Die Wurzeln der Mindener Stadtrechtsreformation von 1613
Ein Beitrag zur lokalen Rezeptionsgeschichte
Zusammenfassung
Es handelt sich bei der Mindener Stadtrechtsreformation um ein hervorragendes Beispiel der deutschen Rezeptionsgeschichte, das auch ein klares Urteil zum Postulat der zwingenden Romanisierung erlaubt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Einleitung
- Erstes Kapitel: Forschungsstand
- Zweites Kapitel: Klärung der Begrifflichkeiten
- § 1 Stadtrecht
- § 2 Stadtbuch
- § 3 Rezeption
- § 4 Stadtrechtsreformation
- Drittes Kapitel: Historische Ausgangssituation
- Viertes Kapitel: Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung
- § 1 Entwicklung der städtischen weltlichen Gerichtsbarkeit
- § 2 Ratsgericht, städtisches Niedergericht des Stadtrichters und Bauermeister
- A. Ratsgericht
- B. Niedergericht des Stadtrichters
- C. Bauermeister
- § 3 Gerichts- und Richtstätten
- § 4 Femegericht
- Fünftes Kapitel: Rechtliche Ausgangslage
- § 1 Sprache, Schrift und Druck
- § 2 Frühe Mindener Statuten
- § 3 Mindener Stadtbücher
- A. Mindener Stadtbuch von 1318
- I. Beschreibung
- II. Inhalt
- III. Verlust der Amtsbuchqualität
- B. Mindener Stadtbuch von 1376
- C. Mindener Stadtbuch von 1527
- D. Existenz weiterer Stadtbücher
- E. Stadtrechtssatzungen
- F. Rechtsbestätigungen
- § 4 Sonstiges Quellenmaterial
- A. Mindener Vorstädte
- B. Relevante Stadtrechtsaufzeichnungen anderer Städte
- I. Stadtrechtsfamilie
- II. Dortmunder Stadtrechtsfamilie
- III. Tochterstädte zu Minden
- 1. Hannover
- 2. Lübbecke
- 3. Petershagen
- 4. Weitere Töchterstädte
- C. Thematisches Material
- D. Sachsenspiegel
- Sechstes Kapitel: Mindener Stadtrechtsreformation von 1613
- § 1 Entstehungsgeschichte
- § 2 Bearbeitungsgeschichte
- § 3 Rechtsänderungen zwischen 1613 und 1674
- § 4 Geltungsdauer
- § 5 Überlieferungssituation
- A. Handschrift von Averberg
- B. Abschriften der Stadtrechtsreformation
- 1. Handschrift Minden
- 2. Handschriften Münster
- a) Bünemann-Exemplar
- b) Schlick-Exemplar
- c) Kulemann-Exemplar
- 3. Handschrift Soest
- 4. Handschrift Hannover
- 5. Lachtorp-Exemplar
- 6. Marowsky-Exemplar
- 7. Unergiebige Verweise
- a) Haarland
- b) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin
- 8. Kenntnisstand in der bisherigen Forschung über die Abschriften
- 9. Datierung der Abschriften
- 10. Handschriftenstammbaum
- C. Kommentierte Druckfassung
- I. Beschreibung der Typographie
- II. Exemplare
- III. Unterschiede zwischen Handschriften und Druck
- § 6 Überblick zum Inhalt der Stadtrechtsreformation
- A. Erstes Buch
- I. Titel 1 - Verhaltenskodex und Rechtsgrundlage
- II. Titel 2 - Bürgerrecht und Bürgerpflicht
- III. Titel 3 - Leibeigenschaft
- IV. Titel 4 - Verlöbnis und Eheschließung
- V. Titel 5 - Bindungswirkung und Beweis von Vertragsschlüssen
- VI. Titel 6 - Haftung der Ehefrau für Verbindlichkeiten aus Gesellschaft
- VII. Titel 7 - Darlehen
- VIII. Titel 8 - Locatio Conductio
- IX. Titel 9 - Kaufrecht
- X. Titel 10 - Zwangsvollstreckung und Pfandrecht
- XI. Titel 11 - Vorkaufsrecht
- XII. Titel 12 - Schenkungen
- XIII. Titel 13 - Bürgschaft
- XIV. Titel 14 - Beschlagnahme und Zwangshaft
- XV. Titel 15 - Baurecht
- XVI. Titel 16 - Ersitzung und Verjährung
- B. Zweites Buch
- I. Titel 1 - Testament
- II. Titel 2 - Intestaterbrecht
- III. Titel 3 - Vormundschaft
- IV. Titel 4 - Heergewäte und Gerade
- C. Drittes Buch
- I. Titel 1 - Glücksspiel
- II. Titel 2 - Verbale und tätliche Verletzungen
- III. Titel 3 - Schadensersatz gemäß Lex Aquilia
- IV. Titel 4 - Nichtbefolgung von Ratsbeschlüssen
- V. Titel 5 - Aufstands- und Verschwörungsverbot
- VI. Titel 6 - Ehebruch und Prostitution
- VII. Titel 7 - Diebstahl
- VIII. Titel 8 - Totschlag
- IX. Titel 9 - Geleit, Schutz von Rats- und Gerichtsdienern, Ausgewichene
- D. Viertes Buch - Prozessrecht
- Siebtes Kapitel: Rechtshistorische Einordnung der Stadtrechtsreformation
- § 1 Forschungsstand zum Romanisierungsgrad von Stadtrechtsreformationen
- § 2 Einführung in die Methodik
- A. Wörtliche Übereinstimmungen und inhaltliche Ähnlichkeit
- B. Ergänzende Kriterien
- C. Mögliche Kritikpunkte
- § 3 Konkrete Untersuchungsmethodik zur Mindener Stadtrechtsreformation
- § 4 Historisch-kritische Exegese der Begleittexte
- A. Das „Prooemium Statutorum Mindensium“
- I. Text
- II. Überblick
- III. Analyse
- 1. Involvierte Personen
- 2. Beschriebenes Vorgehen
- 3. Erlassmotivation
- 4. Legitimation
- 5. Kommentierung
- B. Das Crusische Vorwort
- C. Auszüge aus dem Crusischen „Caput Praeliminare“
- I. Überblick
- II. Wurzeln des Mindener Rechts
- III. Subjektiver Anwendungsbereich
- IV. Gesetzeskraft und Interpretation der Mindener Gesetze
