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Kollaborative Mehrsprachigkeit in Lehr-/Lernkontexten

Empirische Zugänge an der Schnittstelle von englischer Fremdsprachendidaktik und Mehrsprachigkeitsdidaktik

by Christian Kramer (Author)
©2024 Thesis 592 Pages

Summary

Beim Lernen von Fremdsprachen auf Wissen aus anderen Sprachen zurückzugreifen, kann erwiesenermaßen den Lernprozess erleichtern. Gerade im englischen Fremdsprachenunterricht werden solche Synergien oft nicht systematisch genutzt. Im Kontext dieses Dilemmas untersucht der Band das Potential von Aufgaben, die sowohl kollaborativ als auch sprachenvernetzend aufgebaut sind, mit Blick auf Unterrichtspraxis wie auch auf die Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften. Die Ergebnisse zeigen, dass die beteiligten Teilnehmer:innen eine Vielzahl an Mehrsprachigkeitstechniken erfolgreich und kreativ einsetzen können. Darauf aufbauend bieten kooperative Aufgaben das Potential, den englischen Fremdsprachenunterricht für mehrsprachigkeitssensible Ansätze zu öffnen.

Table Of Contents


Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 Fachspezifische Dimensionen eines mehrsprachigkeitsdidaktisch sensiblen englischen Fremdsprachenunterrichts (nach Jakisch, 2015a, 2019 und Hallet, 2017)

Tabelle 2 Vergleichende Übersicht über die Sieben Siebe in ihrer Ausprägung innerhalb der jeweiligen EuroCom-Ansätze

Tabelle 3 Prozessschema bei rezeptiver Interkomprehension nach Meißner (2011) und Müller-Lancé (2019)

Tabelle 4 Auszug aus Transkript 08/01 zur Illustration von Konfabulationen

Tabelle 5 Auswahlkriterien für phraseologische Einheiten

Tabelle 6 Übersicht der ausgewählten Phraseme der Phrasemgruppe I (Niederländisch)

Tabelle 7 Übersicht der ausgewählten Phraseme der Phrasemgruppe II (Spanisch)

Tabelle 8 Übersicht der ausgewählten Phraseme der Phrasemgruppe III (Polnisch)

Tabelle 9 Übersicht über die Konventionen zur Datenaufbereitung der Kurzfragebogen- und Sprachenportraitdaten

Tabelle 10 Beispiel: Datenaufbereitung der Kurzfragebogen- und Sprachenportraitdaten

Tabelle 11 Übersicht über die Fächerverteilung innerhalb der Stichprobe (N =28)

Tabelle 12 Häufigkeitsverteilung: Auslandsaufenthalt (Ort; N = 26)

Tabelle 13 Übersicht: Angaben zur Art des schulischen Erwerbskontexts

Tabelle 14 Übersicht: Aufbereitete Daten zu der Gestaltung der Sprachenportraits

Tabelle 15 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 16 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 17 Auszug: Transkript 06/02

Tabelle 18 Übersicht: Kategorienkatalog zur Auswertung der Notizen im ersten Aufgabenteil

Tabelle 19 Übersicht: Kategorisierte Notizen für Aufgabenteil I/Phrasemgruppe I

Tabelle 20 Übersicht: Kategorisierte Notizen Aufgabenteil I/Phrasemgruppe II

Tabelle 21 Auszug: Transkript 04/01

Tabelle 22 Übersicht: Kategorisierte Notizen Aufgabenteil I/Phrasemgruppe III

Tabelle 23 Übersicht: Kategorienkatalog zur Auswertung der Notizen im zweiten Aufgabenteil

Tabelle 24 Übersicht: Kategorisierte Notizen Aufgabenteil II/Phrasemgruppe I

Tabelle 25 Auszug: Transkript 05/02

Tabelle 26 Auszug: Transkript 11/02

Tabelle 27 Übersicht: Kategorisierte Notizen Aufgabenteil II/Phrasemgruppe II

Tabelle 28 Übersicht: Kategorisierte Notizen Aufgabenteil II/Phrasemgruppe III

Tabelle 29 Übersicht: Notierte Verweise auf verwendete externe Quellen

Tabelle 30 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 31 Codelinie A: Transkript 06/01

Tabelle 32 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 33 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 34 Codelinie B: Transkript 12/01

