Loading...

Transformationen matriarchaler Muster in der russischen Kultur

Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Heldendichtung

by Anneke Sittner (Author)
©2024 Thesis 420 Pages
Series: Specimina philologiae Slavicae, Volume 213

Summary

Matriarchale Elemente existieren in der russischen und russländischen Kultur als ein bedeutender Bestandteil der sozialen Ordnung, der Sprache, der Mythologien und der religiösen und weltanschaulichen Positionen. Das Buch untersucht die Beziehungen zwischen der patriarchal geprägten epischen Dichtung Russlands und den älteren, meist mündlich tradierten mythologischen Stoffen. Es analysiert dabei den Einfluss der ideologischen Veränderungen in den Frühphasen des russischen Staates.
Die interdisziplinär angelegte Studie berührt außer der Literaturwissenschaft auch die Bereiche der Kulturgeschichte, Mythographie, Anthropologie und Ethnologie, wobei die Heldendichtung nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Teil eines größeren Diskurszusammenhanges betrachtet wird.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Teil 1 Soziopolitisches Konzept matriarchaler Kulturen
  • Teil 2 Weltanschauliches Konzept matriarchaler Kulturen
  • Teil 3 Matriarchale Mythologie. Hauptmotive und Beispiele
  • Teil 4 Elemente der matriarchalen Mythologie in Zaubermärchen und in der ostslavischen Mythologie
  • Teil 5 Geschwisterbeziehung in Zaubermärchen. Exemplarische Analyse
  • Teil 6 Bylinenanalyse
  • Anhang
  • Abbildungsverzeichnis
  • Quellenverzeichnis

Einleitung

Angefangen mit der Publikation Johann J. Bachofens Das Mutterrecht (1861) setzt die Matriarchatsforschung die Existenz vorpatriarchaler Kulturen, die auf anderen sozialen, politischen und ökonomischen Grundlagen basierten, voraus. Obwohl diese Arbeit zuerst von der breiten Öffentlichkeit fast unbemerkt geblieben ist, erreichte in den folgenden Jahrzehnten die Matriarchatsforschung in Deutschland einen gewissen Höhepunkt, verlor aber gegen das Ende des 19. Jahrhunderts v.a. aus ideologischen Gründen ihre Attraktivität1. Einen neuen Aufschwung erlebte die Forschung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, in Verbindung mit der feministischen Bewegung. Trotz vielen skeptischen Stimmen fand die Matriarchatstheorie Anwendung in weiteren Geistes- und Sozialwissenschaften. Als eine selbständige Disziplin im akademischen Bereich hat sie sich jedoch bis jetzt nicht durchgesetzt.

In Russland stieß Bachofens Monografie sogar eher als in Europa auf große Resonanz beim wissenschaftlichen Publikum. So veröffentlichte bereits 1869 der Publizist und Ethnograf Serafim Šaškov (1841–1882) seine Monografie Istoričeskie sudʼby ženščiny, in der er die allmähliche Entmachtung der Frau in der russischen Gesellschaft rekonstruierte. Ihm folgten v.a. Fedor I. Buslaev (1818–1897) mit der Erforschung der slavischen Folklore und Aleksandr G. Smirnov (1854–1888) mit der Analyse des Familienrechts2. Dank diesen und ähnlichen Forschern verfügen wir heute über bedeutende Sammlungen zum Thema der sozialen Praktiken der Völker Russlands bis ins 19. Jh.

Die sowjetische Ideologie begünstigte, trotz gewisser Einschränkungen, die Matriarchatsforschung. Das erklärt, warum in der Folkloristik und Ethnologie der Begriff Matriarchat als Selbstverständlichkeit verwendet wurde. Jedoch erreichte die Matriarchatsforschung in der Sowjetunion niemals eine solche gesellschafts- und ideologiekritische Position, wie das in Europa der Fall war. Im Gegenteil, sie blieb immer in dem exotischen Bereich der „Urvölker“ und der „Prä-Geschichte“, und über ihre Bedeutung wurde nur flüchtig reflektiert. Zusammen mit dem stagnierenden Interesse an Folkloreforschung in Russland seit den 1970er Jahren, versiegte auch das Thema Matriarchat zunehmend.