- 1. Statutenanwendungslehre und Statuteninterpretation
- 2. Gemeinrechtliche Rechtsanwendungslehre
- 3. Minden
- § 5 Sprache und Systematik der Mindener Stadtrechtsreformation
- A. Sprache
- B. Systematik
- § 6 Äußere Einflüsse
- A. Machtpolitische Situation gegenüber dem Landesherrn
- B. Stadtrechtsreformation und Religion
- C. Einflussfaktoren auf das Werk von Crusius
- § 7 Wörtliche Übereinstimmungen und inhaltliche Ähnlichkeit zum Stadtbuch von 1318
- A. Erstes Buch
- I. Ehevertrag und erbrechtliche Folgen
- II. Haftung der Ehefrau für Handelsgeschäfte des Ehemannes
- III. Zeugenbeweis für Besitz bei Jahrrente
- IV. Zeugenbeweis wegen Schulden des Verstorbenen
- V. Briefschuld bezüglich Haus oder Erbe
- VI. Bindungswirkung Kaufvertrag
- VII. Widerruf Erbgutverkauf wegen Auslandsaufenthalt
- VIII. Zustimmung Erbgutverkauf
- IX. Widerruf Erbgutverkauf
- X. Erbteilgut in habender Wehr
- XI. Schenkung auf dem Sterbebett
- XII. Verschenkbare Güter
- XIII. Bürgschaftsumfang
- XIV. Fenster und Tropfenfall
- XV. Ersitzung
- XVI. Zwischenfazit
- B. Zweites Buch
- I. Zustimmung der Erben
- II. Schulden des Erbes
- III. Vorrang der abgesonderten Geschwister
- IV. Erbrecht der Enkel bei abgesondertem Elternteil
- V. Erbrecht nach Stämmen
- VI. Erbanspruch der mit Brautschatz ausgesteuerten Schwester
- VII. Absonderungsrecht der Witwe / des Witwers
- VIII. Absonderungsanspruch gegen Stiefmutter
- IX. Erbberechtigter an Heergewäte
- X. Erbberechtigte an Gerade
- XI. Umfang des Heergewäte
- XII. Umfang der Gerade
- XIII. Zwischenfazit
- C. Drittes Buch
- I. Unrechtmäßiger Bodenabbau
- II. Haftungsfreistellung bei Bauarbeiten durch Warnung
- III. Haftungsfreistellung des Wagenfahrers nach Warnruf
- IV. Rückgabeanspruch Diebesgut
- V. Rückgabeanspruch verkauftes oder verpfändetes Diebesgut
- VI. Zwischenfazit
- D. Zusammenfassung
- § 8 Nachweisliche Auslassungen aus dem Stadtbuch von 1318
- § 9 Wörtliche Übereinstimmungen und inhaltliche Ähnlichkeit zu anderen Mindener Rechtstexten i.w.S.
- § 10 Wörtliche Übereinstimmungen und inhaltliche Ähnlichkeit zu Texten der Stadtrechtsfamilie
- A. Dortmund
- I. Vorrang des (Enkel-)Kindererbrechts vor dem Geschwistererbrecht
- II. Getilgter Schuldbrief
- III. Erbteilung bei Wiederheirat
- IV. Fazit
- B. Hannover
- C. Lübbecke
- § 11 Andere Rechtstexte mit möglichem Einfluss auf die Stadtrechtsreformation
- A. Lübisches Recht
- B. Kursächsische Konstitutionen
- § 12 Ursprungsanalyse zu ausgewählten Rechtsmaterien
- A. Privatrecht
- I. Kaufrecht
- 1. Eigentumsübergang bei beweglichen Sachen
- 2. Gefahrübergang
- 3. Sachmängelhaftung
- 4. Laesio enormis
- 5. Arra
- 6. Zwischenfazit
- II. Darlehen
- 1. Darlehenszinsen
- 2. Darlehensausschluss für Kinder nach SC Macedonianum
- 3. Zahlkraftrecht (Münzveränderung)
- 4. Zwischenfazit
- III. Bürgschaft
- 1. Primär- oder Sekundärhaftung
- 2. Bürgschaftsausschluss nach SC Velleianum
- 3. Zwischenfazit
- IV. Locatio Conductio
- 1. „Hand wahre Hand“
- 2. Kauf bricht (nicht) Miete
- V. Frist und Verjährung
- VI. Erbrecht
- 1. Testament
- a) Testierfähigkeit und Formerfordernisse
- b) Abweichende Formerfordernisse
- c) Grenzen der Testierfreiheit
- d) Schlick-Dissertation
- e) Zwischenfazit zum Testament
- 2. Heergewäte und Gerade
- a) Umfang von Heergewäte und Gerade in Minden
- b) Berechtigte am Sondervermögen in Minden
- c) Geltungsdauer
- 3. Gesetzliche Erbfolge
- a) Kinder
- b) Enkel
- c) Ehepartner bei kinderloser Ehe
- d) Eltern und Geschwister
- e) Geschwisterkinder
- f) Ehepartner bei bekindeter Ehe
- g) Absonderungsrechte und erbrechtliche Konsequenzen
- h) Schlick-Dissertation
- 4. Zwischenfazit zum gesetzlichen Erbrecht
- VII. Fazit zum Privatrecht
- B. Strafrecht
- I. Entwicklung des deutschen Straf- und Strafprozessrechtes
- II. Mindener Straf- und Strafprozessrecht
- 1. Glücksspiel
- 2. Injurien
- a) Beleidigung
- b) Körperverletzung
- 3. Sittlichkeitsverbrechen
- 4. Diebstahl
- 5. Totschlag
- 6. Straftaten gegen die Hoheitsträger oder die allgemeine Sicherheit und Ordnung
- 7. Schadensersatz gemäß Lex Aquilia
- C. Prozessrecht
- I. Prozessrechtlicher Regelungsgehalt der Stadtrechtsreformation
- 1. Vorbild: Kameralprozess
- 2. Mindener Verfahren gemäß Liber IV, Tit. 1
- 3. Mindener Verfahren gemäß Liber IV, Tit. 2
- 4. Mindener Strafverfahren aus dem Jahre 1666
- 5. Fazit
- § 13 Ergebnis der rechtshistorischen Einordnung
- Achtes Kapitel: Resümee
- Quellenverzeichnis
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2023 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation unter dem Titel „Die Wurzeln der Mindener Stadtrechtsreformation von 1613 - Ein Beitrag zur lokalen Rezeptionsgeschichte“ angenommen.
