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Die interaktive Hervorbringung von Kreativität

Eine interaktionslinguistische Perspektive auf Kreativität in Werbeagenturen

von Robert Reinecke (Autor:in)
©2024 Monographie 434 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Im Zeitalter der digitalen Automatisierung wird Kreativität die Gesellschaft von morgen entscheidend gestalten. Dennoch sind empirische Ansätze, welche die tagtägliche Herbeiführung, Verhandlung und Förderung von Kreativität untersuchen, bislang rar. Dieses Buch liefert einen interaktionslinguistischen Beitrag zum Phänomen der Kreativität und bildet die Analyse von über 550 Stunden Videomaterial von nicht elizitierten, kollaborativen Konstellationen in Werbeagenturen ab. Der Autor entwickelt in seiner Studie eine induktive, interaktionslinguistisch anschlussfähige Definition von Kreativität sowie ein makrostrukturelles Modell der Aushandlungs- und Zuschreibungsprozesse von Kreativität. Dadurch ermöglicht das Buch nicht nur einen einzigartigen Einblick in die Prozesse der Kreativwirtschaft, sondern bietet durch seinen in der multimodalen Interaktionsanalyse verorteten methodischen Zugang auch zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsvorhaben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Fragestellungen und Aufbau der Studie
  • 2. Multimodale Interaktionsanalyse als grundlegende Heuristik
  • 2.1. Prämissen der multimodalen Interaktionsanalyse
  • 2.2. Das komplexe Verhältnis von Theorie und Empirie
  • 3. Die Datengrundlage und ihre Implikationen
  • 3.1. Zugang zum Forschungsfeld
  • 3.2. Limitierungen und Implikationen der Datengrundlage
  • 3.3. Datenerhebung „Terry“
  • 3.4. Raumanalyse „Terry“
  • 3.4.1. Entgrenzende Grenzen
  • 3.4.2. Zwischen Präsentation und Repräsentation
  • 3.4.3. Erholung und dysfunktionale Arbeitsflächen
  • 3.4.4. Kreativraum als Sediment impliziter Kreativitätsvorstellungen
  • 3.5. Datenerhebung „Athene“
  • 3.6. Raumanalyse „Athene“
  • 3.6.1. Aufenthaltsbereich der Werbeagentur „Athene“
  • 3.6.2. Bürobereich der Kreativabteilung der Werbeagentur „Athene“
  • 3.6.3. Büro der Creative Directors
  • 3.6.4. Gestaltete Kontraste und inszenierte Zufälligkeiten
  • 4. Kreativität – Ein interdisziplinärer Überblick
  • 4.1. Psychologische Perspektiven auf Kreativität
  • 4.1.1. Die individualistische Perspektive
  • 4.1.2. Die soziokulturelle Perspektive
  • 4.1.3. Die kulturpsychologische Perspektive
  • 4.2. Soziologische Perspektiven auf Kreativität
  • 4.3. Philosophische Perspektiven auf Kreativität
  • 4.4. Linguistische Perspektiven auf Kreativität
  • 4.4.1. Kreativität ist sprachlicher Alltag
