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Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR (1959-1990)

Akteure, Ziele und Entwicklungen

von Constanze Knitter (Autor:in)
©2023 Dissertation 456 Seiten

Zusammenfassung

Partnerschaften zwischen Frankreich und der DDR hatten vorranging einen politischen Nutzen zu erfüllen. Die SED wollte sich von der Bundesrepublik abgrenzen und die Überlegenheit des zweiten deutschen Staates demonstrieren, was in Bonn mit großer Aufmerksamkeit beobachtet wurde. Die zunehmende Öffnung gegenüber dem Westen ab Ende der 1950er Jahre brachte die DDR jedoch in eine Zwickmühle, da sie einerseits auf politische und gesellschaftliche Kontakte nach Frankreich angewiesen war, andererseits aber Angst vor westlicher Einflussnahme hatte. Diese Konstellation blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die Praxis und die Kontakte zwischen den Städten beider Länder, die geprägt waren von der ideologischen Aufladung des Kalten Krieges. Anhand von sieben Fallstudien werden in dieser Arbeit die Intentionen der französischen und ostdeutschen Akteure, deren Ziele sowie die Praktiken der Partnerschaften analysiert. Berücksichtigung findet dabei die politische Instrumentalisierung und ihre Grenzen in der kommunalen Zusammenarbeit. Erstmalig wird in dieser Studie zudem die besondere Rolle der Stasi innerhalb der Städtepartnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg beleuchtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Forschungsstand
  • 1.2 Forschungsziele und Fragestellungen
  • 1.3 Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen
  • 1.4 Aufbau der Arbeit
  • 1.5 Quellenlage
  • 2 Die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR
  • 2.1 Deutsche Zweistaatlichkeit zwischen Souveränitätsfragen und Integration in respektive Blöcke
  • 2.2 Frankreichs Politik der Nullbeziehungen und ostdeutsche Anerkennungsbestrebungen
  • 2.3 Von de Gaulles Ostpolitik bis zur offiziellen Anerkennung der DDR 1973
  • 2.4 Zwischen Zwiespalt, Wiederannäherung und Konsularvertrag
  • 2.5 Die deutsche Frage und Frankreichs Ängste Ende 
der 1980er Jahre
  • 3 Akteure der Partnerschaftsbeziehungen
  • 3.1 Institutioneller Rahmen der europäischen Partnerschaftsbewegung zwischen Europäischer Integration und Kaltem Krieg
  • 3.1.1 Kommunale Annäherung in der frühen Nachkriegszeit
  • 3.1.2 Guerre des jumelages
  • 3.1.3 Die Sektion der DDR in der Fédération mondiale des villes jumelées
  • 3.2 Parteilicher Rahmen der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften
  • 3.2.1 Das Zentralkomitee der SED und seine außenpolitischen Organe
  • 3.2.2 Das Zentralkomitee der PCF und seine außenpolitischen Organe
  • 3.3 Staatlicher Rahmen der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften
  • 3.3.1 Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR
  • 3.3.2 Der Deutsche Städte- und Gemeindetag der DDR
  • 3.3.3 Die Liga für Völkerfreundschaft und die Deutsch-französische Gesellschaft
  • 3.3.4 Der Rat des Bezirkes und der Rat der Stadt
  • 3.3.5 Das französische Außenministerium (Ministère des Affaires étrangères)
  • 3.3.6 Das französische Innenministerium, die Präfekten und die Gemeinden
  • 3.4 (Zivil-)gesellschaftlicher Rahmen der ostdeutsch-französischen Partnerschaften
  • 3.4.1 Die Échanges franco-allemands und France-RDA
  • 3.4.2 Freundschaftskomitee und Comité de jumelage
  • 4 Ziele und Praxis der Partnerschaften
  • 4.1 Intention, Entstehung und Entwicklung
  • 4.1.1 Anbahnung und Abschlüsse von offiziellen und inoffiziellen Partnerschaften
  • 4.1.1.1 Montreuil/Cottbus
  • 4.1.1.2 Longlaville/Calbe
  • 4.1.1.3 Bègles/Suhl
  • 4.1.1.4 Drancy/Eisenhüttenstadt
  • 4.1.1.5 Hagondange/Magdeburg
  • 4.1.1.6 Bobigny/Potsdam
  • 4.1.1.7 Lille/Erfurt
  • 4.1.2 Städtepartnerschaften als Sprachrohr der DDR-Außenpolitik?
  • 4.1.2.1 Freundschaftswochen und weitere Veranstaltungskonzepte
  • 4.1.2.2 Einreiseverweigerungen und Anerkennungsoffensiven bis zur diplomatischen Anerkennung
  • 4.1.2.3 Konflikte auf lokaler Ebene: Das Beispiel des Prager Frühlings
  • 4.1.2.4 Image-Pflege nach der diplomatischen 
Anerkennung
  • 4.2 Städtepartnerschaften als Multiplikatoren von Bildern und Mythen
  • 4.2.1 Gründungsmythen von PCF und SED und deren Bedeutung für die Städtepartnerschaften
  • 4.2.2 Gedenken an den Widerstand auf lokaler Ebene
  • 4.2.3 Freund- und Feindbilder des Kalten Krieges auf lokaler Ebene
  • 4.3 Städtepartnerschaften als Ort des Austausches?
  • 4.3.1 Ausgewählte Delegationsgruppen
  • 4.3.1.1 Kommunale und sozialpolitische Fragen
  • 4.3.1.2 Kinder- und Jugendliche als „Botschafter der Völkerfreundschaft“
  • 4.3.1.3 Berufsgruppen (Pädagogen, Ärzte, Handwerker) und Gewerkschafter
  • 4.3.1.4 Frauenverbände
  • 4.3.2 Wahrnehmung der französischen Teilnehmenden
  • 4.4 Städtepartnerschaften im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit
  • 4.4.1 Das MfS im Kampf gegen westliche Einflüsse
  • 4.4.2 Vorbereitung, Steuerung und Überwachung
  • 4.4.3 Der Einsatz von inoffiziellen Informanten
  • 4.4.4 Die Gefahren der deutschen-deutschen Partnerschaften
  • 5 Partnerschaften in der Wendezeit 1989/90 – Kontinuität oder Wandel?
  • 5.1 Akteure im Wandel
  • 5.2 Alte Ängste
  • 5.3 Ziele und Praxis
  • 5.4 Partnerschaften mit anderen Ländern
  • 6 Schlussbetrachtung
  • I. Abkürzungsverzeichnis
  • II. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Archivarische Quellen
  • Zeitungen und Zeitschriften
  • Gespräche
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquellen
  • Anhang: Übersicht über offizielle und inoffizielle Städtepartnerschaften und Kontakte
  • Quellenangaben zur Übersicht über offizielle und inoffizielle Städtepartnerschaften und Kontakte

