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Wieder- und Anderserzählen von unsterblicher Narrheit in Daniel Kehlmanns Tyll

von Peter Glasner (Band-Herausgeber:in)
©2024 Sammelband 230 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch wird in fünf Kapiteln Daniel Kehlmanns „Neuerfindung" des Narren, Schelms und Schalks Tyll Ulenspiegel analysiert. Ausgangspunkte bilden hierbei vergleichende Perspektiven auf mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen. Die Beiträge kennzeichnen je eigene literaturtheoretische Zugänge, die von Konzepten des Wiedererzählens und historischer Narratologie, des Raums und der Mensch-Tier-Relation über Wissen und Wahnsinn bis zu magischen Elementen und ‚gebrochenem‘ Realismus reichen. In Gänze arbeiten die Autorin und Autoren des Bandes das ästhetische Raffinement heraus, mit dem Kehlmann seinen Tyll in eine Erzähltradition einschreibt, die weit über den Dreißigjährigen Krieg als dessen Erzählkontext zurückreicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Für Niclas Deutsch
  • Inhaltsverzeichnis
  • «Diebes- oder Schreiberhände» - Einleitende Perspektiven auf Unübersehbares
  • Außenseiter - Antibürger - Freiheitskämpfer: Der
  • Seil und Seiltanz. Kehlmanns Heterotopie des Narren
  • Über das unzuverlässig Erzählte, das Nicht-Erzählte und die Funktion des Gesangs in Kehlmanns Tyll
  • «Ich bring es noch zu was» - Der sprechende Esel in Kehlmanns Tyll
  • Brüche in der Wirklichkeit. Wissen und Wahnsinn in Kehlmanns Tyll
  • Von Stimmen im Wald, Geistern im Bach und unsichtbaren Kreaturen. Zu magischen Elementen und Realismus in Kehlmanns Tyll
  • Kurzbiographien
  • Reihenübersicht

«Diebes- oder Schreiberhände» – Einleitende Perspektiven auf Unübersehbares

Peter Glasner

Aber der Poet irret / dann ob ich schon vor etlich hundert Jahren gestorben / und todt bin, so könnet ihr mich doch noch nicht unvexiret lassen. […] Ich bin […] der arme Eulenspiegel / wann einer under euch einen groben Zotten / und stincketen bossen vorbringet / und ich gleichwol nichts dazu kan / so heisset es doch / es sind des Eulenspiegels bossen!

– Johann Moscherosch: Gesichte Philanders von Sittewaldt.1

Ulenspiegel. Holzschnitt von Hans Baldung Grien (1515). Quelle: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel in der Druckausgabe von 1515. Titelholzschnitt nach der von Anneliese Schmitt kommentierten Faksimileausgabe. Leipzig 1979.

Ulenspiegel. Holzschnitt von Hans Baldung Grien (1515).
Quelle: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel in der Druckausgabe von 1515. Titelholzschnitt nach der von Anneliese Schmitt kommentierten Faksimileausgabe. Leipzig 1979.

Im Jahre 1650 hat Johann Michael Moscherosch2, ein Überlebender des Dreißigjährigen Krieges, seinem Gesichte Philanders von Sittewald eine Klage des toten Eulenspiegel beigegeben. Überraschender- und komischerweise gilt diese ‹Totenklage› aber nicht etwa der Vergänglichkeit des (eigenen) Lebens oder ungenutzter Lebenschancen. Beklagt wird vielmehr die Unsterblichkeit der (nur vermeintlich) eigenen Fama sowie das Nach- und Andichten von Streichen und Taten als ‹echte Eulenspiegeleien› – eine (Toten-)Klage mithin über eine so kontinuierliche wie unkontrollierbare Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. 300 Jahre nach dem Tod des historischen Till (gestorben 1350)3 und 135 Jahre nach dem Druck Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel (1510/11, 1515, 1519) in der berühmt gewordenen Offizin des Druckers Grieninger waren bereits «28 deutsche neben zahlreichen Ausgaben in niederfränkischer, niederländischer, französischer, lateinischer, englischer, dänischer und polnischer Sprache […] erschienen.»4 ‹Beklagenswert› erscheint dem Toten – oder besser dem Wiedergänger Eulenspiegel – folglich das Charakteristische (s)einer literarischen Figur, das unerschöpfliches Anknüpfungspotential bietet und die Rezeptionsgeschichte unausgesetzt zu Wieder-, Neu- und Anderserzählungen von vermeintlich Eulenspiegelhaftem bis in die Gegenwart perpetuiert. Ein Held nun aber, dem insbesondere jedweder Schabernack und grober Unfug ‹angedichtet› werden kann, vermag schier alles, nur nicht zu sterben. Der Beweis ist leicht erbracht: 2017 legte Daniel Kehlmann seinen Tyll-Roman vor.