  • 4.4.2. Kreativität ist metaphorisch
  • 4.5. Das Neue
  • 4.5.1. Das werblich Neue als wirtschaftliches Gut
  • 4.5.2. Das werblich Neue als ästhetisches Gut
  • 5. Arbeitsheuristische Definition von Kreativität
  • 5.1. Kreativität ist neu
  • 5.2. Kreativität ist zeitgebunden
  • 5.3. Kreativität ist ein Prozess
  • 5.4. Kreativität ist wertend
  • 5.5. Kreativität ist interaktiv
  • 5.6. Eine interaktionslinguistische Kreativitätsdefinition
  • 6. Analyse
  • 6.1. Modell
  • 6.2. Schlüsselsequenz Newspaper
  • 6.3. Etablierung eines lokalen Kreativitätsdiskurses
  • 6.3.1. Übergang zu geplanten, zeitlich fixierte Austauschsequenzen
  • 6.3.1.1. Schlüsselsequenz
  • 6.3.1.2. Referenz auf geteilte Wissensbestände
  • 6.3.1.3. Vorbesprechung – Elizitieren von Bewertungen
  • 6.3.2. Übergang zu ungeplanten, zeitlich nicht fixierten Austauschsequenzen
  • 6.3.2.1. Brainstorm – Referenz auf im Feld etablierte Kreativtechnik
  • 6.3.2.2. Gescheiterter Übergang – Begründungspflicht
  • 6.4. Präsentationssequenzen
  • 6.4.1. Schlüsselsequenz – Der Typ und die Kamera
  • 6.4.2. Räumliche Überlagerung und Etablierung mentaler Ressourcen
  • 6.4.2.1. Schlüsselsequenz – ein möglicher Film
  • 6.4.2.2. Räumliche Überlagerung beim Kaffeekränzchen
  • 6.4.3. Selbstevaluative Sequenzen
  • 6.4.3.1. Verbale Selbstevaluationen der Hervorbringungen
  • 6.4.3.2. Körperliche Selbstevaluationen der Hervorbringungen
  • 6.5. Bewertungssequenzen
  • 6.5.1. Schlüsselsequenz
  • 6.5.2. Bewertungen, die Weiterentwicklungssequenzen erwartbar machen
  • 6.5.2.1. Süss, aber es zündet noch nicht.
  • 6.5.2.2. Vom Regieaspekt her
  • 6.5.2.3. Eine Frage der Abfolge
  • 6.5.3. Bewertungen, die eine spätere Weiterentwicklung erwartbar machen
  • 6.5.4. Bewertungen, die zum Ausschluss der Hervorbringung führen
  • 6.5.4.1. Nicht neu.
  • 6.5.4.2. Nicht passend; Falsch, hart, zu normal, zu Werbung.
  • 6.5.5. Weiterentwicklung
  • 6.5.5.1. Schlüsselsequenz
  • 6.5.5.2. Schlüsselsequenz, sekundäre Weiterentwicklung
  • 6.5.5.3. Kaffeekränzchen, primäre Weiterentwicklung
  • 6.6. Konsensmarkierung
  • 6.6.1. Schlüsselsequenz – Abweichung vom Normalfall
  • 6.6.2. Konsensmarkierung am Ende der Austauschsequenzen
  • 6.7. Weiterführende Handlungsimplikationen
  • 6.7.1. Schlüsselsequenz
  • 6.7.2. Vagheit oder die inhärente Dialektik des Kreativen
  • 7. Kreativität im Kontext
  • 7.1. Rückbindung der Kreativitätsdefinition
  • 7.2. Rückbindung des Modells und der mikroanalytischen Befunde
  • 7.3. Perspektiven
  • I.   Literaturverzeichnis
  • II.  Abbildungsverzeichnis
  • III. Tabellenverzeichnis
  • IV. Transkriptverzeichnis
  • V. Einverständniserklärung