Tabelle 35 Auszug: Transkript 12/01

Tabelle 36 Codelinie C: Transkript 01/02

Tabelle 37 Auszug: Transkript 01/02

Tabelle 38 Auszug: Transkript 05/01

Tabelle 39 Codelinie D: Transkript 05/01

Tabelle 40 Auszug: Transkript 03/01

Tabelle 41 Auszug: Transkript 04/01

Tabelle 42 Auszug: Transkript 05/01

Tabelle 43 Auszug: Transkript 02/01

Tabelle 44 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 45 Auszug: Transkript 09/01

Tabelle 46 Beispiele: Sprachenübergänge zu Beginn von phrasembezogenen Teilphasen

Tabelle 47 Auszug: Transkript 02/01

Tabelle 48 Auszug: Transkript 01/02

Tabelle 49 Auszug: Transkript 13/02

Tabelle 50 Auszug: Transkript 02/02

Tabelle 51 Auszug: Transkript 06/01

Tabelle 52 Auszug: Transkript 02/01

Tabelle 53 Auszug: Transkript 04/01

Tabelle 54 Auszug: Transkript 01/01

Tabelle 55 Auszug: Transkript 04/01

Tabelle 56 Auszug: Transkript 02/02

Tabelle 57 Ausgewählte Auszüge: Sprachenübergänge in romanische Brückensprachen

Tabelle 58 Ausgewählte Auszüge: Sprachenübergänge

Tabelle 59 Auszug: Transkript 02/01

Tabelle 60 Auszug: Transkript 02/02

Tabelle 61 Auszug: Transkript 10/01: Teilphasen/Phrasem 1

Tabelle 62 Auszug: Transkript 02/01: Teilphase/Phrasem 8

Tabelle 63 Auszug: Transkript 01/01: Teilphasen/Phrasem 1 & 2

Tabelle 64 Auszug: Transkript 08/01

Tabelle 65 Auszug: Transkript 13/01

Tabelle 66 Auszug: Transkript 01/02

Tabelle 67 Auszug: Transkript 01/02

Tabelle 68 Auszug: Transkript 02/02

Tabelle 69 Auszug: Transkript 05/02

Tabelle 70 Auszug: Transkript 05/01

Tabelle 71 Auszug: Transkript 01/01

Tabelle 72 Ausgewählte Auszüge: Metaling. Reflexionen zum Zweck einer Expert:innenrollenappropriation/-zuweisung

Tabelle 73 Ausgewählte Auszüge: Metaling. Reflexionen zum Zwecke der Solidaritätssignalisierung

Tabelle 74 Ausgewählte Auszüge: Metaling. Reflexion zum Zwecke der Rekonstruktion

Tabelle 75 Auszug: Transkript 02/02

Tabelle 76 Ausgewählte Auszüge: Transkript 02/01 & 02/02

Tabelle 77 Auszug: Transkript 02/02

Abkürzungsverzeichnis

Folgende Abkürzungen werden in der vorliegenden Arbeit verwendet:

Danksagung

Die Fertigstellung der vorliegenden Forschungsarbeit war ein langer und lehrreicher Prozess, der in dieser Form auch nur durch die Unterstützung vieler Personen möglich war, denen ich an dieser Stelle danken möchte.

Mein Dank gehört zunächst einmal meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Gehring für die professionelle und wertschätzende Begleitung auf dem Weg über einige Jahre hinweg. Auch dafür, dass er mir stets genügend Freiheit gelassen hat, meinen eigenen Zugang zu finden, sowie für fachlichen Rat und für seine Unterstützung, wann immer nötig. Auch ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meiner Koreferentin Prof. Dr. Cornelia Hamann für die angenehme und konstruktive Unterstützung aus sprachwissenschaftlicher Perspektive und den Blick fürs Detail. Bei Prof. Dr. Heiner Böttger möchte ich mich ebenfalls herzlichst dafür bedanken, die externe Begutachtung übernommen zu haben. Genauso danke ich Prof. Dr. Esther Ruigendijk und Prof. Dr. Katrin Kleinschmidt-Schinke für die Leitung und Teilnahme an meinem Disputationsverfahren.

Darüber hinaus möchte ich mich bei all den Studierenden bedanken, die sich dazu bereit erklärt haben, an meiner Forschung teilzunehmen. Genauso bedanke ich mich beim Institut für Anglistik und Amerikanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg insgesamt sowie beim Doktorand:innenkolloquium der Fakultät III für die kollegiale Unterstützung und den Austausch.