Meinem Doktorvater Prof. Dr. Franz Dorn bin ich zu größtem Dank verpflichtet. Er hat mich für die deutsche Rechtsgeschichte begeistert und mich gemeinsam mit seiner Frau Dr. Ulrike Dorn stets darin unterstützt, meinen Weg zu gehen. Beide haben mir immer versichert, dass es möglich ist, Kinder und Dissertation zu vereinbaren und das Ergebnis gibt Ihnen Recht. Dafür danke ich von Herzen! Prof. Dr. Dorns Kenntnisse des Rechts und seiner Geschichte haben mich ein ums andere Mal tief beeindruckt und ich danke ihm für die zahlreichen Anregungen und Hinweise während der Erstellung meiner Dissertation.
Herr Prof. Dr. Thomas Rüfner teilt unermüdlich seine Faszination für das römische Recht mit seinen Studierenden und Promovierenden. Von ihm habe ich gelernt, welche beachtlichen juristischen Denkleistungen schon vor zweitausend Jahren vollbracht wurden und dass es an alle Rechtstexte, Kommentare und Urteile immer noch eine weitere kritische Frage zu stellen gibt. Ihm gilt mein tiefer Dank für die Erstellung des Zweitgutachtens im Promotionsverfahren und viele wertvolle Anmerkungen.
Der dritte Trierer Rechtshistoriker im Bunde war Herr Prof. Dr. Carsten Fischer als Vorsitzender der Prüfungskommission– auch ihm möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen.
Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Christian Koopmann, meinen Eltern Barbara Specken und Bernhard Mann, sowie meinem Bruderherz Hendrik Slusarenka, ohne deren Verständnis für meinen Promotionswunsch und deren vielfältige Unterstützung diese Arbeit niemals zustande gekommen wäre.
Auf dem Weg haben mich viele Menschen begleitet, denen ich hier ebenfalls danken möchte. Zu nennen sind insbesondere Frau Christina Hartmann, Frau Rebecca Schlimbach und Frau Dr. Monika M. Schulte, Frau Angelina Burk und Frau Esty Prastyaningtias, Frau Dr. Frederieke M. Schnack, das Team vom Graduiertenzentrum der Universität Trier und mein interdisziplärer Schreibzirkel, sowie alle Mitglieder des Doktorandennetzwerkes der Historischen Kommission für Westfalen (LWL).
Ich widme diese Arbeit in unendlicher Liebe meinen wundervollen Töchtern Marie Leonora und Lara Aurelia.
Kerstin Koopmann
Petershagen-Frille, im Oktober 2023
Einleitung
„Geschichte und damit auch Rechtsgeschichte beruht auf Quellen.
Diese Quellen sprechen aber nicht von allein zu uns.
Sie antworten nur auf Fragen, die wir ihnen stellen.“
Oestmann1
Die Stadt Minden erließ im Jahre 1613 eine umfassende Stadtrechtsreformation. Dieser bedeutende neuzeitliche Rechtstext und seine gedruckte Kommentierung aus dem Jahre 1674 sind bisher unerschlossen. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Desiderat auf dem Gebiet der Regionalforschung. Diese Arbeit widmet sich der Aufgabe, die Stadtrechtsreformation samt Kommentierung in ihrem Zusammenhang mit den früheren Mindener Stadtbüchern (1318, 1376, 1527) sowie den Texten der Stadtrechtsfamilie darzustellen sowie rechtshistorisch einzuordnen und einer ersten rechtshistorischen Bewertung zu unterziehen.
Dieses Vorgehen erfolgt insbesondere vor dem Hintergrund der Fragestellung, ob die Mindener Stadtrechtsreformation ein später Versuch der Bewahrung des althergebrachten heimischen Rechts ist oder das Ergebnis einer umfassenden Rezeption des römischen Rechts. Wie viel ursprünglich Mindener Recht steckt im Mindener Recht von 1613? Die zugrundegelegte Arbeitshypothese lautet hierbei, dass der Einfluss des ius commune und damit die Aufgabe eigenen anderslautenden Rechts je nach Rechtsmaterie in sehr unterschiedlichem Ausmaß nachweisbar sind.
Inhaltlich erwartet den Leser daher folgender Aufbau:Nach einem Überblick zum bisherigen Forschungsstand und Klärung einiger grundsätzlicher Begrifflichkeiten wird in komprimierter Form die historische Ausgangssituation in Minden geschildert. Diese kleine Stadtgeschichte ist notwendig, um die rechtlichen Regelungen in ihre tatsächlichen Umstände einordnen zu können. Es folgt eine Darstellung der rechtlichen Ausgangslage, d. h. der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zur Mindener Stadtrechtsgeschichte. Anschließend werden die Stadtrechtsreformation von 1613 und ihre Kommentierung von 1674 beschrieben. Hierzu gehören die Entstehungsgeschichte, die Bearbeitungsgeschichte, die Überlieferungssituation sowie ein inhaltlicher Überblick. Daran schließt sich die rechtshistorische Einordnung mit der leitenden Frage des Romanisierungsgrades an. Das methodische Vorgehen der Untersuchung wird zunächst abstrakt beschrieben und dann konkret angewandt. Die Untersuchung fußt dabei insbesondere auf der historisch-kritischen Exegese dreier Begleittexte, dem Vergleich mit älteren Rechtstexten sowie der Analyse einiger ausgewählter Passagen des materiellen Rechts der Stadtrechtsreformation.
1 Oestmann, Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte. Drei Blickwinkel auf das Recht der Vergangenheit, S. 1.