Bereits seit der frühneuzeitlichen Schwanksammlung Ein lustig Lesen von Dil Ulenspiegel herrscht nicht gerade ein Mangel an Wiedererzählungen von diesem berühmt-berüchtigten Außenseiter und Schalksnarren. Schon deren zahllose Nachdrucke dokumentieren gleichermaßen einen frühneuzeitlichen Bucherfolg wie die Beliebtheit eines Stoffes, dem jedoch der zeitgenössische Klerus derart skeptisch gegenüberstand, dass das Buch schließlich auf den Index gesetzt wurde, was seinerseits eigenes Potential für Wiedererzählung(en) auch eines Daniel Kehlmann hat: Ulenspiegel – das Buch und sein Held – als Opfer klerikaler Obrigkeit.5 Das hat freilich nicht verhindern können, dass das Schwankbuch – und sei es auch getarnt als Erbauungslektüre als «schöne vergülte Bücher […] oder ganz schwarz mit Corduan überzogen»6 – noch im 17. Jahrhundert gelesen wurde, um schließlich in der Goethezeit als billig gedrucktes Volksbuch weite Verbreitung zu finden.7

Siegfried H. Sichtermann vereinigt in seiner Anthologie allein 56 literarische Gestaltungen des Eulenspiegel-Stoffes bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts.8 In diesem naturgemäß unvollständigen Kompendium folgen auf so prominente Autoren wie Hans Sachs (Eulenspiegels Disputation mit einem Bischof ob dem Brillenmachen; 1554), Johann Fischart (Eulenspiegel reimensweiß; 1572) oder Christian Fürchtegott Gellert (Till; 1746), August von Kotzebue (Till Eulenspiegel; 1806), Julius von Voß (Eulenspiegel im 19. Jahrhundert oder Narrenwitz und Gimpelweisheit; 1809), August Wilhelm von Schlegel (Eulenspiegel als Turmwächter; 1831) oder Johann Nepomuk Nestroy (Eulenspiegel oder Schabernak über Schabernak; 1835). 1867 erschien dann Charles de Costers (Die) Legende und die heroischen, heiteren und ruhmreichen Abenteuer Tyll Ulenspiegels und Lamme Gœdzaks im Lande Flandern und anderwärts, wovon im ersten Beitrag dieses Bandes noch ausführlich mit Blick auf Beziehungen zu Kehlmanns Tyll die Rede sein wird, gefolgt von Hermann Löns’ Eulenspiegel (1890). Im 20. Jahrhundert haben sich – auf höchst unterschiedliche Weise – Gerhart Hauptmann (Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume; 1928), Bertolt Brecht (Eulenspiegel-Geschichten; 1948), Ernst Bertram (Till Eulenspiegel in Magdeburg; 1951) sowie Christa und Gerhard Wolf (Till Eulenspiegel; 1973) eigens der schalkhaften Figur und ihrer Motivik gewidmet. SICHTERMANNs ausgewiesenes Ziel ist es zu zeigen, «wie lebendig Till Eulenspiegel bis heute geblieben ist, wie sich die Auffassungen über ihn im Laufe der Jahrhunderte gewandelt und wie verschieden ihn die einzelnen Epochen gesehen und mit den Mitteln der Sprache künstlerisch gestaltet haben.»9 Sichtermann geht es folglich um einen chronologischen Längsschnitt respektive um eine Versammlung von Texten nach der «‹Berühmtheit des Autors›»10. Da man diese Auswahlkriterien aus heutiger Sicht relativ unscharf nennen mag, sei hier auch auf SICHTERMANNs akribische Bibliographie verwiesen, in der sich dann in der Textsammlung übergangene Berühmtheiten wie etwa Erich Kästner (Till Eulenspiegel; 1938) und weniger populäre Nach- und Neuerzähler finden.11