Die vorliegende Arbeit wurde v.a. durch die feministischen Studien der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth inspiriert. Das primäre Ziel besteht darin, auf ähnliche Weise das russische Heldenepos zu analysieren und daraus verborgene ideologische Eingriffe abzuleiten.

Der Grund, warum gerade Bylinen in den Fokus der Untersuchung geraten sind, war u.a. die Beobachtung der Popularität dieses Genres. Die russischen Epen nehmen bis heute eine wichtige Position im russländischen Nationalbewusstsein ein. Sie werden im Schulunterricht und in den Medien (Bsp.: Spielfilme, Animationsfilme, Computerspiele) aktiv rezipiert. Dabei sind ihre Inhalte schwer interpretierbar und dadurch auch manipulierbar. Zeitweise wurden Bylinen direkt zu Propagandazwecken instrumentalisiert3. Die Zuweisung der fest vorgeschriebenen gesellschaftlichen Rollen innerhalb der sozialen Hierarchie, die aggressive Polarisierung der Welt in die „eigene“ und die „fremde“ sowie Formen der Gewaltverherrlichung werden häufig als Heldentum und als „wahre russische“ Werte interpretiert4. Gerade für das russische Epos ist die Verschärfung des Feindbildes charakteristisch. So bemerkte Vladimir Propp, wie die Konversationen zwischen den Gegnern in den Bylinen stets von gegenseitiger Verachtung bestimmt werden: „Im russischen Epos gibt es allgemein keine Spur vom Respekt gegenüber dem Feind, im Gegensatz zu dem westeuropäischen Epos, wo zum Beispiel die Sarazenen als großzügig dargestellt werden und wo Feinde einander bewundern. Russisches Epos lässt in Bezug auf Feinde nur vollkommene Verachtung und Hass zu“5.

Die Laienforschung spielt dabei eine bedeutende und eher unglückliche Rolle: Durch die populistische Art solcher Forschung kommt es zur Verzerrung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Inhalte werden oft mystifiziert, häufig lassen sich konservative rechte Tendenzen beobachten. Die wenigen neueren akademischen Forschungen beschränken sich vielmehr auf die linguistische Analyse oder Analyse von einzelnen isolierten Details.

Mit der Arbeit wird also bezweckt, die Transformationen, die das Umformen der matriarchalen Mythologie zur Heldenepik begleiten, zu analysieren. Es wird die Frage nach dem Zweck dieser Umformung und danach, wie sich die neue Form auf die Wahrnehmung des Rezipienten auswirken könnte gestellt. Bylinen wurden als ein geeigneter Stoff für eine exemplarische Analyse zu diesem Zweck ausgewählt. Es wurde von der Annahme ausgegangen, dass die Bylinen, wie das Epos allgemein, im frühen Mittelalter durch ideologische Umformung des sich etablierenden Patriarchats entstanden sind.

Einiges von dem Vorhaben erwies sich als nicht möglich im Rahmen der Arbeit bzw. als nicht sinnvoll. So wurde u.a. den Zusammenhang zwischen den russländischen historischen Realien und der Transformation der Folklore zu analysieren geplant. Dies konnte im Rahmen der Arbeit nicht erfolgen und musste schon früh auf spätere Vorhaben verlegt werden. In der aktuellen Arbeit wurde diese Analyse nur auf wenige Beispiele beschränkt.

Forschungsmethode. Die Analyse der Bylinen basiert methodisch vornehmlich auf der Verschränkung zweier Forschungsansätze: Propps strukturaler Analyse russischer Zaubermärchen (Erstveröffentlichung: Morfologija skazki, 1928, dt.: Morphologie des Märchens, 1972) und Göttner-Abendroths mytho-archäologischer Matriarchatsforschung (Die Göttin und ihr Heros, 1980 und Anschlussforschungen). Zusätzlich wird die mythenkritische Forschung, darunter die von Ranke-Graves und Gerda Weiler, berücksichtigt.