Erstes Kapitel:Forschungsstand
Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit der Stadt Minden wurde bisher zumeist aus allgemeingeschichtlichem, kirchengeschichtlichem oder verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet.3 Es existiert zwar eine erste Abhandlung zur weltlichen Gerichtsbarkeit in Minden,4 sowie ein knapper Aufsatz zu den „Mindener Rechtsbüchern“,5 einen zusammenhängenden und erläuternden Überblick zum Mindener Stadtrecht und seinen Quellen aus rechtshistorischer Perspektive oder eine Darstellung zur Mindener Stadtrechtsreformation gibt es aber bislang nicht.6
Das Stadtrecht der Mindener Stadtbücher wurde über viele Jahre hinweg nur in Auszügen7 herausgegeben oder fand gar keinen Niederschlag in entsprechenden Quellensammlungen.8 Ein Schicksal, dass sehr viele westfälische Stadtbücher teilten.9 Eine erste Edition10 eines Mindener Stadtbuches legte Martin KRIEG11 vor. Grundlegend für die Beschäftigung mit dem Mindener Stadtrecht sind inzwischen zudem die Vorarbeiten von Johann Karl von SCHROEDER.12
Zu nennen ist hier an erster Stelle SCHROEDERs Quellenedition „Mindener Stadtrecht. 12. Jahrhundert bis 1540“. Diese Edition enthält unter anderem die drei (teilweise) überlieferten Mindener Stadtbücher. Der Autor schreibt in seinen Vorbemerkungen zum 1997 erschienenen Werk:„Diese Ausgabe will die verfügbaren Quellen in greifbarer Gestalt […] vor Augen führen und zur Beschäftigung mit dieser Materie anregen. Einer Auswertung und Einbettung in die Forschung soll damit nicht vorgegriffen werden, sie muß gesonderten Untersuchungen vorbehalten sein.“13
Diese Ausführung ist zugleich in Teilen auch die vorweggenommene Antwort auf eine kritische Rezension von CORDES14. Laut CORDES lässt die Edition den Leser ein wenig ratlos zurück. Es bleibe offen, wem die Edition dienen solle, wie sie ohne sachliche Einführung und ohne Sachregister genutzt werden solle, nach welchen Kriterien die Auswahl der Quellen erfolgt sei oder wo auf Vollständigkeit gehofft werden dürfe. CORDES spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sammlung (um das Wort Sammelsurium zu vermeiden) unklaren Zuschnitts“.15
Der Kritik ist insofern zuzustimmen, als die Edition tatsächlich schwer zugänglich und unübersichtlich ist. Der Leser muss sich leider der Tatsache bewusst sein, dass SCHROEDER zusätzlich zu den teilweise nur bruchstückhaft überlieferten Stadtbüchern eine Urkundensammlung präsentiert, die ebenfalls nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. SCHROEDER hat die Urkunden ausgewählt, die ihm selbst für „die Rechts- und Verfassungsgeschichte der Stadt Minden besonders bedeutsam erscheinen.“16 Wer sich eingehender mit der Mindener Rechtsgeschichte befasst, kommt daher nicht umhin, die Findbücher der Archive nach weiteren Quellen zu sichten und eine eigene Bewertung vorzunehmen.
So ist der große Verdienst der Edition darin zu sehen, dass sie überhaupt einen ersten Zugang zu den Quellen zur Mindener Stadtrechtsgeschichte ermöglicht. Die Hemmschwelle, sich mit alten Urkunden zu beschäftigen, sinkt durch eine Edition deutlich.17 Eine Edition kann die eigentliche Tätigkeit im Archiv bei wissenschaftlichen Arbeiten nie ganz ersetzen. Aber sie öffnet die Tür zur Vergangenheit, durch die der Benutzer anschließend eintreten kann. Die Edition SCHROEDERs ist eine Fundgrube für den, der sich mit etwas Zeit und Geduld auf sie einlässt.
Johann Karl von SCHROEDER hatte weitere Editionen geplant, die er selbst in der ersten Edition wie folgt ankündigte:„Weitere Texte aus der Zeit bis um 1800, insbesondere die Kodifikation von 1613, liegen bereits im Manuskript vor, sie könnten in weiteren Bänden ebenfalls veröffentlicht werden.“18 Zu diesen Veröffentlichungen kam es durch seinen Tod am 17.07.1998 nicht mehr. Ein Großteil seiner Vorarbeiten für eine weitere Stadtrechts-Edition (Typoskripte, Notizen und Kopien) wurde von seinen Erben der Historischen Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe übergeben und wird im Kommunalarchiv Minden verwahrt. Das zwei Archivkartons umfassende Material wurde von Archivmitarbeiterin Frau Dr. Monika M. Schulte u.a. um zwei tabellarische Übersichten mit weiteren Quellenfunden zur Stadtrechtsgeschichte ergänzt. Dieses Material wurde für die vorliegende Arbeit ebenfalls gesichtet und einbezogen.19
Der übrige Schriftgut-Nachlass SCHROEDERs befindet sich nicht im Kommunalarchiv Minden, sondern ging an das Archiv des Vereins Herold (Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften) in Berlin. Hierbei handelt es sich um 44 Archivkartons mit Material, die bisher noch unerschlossen sind. Eine Sichtung ergab, dass sich in einem der genannten Archivkartons weiteres Material zur Stadtrechtsgeschichte befindet. Dieses Material wurde daher ebenfalls für die vorliegende Arbeit einbezogen.20
Wie schon in seiner ersten Edition hat SCHROEDER allerdings auch im Rahmen seiner Vorarbeiten für eine Editionsfortsetzung eine Auswahl getroffen. Diese Arbeit verzichtet ausdrücklich darauf, das Projekt SCHROEDERs, eine Stadtrechtsedition für den Zeitraum 1541-1800 vorzulegen, wieder aufzunehmen und fortzuführen.