Ein ganz besonderer Dank gilt all den Freund:innen und Kolleg:innen, die mir entweder durch fachliche Expertise, moralische Unterstützung, praktische Tipps, interessante Gespräche oder manchmal einfach nur durch aufmunternde Worte enorm geholfen haben, diese Arbeit fertigzustellen. Dafür danke ich Joanna Pfingsthorn, Ilka Flöck, Lauren Freede, Sylke Bakker, Michaela Keck, Anna Auguscik, Michaela Koch, Smillo Ebeling, Dobrinka Genevska-Hanke, Ron Geluykens, Anton Kirchhofer, Martin Butler, Kim Ole Henneke, Britta Kölle, Svenja Denker und Nathalie Bies.

Zum Abschluss gilt mein Dank wie immer meiner Familie, insbesondere meinen Eltern und Schwiegereltern, meinem Bruder und nicht zuletzt meinem Mann, ohne den es dieses Buch so nicht gegeben hätte.

Zusammenfassung

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine sequenzielle Beschreibung des kollaborativen Einsatzes plurilingualer Techniken fortgeschrittener Lerner:innen des Englischen als Fremdsprache sowie (potenziell) zukünftiger Englischlehrkräfte in sprachvernetzenden kooperativen Aufgabenformaten.

Hintergrund ist ein vielfach angesprochenes Mehrsprachigkeitsdilemma an der Schnittstelle zwischen englischer Fremdsprachendidaktik und Mehrsprachigkeitsdidaktik. Dieses Dilemma ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen dem Potenzial gerade auch des englischen Fremdsprachenunterrichts (und seiner Didaktik) zur Förderung von individueller Plurilingualität und plurilingualer (wie auch plurikultureller) Kompetenzen, wie bspw. im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und Kulturen (GER) (2001) sowie anderen europäischen bildungspolitischen Referenzdokumenten verankert aufgrund seiner – durchaus ambivalenten und umstrittenen – Rolle als globale Multilingua franca und als dominierende (erste) Fremdsprache in europäischen wie deutschen Bildungskontexten einerseits, und der vielfach auch empirisch validierten Erkenntnis, dass sich insbesondere praktizierende Englischlehrkräfte trotz der erwiesenen Vorteile sprachübergreifenden Lernens (und Lehrens) oftmals nicht in der Lage sehen, entsprechende mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze oder auch Erkenntnisse aus der einschlägigen Forschung in die eigene Unterrichtspraxis umzusetzen. Als Ursache für dieses Dilemma wird neben äußeren Faktoren wie der als unzureichend empfundenen Allokation von Ressourcen vor allem auch eine Lehramtsausbildung identifiziert, die zukünftige Lehrkräfte nicht (ausreichend) auf diese Anforderungen im Berufsprofil vorbereite, zum Teil auch als Ergebnis derselben starken Prägung durch einen monolingualen Habitus und der daraus resultierenden vornehmlich additiven curricularen Verankerung von Mehrsprachigkeit, wie es für den regulären Fremdsprachenunterricht diagnostiziert wird. Obgleich sich in den letzten Jahren vielerorts enorme Anstrengungen beobachten lassen, diesem Desiderat zu begegnen, betont bspw. Jakisch (2015a), dass die Auseinandersetzung mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen nicht nur rein akademischer Art sein dürfe, sondern (zukünftigen) Lehrkräften flankierend systematisch Möglichkeiten bereitgestellt werden sollten, den Nutzen solcher Ansätze (sozusagen aus Perspektive der Lerner:innen) selbst zu erfahren.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an, indem fortgeschrittene Lerner:innen des Englischen als Fremdsprache und gleichzeitig (potenziell) zukünftige Englischlehrkräfte durch ein kooperativ und sprachvernetzend angelegtes Aufgabenformat in eben eine solche Position hineinversetzt werden. Konkret sind die Teilnehmer:innen dabei angehalten sich in Paarkonstellationen gemeinsam spontan Phraseme (Sprichwörter) aus drei verschiedenen für die Teilnehmer:innen i.d.R. unbekannten Sprachen zu erschließen. Die dadurch entstehenden Gespräche wurden aufgezeichnet und gesprächsanalytisch ausgewertet, um nicht nur die Frage beantworten zu können, welche plurilingualen Techniken die Teilnehmer:innen einsetzen, sondern auch, wie diese Techniken im Zusammenspiel mit kollaborativen Techniken eingesetzt werden. Um die Gesprächsverläufe aus Sicht der Teilnehmer:innen besser nachempfinden zu können, wurden zudem im Vorfeld soziodemographische und sprachbiographische Daten erhoben, auf deren Grundlage sowohl individuelle wie auch Tandemprofile erstellt wurden. Darüber hinaus wurden die für das vorliegende Projekt relevanten Aspekte der Plurilingualität und Kollaboration in Form von Technikkanons operationalisiert, die auf Grundlage entsprechender Analysen relevanter Kompetenzmodelle aus bildungspolitischen Referenzdokumenten sowie gängiger Strategietaxonomien und -typologien aus Forschungskontexten des Zweitsprachenerwerbs, der Tertiärsprachendidaktik, der Interkomprehensionsdidaktik sowie der E(M)LF-Forschung (Englisch als (Multi)lingua franca), erstellt wurden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer:innen ein vielfältiges Repertoire an plurilingualen Techniken aufgaben-, ziel-, und adressatenspezifisch einsetzen. Zudem verdeutlichen die Ergebnisse wie der Einsatz dieser plurilingualen Techniken kollaborativ ausgehandelt wird und dadurch situativ u.a. zur Bewusstwerdung und Reflexion verschiedenen sprachspezifischen, sprachenpsychotypologischen, phraseologischen und repertoirebezogenen Metawissens inklusive des Einsatzes plurilingualer Techniken selbst, aber auch potenziell zur Expansion individueller plurilingualer Repertoires beitragen kann. Darüber hinaus bestätigt sich die explanative Kraft einer dezidiert nutzer:inneninternen Perspektive, wie sie mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze eint und sich in der vorliegenden Arbeit auch methodologisch in der gewählten Zugangsweise der Gesprächsanalyse widerspiegelt, bei der Beschreibung des Sprachengebrauchs plurilingualer Sprecher:innen in mehrsprachigen Interaktionen, insbesondere, wenn sie als komplementär, nicht konträr, zu externen sprachennormbezogenen Perspektiven verstanden wird. Implikationen ergeben sich daraus nicht nur unmittelbar für die Verzahnung von englischer Fremdsprachendidaktik und Mehrsprachigkeitsdidaktik in der Lehramtsausbildung, sondern auch mittelbar bzgl. des Einsatzes kollaborativer Formate in der Interkomprehensionsdidaktik sowie des Einsatzes plurilingual ausgerichteter Formate im Sinne kooperativer und funktionaler Mehrsprachigkeit in fremdsprachendidaktischen Lehr-/Lernkontexten. Nicht zuletzt lässt sich auch das Potenzial der Arbeit mit Phrasemen für den englischen Fremdsprachenunterricht um mehrsprachigkeitsdidaktische Aspekte erweitern.

