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Gewalt und virtuelle Räume in mittelhochdeutscher Heldenepik

Rezeptionsästhetische Untersuchungen

von Tamara Elsner (Autor:in)
©2024 Dissertation 298 Seiten

Zusammenfassung

Mittelhochdeutsche Heldenepik erzählt häufig und ausführlich von körperlicher Gewalt in Form von Schlachten und Zweikämpfen. Diese offensichtliche Faszination für das Erzählen von Gewalt, so schlägt dieses Buch vor, liegt in der Fähigkeit des Erzählgegenstandes ‹Gewalt›, in der Rezeptionssituation über spezifische Formen der Inklusion der Rezipienten einen virtuellen Raum zu schaffen. In diesem können sich Elemente der Lebenswelt der Rezipienten, Erzählsituation und histoire überlagern, sodass Rezipienten ein präsentes Miterleben des Erzählten möglich ist. Dieses Modell des präsenten Miterlebens von erzählter körperlicher Gewalt im virtuellen Rezeptionsraum dient zur rezeptionsästhetischen Analyse ausgewählter Szenen aus dem Nibelungenlied, der Rabenschlacht und dem Laurin.
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Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Siglenverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Gewalt
  • 2.1. Körperliche Gewalt im historischen Mittelalter
  • 2.1.1. Gewalt, Recht und Gesellschaft
  • 2.1.2. Gezügelte Gewalt
  • 2.1.3. Spezifische Formen der Gewalt
  • 2.1.3.1. Der Zweikampf
  • 2.1.3.2. Die Schlacht
  • 2.1.3.3. Das Turnier
  • 2.1.4. Zwischenfazit
  • 2.2. Körperliche Gewalt in der Literatur des Mittelalters
  • 2.2.1. Gewalttätige Helden
  • 2.2.2. Repräsentationen und Bedeutungen
  • 2.2.3. Unterhaltung, Spannung und Gemeinschaft
  • 2.2.4. Zwischenfazit
  • 2.3. Körperliche Gewalt als raumgreifendes Phänomen
  • 2.3.1. Definitionen: Gewalt und Macht, Körper und Raum
  • 2.3.2. Gewalt und Kunst
  • 2.4. Zusammenfassung – Gewalt als grenzüberschreitendes Phänomen
  • 3 Virtuelle Räume
  • 3.1. Raumkonzeptionen – absolut und relativ
  • 3.2. Narration als Kommunikation – Rezeption als Raum
  • 3.3. Imaginäre und normale Räume
  • 3.4. Virtualität
  • 3.5. Virtuelle Räume
  • 3.6. Der Rezeptionsraum als virtueller Raum
  • 3.7. Virtualität und mittelalterliches Erzählen
  • 3.8. Zusammenfassung – der virtuelle Raum der Rezeption
  • 4 Inklusionspotenziale – rezeptionsästhetische und kognitionswissenschaftliche Ansätze
  • 4.1. ‚Der‘ Rezipient
  • 4.2. Möglichkeiten der Inklusion der Rezipienten in die Kommunikationssituation des Erzählens
  • 4.3. Kognitive Formen der Inklusion
  • 4.3.1. Leerstellen
  • 4.3.2. Mentale Vorstellung – visuell, auditiv und motorisch
  • 4.3.3. Emotionen
  • 4.3.4. Empathie und Sympathie
  • 4.4. Immersion
  • 4.4.1. Spannung
  • 4.4.2. Transportation
  • 4.4.3. Präsenz
  • 4.4.4. Immersion – Zusammenfassung
  • 4.5. Körperliche Formen der Inklusion
  • 4.6. Zusammenfassung zu Inklusionspotenzialen
  • 5 Zusammenfassung der theoretischen Überlegungen und weiteres Vorgehen
  • 6 Nibelungenlied
  • 6.1. Vorbemerkungen
  • 6.2. Bilder und Töne der Gewalt – Aktivierung der mentalen Vorstellungskraft
  • 6.3. Hören, sehen und fühlen, was nicht erzählt wird - Leerstellenfüllung
  • 6.4. Mitfühlen mit den Kriegern – Empathie, Sympathie und Identifikation
  • 6.5. Unsichere Sicherheit – Spannung trotz bekanntem plot
  • 6.6. Gewalttätige und versehrte Körper
  • 6.7. Fazit zum Nibelungenlied
  • 7 Rabenschlacht
  • 7.1. Vorbemerkungen
  • 7.2. Schlacht der Extreme – wie Rezipienten im virtuellen Rezeptionsraum mit Kriegsgewalt konfrontiert werden
  • 7.2.1. Blutige Bilder und der Klang des Krieges
  • 7.2.2. Die Begegnung mit Leben und Tod
  • 7.2.3. Spannungserzeugung und Wissen
  • 7.3. Der Erzähler – virtueller Krieg gegen Ermrich
  • 7.4. Fazit zur Rabenschlacht
  • 8 Laurin
  • 8.1. Vorbemerkungen
  • 8.2. Gewaltpräsenz ohne Schreckensbilder
  • 8.3. Mitfiebern durch Sympathie
  • 8.4. Arbeit am Text und an der Gewalt – der Dresdner Laurin
  • 8.4.1. Figuren im Kampf
  • 8.4.2. Explizite Gewalt
  • 8.5. Fazit zum Laurin
  • 9 Fazit und Ausblick – der virtuelle Rezeptionsraum und die Präsenz körperlicher Gewalt
  • 9.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 9.2. Tragfähigkeit des Konzepts und die Frage nach der Lust an Gewalt
  • 10. Literaturverzeichnis
  • 10.1. Quellen
  • 10.2. Forschung
  • 10.3. Hilfsmittel
  • 10.4. Internetquellen