KRIEG äußerte vor vielen Jahren die Hoffnung:„Näher auf das Mindener Stadtrecht, seine Quellen und seine Verbreitung einzugehen, sei einer besonderen Arbeit vorbehalten, deren Aufgabe es auch sein wird, das Mindener Stadtrecht zu sammeln und herauszugeben.“21 Dieser Wunsch bleibt weiterhin unerfüllt. Die Fülle an Material zur Mindener Stadtrechtsgeschichte lässt es nicht zu, das Mindener Stadtrecht in seiner Gesamtheit über einen Zeitraum mehrerer Jahrhunderte herauszugeben und in seiner Entwicklung darzustellen. Bereits EHBRECHT musste einräumen, dass man sich schon bei der umfassenden Bearbeitung des Rechtes nur einer Stadt „vor größte Schwierigkeiten“ gestellt sieht.22 Vorzugswürdig für künftige Forschung ist daher auch weiterhin die vertiefte Auseinandersetzung mit einem konkreten Rechtstext oder einem ausgewählten thematischen Bereich.
2 Stolleis, Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt, S. VIII.
3 Einen Überblick zu Minden liefern Stoob, Heinz / Ehbrecht, Wilfried / Schröder, Brigitte (Hrsg.):Bibliographie zur deutschen historischen Städteforschung, Teil 2, Köln 1996, S. 120-124. Des Weiteren sei auf die zahlreichen Publikationen des Mindener Geschichtsvereins verwiesen. Einzelpublikationen erscheinen in der Reihe „Mindener Beiträge“ (früher „Mindener Jahrbücher“). Als jährliche Publikation erscheinen die „Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins“ (ab Jahrgang 43, zuvor Jahrgang 1-36 als „Mindener Heimatblätter“ und Jahrgang 37-42 als „Mitteilungen des Mindener Geschichts- und Museumsvereins“), die bis Jahrgang 88 (2016) über die Digitale Sammlung der Landes- und Universitätsbibliothek Münster online zugänglich sind (https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de). Umfangreiche Arbeiten jüngeren Datums sind folgende Dissertationen/Magisterarbeiten:Brandhorst, Dirk:Untersuchungen zur Geschichte des Hochstifts Minden im Spätmittelalter, Göttingen 1993; Schulte, Monika Maria:Macht auf Zeit. Ratsherrschaft im mittelalterlichen Minden, Warendorf 1997; Kuck, Matthias:Burg und bischöfliche Herrschaft im Stift Minden, Münster 2001; Groß, Barbara:Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexenverdächtigungen und Hexenprozessen (1584-1684), Münster 2009; sowie Schnack, Frederieke Maria:Zwischen geistlichen Aufgaben und weltlichen Herausforderungen. Die Handlungsspielräume der Mindener Bischöfe von 1250 bis 1500, Ostfildern 2022. Als Klassiker zur Stadtgeschichte können gelten Culemann, Ernst Albrecht Friedrich:Mindische Geschichte, Abtheilung 1-5, Minden 1747/1748; sowie Schroeder, Wilhelm:Chronik des Bistums und der Stadt Minden, Minden 1886. Beide Werke sind jedoch Kinder ihrer Zeit und lassen genaue Quellennachweise zumeist vermissen. Lesenswerte Überblicke zu Minden liefern Nordsiek, Hans:Minden und seine historische Identität, Minden 2000; sowie Krieg, Martin:Geschichte des Bistums, des Fürstentums und der Stadt Minden, in:Der Minden-Ravensberger:ein Heimatbuch, hrsg. von Eduard Schoneweg, 2. Aufl., Bielefeld 1929, S. 43-65. Einen lesenswerter Überblick zu Westfalen mit vielen Passagen zu Minden bietet nun Freitag, Werner:Westfalen. Geschichte eines Landes, seiner Städte und Regionen in Mittelalter und früher Neuzeit, Münster 2023.
4 Landau, Manfred:Die Entwicklung der weltlichen Gerichtsbarkeit in der Stadt Minden bis 1807, in:Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins, Jahrgang 84 (2012), S. 35-71.
5 Krieg, Martin:Mindener Rechtsbücher aus der Zeit der sächsischen Autonomie (14.– 17. Jahrhundert), in:Mindener Heimatblätter, Jahrgang 28 (1956), Nr. 8/9, S. 85-92.
6 Nordsiek, Hans:Minden und seine historische Identität, S. 8 f., führt bedauernd aus:„Bedeutungsverlust und Randlage führten in der Stadt Minden selbst in großem Maße zum „Verlust der Geschichte“ und außerhalb der Stadt vielfach zu Forschungsdefiziten […].“ Der Dornröschenschlaf der Mindener Archivalien verwundert erst recht, wenn man sich die relative Nähe zu den Universitäten Bielefeld, Osnabrück und Münster bewusst macht, die jeweils über einen eigenen geschichtswissenschaftlichen Fachbereich verfügen.
7 Lasch, Agathe:Aus alten niederdeutschen Stadtbüchern. Ein mittelniederdeutsches Lesebuch, Dortmund 1925, S. 81-90; Frensdorff, Ferdinand:Dortmunder Statuten und Urtheile. Halle a.S. 1882, S. 240-247; Prinz, Joseph (Bearb.):Westfälisches Urkundenbuch. Band 10. Die Urkunden des Bistums Minden 1301/1325, 2. Aufl., Münster 1977; Borchling, Conrad:Mittelniederdeutsche Handschriften in den Rheinlanden und in einigen anderen Sammlungen, Vierter Reisebericht, Göttingen 1913, S. 140-142.
8 Gaupp, Ernst Theodor:Deutsche Stadtrechte des Mittelalters. Mit rechtsgeschichtlichen Erläuterungen herausgegeben. Neudruck der Ausgabe Breslau 1851-52, Aalen 1966; Jellinghaus, Hermann:Die Rechtsaufzeichnungen in niederdeutscher Sprache, in:Niederdeutsches Jahrbuch, Band 18 (1892), S. 71-78; Hergemöller, Bernd-Ulrich:Quellen zur Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 2000; Oppitz, Ulrich-Dieter:Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Band 1, Köln 1990, zzgl. Oppitz, Ulrich-Dieter:Ergänzungen zu „Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters und ihre Handschriften“, in:ZRG, GA, Band 113 (1996), S. 345-361, Band 114 (1997), S. 444-453, Band 117 (2000), S. 640-651, Band 131 (2014), S. 400-417, Band 132 (2015), S. 463-478, Band 133 (2016), S. 484-487, Band 136 (2019), S. 338-367, Band 139 (2022), S. 253-263. Selbst in Westphälische Provinzial-Blätter. Verhandlungen der Westphälischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Band 1, herausgegeben von der historischen Section der Westphäl. Gesellschaft für vaterl. Cultur in Minden, Minden 1828/1830, ist kein Abdruck erfolgt.
