswelten. Aus einer gegenwärtigen Sicht ist es hierfür notwendig Diskurse seit der Spätmoderne – Ende des 20. Jahrhunderts – aufzugreifen. Diese hatten eine prägende Wirkung auf unser heutiges Denken und Handeln. Im Kapitel Institutionalisierungen der LGBTIQ* Bewegung werden die Entstehungs- und Wirkungsgeschichten von Vereinen, Veranstaltungen, sozialen Bewegungen (z.B. feministischen, lesbischen, schwulen, transgender, intergeschlechtlichen und non-binären Bewegungen) und politischen Aktionismus unter Berücksichtigung einer heteronormativ geprägten Gesellschaft geschildert. Schlussendlich wird im Kapitel LGBTIQ* Lebenserfahrungen die Relevanz für ein LGBTIQ* „Outing“ bzw. das Leben in der Gesellschaft von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart insbesondere auch aus Sicht von LGBTIQ* Menschen beschrieben. In diesem Sinne werden zudem die historische Veränderung und die allgemeine Bedeutung des Begriffs „Coming-out“ beleuchtet.

Allgemein für das Buch und gezielt auch für das Kapitel LGBTIQ* Lebenserfahrungen wurden schriftliche und mündliche lebensweltliche Erfahrungsberichte von LGBTIQ* Menschen gesammelt (zwölf schriftliche Beiträge und fünf Interviews). Diese werden, unter Einverständnis der Personen, exemplarisch herangezogen und in ihrem heteronormativen sozialen Kontext geschildert. Sie sollen über den Weg von Einblicken in die jeweilige Lebenswelt einladen, Heteronormativität zu hinterfragen und so aufzeigen, dass es alternative Formen der Lebensgestaltung gibt.

1. Allgemeine Begriffsbestimmungen und historischer Abriss

Das vorliegende Buch schildert Lebenswelten und Diskurse rund um die LGBTIQ* Communities im deutschsprachigen Raum bzw. in Österreich von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart und legt seinen Fokus auf die Bundeshauptstadt Wien. Um für ein besseres Verständnis zu sorgen, werden im folgenden Kapitel einzelne Begriffe wie „queer“, „Heteronormativität“ und die Abkürzung „LGBTIQ*“ in ihrem historischen und gegenwärtigen Bedeutungszusammenhang erklärt.

LGBTIQ* (lesbian, gay, bisexual, transgender, intersex, queer, *)

Die im Titel verwendete Abkürzung LGBTIQ* stammt aus dem Englischen und steht für lesbian, gay, bisexual, transgender, intersex, und queer. In der deutschen Abkürzung würde das „G“ durch ein „S“ (Schwul) ersetzt werden (LSBTIQ*). Dennoch wird in diesem Buch die gängigere englische Abkürzung, die auch in der deutschen Sprache häufig zur Anwendung kommt, verwendet. Der sogenannte Genderstern * dient als Platzhalter und steht für die Vielfalt an sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, denn es gibt mehr als nur Mann und Frau. Es integriert nach Sauer, Güldenring und Tuider (2015) auch Personen, die „sich geschlechtlich nicht verorten (lassen) möchten“ – z.B. non-binäre, genderqueere, genderfluide, agender oder auch transidente Menschen.11 12

Das biologische Geschlecht eines Menschen wird durch die Geschlechtschromosomen (XY – männlich; XX – weiblich) und den inneren und äußeren Geschlechtermerkmalen (Vulva, Eierstöcke, Östrogen, Penis, Hoden, Testosteron etc.) bestimmt.