1. Einleitung

Die vorliegende Studie nahm ihren Ursprung in einer arbeitsbedingten Führung durch die Büroräumlichkeiten einer Werbeagentur, während welcher in derselben Beiläufigkeit, in der zuvor auf den Standort der Kaffeemaschine und der Druckerstationen hingewiesen worden war, ein sogenannter „Kreativraum“ vorgestellt wurde. Dieser Raum, der seine Affordanz (Gibson 1979: 127) bereits in seiner Bezeichnung zu tragen schien, war Ausgangspunkt vieler Anfragen, Abklärungen und Verhandlungen, die schliesslich zu Vorgesprächen, Einverständniserklärungen, wochenlangen Datenerhebungsphasen, nachträglichem Rückzug der Einverständniserklärungen, Datenlöschungen und erneuten Datenerhebungsphasen führten. Am Ende dieses Prozesses standen drei Festplatten mit über 550 Stunden Videomaterial, (digitale) Bücherwände an Literatur zu Kreativität und die Vision, darauf basierend einen interaktionslinguistischen Zugang zum Phänomen der Kreativität entlang nicht-elizitierter authentischer Videoaufzeichnungen der creative economy aufzeigen zu wollen.

Denn Kreativität – und das zeigt nicht zuletzt die enorme Breite der (inter-)disziplinären Forschungszugänge zu diesem Thema – definiert die heutige Gesellschaft in zunehmendem Masse (Popitz 2000, Florida 2002, Reckwitz 2014, 2016). Und obgleich in der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte ein Konsens darüber besteht, dass Kreativität im Zeitalter der digitalen Automatisierung „[…] die wissensbasierte Gesellschaft von morgen entscheidend gestalten […]“ (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2000: 3) wird, sind empirische Ansätze, welche die tagtägliche Herstellung, Verhandlung und Förderung (vgl. hierzu auch OECD 2019) von Kreativität in ebendieser Gesellschaft untersuchen, bislang rar (Carter 2004: 212). Dies gilt in besonderem Masse für Bereiche, in welchen kreative Hervorbringungen kollaborativ erzeugt werden (Mumford 2003: 117, Sawyer 2012: 141), obgleich sowohl die methodologische als auch die technische Basis für eine Untersuchung solcher Konstellationen im Zuge multimodaler, auf Videodaten basierender Analysen verfügbar wäre.

Die vorliegende Studie will daher in ihrem Kern einen interaktionslinguistischen Zugang aufzeigen, der empirisch nicht elizierte Arbeitsalltagskonstellationen jener ökonomischen Bereiche zu erfassen vermag, welche systematisch erarbeitete, kreative Hervorbringungen zu ihrem Geschäft gemacht haben. Um diesen Zugang zu erarbeiten, sind, abgesehen vom methodologischen Rahmen, zwei Elemente zentral: Eine genaue Dokumentation ebenjener Arbeitsalltagskonstellationen und ein Verständnis davon, was unter dem Begriff Kreativität gefasst werden kann.

Um den ersten Punkt zu bewerkstelligen, wurden im Rahmen des von der Hermann Paul School of Linguistics geförderten Dissertations-Projekts über 550 Stunden Videodaten (Kapitel 3) von Interaktionen in Büro-, Aufenthalts- und Kreativräumen, also eigens zur Kreativitätsförderung geschaffenen Raumstrukturen, zweier international agierender Werbeagenturen (Kapitel 3.3 und 3.5) in der Schweiz erhoben. Damit ein erkenntnisgleiteter Ausgangspunkt für die Eruierung der situierten accomplishments (Garfinkel 1967: 1) der sozialen Ordnungsbildung innerhalb der im Korpus abgebildeten Kreativwirtschaft verortet werden konnte – also um diejenigen Sequenzen eruieren zu können, in denen Hervorbringungen von den Interaktionsteilnehmer_innen als kreativ markiert werden und die unter Zuhilfenahme einer multimodal ausgerichteten Interaktionsanalyse (Kapitel 2) unter Berücksichtigung der räumlichen Komponente (Kapitel 3.4 und 3.6) ausgewertet werden können, musste darüber hinaus ein interaktionslinguistisch anknüpfbarer Kreativitätsbegriff erarbeitet werden. Dazu wurde auf der Grundlage einer disziplinenübergreifenden Recherche (Kapitel 4) eine arbeitsheuristische Kreativitätsdefinition (siehe Kapitel 5) entwickelt, welche als Ausgangspunkt eines heuristischen Zirkels zur Eruierung der für die Analyse (Kapitel 6) relevanten Sequenzen diente und iterativ mit diesen rückgekoppelt wurde.