9 Vgl. hierzu:Hemann, Das Rietberger Stadtbuch, S. 259-263, demzufolge eine Bestandsaufnahme gedruckter Stadtbücher aus Westfalen ausgesprochen mager ausfällt (vgl. S. 260) und die Stadtbücher nicht in ihrer Gesamtheit gesehen und editiert wurden, sondern „vielfach als Steinbruch für verschiedenste Fragestellungen städtischer Geschichte genutzt“ (S. 261) wurden.
10 Krieg, Martin (Bearb.):Das Mindener Stadtbuch 1318. Veröffentlichungen der Historischen Kommission des Provinzialinstitutes für Westfälische Landes- und Volkskunde. Mindener Geschichtsquellen. Band III, Münster 1931.
11 Geboren am 22.01.1892 in Ellrich, gestorben am 25.12.1962 in Langenhagen bei Hannover, Dr. phil., 1924-1960 Leiter des Mindener Stadtarchivs, vgl. Nordsiek, Geschichte des Archivs, S. 69-95, sowie Laag, Otto Kurt:Stadtarchivar Dr. Martin Krieg 36 Jahre treu im Dienste Mindens, in Mindener Heimatblätter, Jahrgang 35 (1963), Nr. 1/2, S. 1-7.
12 Geboren am 17.04.1923 in Dresden, gestorben am 17.07.1998 in Berlin, Dr. iur., Archivdirektor am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (https://www.historische-kommission.lwl.org/de/uber-uns/ehemalige-mitglieder/schroeder-johann-karl-von-dr/ (Stand:15.11.2023)). Herr von Schroeder war zuvor Leiter des Mindener Stadtarchivs (1960-1966), vgl. Nordsiek, Geschichte des Archivs, S. 96-105.
13 Schroeder, Stadtrecht, S. VII.
14 ZRG, GA, Band 119 (2002), S. 575 f.
15 ZRG, GA, Band 119 (2002), S. 575.
16 Schroeder, Stadtrecht, S. 181.
17 Beyer, S. 6:„Editionen zeigen damit neue Erkenntnismöglichkeiten auf, erschließen neue Felder und neue Zusammenhänge. Sie leisten damit immer auch Pionierarbeit, eröffnen der Forschung neue Wege, manchmal auch ganz neue Welten. Editionen senken die Hemmschwelle zur Bearbeitung von Themen, die auf den ersten Blick nicht zu bewältigen scheinen.“
18 Schroeder, Stadtrecht, S. VII.
19 Bei Bezugnahmen auf diese Vorarbeiten wird im Folgenden die Kennzeichnung „Nachlass Schroeder, Minden“ verwendet, da die Unterlagen bisher keine Signatur erhalten haben, weil sie nicht im Eigentum des Kommunalarchivs Minden stehen.
20 Bei Bezugnahmen auf diese Vorarbeiten wird im Folgenden die Kennzeichnung „Nachlass Schroeder, Berlin“ verwendet.
21 Krieg, Stadtbuch von 1318, S. 26.
22 Ehbrecht, Stadtrechte und Geschichtslandschaft in Westfalen, S. 244.
Zweites Kapitel:Klärung der Begrifflichkeiten
„Nichts ragt aus dem Mittelalter so unmittelbar und so anschaulich in die Gegenwart hinein als die jenen vergangenen Tagen entstammenden Städte und Burgen.
Nichts wiederum war für diese wichtiger und prägender als das in ihnen entstandene und von ihnen geschaffene Stadtrecht.“
Köbler23
Entscheidend für das Verständnis sowohl einer bestimmten Fragestellung als auch der dazugehörigen Hypothese und des Forschungsergebnisses ist die Darlegung der zugrunde gelegten Begriffsdefinitionen; dies gilt erst recht bei einer interdisziplinären Untersuchung. Hierbei handelt es sich nicht um erschöpfende Abhandlungen zum jeweiligen Begriff. Dazu sei auf die einschlägigen Handwerke verwiesen. Es wird vielmehr dargelegt, mit welcher Definition im Folgenden gearbeitet wird und kurz angesprochen, welche Diskussionspunkte gegebenenfalls existieren.
§ 1 Stadtrecht
Der Begriff des Stadtrechts wird in der rechtshistorischen Forschung in verschiedenem Sinne benutzt und bedarf daher einer genaueren Betrachtung. Als kürzeste Definition kann vorweggeschickt werden:Stadtrecht ist jedenfalls das besondere Recht einer Stadt.24
Schon der Begriff „Stadt“ ist klärungsbedürftig.25 Eine Annäherung an den Begriff kann nur mit Hilfe von Kriterienbündeln oder Idealtypen gelingen, d. h. rechtliche, siedlungsgeographische, ökonomische und kulturelle Aspekte müssen sich ergänzen.26
Während HAASE Minden „ohne Bedenken“ für das Jahr 1180 als Stadt ausweist,27 möchte NORDSIEK davon ausgehen, dass der Aufstieg Mindens von einer bischöflichen Kaufmannssiedlung zu einer selbstständigen Stadt jedenfalls in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erfolgte.28 HEMANN hält die Stadtbildung um 1180 für abgeschlossen, möchte aber von städtischer Selbstverwaltung erst um 1230 sprechen.29 SCHOPPMEYER sieht die Stadt um 1220/30 als eigenständigen Rechtsorganismus mit Siegelführung.30 Dies verdeutlicht, dass der rechtliche Aspekt der Stadtwerdung genauerer Betrachtung bedarf. Hierzu hat KROESCHELL konstatiert, die Rechtsgeschichte werde „entscheidend auf das Stadtrecht abheben müssen, das mehr ist als nur ein Kriterium unter anderen.“31
Eine Stadtrechtsverleihung für Minden ist nicht überliefert. KRUPPA vermutet die Stadtrechtsverleihung und damit zusammenhängend die Ummauerung der Gesamtstadt im 12. Jahrhundert, weil zu dieser Zeit große Umbaumaßnahmen in der Mindener Domfreiheit stattfanden.32 Sie räumt jedoch ein:„Ein genauerer Zeitpunkt für den Bau der Mauer ist genausowenig bekannt wie eine förmliche Verleihung der Stadtrechte.“33 NORDSIEK kann ebenfalls nur vermuten, dass die Stadt etwa 1230 von ihrem bischöflichen Stadtherrn als selbstständig anerkannt worden ist.34
