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Das Grundrecht der Gedankenfreiheit

Eine verfassungsrechtliche Analyse zur Genese eines Grundrechts und die Charakterisierung staatlicher Eingriffe in die Gedankenwelt.

von Franz Berger (Autor:in)
©2024 Dissertation 222 Seiten

Zusammenfassung

Das Grundgesetz weist eine offensichtliche Leerstelle auf. Ein Grundrecht der Gedankenfreiheit ist, anders als in völkerrechtlichen Dokumenten, textlich nicht normiert. Dabei wird das autonome Denken, jedenfalls seit der Aufklärung, als Kernelement des menschlichen Seins verstanden. Die Gedankenfreiheit dient dabei als tragendes Konzept. Auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft findet sie jedoch in nur wenigen Fällen Beachtung. Der Autor befasst sich mit den Argumenten dieser Nichtnormierung und schreibt sie in die Gegenwart fort. Dabei wird der Schutzgehalt herausgearbeitet und durch Eingriffsmöglichkeiten in Form des Gedankenlesens und der Gedankenmanipulation konkretisiert. Darauf aufbauend wird die Gedankenfreiheit als Fragmentgrundrecht dargestellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Problemaufriss
  • B. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Interdisziplinärer Abriss
  • A. Allgemeiner Sprachgebrauch
  • B. Philosophie
  • C. Psychologie
  • I. Exkurs: Libet-Experiment
  • II. Zusammenfassung
  • D. Neurowissenschaft und Medizin
  • I. Die Funktionsweise des Gehirns
  • II. Methoden zur Messung der Gehirnfunktionen
  • 1. Elektroenzephalographie (EEG)
  • 2. Magnetoenzephalographie (MEG)
  • 3. Positronen-Emissions-Tomographie (PET)
  • 4. Magnetresonanztomographie (MRT)
  • 5. Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI)
  • 6. Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT)
  • III. Aktuelle Forschungsbereiche der Neurowissenschaft
  • E. Kognitionswissenschaft
  • I. Darstellung des Forschungsfeldes
  • II. Die Komputationale Theorie des Geistes (KTG)
  • III. Repräsentationale Theorie des Geistes (RTG)
  • IV. Language of thought-Hypothese (LoT)
  • V. These über die Modularität des Geistes
  • VI. Konnektionismus
  • VII. Theorie der verkörperten Kognition (embodied cognition)
  • 1. Kein streng modularer Aufbau des Geistes:
  • 2. Keine symbolische Repräsentation des Geistes:
  • 3. Keine strikte Trennung von Körper und Geist:
  • VIII. Modifizierte Theorien der verkörperten Cognition
  • 1. Grounded cognition
  • 2. Grounded action cognition
  • IX. Zusammenfassung
  • F. Fazit und Verständnisgrundlage für diese Arbeit
  • Kapitel 2: Über die verfassungsrechtliche Nichtnormierung der Gedankenfreiheit
  • A. Untersuchungsgegenstand: Die menschlichen Gedanken als Kernbereich der Privatheit
  • B. Geschichte des Konzepts der Gedankenfreiheit
  • I. Allgemeine geschichtliche Relevanz der Gedankenfreiheit
  • II. Kodifizierungen eines Rechts auf Gedankenfreiheit
  • III. Das Fehlen der Gedankenfreiheit in der deutschen Verfassungsgeschichte
  • 1. Die Paulskirchenverfassung
  • 2. Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1871