Die vorliegende Studie versteht sich daher in dreierlei Hinsicht als Beitrag zur aktuellen Kreativitätsdebatte. Erstens zeigt sie auf, dass ein interaktionslinguistischer Zugang das Methodenrepertoire der Kreativitätsforschung um ein wertvolles analytisches Werkzeug erweitert. Zweitens wird im Zuge dieses Nachweises ein Schlaglicht darauf geworfen, wie die Interaktionsteilnehmenden der untersuchten „creative economy“ (Howkins 2002) durch differenzierten Einsatz verbal-strukturierender (Goodwin 1980, Goffman 1981, Atkinson/Heritage 1984, Sacks 1984b, 1998b, Schegloff 2000, 2007b, Gülich/Mondada 2008), gestischer (Streeck 1993, McNeill 1995, Kendon 2004, Fricke 2007, Stukenbrock 2015, 2020), körperlicher (Goodwin 1984, Mondada 2012a, Stukenbrock 2012b) und räumlicher (Lebaron/Streeck 1997, Hausendorf 2010, Hausendorf et al. 2012a, Auer et al. 2013, Hausendorf/Schmitt 2013, Stukenbrock 2013) Ressourcen wiederkehrend Überraschendes, Neues und Einzigartiges hervorzubringen vermögen. Über das daraus resultierende vertiefte Verständnis ebendieser Abläufe, welches in Form eines Modells abstrahiert dargestellt wird (Kapitel 6.1), schlägt diese Studie drittens eine interaktionslinguistische Definition von Kreativität vor, welche sich sowohl aus der interdisziplinären Forschungsliteratur und der Datenbasis speist (Kapitel 5.6) und Anknüpfungspunkte an den Forschungsdiskurs bietet, als auch eine Basis für nachfolgende interaktionslinguistische Untersuchungen bilden kann (Kapitel 7.1).

1.1. Fragestellungen und Aufbau der Studie

Die vorliegende Dissertationsschrift versteht sich als interaktionslinguistischer Beitrag zur aktuellen Kreativitätsdebatte und wirft dergestalt ein Schlaglicht auf die untersuchte Kreativindustrie (Caves 2000, Florida 2002, Krämer 2014, Reckwitz 2014: 10, Krämer 2015, 2017). Aus diesem Vorhaben ergeben sich zwei zentrale Leitfragen, welche die Ziele und Ansprüche dieser Studie widerspiegeln:

  1. I. Wie lässt sich der Begriff der Kreativität interaktionslinguistisch anschlussfähig definieren?

Es existieren unzählige Definitionen von Kreativität, die sich sowohl inter- als auch intradisziplinär in wesentlichen Punkten unterscheiden (Mayer 2007: 451). Eine interaktionslinguistisch anschlussfähige Definition ist jedoch bis dato nicht vorhanden – obgleich schon vor Jahren darauf hingewiesen wurde, dass „[…] today more than ever, the most important forms of creativity in our culture […] are joint cooperative activities of complex networks of skilled individuals.“ (Sawyer 2012: 212) In einem ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird daher eine Definitionsgrundlage des Kreativen konzipiert, welche die mehrfach als relevant bezeichneten multimodal realisierten Verständigungsmechanismen (Feldman et al. 1994a: 37, Carter 2004: 212, Abels 2009: 105, Swann et al. 2011: XXVII) der Ver- und Aushandlung kreativer Hervorbringungen (Weisberg 2006: 62f.) ins Zentrum stellt (Kapitel 5).