Die Entwicklung der sich organisierenden Bürgerschaft lässt sich aber anhand einiger Jahreszahlen und Bezeichnungen verfolgen. Die erste überlieferte Urkunde, die von den Mindener Bürgern als cives Mindenses spricht, stammt (spätestens) aus dem Jahr 1206.35 Als selbstständige Rechtskörperschaft, die einen Vertragsschluss mit eigenem Siegel beglaubigen kann, ist Minden erstmals 1231 in einer Urkunde nachweisbar, in der das nachfolgende sigillorum […] burgensium angekündigt wird.36 Die Urkunde enthält zudem die Begriffe universitas burgensium und burgenses.37 Die Altersbestimmung des verwendeten Bürgersiegels38 ist aufgrund seiner Form (spitzoval) und seines Bildes (Bistumspatron Heiliger Petrus) umstritten.39 Das Siegel weist jedenfalls durch die Bildwahl auf eine Abhängigkeit vom bischöflichen Stadtherrn hin, denn selbstständige Städte „hatten in der Regel Stadt-/Stadtmauernabbildungen in ihren Siegeln“.40
In der Überlieferung folgen zwei Urkunden aus dem Jahr 1232. Die auf den 23.03.1232 datierte Urkunde enthält die Bezeichnungen civis und burgenses sowie civium Mindensium.41 Die zweite Urkunde aus dem Jahre 1232 enthält kein Tagesdatum, jedoch die Begriffe cives und burgensium nostrorum.42 Weitere Hinweise auf die genaue strukturelle Verfasstheit der Bürgerschaft existieren bis zu diesem Zeitpunkt nicht, insbesondere lassen die verwendeten Begrifflichkeiten keine eindeutigen Schlüsse zu. Das angekündigte gemeinsame Siegel aus der Urkunde von 1231 bezeugt jedoch das Vorhandensein einer bürgerlichen Organisationsform. BAHNE spricht insoweit von der Existenz einer „Führungsgruppe“,43 SCHULTE geht von einem die Bürgerschaft „repräsentierenden Gremium, einem Vorläufer des Rates“ aus;44 sie macht aber auch deutlich:„Ob es aus dem Beraterkreis oder der Ministerialität des Bischofs, aus den Beisitzern des bischöflichen Wichgrafengerichts oder aus der Mindener Bürgerschaft, vielleicht aber auch aus allen angesprochenen Gruppen hervorging, ist nicht zu klären […].“45
In der Urkunde vom 23.03.1232 findet sich zudem die auslegungsbedürftige Bezeichnung cum arbitris sive rectoribus.46 SCRIVERIUS möchte hierunter eine Eidgenossenschaft aller Bürger verstanden wissen,47 also ein organisiertes, beschlussfassendes Gremium. HEMANN deutet die arbitri sive rectores als „Vertreter der Bürgerschaft“.48 BRANDHORST sieht in ihnen eher eine Vertretung aller in der Stadt lebenden Gruppen, an der die Vertreter der weltlichen Bürgerschaft neben Domkapitel und Stadtgeistlichkeit beteiligt waren.49 SCHOPPMEYER geht ebenfalls von einer eidlichen Verbrüderung aus und identifiziert unter der Bezeichnung cum arbitris sive rectoribus die Schöffen des wichgräflichen Gerichtes,50 wie auch LANDAU vermutet.51 Solcher Deutung tritt SCHULTE entgegen; es müsse sich keineswegs um eine Vertretung der Mindener Bürger handeln, sondern gemeint sein könnten mit der Bezeichnung cum arbitris sive rectoribus vielmehr bischöfliche Ratgeber.52
Im Zeitraum 1243-1256 findet sich dann zweimal eine Erwähnung von Mindener consules in kirchlichen Urkunden.53 Zu diesem Zeitpunkt muss also der „qualitative Sprung“ in der Stadtverfassung zum Ratsherrenkollegium bereits erfolgt sein.54 1246 schloss dann der (fälschlicherweise) als scabini (Schöffen) bezeichnete Rat der Stadt einen Bündnisvertrag.55
Die erste überlieferte alleinige Ratsurkunde der Mindener consules stammt aus dem Jahre 1256.56 Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Erstarken der Mindener Bürgerschaft, das Mindener Ratswahlverfahren (insbesondere mit dem ersten Ratswahlstatut aus dem Jahre 1301) und weitere Aspekte der Stadtverfassung bereits umfassend von SCHULTE bearbeitet wurden.57
Damit kann als gesichert gelten, dass es sich bei Minden spätestens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts um eine Stadt mit sich verfestigender Stadtverfassung gehandelt hat.58 Dies deckt sich mit der Einschätzung KRIEGs:„Als Stadt mit Markt, Befestigung, eigenem Recht und Stadtsiegel tritt Minden unter Bischof Konrad (1209-1236) hervor.“59 Er bezieht sich hierbei auf eine bischöfliche Urkunde vom 05.12.1256, in der der Bischof Widekind den Mindenern ihr Recht, das sie seit Bischof Konrad (und seinen Nachfolgern) haben, bestätigt.60 Im Jahre 1261 erkannte der bischöfliche Stadtherr das Recht der Stadt Minden außerdem indirekt an, indem er es an Wunstorf verlieh;61 und im Jahre 1283 bezieht sich der Rat erstmalig in einer Urkunde selbst auf seine Stadtrechte und deren Einhaltung.62
„Stadtrecht“63 kann in verschiedenem Sinne verwendet werden (1.) als Synonym für Stadtrechtsprivilegien, d. h. vom Stadtherrn erlangte Freiheit und Begünstigung in einzelnen Rechtsbereichen durch Verleihung oder Bestätigung, (2.) als Bezeichnung für die sich entwickelnde Verfassung der städtischen Bürgerschaft, (3.) als allgemeines Unterscheidungsmerkmal zu landesherrschaftlichem oder kirchlichem Recht, sowie (4.) als Sammelbegriff für das spezifisch städtische Recht in Form einer autonomen niedergeschriebenen Rechtsordnung.64 Stadtrecht basiert demnach entweder auf Privileg, Satzung oder Gewohnheit.65
Es kam seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zu einer Verbreitung solcher Stadtrechte, weil sich das städtische Leben durch seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung immer stärker von den dörflichen und ländlichen Verhältnissen unterschied.66 Neben das Gewohnheitsrecht67 trat zunehmend die Rechtssetzung durch bewussten schriftlichen Rechtssetzungsakt. DILCHER spricht in diesem Zusammenhang von einer „Welle der Verschriftlichung mit qualitativen Veränderungen des Rechtsbereichs“68.