  • 3. Die Weimarer Reichsverfassung
  • 4. Das Grundgesetz
  • 5. Zusammenfassung der Argumentation des Verfassungsgebers
  • Kapitel 3: Von der Zugriffsmöglichkeit auf die menschlichen Gedanken über den Schutzgehalt der normierten Grundrechte hin zu einem Fragmentgrundrecht Gedankenfreiheit
  • A. Generelle Frage nach einer Zugriffsmöglichkeit auf die menschlichen Gedanken
  • I. Umfang tatsächlicher Eingriffsmöglichkeiten
  • II. Rechtlicher Umgang mit der Beurteilung der Zugriffsmöglichkeit auf die inneren Gedanken
  • B. Gewährleistung eines ausreichenden Schutzes durch die normierten Grundrechte
  • I. Schutzgut der Gedankenfreiheit
  • II. Begriffsklärung: Denk-, Gedanken- oder Geistesfreiheit
  • III. Überblick der normierten Schutzbereichseingrenzungen auf internationaler Ebene
  • IV. Definition des Schutzgutes der Gedankenfreiheit
  • V. Verfassungsrechtlich geschützte Bereiche der Gedankenfreiheit
  • 1. Die Menschenwürde
  • a. Die Objektformel als Ausgangspunkt
  • b. Das Tabu als Begriff zur Konkretisierung der Objektformel
  • c. Zusammenfassung der Rolle der Menschenwürde zum Schutz der Gedankenfreiheit
  • 2. Art. 2 GG
  • a. Die Freiheit der Person
  • b. Recht auf Leben
  • c. Recht auf körperliche Unversehrtheit.
  • d. Allgemeine Handlungsfreiheit
  • 3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
  • a. Selbstbewahrung
  • b. Selbstbestimmung und Selbstdarstellung
  • c. Die Sphärentheorie
  • 4. Art. 4 GG
  • 5. Art. 5 GG
  • a. Die Meinungsbildungsfreiheit
  • b. Einschränkung durch den Begriff der Meinung
  • c. Fazit
  • 6. Art. 10 GG
  • 7. Art. 13 GG
  • 8. Weitere Grundrechte
  • a. Der Schutz geistigen Eigentums durch 
Art. 14 Abs. 1 GG
  • b. Art. 6 und 7 GG
  • c. Art. 8 und 9 GG
  • d. Die Berufsfreiheit, Art. 12 GG
  • e. Gleichheitsrechte
  • 9. Grundrechtsgleiche Rechte
  • VI. Einordnung der Gedankenfreiheit durch das Schrifttum
  • 1. Kürzere Einordnungen der Gedankenfreiheit
  • a. Kloepfer
  • b. Hohmann-Dennhardt
  • c. Hong
  • d. Rohlf
  • e. Vogelsang
  • f. Dalakouras
  • g. Ellbogen
  • h. Dammann
  • i. von Lewinski
  • j. Kolz
  • k. Traub
  • l. Di Fabio
  • m. Herzog, Muckel, Weinrich und Jäger
  • n. Enders, Michael und Morlok, Duttge
  • o. Oettel
  • 2. Selbstständige Auseinandersetzungen mit der Gedankenfreiheit im Schrifttum
  • a. „Innere Geistesfreiheit“ nach Faber
  • b. „Einstellungsfreiheit“ nach Lüdemann mit Hinweis auf Höfling und Morlok
  • c. „Innere Freiheit“ nach Goos
  • d. „Grundrecht auf mentale Selbstbestimmung“ nach Bublitz
  • 3. Zusammenfassung
  • 4. Stellungnahme
  • C. Entwicklung eines Grundrechts der Gedankenfreiheit als Fragmentgrundrecht
  • I. Unvollständiger Schutz der Gedankenfreiheit de lege lata
  • II. Möglichkeiten zur Vervollständigung des Schutzes der Gedankenfreiheit
  • 1. Verfassungsänderung durch formelles Gesetz
  • 2. Informelle Verfassungsänderung
  • a. Voraussetzung einer methodengeleiteten Verfassungsinterpretation
  • b. Verfassungsinterpretation hinsichtlich eines Grundrechts auf Gedankenfreiheit