An sich sind die beiden Ansätze nicht neu. Besonders das Proppsche Modell erfreut sich seit fast einem Jahrhundert großer Beliebtheit bei den Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen. Jedoch bezieht sich die vorliegende Arbeit auf Ergebnisse aus zwei verschiedenen Forschungsbereichen. Einerseits handelt es sich um die westeuropäische Matriarchatsforschung, die bereits eine gewisse Systematik hat und gezielt weiterentwickelt wurde. Sie grenzt aber größtenteils den osteuropäischen bzw. slavischen Bereich aus. In der Regel erfolgt diese Ausgrenzung aufgrund der sprachlichen Barriere. Andererseits liegen zahlreiche Forschungsergebnisse und Dokumentationen sowohl in der Folkloristik als auch Ethnografie im russischsprachigen Gebiet vor. Diese Forschungen, die zwar selbst das Phänomen des Matriarchats erkennen und entsprechend interpretieren, übersehen die moderne westeuropäische Matriarchatsforschung mit ihrer ideologiekritischen Perspektive. Deshalb wird mit dieser Arbeit das Ziel verfolgt, die moderne kritische Matriarchatsforschung mit den Materialen aus dem slavischen Areal zu verschränken. Propps Forschung und Methode schlägt eine Brücke zwischen den beiden Bereichen. Auf dieser Grundlage werden die matriarchalen Muster in Mythologie, Zaubermärchen und Bylinen analysiert.

Zusätzlich werden Beispiele aus der Folklore anderer Länder und Völker herangezogen. Berücksichtigt werden dabei die Ähnlichkeit und eventuelle Verwandtschaft der indoeuropäischen Mythologie und der Dichtung. Aber auch Beispiele außerhalb der indoeuropäischen Kulturen werden betrachtet, denn sie verfügen ebenfalls über ein gleiches mythologisches Muster.

Ebenso war es bei der Analyse der sozialen Praktiken nicht möglich, die Beweisführung allein auf den slavischen Kulturbereich zu beschränken. Da die Dokumentation zum Thema Matriarchat recht rar ist und die vorhandenen Quellen nicht immer qualitativ verwendbar sind, musste auf andere verfügbare Materialen zurückgegriffen werden. Nach Möglichkeit werden die Nachweise anschließend immer mit Beispielen aus der russischen bzw. aus den slavischen Kulturen zusammengeführt.

Die geplante Kurzeinleitung für das Thema Matriarchat musste fast auf ein Drittel der Arbeit erweitert werden. Aufgrund der Randstellung, in der sich Matriarchatsforschung sowohl in den akademischen Kreisen als auch in der Öffentlichkeit befindet, war es zum Verständnis dieser Arbeit notwendig, in der Einleitung eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Thema Matriarchat zu führen. Das Wissen über dieses Thema ist überwiegend auf eine flüchtige Bekanntschaft beschränkt. Während der Ausarbeitung und durch Diskussionen mit Fachkollegen wurde eine Vielzahl an Wissenslücken deutlich, die das Verständnis der aktuellen Forschungsarbeit erschweren und Missverständnisse hervorrufen würden.

Besonders im Fall der jüngeren Kulturschichten liegen unzählige Verformungen und Adaptionen des matriarchalen Substrates vor. Das Thema verlangt deswegen viel Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, sich in eine andere kulturgeschichtliche und weltanschauliche Dimension versetzen zu können. Es war der Autorin wichtig, die Aussagen der MatriarchatsforscherInnen zum Teil selbstständig zu belegen, um einen besseren Überblick über das Thema und dessen Verständnis zu gewinnen und eigene Schlussfolgerungen ziehen zu können. Es erschien an der Stelle nicht sicher, sich allein auf fremde und dazu immer wieder umstrittene Forschungen zu verlassen.