1. Einführung: Der kollaborative Einsatz von Mehrsprachigkeitstechniken fortgeschrittener Sprecher:innen mit Deutsch als Erstsprache und Englisch als Fremdsprache im Sinne funktionaler Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit ist allgegenwärtig und alltäglich. Sie stellt für die Bürger:innen Europas1 gesellschaftlich und individuell eine Lebensrealität dar, die sich in beruflichen wie in privaten Kontexten manifestiert (siehe bspw. Europäische Kommission, 2012), genauso wie als „Faktum der europäischen Informationsgesellschaft“ (Europäische Kommission, 2005b: 10). Auch für Deutschland stellt etwa die Kultusministerkonferenz in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (2003) fest, dass Mehrsprachigkeit für „nicht wenige Teilbereiche unserer Gesellschaft eine Realität dar[stellt]“ (Kultusministerkonferenz, 2003: 7). Transnationale Mobilität, Prozesse der Globalisierung und Digitalisierung2, die „Teilnahme an transnationalen Kommunikationsnetzwerken“ (Busch, 2017: 7) und nicht zuletzt auch „aktuelle […] Migrationsbewegungen“ (Reimann, 2018: 29) konstituieren Ursachen und Katalysatoren dieser sprachlichen wie kulturellen Vielfalt und tragen dazu bei, Gesellschaften und individuelle Biographien entsprechend sprachlich und kulturell zu diversifizieren. Mehrsprachigkeit bzw. ein angemessener Umgang mit ihr ist somit heute, wenn nicht eine grundlegende Voraussetzung, so doch zumindest eine Vereinfachung der Teilhabe an diversen internationalen wie nationalen Diskursen und demokratischen Prozessen (vgl. Busch, 2017: 7–13, Council of Europe (CoE), 2016: 7–9, 23–27, Walgenbach, 2014: 91–122; siehe auch Gogolin, 2016, KMK, 2003, 2012 oder Thürmann, 2016). Dies hat jedoch nicht nur zur Folge, dass eine stärker diversifizierte Mehrsprachigkeit ein immanenter Bestandteil der Lebenswelt vieler Bürger:innen Europas wie Deutschlands ist. Daraus folgt auch, dass die individuell geprägten sprachlichen Repertoires der Lerner:innen eine potenziell nützliche Unterstützung beim Erlernen einer Fremdsprache darstellen. Entsprechend ist Mehrsprachigkeit also auch in fremdsprachendidaktischen Diskursen und in Kontexten des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen in Bildungseinrichtungen nahezu allgegenwärtig. Sie ist lebensweltlich, wie schulisch präsent. Sie ist Teil des Vorwissens von Lerner:innen und ausgewiesenes Bildungsziel, also „gleichzeitig Ziel und Ausgangsbedingung des Sprachenlernens“ (Jakisch, 2015a: 15).