1 Einleitung

Ich sten der mær unlougen,

swer mich der vragen wil:

Zwisschen sinen ougen

da stach er im des todes zil.

Durch hirn und durch zende

slůch er daz chint mit manlicher hende. (Rab Str. 404)

Es ist kein schönes Bild, das die Rabenschlacht an dieser Stelle heraufbeschwört. Grausige Verwundungen, Blut, Leid und Tod wie hier im Kampf zwischen Witege und Etzels Sohn Scharphe prägen nicht nur die über achtzig Strophen ausgedehnte Szene von Kampf und Tod der Etzelsöhne auf dem Schlachtfeld,1 sondern das gesamte Epos. Ein solch detailliertes Erzählen bzw. Zeigen von Gewalt findet sich in der mittelhochdeutschen Heldenepik häufig. Das über die Fachwelt hinaus bekannteste Beispiel für exzessive Gewalt und ausführliches Erzählen davon ist das Nibelungenlied. In den fast 500 Strophen vom ersten Tod eines Hunnen im Turnier2 bis zur Zerstückelung Kriemhilts und dem Tod aller Burgunden und vieler Hunnen3 geht es sehr blutig zu. Und von diesen gewaltsamen Ereignissen, so die Klage, sei seither viel erzählt worden: „getihtet man ez sît hât / dicke in tiuscher zungen“ (Klage V. 4316–4317).

Solche Selbstaussagen eines Textes über die Popularität seines Stoffes sind zwar nur begrenzt als Bericht über tatsächliche historische Rezeptionsprozesse zu lesen.4 Doch dass man im Mittelalter über Gewalt dicke tihtet, gilt nicht nur für das Erzählen von Schlachten wie in den genannten Beispielen, sondern auch für das Erzählen von Zweikämpfen. Im Eckenlied E2 beispielsweise genügt es nicht, dass Dietrich nur einmal gegen einen Riesen kämpft. Dietrich, der eigentlich gar nicht kämpfen will (E2 Str. 89) und Eckes Tod nach dem Kampf über mehrere Strophen hinweg jammervoll beklagt (E2 Str. 144–150), kämpft im Anschluss noch zweimal gegen Vasolt (E2 Str. 183–187, Str. 196–201), dann gegen Eggenot (E2 Str. 218–224), Eckes und Vasolts Mutter Birkhilt (E2 Str. 237–238) sowie deren Tochter Uodelgart (E2 Str. 244–245). In der Fortsetzung in Eckenlied E7 kämpft Dietrich schließlich noch gegen Rachin (E7 Str. 258–269) und deren Sohn Zere (E7 Str. 271–272), erneut gegen Vasolt (E7 Str. 278–279) sowie gegen Eckes Onkel Eckenot (E7 Str. 285–287), zwei Bildautomaten (E7 Str. 288–292) und schließlich gegen den König von Kerlingen (E7 Str. 296). Auch die Druckfassung Eckenlied e5 fügt weitere Kämpfe an: Dietrich kämpft gegen Rütze (e5 Str. 211–215) und ihre Söhne (e5 Str. 191–206), noch zwei Mal gegen Vasolt (e5 Str. 232–237, 247–250) und zwei Bildautomaten (e5 Str. 245–246). Dietrichs Weg führt von Kampf zu Kampf – die Wiederholung immer ähnlicher Konstellationen und Abläufe störte offenbar nicht. Das zeigt auch der Laurin: Anstatt dass Kampfstrukturen gekürzt oder komprimiert würden, werden sie hier im Verlauf der Überlieferung sogar ausgeweitet: Der Dresdner Laurin erzählt, anders als der ältere Laurin L3, umfassend von den Kampfaktionen jedes beteiligten Helden (DL Str. 204–306). Die Liste ließe sich fortführen.