  • c. Umsetzung des grundrechtlichen Schutzes der Gedankenfreiheit
  • d. Der Schutzbereich des Fragmentgrundrechts der Gedankenfreiheit
  • Kapitel 4: Staatliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Gedankenfreiheit
  • A. Eine Betrachtung des grundrechtlichen Eingriffsbegriffs
  • I. Klassischer und moderner Eingriffsbegriff als Ausgangspunkt
  • 1. Klassischer Eingriffsbegriff
  • 2. Moderner Eingriffsbegriff
  • 3. Bedeutung für das Verhältnis von Eingriff und Rechtfertigung
  • II. Unterscheidung zweier wesentlicher Eingriffsarten: Gedankenlesen und Gedankenmanipulation
  • 1. Gedankenlesen
  • 2. Gedankenmanipulation
  • 3. Wesentlicher Unterschied zwischen dem Gedankenlesen und der Gedankenmanipulation
  • B. Staatliche Eingriffe in Form des Gedankenlesens
  • I. Der Lügendetektor
  • 1. Grundsätzliche Einordnung des Lügendetektors
  • a. Der Kontrollfragentest
  • b. Der Tatwissentest
  • c. Polygraphie als Form des Gedankenlesens?
  • 2. Die Rechtsprechung zur Polygraphie in Deutschland
  • a. BGH, Urteil vom 16. Februar 1954 − 1 StR 578/53
  • b. BVerfG, Beschluss vom 18. August 1981 – 2 BvR 166/81
  • c. BGH, Urteil vom 17. Dezember 1998 – 1 StR 156/98 (BGH-Lügendetektor II)
  • 3. Zusammenfassende Stellungnahme zur Einordnung des Polygraphen durch die Rechtsprechung
  • II. Das Selbstgespräch
  • 1. Allgemeines zum Selbstgespräch
  • 2. Rechtsprechung zu diesem Thema
  • a. Grundlegende Entscheidungen zur Einordnung der Selbstgesprächs-Entscheidungen
  • b. Die Selbstgespräch-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs
  • 3. Stellungnahme zur Einordnung eines Selbstgesprächs durch die Rechtsprechung
  • III. Das Tagebuch
  • 1. Grundsätzlich zum Tagebuch
  • 2. Rechtsprechung
  • a. BGH, Urteil vom 21. Februar 1964 – 4 StR 519/63
  • b. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1964 – 1 BvR 352/64
  • c. BGH, Urteil vom 9. Juli 1987 – 4 StR 223/87 (BGH-Tagebuch II)
  • d. BVerfG, Beschluss vom 14. September 1989 – 2 BvR 1062/87 (BVerfG-Tagebuch II)
  • IV. Fazit für die Eingriffskategorie des Gedankenlesens
  • C. Gedankenmanipulation
  • I. Grundlegendes zur Gedankenmanipulation
  • 1. Begriff der Beeinflussung
  • a. Gewaltbegriff
  • b. Begriff der Täuschung
  • 2. Einordnung
  • II. Darstellung der Manipulationsmöglichkeiten
  • 1. Unmittelbare Gedankenmanipulation
  • a. Rao/Stocco-Experiment
  • b. Abgrenzung am Beispiel des Neuro-Enhancement
  • c. Einordnung unmittelbarer Formen der Gedankenmanipulation
  • 2. Mittelbare Gedankenmanipulation
  • a. Ausgangspunkt Denkmuster
  • b. Unabdingbarkeit rechtlich wertender Betrachtung am Beispiel des UWG
  • III. Konkretisierung des staatlichen Einflussbereichs
  • 1. Akte der Exekutive am Beispiel staatlicher Desinformationstätigkeit
  • 2. Stellungnahme
  • IV. Bewertung der Eingriffsschwellen
  • V. Zusammenfassung zur Gedankenmanipulation
  • D. Zusammenfassung zu den Eingriffen in die Gedankenfreiheit mit abschließender Beurteilung der Rechtfertigungsmöglichkeit
  • Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