Die Europäische Kommission hat mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und Kulturen (2001) nicht nur supranationale Standards für eine kompetenzorientierte (Fremd)Sprachenbildung definiert, sondern auch die Ausbildung einer plurilingualen wie plurikulturellen Kompetenz als eines der übergeordneten Ziele von Lehr- und Lernprozessen implementiert und in Form von Operatoren und Niveauskalen ausdifferenziert, die seither kontinuierlich weiterentwickelt werden, etwa durch den Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (Candelier et al., 2009), den konzeptionellen Referenzrahmen des MAGICC Projekts (Räsenen et al., 2013) zur Ausbildung von „multilingual and multicultural academic competence“ in der Hochschulbildung sowie den inzwischen erschienenen Begleitband zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Europarat, 2020).

Darüber hinaus hat die Europäische Kommission Mehrsprachigkeit als Bildungsziel konkreter als die bekannte Formel M + 2 operationalisiert, nach der es erklärtes Ziel ist, allen Bürger:innen Europas zu ermöglichen, neben ihre:n Erstsprache(n) mindestens zwei weitere Fremdsprachen zu lernen. Die so angestrebte Diversifizierung der sprachlichen wie kulturellen individuellen Biographien – die einen Auf- und Ausbau sowohl einzelsprachlicher als auch sprachübergreifender Kompetenzen und Fertigkeiten miteinschließt – hat dabei unterschiedliche Funktionen: vom Beitrag zur Ausbildung einer europäischen Identität über den Schutz von sprachlichen wie kulturellen Minderheiten bis hin zu fairen Zugängen zu Arbeitsmärkten (vgl. Europarat, 2001: 14–21; vgl. dazu auch Jakisch, 2015a: 50–54).