Warum wird in mittelalterlicher Heldenepik so häufig und so ausdauernd von körperlicher Gewalt im Kampf erzählt? Malcher hat die Faszination von Gewalt mit ihrer Referenz auf ein „primär nichtliterarisches Werte- und Normensystem“5 begründet: Gewalthandeln entwerfe einen sich sukzessiv literarisch verfestigenden Code, der durch relative Nähe zwischen Rezeption und Kommunikation, Rezipientenlebenswelt und Thematik fasziniere.6 Mit der Konzentration auf die „Erfahrbarmachung von fundierenden gesellschaftlichen Normen“7 und „Selbstvergewisserung“8 der Rezipienten als zentrale Leistung von Gewalterzählen fokussiert Malcher die rezeptionsästhetische Wirksamkeit von gewalthaltigen Texten in ihrem Mehrwert für den sozialen Zusammenhalt, was sicherlich ein zentraler Aspekt ist. Es gilt allerdings generell für Kunst, dass sie einen Beitrag zur sozialen Kohäsion einer Gesellschaft leisten kann,9 insbesondere in Gesellschaften, in denen die „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder zu bestimmten Strata dieser Gruppe keine einfache, unproblematische Gegebenheit ist“.10 Das rezeptionsästhetische Wirkungspotenzial von erzählter Gewalt ist also einerseits mit dem Hinweis auf ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt ganz grundsätzlich (Funktion von Kunst überhaupt) durchaus gut zu begründen, aber die Spezifik ist noch nicht hinreichend geklärt.11 Es stellt sich, so Kragl, die Frage, „ob es nicht eine empathische Faszination von, oder besser, für Gewalt ist, die diese Texte bedienen“.12 Unter der Voraussetzung, dass die Texte primär einfach auch „unterhalten haben“,13 und um die Faszination von erzählter Gewalt zu erklären, sollen in der vorliegenden Studie die über die Betrachtung gesellschaftlicher Normen hinausgehenden und in der Rezeptionssituation faszinierenden Spezifika des Phänomens ‚Gewalt‘ in den Blick genommen werden.

Auf ihrer Suche nach einer Erklärung dafür, weshalb Gewalt ein offensichtlich so faszinierendes und erfolgreiches Thema der mittelalterlichen Literatur ist, setzt die vorliegende Studie bei den Phänomenen an (Kapitel 2). Ein exkursartiger Überblick über körperliche Gewalt in der Lebenswelt und der Literatur des Mittelalters zeigt, dass Gewalt vielfältige Formen annehmen und Funktionen erfüllen kann. Doch weder in einer ohnehin begrenzten Homologie der Literatur zur Lebenswelt noch in den vielfältigen erzähltechnischen Funktionen findet sich eine zufriedenstellende Antwort auf die Faszination für das Erzählen von Gewalt. Definitionen von Gewalt sowie Theorien zu ihrer Darstellung und Wirksamkeit in der Kunst geben jedoch einen Hinweis: Körperliche Gewalt ist ein raumgreifendes und grenzüberschreitendes Phänomen, das auch vor Rezipienten nicht haltmacht. Sie ‚trifft‘ Rezipienten und ermöglicht – beispielsweise in Form von körperlicher Anspannung – einen Moment der Präsenz, d. h. ein räumliches Verhältnis zum Erzählten im Sinne eines Berührtwerdens,14 obwohl sie eigentlich von ihnen räumlich getrennt innerhalb der Diegese stattfindet. Die Rezipienten sind sicher vor ihr und dennoch ‚betroffen‘.