Die Übereinkunft einer Gemeinschaft auf bestimmte Verhaltensregeln durch Satzung wird auch Willkür oder Einigung genannt.69 Längere Kataloge stadtrechtlicher Normen enthalten neben diesen Willküren häufig die Aufzeichnung von Privilegien des Stadtherrn und vor allem Stadtrechtsauskünfte von Mutter- an Töchterstädte.70 Ergänzend hinzu trat teilweise die Niederschrift von Gewohnheitsrecht, um dies erprobte und bewährte Recht für künftige Zeiten zu bewahren.71
Eine inhaltliche Bewertung der Stadtrechte muss der jeweiligen Einzeluntersuchung vorbehalten bleiben. Dabei ist zu beachten, dass Stadtrecht laut EHBRECHT „einem dauernden Wandel“ unterlag.72 Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass das städtische Willkürrecht „seinem Grundgedanken nach Friedens- und Ordnungsrecht ist, das zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und eines gedeihlichen sozialen Zusammenlebens“ beiträgt.73 Die Verfahren und Normen dienen sowohl der Konfliktschlichtung als auch einer wirtschaftlichen, rationalen Zukunftsplanung.74 Die neue Qualität des schriftlich fixierten Rechts zeigt sich gerade darin, dass nun Vorgänge in den verschiedenen Zeitschichten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft getrennt und damit rational beherrschbar werden.75 Einerseits wird in den Stadtrechten ein bereits eingetretener Konflikt einer rechtlichen Lösung zugeführt (Vergangenheitsperspektive), andererseits lassen sich Folgen des eigenen Handelns im Vorfeld abschätzen (Zukunftsperspektive). Hinzu kommt die Ausformung eines rationalen Beweis- und Verfahrensrechts.76
In den Städten galt dem umgebenden Landrecht gegenüber Sonderrecht.77 Das Stadtrecht unterscheidet sich dabei auch inhaltlich grundlegend von dem agrarisch-archaisch geprägten Landrecht.78 Prägnant kann formuliert werden:Stadtrecht ist neues Recht.79 Das Stadtrecht brachte entscheidende Beiträge zur Entwicklung der Rechtsstruktur der Neuzeit:Veränderbarkeit des Rechts, Rationalisierung und Ökonomisierung des Rechtsdenkens.80 Es kann damit zu Recht von einer rechtsschöpferischen Leistung gesprochen werden.81 Die Ausbildung der Stadtrechte ist folglich gleichzusetzen mit einer Emanzipation aus der Naturordnung hin zu einer bewusst geschaffenen Kulturordnung, die Recht als gesetzt und veränderbar begreift.82
Mit DILCHER sei jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Hervorhebung der neuen, mit der Schriftlichkeit verbundenen Rechtsqualität des Stadtrechts freilich nicht den Blick dafür verdecken darf, dass „Traditionen und Oralität breite Schichten auch des städtischen Rechts weiterhin bestimmen. Im Gegensatz zu einer modernen Kodifikation beanspruchen die Stadtrechte ja keineswegs, das ganze in der Stadt geltende Recht zu erfassen.“83
Aufgrund des umfassenden Bedeutungsgehaltes des Begriffes „Stadtrecht“ bietet es sich an, eine terminologische Unterteilung in „Stadtrecht im engeren Sinne“ und „Stadtrecht im weiteren Sinne“ vorzunehmen.84 Die Formulierung „Stadtrecht im engeren Sinne“ findet sich bereits bei EBEL, der konstatiert:„Stadtrecht i.e.S. ist gewillkürtes Recht, Willkür, Satzung, seinem ursprünglichen Begriff nach also rechtsgeschäftlicher Natur, bedingtes Selbsturteil, verbindlich nur für diejenigen, die sich selbst verwillkürt haben.“85 Eine ähnliche Zweiteilung in Stadtrecht im engeren und weiteren Sinne findet sich auch bei EHBRECHT, der als Stadtrecht im engeren Sinne das materielle Recht verstanden wissen wollte, ohne außerstädtische Gerechtsame, Freiheiten gegenüber dem Stadtherrn und Verfassungsbestimmungen.86 Auch FRENZ hält aufgrund der „Mehrschichtigkeit der städtischen Rechtstradition“ eine „Differenzierung von städtischem Privilegienrecht und städtischem Einungs- bzw. Willkürrecht“ für erforderlich.87
Für diese Arbeit wird der Begriff des Stadtrechts im engeren Sinne verwendet. Unter dem Begriff des „Stadtrechts“ in dieser Abhandlung ist demnach das von der Bürgerschaft durch ihre Organe autonom gesetzte oder anerkannte Recht zur Regelung interner Angelegenheiten zu verstehen.
Die Minden betreffenden Privilegien unterfallen nicht dem engen Stadtrechtsbegriff und werden daher im Rahmen dieser Arbeit nicht erläutert. Es wird insoweit auf die Arbeiten von BAHNE, NORDSIEK und KRUPPA88 verwiesen.
Details
- Seiten
- 514
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631912775
- ISBN (ePUB)
- 9783631912782
- ISBN (Hardcover)
- 9783631912737
- DOI
- 10.3726/b21451
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Mai)
- Schlagworte
- Stadtrechtsreformation Römisches Recht Sachsenspiegel Rechtsgeschichte Minden Rezeption Stadtrecht
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 514 S.
- Produktsicherheit
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