Die Ausbildung solcher Kompetenzen, genauso wie der angemessene Umgang mit Mehrsprachigkeit als Ausprägung von gesellschaftlicher wie individueller Diversität sind somit auch konkrete Aufgaben für deutsche Bildungsinstitutionen und damit schlussendlich auch für Schulen und den dort stattfindenden Unterricht, genauso wie für Hochschulen und die dort stattfindende Ausbildung von Lehrkräften. Insbesondere die Rolle der Lehramtsausbildung für zukünftige Lehrkräfte, die im Fremdsprachenunterricht tätig sein werden, ist hier zu erwähnen. Zukünftige Lehrer:innen zeichnen sich nicht nur als Individuen mit dezidiert mehrsprachigen Profilen aus, ihnen obliegt zukünftig die Verantwortung selbst einen Unterricht zu gestalten, der der Mehrsprachigkeit als Teil der Diversität ihrer zukünftigen Lerner:innen gerecht wird (vgl. hierzu bspw. Kultusministerkonferenz, 2019b: 10, 11, 14) und gleichzeitig mithilft, Mehrsprachigkeit als Bildungsziel – auch als Teil von inklusiver Bildung – zu verfolgen (vgl. hierzu bspw. Kultusministerkonferenz, 2019a: 10, 27, 73; Hochschulrektorenkonferenz & Kultusministerkonferenz, 2015: 1 f.). Einerseits ist die Ausbildung von mehrsprachiger bzw. plurilingualer Kompetenz, wie sie bspw. von der Europäischen Kommission definiert wird (vgl. Europarat, 2001: 17 f.; 2020: 34–36) oder auch Mehrsprachigkeitskompetenz, definiert als eine Fähigkeit; „Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Lernen einer Sprache produktiv auf weitere Sprachlernsituationen übertragen zu können“ (Jakisch, 2015a: 48) dabei dezidiert interdisziplinär bzw. fächerübergreifend. Anderseits liegt die tragende Rolle der (fremd)sprachlichen Fächer auf der Hand. Insbesondere dem englischen Fremdsprachenunterricht und folgend auch der englischen Fremdsprachendidaktik wird bedingt durch den – ambivalenten – Status englischer Varietäten als globaler (Multi-)Lingua franca(s) einerseits und der dominanten Position als in der Regel erste und am meisten verbreitete Fremdsprache im deutschen Bildungssystem andererseits eine wichtige Brückenfunktion zugeschrieben. Aus didaktischer Sicht sind in diesem Zusammenhang sowohl retrospektive wie auch prospektive Perspektiven auf Mehrsprachigkeit relevant. Retrospektiv gesehen, stellt dies die englische Fremdsprachendidaktik und auch den englischen Fremdsprachenunterricht vor die Herausforderung Sprecher:innen und Lerner:innen als potenziell – und auch grundlegend – mehrsprachig zu betrachten, also von einer sprachlichen Heterogenität in einer Lerngruppe und auch im Individuum auszugehen und diese bei Prozessen der Planung, Gestaltung, Passung und Reflexion von Unterrichtsinhalten und -materialien zu berücksichtigen. Gleichzeitig geht es auch darum, prospektiv die Ausbildung von Kompetenzbereichen, bei denen Ressourcen flexibel verwendet werden, die nicht nur einer Sprache zuzuweisen sind, zu fördern wie etwa Sprachbewusstheit, Sprachlernbewusstheit oder Mediation. Mehrsprachigkeit wird also in vielerlei Hinsicht zu einer Referenzgröße für englische Fremdsprachendidaktik: Sie ist Ausdruck individueller Lerner:innenbiographien und -identitäten, genauso wie ausgewiesenes Ziel von englischem Fremdsprachenunterricht. Sie stellt zudem eine lernförderliche Ressource für das Erlernen weiterer Fremdsprachen dar, wie dies die Forschung aus verschiedenen Bereichen der Zweitsprachenerwerbsforschung, der Tertiärsprachenforschung oder auch der Sprachlehrforschung belegt.

Empirisch fundierte Erkenntnisse darüber, dass Lerner:innen beim Erlernen einer Fremdsprache auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen, haben einen inferenziellen Lernbegriff geprägt, der wiederum viele mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze eint (vgl. Jakisch, 2015a: 42–47). Deskriptive Studien zum Sprachgebrauch und -erwerb von bilingualen und multilingualen Sprecher:innen haben deutlich gemacht, dass sprachliches Wissen nicht isoliert, sondern vernetzt und interdependent, was u.a. den Begriff der multi-competence (siehe Cook, 1992, 2016 oder auch Hall et al., 2006) geprägt hat. Studien, die Sprachgebrauch in Kontexten untersucht haben, in denen Englisch als (Multi-)Lingua franca genutzt wird, zeigen, dass auch dort Sprecher:innen – zumeist oder bisweilen auch ausschließlich nicht-native Sprecher:innen der englischen Sprache – sprachenübergreifend kommunikativ tätig sind und ihr individuelles sprachliches Repertoire flexibel nutzen (siehe bspw. Greco et al., 2013 oder Hülmbauer und Seidlhofer, 2013), woraus sich für den englischen Fremdsprachenunterricht und für seine Didaktik erneut eine Notwendigkeit ableitet, Lerner:innen – und zukünftige E(M)LF Nutzer:innen – auch auf einen solchen Sprachgebrauch vorzubereiten. Insgesamt zeigt sich also sehr eindrücklich, dass individuelle wie gesellschaftliche Mehrsprachigkeit aus Lehr-/Lernkontexten nicht wegzudenken ist.

Um diese bildungspolitischen Vorgaben zu erfüllen und die angesprochenen Potenziale tatsächlich nutzen zu können, ist jedoch ein inzwischen viel zitierter Paradigmenwechsel nötig, wie ihn bspw. Martinez (vgl. 2015: 7–9) beschreibt. Gebunden an diesen Paradigmenwechsel ist vornehmlich ein Appel etablierte Normen, Prinzipien und Sichtweisen auf das Lernen und Lehren von Fremdsprachen im Angesicht mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze und Forschungsergebnisse zu überdenken und integrativ mit selbigen zusammenzuführen.