a.F.

alte Fassung

Abs.

Absatz

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AG

Amtsgericht

APR

allgemeines Persönlichkeitsrecht

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

BCI

brain computer interface

Bd.

Band

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

bzw.

beziehungsweise

d.h.

das heißt

DM

Deutsche Mark

DSGVO

Datenschutz-Grundverordnung

DTI

Diffusions-Tensor-Bildgebung

EC

embodied cognition

EEG

Elektroenzephalographie

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMG

Elektromyographie

EMRK

Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

etc.

et cetera

EU

Europäische Union

f.

folgend

ff.

fortfolgende

fMRT

funktionelle Magnetresonanztomographie

Fn.

Fußnote

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GRCh

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Hrsg.

Herausgeber

Hs.

Halbsatz

i.S.d.

im Sinne des

i.S.v.

im Sinne von

i.V.m.

in Verbindung mit

IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Kap.

Kapitel

KTG

Komputationale Theorie des Geistes

LG

Landgericht

LoT

language of thought-Hypothese

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

MEG

Magnetoenzephalographie

MRT

Magnetresonanztomographie

NE

Neuro-Enhancement

Nr.

Nummer

PC

Personal Computer

PET

Positronen-Emissions-Tomographie

Pkw

Personenkraftwagen

Rn.

Randnummer

RTG

Repräsentationale Theorie des Geistes

S.

Satz/Seite

sic

sic erat scriptum

sog.

sogenannte

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

TMS

transkarnielle Magnetstimulation

u.a.

unter anderem

UN

Vereinte Nationen

US

United States

USA

United States of America

UWG

Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

vgl.

vergleiche

WRV

Weimarer Reichsverfassung

z.B.

zum Beispiel

ZPO

Zivilprozessordnung

Einleitung

A. Problemaufriss

Das unterschiedlich ausgeprägte Bedürfnis der Menschen nach Privatheit wurde im westlichen Kulturkreis schließlich durch die Aufklärung als gesellschaftliches Interesse anerkannt.1 Und was ist privater als die Gedankenwelt des Menschen? Man entscheidet selbst, was man denkt und ob man diese Gedanken mit seiner Umwelt teilt. Das entspricht gleichzeitig unserer Vorstellung von der Freiheit, die jeden Menschen zu dem macht, was er ist. Die Gedankenfreiheit2 ist dabei ein lange tradiertes Konzept, welches bereits in der Antike philosophisch3 behandelt und später im römischen Recht4 niedergeschrieben wurde. Neben der Philosophie und der Rechtswissenschaft war und ist die Gedankenfreiheit bis heute ein Element, welches auch in der Kunst immer wieder vorkommt. Im deutschsprachigen Raum etwa in Friedrich Schillers “Don Carlos”5 oder dem bis heute populären und politischen Volkslied „Die Gedanken sind frei“.6 In der deutschen Rechtsgeschichte hingegen fristet die Gedankenfreiheit vor allem als verfassungsrechtlich gewährtes Grundrecht ein Schattendasein. Wurde es zwar als möglicher Gewährleistungsgehalt, etwa im Rahmen der Weimarer Nationalversammlung, diskutiert,7 fand es jedoch nie Einzug in eine deutsche Verfassung. So ist es auch heute im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert.

Wieso sollte man sich mit diesem Thema also rechtswissenschaftlich vertiefter auseinandersetzen? Auf internationaler Ebene findet sich die Gedankenfreiheit als Menschenrecht, etwa in Art. 18 der UN-Menschenrechtserklärung, normiert. Auch in der deutschen Rechtsprechung spielte die Gedankenfreiheit nur in wenigen Fällen, zum Beispiel in der Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts8 und der Selbstgesprächsentscheidung des Bundesgerichtshofes,9 eine tragende Rolle. Ansonsten ist die Gedankenfreiheit eine Grundrechtsvoraussetzung, welche in der Rechtswissenschaft keine großartige Beachtung findet.10 Dabei bietet sie großes Potential auch neue Herausforderungen zu bewältigen, die sich der Gesellschaft etwa durch die Digitalisierung stellen.