1 Einleitung

Die Vertiefung dieser Freundschaft ist ein fester Bestandteil des Kampfes der Bevölkerung beider Städte um die Erhaltung des Friedens durch die Festigung der Völkerfreundschaft, des gegenseitigen Verstehens, des gegenseitigen Achtens und Anerkennens.1

Als allumfassende Staatsmacht versuchte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) auf alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens Einfluss zu nehmen. Die Städte in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren davon nicht ausgenommen, sondern sahen sich gezwungen, ihre kommunale Eigenständigkeit aufzugeben und sich den politischen Zielen und offiziellen Proklamationen der Staatsoberen zu beugen. Vor diesem Hintergrund wiesen die Städtepartnerschaften, die zwischen der DDR und Frankreich existierten, andere politische Rahmenbedingungen auf als die Partnerschaften zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Während die vielfach untersuchten westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften aus zivilgesellschaftlichen Initiativen beiderseits des Rheins und dem Willen zur Versöhnung und Verständigung entstanden2, wollten die Entscheidungsträger in der DDR, die Kommunalpartnerschaften nach Frankreich zur politischen Beeinflussung nutzen. In einem beständigen inneren Legitimationsdefizit, politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von der Sowjetunion und der „Bonner Sogwirkung“3 war die DDR-Führung bis zum Herbst 1989 davon getrieben, die Eigenständigkeit ihres Herrschaftssystems unter Beweis zu stellen. Nach der Verkündung der Hallstein-Doktrin am 22. September 1955 vor dem Deutschen Bundestag befand sich die DDR in einer diplomatischen Isolation, die Ost-Berlin über eine gezielte auswärtige Kulturpolitik zu umgehen versuchte.4 Bereits Thomas Grunert hat in seiner Dissertation Langzeitwirkungen von Städte-Partnerschaften im Jahr 1981 aufgezeigt, dass sich die Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes (ausgenommen Ungarn) in ihrer kommunalpolitischen Ausrichtung auf Westeuropa und nicht – wie angenommen – auf die Bruderstaaten konzentrierten.5 Mit Blick auf die zunehmend erfolgreichen westdeutsch-französischen Partnerschaften6 war die SED-Führung ab den Jahren 1957/58 darum bemüht, die kommunalen Kontakte nach Frankreich verstärkt als Teil ihrer Außenpolitik auszubauen.7 Die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften entstanden daher in einem Klima der innerdeutschen Konkurrenz. Im Jahr 1959 wurden schließlich – neun Jahre nach der Gründung der ersten westdeutsch-französischen Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard – die ersten fünf Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg initiiert.