Überdies zeigt sich die zeit- wie medienunabhängige Popularität des Eulenspiegelhaften insbesondere jenseits des Kanons etablierter Autorinnen und Autoren, wenn diese in frühneuzeitlichen Schwankerzählungen, anonymen Wiedererzählungen (z. B. Leben und Thaten des jungen Till Eulenspiegels; 1796)12, Volksbüchern13 oder Auszugsanthologien sog. Hausbücher (als Humoristischer Hausschatz)14 mitberücksichtigt werden. Einem epochalen Längsschnitt der Eulenspiegel-Gestaltungen legte man heute zudem eher mediale oder publikumsbezogene Kategorien zugrunde, um das Potential von Figur und Stoff für epische, dramatische oder filmische Umsetzungen für Erwachsene und Kinder zu dokumentieren.15

Einleitend in diesen Band werden Schlaglichter auf die Unsterblichkeit einer Figur und auf genuin mit ihr verbundene Handlungs- und Motivkomplexe geworfen, um die Potentialität einer seit dem Spätmittelalter kontinuierten Erzähltradition mit Blick auf Kehlmanns Tyll auszuloten. Inwiefern sich Kehlmanns Roman gleichsam aber weniger als Wieder-, denn als originäre Anderserzählung entdecken lässt, ist die verbindende Perspektive der Beiträge dieses Bandes.

Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel: Stoffbedingte Intertextualität

Claus war von armen Eltern geboren. Er mußte als Jugendlicher Gänse hüten. […] Die Gänse […] hätten gestohlen werden können. Kurzerhand steckte er die jungen Gänse an den Hälsen unter seinen Gürtel, nahm die alte Gans unter den Arm und lief los.16

– Hans Joachim Schädlich: Narrenleben.

Der protestantische Pfarrer und Schwankdeuter Wolfgang Büttner (1522?–1596)17 gibt 1572 den Initialschwank eines natürlichen Schalks und späteren Hofnarren von den ‹erdrosselten Gänsen› am Anfang seiner Sammlung wieder: fieng eilends eine Ganß nach der andern / vnd steckte sie mit den helsen vnter den gürtel / also / das er sich vmb her gantz vnd gar mit Gensen behengt hett […] Der Hertzog ersahe den Claus […].18 Diese Schwankthematik aus dem 16. Jahrhundert, das unwillkürliche Gänsestrangulieren, wird dem Lesepublikum von Narrenromanen der Gegenwartsliteratur – wenn auch frei von missionarisch-lutherischem Eifer eines ebenso tendentiös-manipulativen Erzählers wie Büttner – bekannt vorkommen. Denn der Protagonist von Hans Joachim Schädlichs Narrenleben (2015), der Hofnarr Joseph Fröhlich, Jahrgang 1694, wird bei einer Schifffahrt vorbei an Schloss Hartenfels, der Residenz des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen, eigens darauf hingewiesen, dort habe Fröhlichs «Vorgänger Claus von Ranstädt, der Claus Narr genannt wurde»19, gewohnt. So veranlasst, gibt der Fröhlich begleitende Hofbibliothekar den Anfangsschwank aus der Biographie von Claus Narr zum Besten: Claus war von armen Eltern geboren … Schädlichs Roman einer Narrenfigur des ausgehenden 17. bzw. 18. Jahrhunderts ist auch ein Beispiel für die Intertextualitätsaffinität von Narrenliteratur – nicht nur in der Vormoderne. Dass sich Kehlmanns Tyll auch als anspielungsreiche Lektüre mit zahllosen Spuren spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Texte erweist, zudem aber seinerseits ein Paradebeispiel für Wiedererzählen als Anderserzählen ist, wird eigens fasslich, wenn zunächst einmal eine der frühesten Erzählungen von Eulenspiegel-Schwänken eingehender betrachtet wird.20