Betrachtet man die Gründe, die etwa die Mütter und Väter des Grundgesetzes dazu bewegt haben, die Gedankenfreiheit, die in einer Entwurfsfassung enthalten war, aus dem Verfassungstext herauszunehmen, stellt das zentrale Argument die Verschlossenheit der menschlichen Gedankenwelt dar, die auf Grund eben dieser fehlenden Eingriffsmöglichkeit nicht weiter geschützt werden müsse.11 Durch die Rechtsprechung selbst wurde diese Argumentation später teilweise konterkariert, etwa durch die Feststellung, dass ein Selbstgespräch nichts anderes sei als die unfreiwillige Äußerung eines inneren menschlichen Dialogs bzw. konkret ausgedrückt „laute(s) Denken“, was an der Gedankenfreiheit teilnimmt.12 Der Staat hat also durch das Abhören eines Selbstgesprächs einen Einblick in die Gedankenwelt des Betroffenen erhalten. Diese Möglichkeit wurde etwa in der Diskussion um die Nichtaufnahme der Gedankenfreiheit in den Gesetzestext zum Grundgesetz nicht in Betracht gezogen. Zu bedenken gilt, dass man dazu ein Selbstgespräch führen und in genau diesem Moment auch noch staatlichen Abhörmaßnahmen unterworfen sein müsse, um in seiner Gedankenfreiheit derart beeinträchtigt zu werden. Dennoch zeigt allein dieses Beispiel, dass die Unzugänglichkeit der menschlichen Gedankenwelt kein derart unumstößliches Paradigma ist wie angenommen. Hinzu kommt durch die heutige Technisierung des Alltags die Möglichkeit durch smarte Helfer, wie Amazons sprachgesteuerter Assistent Alexa, der mit Mikrofon und Speichermöglichkeit ausgestattet, Einzug in viele Haushalte genommen hat und so die potentielle Aufnahme auch von Selbstgesprächen in den eigenen vier Wänden deutlich erhöht.13 Zudem bieten Smartphones und Wearables mit ähnlichen Funktionen die Möglichkeit, ortsunabhängig wie zum Beispiel im Auto oder im Hotelzimmer Gespräche unbemerkt aufzuzeichnen. Der Staat muss sich also nur diese neuen Instrumente erschließen und hat bereits damit deutlich umfassendere Optionen der Überwachung, die zumindest bei der Aufzeichnung von Selbstgesprächen auch zum Eingriff in die Gedankenwelt führen können.

Ähnlich verhält es sich mit Tagebucheinträgen, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schriftlich niedergelegte Gedanken darstellen.14 Wertet der Staat diese aus, stellt es ebenfalls eine Zugriffsmöglichkeit in die menschliche, verkörperte Gedankenwelt dar. Auch hier eröffnen sich neue Wege durch die Digitalisierung, etwa indem das klassische Tagebuch aus Papier durchaus durch ein digitales Pendant15 ersetzt werden kann und damit die Zugriffsmöglichkeit des Staates erhöht ist. Anhand dieses Beispiels zeigt sich, dass die ursprüngliche Begründung für einen fehlenden ausdrücklichen Schutz der Gedankenfreiheit im Grundgesetz womöglich überholt ist.

Besonders interessant ist der Umstand, dass die Rechtsprechung bei den eben genannten Fällen divergiert. Die Betroffenen werden vor Aufzeichnungen und Auswertungen von Selbstgesprächen durch den Staat geschützt. Tagebucheinträge hingegen dürfen gegebenenfalls ausgewertet werden. Ungeklärt sind Fälle, die von den genannten Beispielen abweichen und eine Art Zwischenstellung einnehmen können. Wie ist jemand zu behandeln, der sich eines Sprachassistenten bedient, um seine Gedanken für sich digital festzuhalten? Weitere Zugriffsmöglichkeiten auf die Gedanken des Menschen bieten sich etwa womöglich durch den Einsatz eines Lügendetektors16 oder verschiedener Substanzen, die als Wahrheitsseren17 begrifflich zusammengefasst werden können. Zudem wird an neuen technischen Verfahren geforscht, besonders in der Medizin,18 die einen Zugriff auf die Gedankenwelt ermöglichen sollen.

Details

Seiten
222
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631908624
ISBN (ePUB)
9783631908631
ISBN (Paperback)
9783631908594
DOI
10.3726/b21184
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Mai)
Schlagworte
Grundrecht Fragmentgrundrecht Verfassungsrecht Eingriff Gedankenmanipulation Gedankenlesen Gedankenwelt Denkfreiheit Gedankenfreiheit Gedanke
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 222 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Franz Berger (Autor:in)

Franz X. Berger studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau. Er war dort anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht tätig und Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung", in dessen Rahmen auch die Promotion erfolgte.

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