  1. II. Wie werden kreative Hervorbringungen in den untersuchten Werbeagenturen interaktiv als solche verhandelt?

Um einerseits die Kreativitätsdefinition entlang der Datengrundlage iterativ zu verdichten (Schmidt 2012) und andererseits die in diesem Zuge eruierten Sequenzen auf ihre Regelhaftigkeit hin zu befragen, wie „[…] diese ästhetisch ansprechenden, innovativen Produkte [durch die] creative industries […]“ (Reckwitz 2014: 11) kontinuierlich und wiederkehrend bereitgestellt werden, werden entlang mikroanalytischer, multimodaler Interaktionsanalysen die Aus- und Verhandlungen in ihrem praktischen Vollzug nachgezeichnet (Kapitel 6). Diese mikroanalytischen Befunde werden darüber hinaus unter Berücksichtigung ihrer Sequenzialität in ein Modell (Kapitel 6.1) überführt, welches abstrahiert darstellt, wie Interaktionsteilnehmende im erhobenen und auf Basis der Arbeitsheuristik selektierten Datenmaterial die Hervorbringung von Kreativität interaktiv stets aufs Neue bewerkstelligen.

2. Multimodale Interaktionsanalyse als grundlegende Heuristik

Die vorliegende Arbeit versteht sich als interaktionslinguistischer Beitrag zum Phänomen der Kreativität und nähert sich dem Forschungsgegenstand mittels der multimodalen Interaktionsanalyse (Hindmarsh/Heath 2000, Norris 2004, Schmitt 2005, Stivers/Sidnell 2005, Schmitt 2006, Deppermann/Schmitt 2007, Mondada/Schmitt 2010a, Schmitt/Deppermann 2010, Hausendorf et al. 2012a, Mondada 2013a, 2014, 2016c). Obgleich die multimodale Interaktionsanalyse ein methodisches Repertoire bereithält, das sich über die letzten Jahre zu einem kohärenten und sequenziell strukturierten Analysewerkzeug (Deppermann 2008: 9) entwickelt hat (vgl. Brinker et al. 2001), verortet sich die vorliegende Studie in ihrer Vorgehensweise dennoch in einem sich stetig erweiternden interdisziplinären Feld, welches Theorie, Methodologie und Empirie nicht als unidirektional wirkende Faktoren versteht, sondern als sich stets gegenseitig bedingende, miteinander verschränkte und hierarchiegleiche Welten (Schmidt 2012). Die interaktionsanalytische Betrachtung wird dementsprechend konsequent an Erklärungsansätze zurückgebunden, die sich fortlaufend erweitern, um nicht nur die Analyse selbst, sondern auch das interchargierende Verhältnis zwischen Analyse, Kreativitätsdefinition (Kapitel 5) und Modellbildung (Kapitel 6.1) sichtbar und transparent zu gestalten. Gleichwohl, und auch dies soll der nachfolgende Überblick aufzeigen, operiert die vorliegende Studie nicht im luftleeren Raum, sondern bedient sich bei der Analyse des „Werkzeugkastens“ (Deppermann 2008: 9) der multimodalen Interaktionsanalyse, welcher auf einer über 50-jährigen Forschungstradition fusst und „Einsichten über Sprache in Interaktion“ (Hausendorf 2015: 44) hervorgebracht hat, auf denen diese Studie aufbaut.

Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Grundannahmen der multimodalen Interaktionsanalyse und der daraus resultierenden methodischen und analytischen Implikationen dargelegt (Kapitel 2.1). Im darauffolgenden Unterkapitel wird das oben angesprochene interchargierende Verhältnis von Theorie und Empirie diskutiert sowie die strukturierte Rückbindung der Analyseergebnisse an die Modellbildung formalisiert (Kapitel 2.2). In einem letzten Schritt werden das Forschungsdesign, der analytische Fokus der Studie sowie die Datenstruktur und deren Aufarbeitung beschrieben (Kapitel 3).