Zur Frage, wie ein solches Betreffen trotz der physisch-räumlichen Trennung von Rezipienten und intradiegetischer Gewalt möglich ist, wird das Konzept des virtuellen Raumes für die Beschreibung der Rezeptionssituation produktiv gemacht (Kapitel 3). Die Rezeptionssituation kann als ein sich zwischen Text und Rezipienten aufspannender virtueller Raum beschrieben werden, in dem sich Elemente der Rezipientenlebenswelt, Erzählsituation und histoire überlagern. Die intradiegetische Gewalt befindet sich dann im selben Raum wie die extradiegetischen Rezipienten und kann sie so treffen, als ob sie diese tatsächlich am eigenen Leib erführen. Damit ein solcher virtueller Rezeptionsraum entstehen kann, müssen Rezipienten in die Kommunikationssituation des Erzählens inkludiert werden, was sich durch verschiedene kognitive und körperliche Beteiligungen der Rezipienten an der Rezeptionssituation vollzieht (Kapitel 4). Die Frage nach der Faszination und dem Erfolg des Erzählens von Gewalt ließe sich dann damit beantworten, dass das Erzählen von Gewalt in besonderer Weise dazu in der Lage ist, einen virtuellen Rezeptionsraum zu eröffnen und Rezipienten so ein präsentes Miterleben des Erzählten zu ermöglichen. Dies erscheint auch deshalb plausibel, weil zu erwarten ist, dass Gewalt als körperliches und bedeutungsaufgeladenes Phänomen eine ganze Bandbreite inkludierender Rezeptionsprozesse auslösen kann. Der ‚Mehrwert‘ von Gewaltrezeption für Rezipienten läge dann nicht nur darin, dass hier bestimmte Werte oder Handlungen vor Augen geführt werden, sondern darüber hinaus darin, dass hier im Modus eines Als-ob Geschehnisse miterlebt werden können, denen Rezipienten sich im normalen Leben aufgrund einer potenziellen Gefährlichkeit für Leib und Leben nicht hingeben würden. Im virtuellen Rezeptionsraum jedoch ist die negative Konsequenz suspendiert und Rezipienten können Gewalt sogar lustvoll miterleben.

Diese theoretischen Überlegungen münden in ein Modell des präsenten Miterlebens von erzählter körperlicher Gewalt in einem virtuellen Rezeptionsraum (Kapitel 5), das anschließend an ausgewählten Texten der Heldenepik zur rezeptionsästhetischen Analyse von Gewaltszenen genutzt und so erprobt wird. Selbstverständlich gäbe es auch eine Vielzahl an gewalthaltigen Szenen außerhalb der Heldenepik, etwa Zweikämpfe im höfischen Roman.15 Doch die Heldenepik bietet sich für eine Erprobung des Konzepts besonders an, da sie „Kriegeradelsliteratur“16 ist und von „außergewöhnlichen Kriegern“17 sowie „gewaltige[n]‌ Kriegstaten“18 erzählt. Was Kragl für die Dietrichepik feststellt, dass sie nämlich „vom Kampf geprägt“19 sei, da das Kämpferische einen hohen Stellenwert habe20 und die einzige Profession des Helden sei,21 gilt für Heldenepik generell. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Gewaltszenen im Verlauf der Überlieferung heldenepischer Texte ausgedehnt und ausgeschmückt wurden.22 Dass in der vorliegenden Arbeit ausschließlich Texte aus dem Stoffkreis germanischer Heldendichtung einbezogen werden und jene in der Tradition der Chanson de geste – obwohl ähnlich gewalthaltig23 – nicht berücksichtigt werden, liegt an der hier gewählten Versuchsanordnung; der Aspekt des Übertragens aus einer anderen Sprache24 wäre eine unnötige Komplikation.