Einem der ältesten Drucke aus dem Jahre 1515 ist eine ‹Vorrede› vorangestellt, in der ein Ich Kontakt mit dem Lesepublikum aufnimmt und dies nicht ohne eigens einen Auftragstopos zu fingieren (durch etlich Personen gebetten worden; D, 7), um hierbei ebenso den Stoff seines Erzählens (Geschichten […] wie vorzeiten ein behend listiger und durchtribener, eins Buren Sun – waz er getriben und gethon; ebd.) wie sich selbst bescheidenheitstopisch ([a]ber ich wißt mich nit solicher Vernunfft und Verständniß, solichs zu volbringen; ebd.) zu charakterisieren und en passant die Utilitas – wenn schon nicht von eigener Autorschaft, so doch immerhin von so emsiger und laienhafter Sammlertätigkeit – anzugeben: Nun allein umb ein frölich Gemüt zu machen in schweren Zeiten (ebd.). Die knappe Vorrede von Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel endet mit der Aussicht auf Schwanklektüre als literarischem Zeitvertreib, geteilter Autorschaft mit dem Publikum und dem ausgestellten Sammlungscharakter der Schwänke:

Unnd bit hiemit einen jetlichen, wa mein Schrifft von Ulenspiegel zu lang oder zu kurtz sei, das er das besser, uff das ich nit Undanckt verdiene. Unnd ende damit mein Vorred und gib den Anfang Dil Ulenspiegels Geburtt mit Zulegung etlicher Fabulen des Pfaff Amis und des Pfaffen von dem Kalenberg (D, 8).21

«Nicht erwähnt» hat jedoch

der Anonymus den Umstand, daß sein Text über Strickers ‹Pfaffe Amis› (ca. 13. Jahrhundert) und Philipp Frankfurters ‹Geschicht des Pfarrers vom Kalenberg› (Erstdruck um 1473) hinaus auch noch weitere literarische Bezüge aufweist, so z. B. zu Poggios und Bebels Fazetien, zu Hans Folz’ Reimpaarerzählungen und zum italienischen Hofnarren Gonnella, dessen Streiche erstmals von Franco Sacchetti (1332–1400) aufgeschrieben worden sind; und auch die Vorrede des Anonymus stammt wohl nicht von ihm selbst, sondern lehnt sich an die Vorrede des 1493 in Augsburg gedruckten Prosaromans ‹Wigalois vom Rade› an.22

Die Schwanksammlung soll also ganz programmatisch kein Roman – bestenfalls «eine interessante Frühstufe des Prosaromans»23 – sein, womit korreliert, dass Autorschaft mitunter weniger im Wiedererzählen als im Reihen bereits bekannter Schwankepisoden anderer Autoren – wie z.B. des Stricker – aufgeht. Eulenspiegel und die Pfaffen Amis und vom Kalenberg – drei zwar ebenso intrigant-boshafte wie eben jeweils unterschiedliche Figuren und deren jeweiliges Erzählgut neuerlich zu kurzweiliger Lektüre vereinigt, deuten bereits in der Ulenspiegel-Vorrede daraufhin, dass kaum mit einer konsistent- stimmigen Protagonistenfigur – aus Bauer und Pfaffe(n) (!) – zu rechnen ist. Folglich konfligieren in der Schwanksammlung von 1515 zwei poetische Phänomene: Intertextualität und Figurenkonzeption. Dieser ‹Konflikt› ist aber andererseits auch die genuine Potentialität der Langlebigkeit der Eulenspiegel- Erzähltradition und der Unsterblichkeit ihres – im doppelten Wortsinne – ‹unsteten› Protagonisten.

Intertextuellen Verweischarakter hat der hybride Stoff per se und mithin für seine Rezeptionsgeschichte poetologisches Potential, das schließlich auf der Handlungsebene ausgestaltet werden kann. Zudem erscheint seinerseits «programmatisch gemeint», dass sich die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Eulenspiegel-Figur «allen Erwartungen entzieht»24:

Details

Seiten
230
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783034347693
ISBN (ePUB)
9783034347709
ISBN (Paperback)
9783034347662
DOI
10.3726/b21141
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Juni)
Schlagworte
Eulenspiegel Narrenliteratur Narratologie Rezeptionsgeschichte Literaturtheorie
Erschienen
Lausanne, Berlin, Bruxelles, Chennai, New York, Oxford, 2024. 230 S., 10 s/w Abb.

Biographische Angaben

Peter Glasner (Band-Herausgeber:in)

Peter Glasner lehrt und forscht als Privatdozent für Deutsche Philologie zu mittelalterlichem Erzählen, frühneuzeitlicher Manuskriptkultur und der Wirkungsgeschichte mittelalterlicher Literatur in der Germanistischen Mediävistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

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Titel: Wieder- und Anderserzählen von unsterblicher Narrheit in Daniel Kehlmanns Tyll