2.1. Prämissen der multimodalen Interaktionsanalyse

Die in der vorliegenden Arbeit analytisch-rahmenstiftende multimodale Interaktionsanalyse (Norris 2004, Schmitt 2005, Stivers/Sidnell 2005, Schmitt 2006, Deppermann/Schmitt 2007, Hausendorf 2010, Heath et al. 2010, Mondada/Schmitt 2010a, Stukenbrock 2010, 2012b, Sidnell/Stivers 2013, Stukenbrock 2009, Mondada 2011, 2012a, 2013a, Haddington et al. 2014, Hausendorf 2015, Mondada 2016a, Wildfeuer et al. 2020) wurzelt in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse1, welche ihrerseits an Grundannahmen der klassischen soziologischen Untersuchungen Garfinkels (1967) anknüpft, durch welche Alltagsinteraktionen erstmals systematisch ohne theoretische Vorannahmen ins analytisch-soziologische Bewusstsein gerückt wurden. Für die von Garfinkel begründete Ethnomethodologie2 steht „[…] the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life […]“ (ebd.: 11) im Zentrum – also die Frage, wie Interaktionsbeteiligte Alltagssituationen ordnen, strukturieren und dadurch stets aufs Neue wieder hervorbringen.

Primär auf sprachliche Interaktionen respektive Transkripte derselben gestützt, konnte Garfinkel aufzeigen, dass Interaktionsbeteiligte permanent die aktuelle Situation wahrnehmen, sie interpretieren und anderen Interaktionsbeteiligten ihre Interpretation durch ihr und mit ihrem Handeln mitteilen (ebd.: 1). In diesem ununterbrochenen Prozess von „looking-and-telling“ (ebd.) stellen die Interaktionsbeteiligten eine Ordnung des sozialen Alltags im Sinne einer Vollzugswirklichkeit (accomplishment) her – und machen Beobachtenden sowohl die einzelnen Vollzugspraktiken der sozialen Ordnung als auch die soziale Ordnung3 an sich partiell zugänglich, indem sie den anderen Beteiligten ihre jeweiligen Situationserklärungen durch ihr Handeln offenlegen (accountable gestalten, ebd.). Während sich die soziologisch orientierte Ethnomethodologie weitestgehend auf teilnehmende Beobachtungen und breaching experiments (Hutchby/Wooffitt 2008: 28f) fokussierte, begann die klassische Konversationsanalyse primär „[…] die Gesprächspraktiken, mit denen die Gesprächsteilnehmer Gesprächsaufgaben, Probleme und Ziele unterschiedlichster Art und auf verschiedenen Ebenen der Interaktionskonstitution bearbeiten“ (Deppermann 2008: 9) in den Fokus der Analyse zu rücken.

Die ethnomethodologischen Grundannahmen bezüglich der Ordnung des sozialen Alltags wurden durch die sich etablierende Konversationsanalyse der 60er und 70er Jahre mit Sacks (1998b), Sudnow (1972) Schegloff (1968, 1986), Sacks et al. (1974) für sprachliche Interaktionen konkretisiert und unter dem Paradigma des „order at all points“ (Sacks 1984a: 22) als sinnstiftendes Analysemerkmal auf den Punkt gebracht. Die Prämisse, dass nicht nur die einzelnen Gesprächsbeiträge oder semantisch vielschichtige Wörter, sondern beispielsweise auch Pausen (Goodwin 1980, Schmitt 2004, Maroni et al. 2008), Intonationskurven oder Verzögerungssignale (Ayaß 2008, Gülich/Mondada 2008, Birkner et al. 2020)bei der Herstellung von interaktiver Ordnung einen ebenbürtigen Stellenwert haben, ermöglichte einen systematischen Nachvollzug der Sequenzialität interaktiver Ordnungen auf primär auditiver Ebene. Letzteres war den technischen Gegebenheiten der damaligen Zeit geschuldet. Der programmatische Anspruch, dass „no order of detail can be dismissed, a priori, as disorderly, accidental or irrelevant“ (Heritage 1984: 241) führte zu detailreichen, mikroanalytisch orientierten Analysen einzelner Phänomene, die innerhalb von konkreten Gesprächssituationen, aber auch komparativ über verschiedene Gesprächskontexte hinaus nachvollzogen werden konnten.