Ein Appel, der mit besonderem Nachdruck an die englische Fremdsprachendidaktik gerichtet wird und der eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für eine Disziplin darstellt, in der (dogmatische wie funktionale) Einsprachigkeit ein Kernprinzip bildet und welche auch zur Ausbildung eines monolingualen Habitus an Schulen (siehe Gogolin, 2008; 2016) geführt hat, den es jetzt erst wieder zu relativieren gilt.

Wie herausfordernd dieser Paradigmenwechsel ist, zeigt sich an einem augenscheinlichen Paradoxon an der Schnittstelle zwischen englischer Fremdsprachendidaktik und Mehrsprachigkeitsdidaktik: einerseits die Betonung des besonderen Stellenwerts des englischen Fremdsprachenunterrichts für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit bedingt durch die außerordentliche Rolle des Englischen als europaweit dominante Lingua franca sowie deutschlandweit als i.d.R. erste und am häufigsten gelernte Fremdsprache; andererseits die Beobachtung, dass sich gerade die englische Fremdsprachendidaktik schwer damit getan hat – und in vielerlei Hinsicht immer noch tut –, mehrsprachigkeitsdidaktische Perspektiven an- und einzunehmen. Ein Paradoxon, das seinen Ursprung nicht nur in Überresten sprachenpuristischer Ideologien hat, die latent immer noch im teilweise starken Festhalten an vergleichsweise dogmatisch verstandenen Einsprachigkeitsprinzipien durchschimmern. Stärker wiegt jedoch sicherlich der Umstand, dass sowohl angehende wie auch praktizierende Englischlehrkräfte sich aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sehen, diesen Paradigmenwechsel systematisch im Unterrichtsalltag umzusetzen und dass, obgleich sie mehrheitlich den Nutzen einer Förderung von Mehrsprachigkeit gerade auch in Bezug auf den englischen Fremdsprachenunterricht sehen.

Diese Unsicherheiten ergeben sich zum einen aus ‚praktischen‘ Problemen. So sind viele der angedeuteten Ansätze und Methoden, selbst, wenn zum Teil nahezu ‚nutzerfertige‘ Ressourcen vorliegen, insgesamt recht arbeits- und zeitintensiv, was in Kombination mit dem viel empfundenen Mangel an Zeit3 dazu führt, dass Lehrende sich häufig dagegen entscheiden, solche Ansätze oder Methoden in den eigenen Unterricht einzubringen (siehe hierzu Jakisch, 2015a; oder auch Göbel et al., 2010). Zum anderen haben aktuell praktizierende Lehrende i.d.R eine Ausbildung durchlaufen, die sowohl schulisch wie auch universitär davon geprägt war, Sprachen(fächer) strikt voneinander zu trennen. Entsprechend fühlen sich viele Lehrkräfte, obgleich sie die ideell mit Mehrsprachigkeit verbundenen Vorteile und die Wichtigkeit dieses Themas mehrheitlich durchaus teilen, selbst nicht kompetent darin, Lehr- und Lernumgebungen so zu gestalten, dass diese Vorteile lernwirksam realisiert werden können. Hinzu kommt zudem, dass auch die Bildungsstandards und Kerncurricula, also Rahmendokumente, die einen Orientierungsraum schaffen und auch für die (wahrgenommene) Legitimierung von didaktischen Entscheidungen von Lehrkräften eine entscheidende Rolle spielen, zwar durchaus die Bedeutsamkeit von Mehrsprachigkeit an und für sich betonen und – in den jüngeren Überarbeitungen – insbesondere durch den kommunikativen Teilfertigkeitsbereich der Sprachmittlung mehrsprachige Kompetenzen forcierter in den Blick nehmen. Unter dem Strich bleibt jedoch festzuhalten, dass, insbesondere der flexible Umgang mit sprachlichen Ressourcen im Sinne von Plurilingualität, wie es der Europarat (2020) definiert, so gut wie keine Erwähnung in diesen Dokumenten findet, und darüber hinaus i.d.R. weiterhin stark der Eindruck erweckt wird, dass das Lernen einer Fremdsprache (Englisch) grundlegend ein Kontext ist, der sich durch Einsprachigkeit auszeichnet, sowohl als zugrunde liegende Norm, als auch als primäres didaktisches Prinzip. Vor diesem Hintergrund lässt sich das augenscheinlich paradoxe Dilemma der englischen Fremdsprachendidaktik auch dadurch erklären, dass aufgrund der von Lehrkräften bei sich selbst attestierten fehlenden Kompetenzen eine systematische Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze ausbleibt und, wenn sie stattfindet, maximal in autodidaktischer Eigenregie einiger weniger, wenn auch durchaus ambitionierter Lehrkräfte geschieht und somit insgesamt auch jetzt noch als „selten, unsystematisch, oberflächlich und variationsarm“ (Bredthauer & Engfer, 2018: 10) beschrieben werden muss.