Abbildung 1 Echte Vielfalt

Der Geschlechterbegriff hat neben biologischen auch soziale Aspekte. Sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht (gender) können nach Auffassung der Geschlechterforschung als gesellschaftliche Konstrukte verstanden werden. Die Realität von geschlechtlicher Vielfalt wird nur unzureichend erfasst.13 Viele Menschen im heteronormativ geprägten deutschsprachigen Raum gehen davon aus, dass es nur zwei Geschlechter gibt (Mann und Frau – bipolare Geschlechterordnung). Dieses Konzept ist aufgrund der Existenz von intergeschlechtlichen, non-binären, transidenten, genderqueeren, genderfluiden, agender (Begriffe werden im weiteren Verlauf erklärt) Menschen zu hinterfragen.

Gender bezeichnet das soziale Geschlecht. Es bestimmt die eigentliche Identifikation eines Menschen mit einem Geschlecht (männlich, weiblich, intergeschlechtlich, transgender, non-binär, genderqueer, genderfluid, agender). Dieser Selbstfindungsprozess findet in einem Menschen individuell statt und sollte nicht von Außenstehenden bewertet werden. Hier ist zu erwähnen, dass es Kulturen, wie etwa die indigenen Hawaiianer*innen („Kanaka Maoli“) gibt, die kein binäres Zweigeschlechtersystem vertreten, bei dem sich die Pole „weiblich“ und „männlich“ gegenseitig ausschließen. Sie kennen die Existenz mehrerer Geschlechter und bezeichnen diese als „Māhū“ (lässt sich mit „in der Mitte“ übersetzen). Weitere Beispiele wären die Muxe bzw. Marimacha in Lateinamerika, Faʼafafine in Polynesien, Hijra in asiatischen Ländern usw. Hier wird ersichtlich, dass eine binäre Geschlechterordnung kein zwangsläufiges Naturgesetz ist, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt, dessen Öffnung bzw. Aufhebung die echte Vielfalt von Gender und Sex abbilden könnte und für viele Menschen eine Erleichterung wäre.14

In diesem Zusammenhang sind für dieses Buch auch die stereotypisierenden, gesellschaftlich festgelegten Geschlechterrollen zu erwähnen. Die Erwartungshaltungen einer Gesellschaft an Männer und Frauen werden als Geschlechterrollen bezeichnet. Darunter fallen Ansichten, Verhaltensweisen, Tätigkeiten etc. Diese Rollen sind veränderbar und nicht starr. Ein Beispiel für stereotypische Verhaltensweisen von Geschlechtern, wäre zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche in einer heteronormen Gesellschaft von klein auf zu einer bestimmten sexuellen Orientierung bzw. Identität sozialisiert werden – nämlich heterosexuell und Mann oder Frau zu sein. Diese Sozialisation kann im Zuge des Selbstfindungsprozesses von Kindern und Jugendlichen zu inneren Konflikten führen, wenn beispielsweise die sexuelle Orientierung nicht dem heteronorm denkenden Umfeld oder die Geschlechtsidentität nicht dem biologischen Geschlecht entspricht. Dieser Diskurs wird in Kapitel Autoritäts- vs. Diversitätsakzeptierende Gesellschaftgenauer ausgeführt und analysiert.

Details

Pages
274
Year
2024
ISBN (PDF)
9783631913154
ISBN (ePUB)
9783631913161
ISBN (Softcover)
9783631913147
DOI
10.3726/b21703
Language
German
Publication date
2024 (June)
Keywords
Geschlechteridentität Vielfalt „Coming-out“ queeres-reading Diskursanalyse Akzeptanz & Respekt nicht-binär Sexualität LGBTIQ* queer Lebenswelten Heteronormativität Aktivismus Identität Homosexualität trans* inter*
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 274 S., 9 farb. Abb., 5 s/w Abb.

Biographical notes

Lukas Spenlingwimmer (Author)

Lukas Spenlingwimmer, geboren 1995 im Mühlviertel (Oberösterreich), studierte Bewegung & Sport und Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung auf Lehramt. Aktuell unterrichtet er an einer Mittelschule. Dieses Buch, eine erneuerte und erweiterte Version seiner Masterthesis von 2021, betont die Stimmen von LGBTIQ* Menschen.

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