In ihrem Arbeitsaufbau verläuft die Dissertation in ihrer endgültigen Form über vier Schwerpunkte:

  1. 1. Zusammentragen der Informationen über die ehemaligen oder noch existierenden Matriarchate,
  2. 2. Nachweisen der matriarchalen Elemente in der russischen Kultur,
  3. 3. Nachweisen der matriarchalen Prinzipien in den Handlungen der russischen Zaubermärchen,
  4. 4. Analysieren von Deformationen matriarchaler Prinzipien bei der Umformung der Medien von Märchen zu Bylinen.

Der Aufbau dieser Arbeit ist stark durch die Monografie Göttner-Abendroths beeinflusst. Tatsächlich gab vor allem das Kapitel über die europäische Epik in Die Göttin und ihr Heros (1980) den Anstoß für eine Auseinandersetzung mit Märchen und Epen aus dem ostslavischen Bereich.

Der erste Teil der Arbeit behandelt vor allem die soziopolitische Seite des Matriarchats. Der Teil ist besonders komplex, denn er musste politische, ökonomische und soziale Besonderheiten sowohl des Matriarchats als auch des Patriarchats umfassen. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Auseinandersetzung mit problematischer Terminologie. Im ersten Kapitel werden Arbeitsrelevante Begriffe und Definitionen, die für das Verständnis der weiteren Kapitel notwendig sind, geklärt.

Die weiteren Kapitel basieren in ihrem Aufbau vor allem auf Göttner- Abendroths Forschung. Aus deren Zusammenfassung wurden die wichtigsten Positionen herausgelöst und im Einzelnen betrachtet. Die theoretischen Überlegungen werden hier mit konkreten Beispielen belegt.

Die Auswahl der Beispiele erfolgte nicht willkürlich. Zu diesem Zweck wurden Gesellschaften ausgewählt, die ausreichend dokumentiert wurden und die entsprechende Qualitäten vorweisen. Die Anzahl an Dokumentationen, die als zuverlässige Quellen dienen können, ist leider nicht groß.

Im zweiten Kapitel Matriarchat versus Patriarchat wird zuerst ein Kapitelteil aus Göttner-Abendroths Monografie Die Göttin und ihr Heros zitiert6 und die Schlüsselaussagen am Ende zusammengefasst. Sie werden als Rahmenbedingung für die weitere Analyse angenommen. Zusätzlich wird die Gegenüberstellung zwischen Matriarchat und Patriarchat basierend auf James DeMeos Forschung und die daraus resultierende Skala, welche die Positionierung der einzelnen Gesellschaften ermöglicht, angeführt.

In den darauffolgenden Kapiteln werden die Aussagen von Göttner- Abendroth mit anderen, v.a. ethnologischen Forschungen zusammengeführt. Im dritten Kapitel werden neben den Beispielen aus der Ethnologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Geschichte etc. die wichtigsten soziopolitischen Strukturmechanismen einer matriarchalen/herrschaftsfreien Gesellschaft dargestellt. Im vierten Kapitel wird die Sonderstellung der Familie in einer matriarchalen Gesellschaft betrachtet. Unter anderem wird die Frage beleuchtet, warum die sichere Integration in eine matrilineare Großfamilie der Entstehung der politischen Herrschaft im Wege steht. Schließlich werden im fünften Kapitel (Geschlechter und Generationen in der matristischen Gesellschaft) das Gegensatzpaar Mann-Frau und das Machtgefälle zwischen den Generationen betrachtet. Die Gründe für die strikte Teilung in männliche und weibliche Bereiche sowie Ursachen für die geschlechtsspezifische Wertung innerhalb der Gesellschaft werden analysiert.

Im Kapitel 6 (Das Patriarchat. Die zentralen Bestandteile des Systems) werden die wichtigsten Merkmale des Patriarchats zusammengefasst und schließlich wird im Kapitel 7 der Frage nach den Ursachen der Auflösung des Matriarchats und nach den Gründen für die Entwicklung der patriarchalen Strukturen nachgegangen.