Offenkundig ist die Antwort auf dieses Dilemma in einer Lehramtsausbildung zu suchen, die genau diese Unsicherheiten aufgreift und zukünftige Lehrkräfte auf ihre Aufgaben adäquat vorbereitet. Erfreulicherweise geschieht dies auch inzwischen an vielen Stellen wie bspw. in den EuroCom-Projekten (siehe Hufeisen & Marx, 2014 sowie Klein & Stegmann, 2000), dem MAGICC framework (siehe Natri & Räsänen, 2015) oder auf Grundlage spezifischer Bedarfsanalysen unter Studierenden konkreter Studiengänge (siehe hierzu bspw. Henning & Schlabach, 2018). Wie Jakisch (2015a) treffend festhält, sollte eine solche Lehramtsausbildung aber nicht ‚nur‘ eine akademische Auseinandersetzung mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen per se bedeuten, also nicht nur das Wissen über diese Ansätze, die diesen Ansätzen zugrunde liegenden Prinzipien und die damit verbundenen empirisch validierten Auswirkungen auf fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse, beinhalten, sondern auch „praktische Erfahrungen in der Rolle des Sprachenlerners“ (Jakisch 2015a: 332) selbst, auch „um zu erleben, welches Potenzial sich hier bietet und welche Bedeutung das sprachliche Vorwissen haben kann.“ (ebd.: 332). Genau hier setzt die vorliegende Arbeit an, die es sich zum Ziel setzt, zu erforschen wie sich eben diese fortgeschrittenen Lerner:innen des Englischen als Fremdsprache (und zukünftige Lehrkräfte) selbst in Situationen verhalten, in denen von ihnen verlangt wird, plurilingual tätig zu werden. Dadurch möchte ich den Versuch unternehmen, durch die Betrachtung und Beschreibung des Sprachgebrauchs fortgeschrittenen Lerner:innen des Englischen als Fremdsprache sowie (potenziell) zukünftiger Englischlehrkräften unter den Aspekten der Plurilingualität und der Kollaboration eine Möglichkeit auszuloten, wie die vielfach geforderte Verbindung von Englischer (Einzel-)Fremdsprachendidaktik und Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einem Prinzip der kollaborativen funktionalen Mehrsprachigkeit konkret weiter ausgestaltet werden kann. Darüber hinaus ergeben sich dadurch Einblicke in die tatsächliche Verwendung sprachübergreifender Ressourcen, die als Ergänzung zur Beforschung subjektiver Theorien von Lehrkräften dienen.

Mit kollaborativer funktionaler Mehrsprachigkeit wird dabei ein Prinzip beschrieben, welches das Handlungsfeld – in mancher Hinsicht sicherlich auch Spannungsfeld – bzgl. des Verhältnisses und Einsatzes von Ziel- und Arbeitssprache(n) im englischen Fremdsprachenunterricht ergänzt. Zentrales Element dieses Prinzips ist dabei, dass ein- und mehrsprachiger Sprachgebrauch nicht als dichotome Gegensätze verstanden werden, sondern, dass beide Formen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit sind.

Details

Pages
592
Year
2024
ISBN (PDF)
9783631911907
ISBN (ePUB)
9783631911914
ISBN (Hardcover)
9783631911891
DOI
10.3726/b21387
Language
German
Publication date
2024 (June)
Keywords
Plurilingualismus Plurilinguale Kompetenz Kooperatives Lernen Korpusanalyse Code-Switching Lernstrategien Kommunikations-strategien Englischunterricht Fremdsprachen lernen Interkomprehension Kollaborativer Einsatz plurilingualer Techniken
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 592 S., 7 farb. Abb., 26 s/w Abb., 77 Tab.

Biographical notes

Christian Kramer (Author)

Christian Kramer hat Anglistik und Sprachwissenschaft studiert und in englischer Fremdsprachendidaktik promoviert. Er arbeitet als Lehrbeauftragter für Englischdidaktik am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

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Title: Kollaborative Mehrsprachigkeit in Lehr-/Lernkontexten