Am Beispiel des Sachsenkrieges im Nibelungenlied (Kapitel 6) kommen die theoretischen Überlegungen zum rezipientenseitigen Miterleben von erzählter Gewalt im virtuellen Rezeptionsraum zum ersten Mal zur Anwendung. Hierbei werden die verschiedenen Potenziale, mit denen der Text Rezipienten in die Kommunikationssituation des Erzählens inkludieren und so einen virtuellen Rezeptionsraum entstehen lassen kann, und mögliche Präsenzerfahrungen im virtuellen Rezeptionsraum erkundet. Im Anschluss daran kommen mit Gewaltszenen aus der Rabenschlacht (Kapitel 7) und aus dem Laurin (Kapitel 8) Vertreter der historischen und der aventiurehaften Dietrichepik in den Blick. Die Analysen dieser Texte zielen nicht wie beim Nibelungenlied auf ein möglichst vollständiges Erfassen der verschiedenen Potenziale, wie ein virtueller Rezeptionsraum entstehen und Gewalt in ihm miterlebt werden kann, sondern setzen ausgewählte Schwerpunkte entsprechend der Spezifika des jeweiligen Textes.

An der Rabenschlacht wird gezeigt, wie auch ein hyperbolisches und sich wiederholendes Erzählen von Gewalt, das in der Forschung bisher eher als Qualitätsmangel bewertet wurde,25 eine rezeptionsästhetische Qualität entwickeln und nicht zu Langeweile und Abstumpfung, sondern zur Präsentifikation und zum Miterleben von Gewalt beitragen kann. Auch soll bezogen auf die Rabenschlacht danach gefragt werden, welche Bedeutung Vorwissen auf Seiten der Rezipienten für die Inklusion in die Rezeptionssituation mittels Spannungserleben hat und wie sich in der Rezeption durch die Überlagerungen verschiedener intra- und extradiegetischer Publika virtuell eine Gemeinschaft zwischen Erzähler und Rezipienten entwickeln kann.

Der Laurin L3 dagegen zeigt, dass die Entstehung eines virtuellen Rezeptionsraumes und das Betroffen-Werden der Rezipienten durch erzählte Gewalt nicht an grelle Gewaltschilderungen gebunden ist. Fokalisierungs- und Sympathiesteuerungsstrategien können im Laurin L3 erzählte Gewalt ebenfalls präsentifizieren d.h. virtuell miterlebbar machen. Aufgrund der reichen Überlieferungslage bietet der Laurin zudem Hinweise auf zeitgenössische Rezeptionsprozesse. Am Dresdner Laurin soll gezeigt werden, dass sich Rezipienten gerade in den Gewaltschilderungen über Leerstellenfüllung in die Kommunikationssituation der Rezeption einbringen, so die Gewaltszenen mitgestalten und insbesondere visuell und körperlich miterleben.

Diese Vielzahl an Möglichkeiten, über die Texte die Entstehung eines virtuellen Rezeptionsraumes anbieten können, kann leicht den Anschein erwecken, dass sich die Konzepte des virtuellen Rezeptionsraumes und der Präsentifikation erzählter körperlicher Gewalt durch Beliebigkeit auszeichnen. Tatsächlich jedoch ist die Pluralität der Mechanismen für die Entstehung eines virtuellen Rezeptionsraumes und für das präsente Miterleben des Erzählten innerhalb dieses Raumes die Konsequenz der Vielschichtigkeit der Rezeptionserfahrung. Diese resultiert aus komplexen kognitiven und körperlichen Prozessen und ist von den jeweiligen Dispositionen und Erfahrungen sowie von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Rezeptionssituation abhängig. Damit ist die Entstehung eines virtuellen Rezeptionsraumes und die Erfahrung von Präsenz nicht beliebig, aber grundsätzlich von vielen Variablen beeinflusst.