Aus Gründen der Komplexität des Themas kann hier nur eine sehr grobe Zusammenfassung zum matriarchalen soziopolitischen System erfolgen. Die matriarchale Kulturschicht umfasst den Zeitraum von schätzungsweise mehreren Jahrtausenden (die archäologischen Forschungen geben Hinweise auf die Existenz dieser Sozialordnung schon um etwa 100.000 Jahre v. Chr. Die hochentwickelte Phase der städtischen Kultur wird mit 7.000 Jahre v. Chr. datiert7). Man geht auch davon aus, dass das Matriarchat nicht nur ein regional beschränktes Phänomen, sondern ursprünglich global vertreten war und die eigentliche, natürliche und menschliche Sozialorganisation darstellt.

In dem 2. Teil der Arbeit werden das weltanschauliche Konzept des Matriarchats betrachtet, seine Nähe zum soziopolitischen System analysiert und die für die Arbeit wichtigen Bestandteile der matriarchalen kultischen Inszenierungen herausgestellt. Der 3. Teil umfasst die wichtigsten Positionen der matriarchalen Mythologie und gibt einen Überblick über die Abläufe der Patriarchalisierung in den mythologischen Sujets.

Die Aufteilung der einzelnen Kapitel nach den Themen wie Soziopolitisches System, Weltanschauung und Mythologie kann nur sehr bedingt erfolgen. Die Arbeit zeigt unter anderem, dass diese Themen stark ineinandergreifen und eine genaue Abgrenzung voneinander unmöglich ist.

Der 4. Teil bietet eine wichtige Übergangssequenz zur Bylinenanalyse. Hier werden die Beziehung zwischen einem Zaubermärchen und dem Initiationsritual sowie einigen anderen wichtigen Elementen matriarchaler Kultur aufgezeigt. Anschließend wird ein Überblick zu den Patriarchalisierungsabläufen in den Märchensujets geboten.

Im 5. Teil wird mit der Analyse der konkreten Sujets begonnen. Hier wird die mythologische Beziehung zwischen der Schwester und ihrem Bruder bzw. zwischen der Mutter und ihrem Sohn am Beispiel dreier ausgewählter Märchensujets gezeigt. Verdeutlicht werden die Strukturen der matriarchalen Mythologie sowie ihre Deformation.

Im 6. Teil der Arbeit wird der Schwerpunkt auf die eigentliche Bylinenanalyse gelegt. Dafür wurden drei Sujets aus dem Bylinen-Zyklus um den Recken Dobrynja Nikitič und das Sadko-Sujet aus dem Novgoroder-Zyklus ausgewählt.

Die breite Streuung an Themen ist notwendig, denn die Matriarchatsforschung setzt das Zusammenwirken all dieser Bereiche voraus. Es entspricht dem Wesen der matriarchalen Weltanschauung, dass kein Lebensbereich und kein Element der Mythologie isoliert stehen. Dieses Prinzip ist in der vorliegenden Arbeit übernommen worden.


1 Vgl. Rydzevskaja 1937: 15 f.

2 Vgl. Kosven 1948: 176.

3 Bsp.: Krjukova 1946: 23 f.

4 Vgl. Propp 1999: 247. Auch Anikin: „Как выражение исторической мысли былины воспроизводят идеалы справедливости, славят защитников чести и прав народа. […] Былины выражали высокие нравственно-этические идеалы. Богатырь и богатырство обладали силой влекущего жизненного примера. Эпос был не только исторической памятью народа, но и его достоинством, умом, нравственным кодексом“ (Anikin 2011: 308). (Als Ausdruck des historischen Gedankens verkörpern die Bylinen die Gerechtigkeitsideale, rühmen die Verteidiger der Ehre und der Rechte des einfachen Volkes. […] Bylinen bringen die hohen moralisch-ethischen Ideale zum Ausdruck. Der Recke und das Heldentum wurden zum inspirierenden Vorbild fürs Leben. Das Epos war nicht nur das historische Gedächtnis des Volkes, sondern auch dessen Würde, Denkkraft und Moralkodex).