Eine zentrale Erkenntnis, die entlang der minutiösen Aufarbeitungen gesprächskonstitutiver Ordnungspraktiken erarbeitet wurde und in direkten Zusammenhang mit den Grundannahmen der Ethnomethodologie steht, umfasste den doppelten Kontext, in dem sich jede Form von Äusserung in Gesprächen bewegt: Sinn und Sinnhaftigkeit lassen sich aus Perspektive der Konversationsanalyse nicht als immanente Eigenschaften von einzelnen Äusserungen fassen, sondern sind vielmehr – um in der Terminologie der Ethnomethodologie zu bleiben – indexikalisch. Die Indexikalität (Garfinkel 1967: 40) beschreibt die Hervorbringung von Ordnung durch den Verweis auf vorgängige Ordnungen, da jedes Detail in Interaktionen von den Interaktionsteilnehmenden und somit auch von den Beobachtenden in „[…] einem vergangenen, sinnhaften Kontext, auf den sie [die Äusserung] sich implizit bezieht, und in einem aktuellen, in dem sie Sinn produzieren soll.“ (Abels 2009: 100) verstanden werden muss.

Die oben dargelegten Prämissen der Konversationsanalyse werden in der vorliegenden Studie durch eine weitere, implikationsreiche Annahme erweitert. Interaktion wird in der vorliegenden Studie nicht nur als Austausch von sprachlichen Äusserungen verstanden, sondern unter dem Paradigma der ‚Multimodalität‘ verhandelt, wodurch den konzeptionellen Entwicklungen des analytischen Repertoires der Ethnomethodologie, welche spätestens durch die Verschiebung der Perspektive (Garfinkel/Rawls 2002, aber auch Mondada 2012b) auch in die moderne Konversationsanalyse Eingang gefunden hat, Rechnung getragen wird. Der in der vorliegenden Arbeit verfolgte Ansatz der multimodalen Interaktionsanalyse (Norris 2004, Schmitt 2005, Stivers/Sidnell 2005, Schmitt 2006, Deppermann/Schmitt 2007, Mondada/Schmitt 2010a, Schmitt/Deppermann 2010, Hausendorf et al. 2012a, Mondada 2014, 2016c, Norris 2016, Wildfeuer et al. 2020) teilt zwar die oben angeführten Grundsatzüberlegungen der klassischen Ethnomethodologie und der von ihr inspirierten klassischen Konversationsanalyse, lässt aber das Primat des Verbalen hinter sich und betrachtet „[…] alle Ausdrucksressourcen im Prinzip als gleichwertig […], Verbalität erscheint ungeachtet ihrer Besonderheiten zunächst als eine Modalität unter vielen.“ (Hausendorf et al. 2012a: 9) Dadurch geraten konstituierende Elemente zur Organisation sozialer Interaktion ins analytische Bewusstsein, also beispielsweise „[…] Gestik, Blick, Mimik, Körperorientierung und -position, Bewegung sowie die Manipulation von Objekten und Technologien, die sie [= die Interaktionsbeteiligten] in bestimmten Kontexten und Situationen relevant machen“ (ebd.: 8), welche systematisch einer Perspektive entgehen, die sich ausschliesslich der Verbalität verschrieben hat.

Details

Seiten
434
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783034347877
ISBN (ePUB)
9783034347884
ISBN (Paperback)
9783034347716
DOI
10.3726/b21330
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juni)
Schlagworte
Mediale Praktiken Medienlinguistik Multimedialität Multimodalität Näheangebote Situatives Involvement TV-Kommunikation Werbepraktiken
Erschienen
Lausanne, Berlin, Bruxelles, Chennai, New York, Oxford, 2024. 434 S., 61 farb. Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Robert Reinecke (Autor:in)

Robert Reinecke hat in Zürich und Berlin Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften, Medienwissenschaften sowie Philosophie studiert. Er war HPSL-Stipendiat an der Universität Basel und promovierte dort in angewandter Linguistik.

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Titel: Die interaktive Hervorbringung von Kreativität