Aus diesem Grund sollen hier keine Rezeptionsmechanismen festgeschrieben, sondern im Text angelegte Potenziale aufgezeigt werden. Diese Rezeptionspotenziale können in der Rezeptionssituation einen virtuellen Rezeptionsraum entstehen lassen und präsentes Gewalterleben ermöglichen, doch sie sind nicht als Automatismus zu verstehen. Viele Wege führen vom Text in den virtuellen Rezeptionsraum und erlauben Präsenzerfahrungen – manche werden öfter begangen, manche seltener, manche sind voraussetzungsreicher als andere. Ihr bloßes Vorhandensein aber, d. h. das dem Text innewohnende Rezeptionspotenzial, zeigt, dass das Erzählte allgemein und erzählte Gewalt im Besonderen die Möglichkeit hat, im virtuellen Rezeptionsraum die Distanz zum Rezipienten zu überwinden. Dies ist auch der Grund dafür, dass die für das Mittelalter als Regelfall angenommene performative Darbietung von Literatur zwar mitgedacht, aber nicht ins Zentrum der Überlegungen gestellt wird – die performative Umsetzung eines Textes kann die Entstehung eines virtuellen Rezeptionsraumes unterstützen, ist jedoch nicht ihre Voraussetzung.

Insgesamt kristallisiert sich über die häufiger begangenen Wege (mentale Vorstellung, körperliche Erfahrbarkeit, wiederholende Variation und Positionsübernahme) eine rezeptionsästhetische Poetik des mittelalterlich- heldenepischen Erzählens von Gewalt heraus, die über die Genese eines virtuellen Rezeptionsraumes ein präsentes Miterleben von Gewalt ermöglicht. Hierin kann eine Erklärung für das häufige und ausführliche Erzählen von Gewalt in der mittelalterlichen Heldenepik liegen: Im virtuellen Rezeptionsraum stehen die Rezipienten mit auf dem Schlachtfeld, sodass der Kampf von Autoren, Erzählern oder Rezitatoren um die Aufmerksamkeit der Rezipienten26 möglicherweise dadurch ausgefochten wird, dass den Rezipienten eine umfassende Präsenzerfahrung ermöglicht wird – indem der erzählte Kampf virtuell räumlich um Rezipienten herum stattfindet.


1 Vgl. Rab Str. 390–463.

2 „er [Volkêr, T.E.] stach dem rîchen Hiunen daz sper durch sînen lîp“, NL Str. 1889,3.

3 „Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp. / ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp“, NL Str. 2377, 1–2.

4 Vgl. dazu etwa Müller/Lieb 2002, S. 10.

5 Malcher 2009, S. 9.

6 Vgl. ebd.

7 Ebd., S. 305,

8 Ebd., S. 225. Malcher nennt die heldenepischen Texte hieran anschließend „Selbstvergewisserungstexte“, ebd., S. 288.

9 Vgl. das Theorem der sozialen Kohäsion durch Kunst: „Ästhetisch anspruchsvolle Praktiken können für soziale Kooperation und Kohäsion förderlich sein, wenn die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder zu bestimmten Strata dieser Gruppe keine einfache, unproblematische Gegebenheit ist, sondern ein prekäres, immer wieder zu bekräftigendes Gut, das Einsatz, Konformität zu gegebenen Normen, unter Umständen auch kostspielige Opfer verlangt“, Menninghaus 2011, S. 169.

10 Vgl. ebd.

11 Vgl. Kragl 2012, S. 157–161.

12 Ebd., S. 160.

13 Ebd.

14 Vgl. Lechtermann 2005a, S. 11–14.

15 Beispielsweise im Erec, vgl. exemplarisch Erec 5504–5569.

16 Lienert 201, S. 250.

17 Kerth 2002, S. 263.

18 Ebd.

Details

Seiten
298
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631908662
ISBN (ePUB)
9783631908679
ISBN (Hardcover)
9783631908655
DOI
10.3726/b21309
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Schlacht Erzähltechnik Nibelungenlied Rabenschlacht Laurin Virtualität Gewalterzählen Rezeptionsästhetik Rezeptionsraum Präsenz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 298 S.

Biographische Angaben

Tamara Elsner (Autor:in)

Tamara Elsner studierte Germanistik, Medienwissenschaft sowie Literatur- und Kulturtheorie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Anschließend war sie im Bereich der Germanistischen Mediävistik als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie als Lehrbeauftragte des Instituts für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind mittelhochdeutsche Heldenepik, Dinge in mittelalterlicher Literatur sowie Rezeptionsästhetik.

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Titel: Gewalt und virtuelle Räume in mittelhochdeutscher Heldenepik