5 „[…] B русском эпосе вообще никогда нет ни малейшего уважения к врагу, как это имеет место в западноевропейском эпосе, где, например, сарацины изображены великодушными и где враги любуются друг другом. Русский эпос допускает по отношению к врагу только полное презрение и ненависть“ (Propp 1999: 328).

6 Vgl. Göttner-Abendroth 2011: 19–21.

7 Vgl. Göttner-Abendroth 1988: 116.

Teil 1 Soziopolitisches Konzept matriarchaler Kulturen

Einführung

Die Notwendigkeit für die Ausarbeitung des aktuellen Arbeitsteils wurde bereits in der Vorbereitungsphase der vorliegenden Arbeit erkannt. Um die ideologischen Verschiebungen innerhalb des Handlungsmusters der Märchen und Bylinen aufdecken zu können, ist eine genauere Definition jeweils der matriarchalen und der patriarchalen Merkmale nicht nur innerhalb der mythologischen, sondern auch der politischen und sozialen Sphären der Gesellschaft, die schließlich die weltanschaulichen und religiösen Sphären prägen, notwendig. Nur wenn eine Abgrenzung der wichtigsten Kategorien der beiden gesellschaftlichen Systeme vorgenommen wird, werden ihre prinzipiellen Unterschiede und deren Wirkung erkennbar.

Zu diesem Zweck soll hier zunächst das Wesen der matriarchalen Gesellschaften dargestellt werden: ihre soziale und politische Organisation sowie ihre wirtschaftlichen Grundlagen. Diese werden mit den patriarchalen Grundlagen verglichen. In dem zweiten Teil der Arbeit sollen auf ähnliche Weise die mythologischen und weltanschaulichen Grundlagen der beiden gesellschaftlichen Ordnungen gegenübergestellt werden. Erst dann wird es möglich sein, die Tiefe des Konflikts zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Konzepten abzuschätzen.

In den 1980er Jahren gelang es der feministischen Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth, der stark zerstreuten Forschung eine gemeinsame theoretische Basis zu verschaffen. In ihrer Monografie Die Göttin und ihr Heros (1980) bietet sie die wichtigen Grundlagen für diese Forschungsdisziplin. Hier rekonstruiert sie das soziale, politische und ökonomische System der Matriarchate in ihrer idealtypischen Ausprägung8. Diese Rekonstruktion gelingt ihr durch Heranziehen von Forschungsergebnissen aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen, wie Archäologie, Ethnologie, Folkloristik etc.

Obwohl die Publikationen Göttner-Abendroths auf systematischer und methodischer, breit angelegter, jahrelanger Forschung basieren, stoßen sie oft auf heftige Ablehnung seitens anderer Wissenschaftler. Allein schon der Begriff „Matriarchat“ sorgt nach wie vor für Verwirrungen und Missdeutungen. Er ist vorbelastet, sei das durch die radikal-feministischen Kampfschriften, antifeministische Revanchen, ideologische Deutungen und sonstige Arten des unwissenschaftlichen Umgangs mit diesem Thema. Wenig hilfreich ist hier auch der als „Ausweichmanöver“ verwendete Begriff „gentile Gesellschaft“. Auch er wurde schon in einem anderen Zusammenhang verwendet, wie beispielsweise in Bezug auf die germanischen und gallischen Stämme9. Diese Völker wiesen aber zu jenem Zeitpunkt eine politische Organisation auf, die einer patriarchal-feudalen näherstehen würde und nicht einer, die als matriarchal definiert werden könnte. Grundsätzlich lässt sich Göttner-Abendroths Arbeit nur in ihrer Gesamtheit erfassen, was bei der Matriarchatsforschung und ihr naheliegenden Themen generell notwendig ist.

1 Arbeitsrelevante Begriffe und Definitionen

Das Problem der soziopolitischen Begriffe umreißet bereits der Psychologe Wilhelm Reich (1935) mit seinem etwas radikalen Zitat:

Kein einziger soziologischer Begriff, der einmal von großer Bedeutung war, kann heute gebraucht werden, ohne Verwirrung zu stiften. Daran sind die Prostituierten der Politik schuld, die mit der „Freiheit hausieren“ gingen und denen es gelungen ist, jede Spur eines klaren, ehrlichen Denkens, dem es nur darum geht, Fakten aufzudecken, zu zerstören. Für sie ist jeder Begriff ein Mittel politischen Betrugs geworden10.

Tatsächlich fächert sich jeder hier im Weiteren gebrauchte Terminus in mehrere Bedeutungen auf. Schuld daran ist selbstverständlich nicht allein der politische bzw. ideologische Missbrauch. Die meisten dieser Begriffe wurden seit ihrer Entstehung wohl nie genau definiert. Stattdessen entspringen sie einer bestimmten Epoche oder einer bestimmten gesellschaftlichen Situation und setzen ihr Dasein in den nächsten Jahrhunderten evtl. auch Jahrtausenden fort und sind immer entsprechenden Deformationen unterworfen.

Es wäre hier nicht möglich und auch nicht notwendig, alle politischen Begriffe zu erläutern. Das Kapitel hat viel mehr zum Ziel, das Thema der „Unmöglichkeit“ des Matriarchats und der mit ihm verbundenen Definitionen aus dem Weg zu räumen. Es definiert die Begriffe wie Macht, Herrschaft und Herrschaftsfreiheit, Autorität, Anarchie, Staatsmacht etc. und soll die Perspektive der aktuellen Arbeit auf diese Grundbegriffe vermitteln.

Matriarchate werden von Göttner-Abendroth als herrschaftsfreie, egalitäre Gesellschaften definiert. Bereits das stößt in wissenschaftlichen Kreisen auf große Skepsis. Die Existenz der sogenannten herrschaftsfreien bzw. anarchistischen oder gar matriarchalen Gesellschaften, wird generell in Frage gestellt. Eine Erklärung für diese Skepsis geben in ihrer Monografie Herrschaftsfreie Institutionen (1999) Haude und Wagner: „In den geläufigen Erzählungen der menschlichen Gattungsgeschichte gehen die ‚primitiven‘ anarchistischen Gesellschaften meist unter, was zu der falschen, aber weit verbreiteten Ansicht verleitet, menschliche Kultur sei notwendig verbunden mit Herrschaftsformen, wovon der moderne Staat die fortgeschrittenste Version darstelle“11. Die größten Schwierigkeiten bei der Argumentation werden durch unklare Definitionen hervorgerufen. Die Begriffsprobleme tauchen dabei sowohl auf der Seite der Verfechter als auch auf der gegnerischen Seite auf:

Wo immer man in solchen Auseinandersetzungen hinschaut, stellt man fest, dass im Schlachtgetümmel die zentralen politischen Kategorien durcheinandergeraten sind. Bei den Gegnern der Möglichkeit anarchistischer Gesellschaften ist dies auf die begriffsstrategische Untermauerung ihrer Position zurückzuführen – es wird, quasi mit einem theoretischen Taschenspieltrick – von irgendeiner beobachteten politischen Tatsache, z.B. der Existenz verbindlicher Normen oder von Machtbeziehungen, auf Herrschaft kurzgeschlossen. […] Verblüffender ist, dass auf der Gegenseite ebenfalls Begriffsprobleme auftauchen12.

Details

Pages
420
Year
2024
ISBN (PDF)
9783631909676
ISBN (ePUB)
9783631909683
ISBN (Softcover)
9783631909669
DOI
10.3726/b22017
Language
German
Publication date
2024 (July)
Keywords
ideologische Deformationen russische Epik interdisziplinäre Studie Heldendichtung als Teil eines größeren kulturellen Zusammenhanges Märchenforschung Anthropologie Russland Mythenforschung Ideologie Folkloristik Epenforschung Epik
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 420 S., 14 s/w Abb., 13 Tab.

Biographical notes

Anneke Sittner (Author)

Anneke Sittner studierte und promovierte an der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Literaturwissenschaft, Folkloristik und Kulturanthropologie.

Previous

Title: Transformationen matriarchaler Muster in der russischen Kultur