Ideologische Anknüpfungspunkte fand die international isolierte DDR vor allem bei den kommunistischen Parteien Westeuropas, allen voran der Parti communiste français (PCF), die eine feste und einflussreiche Größe im französischen Parteiensystem der Nachkriegszeit darstellte. Es ist daher wenig überraschend, dass die große Mehrheit der französischen Städte, die Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg unterhielten, von kommunistischen Bürgermeistern8 regiert wurden und sich zumeist in den Hochburgen der PCF befanden. Dazu zählte der industriestarke und durch den Bergbau geprägte Norden und Osten Frankreichs und die Pariser Vorstädte des Ceinture rouge. Über die Partnerschaften und die damit verbundenen Austausche von Personen und Informationsmaterialien wollte sich die DDR als friedlicher, weltoffener und eigenständiger Staat inszenieren und eine vorzeitige diplomatische Anerkennung durch die französische Regierung erwirken.9 Während die Partnerschaften zwischen Frankreich und der Bundesrepublik als Paradebeispiele zivilgesellschaftlicher Annäherung und Aussöhnung ,von unten‘ gelten, stehen die Partnerschaften zwischen Frankreich und der DDR mit ihrem Zweck einer Außenpolitik auf Umwegen für eine Ideologisierung ,von oben‘.10

Für den Abschluss einer Städtepartnerschaft gibt es – abhängig von den beteiligten Akteuren – unterschiedliche Gründe und Motive. Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der zu verschwisternden Städten markieren bis heute ein wichtiges Kriterium für die Initiierung einer Partnerschaft.11 Bereits im Jahr 1968 unterschied Rolf-Richard Grauhan zwischen „den allgemeinen und den besonderen Gründen“, die für die Wahl einer Partnergemeinde ausschlaggebend waren. Mit ,allgemeinen Gründen‘ meinte Grauhan diejenigen, die „maßgebend waren, [um] überhaupt eine Partnerschaft mit einer Gemeinde des anderen Landes anzustreben.“ Als ,besondere Gründe‘ bezeichnete er jene, „die die Auswahl gerade der Gemeinde bestimmten, die schließlich als die Partnergemeinde gewählt wurde.“12 Die von Grauhan definierten ,besonderen Gründe‘ umfassten strukturelle (Kurort, Hafen-, Messe- oder Universitätsstadt), wirtschaftliche oder historische Gemeinsamkeiten zweier Städte.13

Wann eine kommunale Verbindung das Prädikat ,Städtepartnerschaft‘ bzw. ‚jumelage‘ tragen kann, erscheint laut den gängigen Definitionen als eindeutig. Für Hans Gerd von Lennep treten Städtepartnerschaften bzw. ,jumelages‘ nach dem „formalen Akt der Unterzeichnung offizieller Partnerschaftsurkunden durch die Bürgermeister der beteiligten Gebietskörperschaften, basierend auf einem in der Regel vorher eingeholten förmlichen Beschluß der Vertretungskörperschaften über den Abschluß einer Partnerschaft“, in Kraft.14 Die französischen Behörden definierten die offizielle Verschwisterung zweier Städte Ende der 1960er Jahre wie folgt:

Eine Städtepartnerschaft ist der feierlich geweihte Zusammenschluss einer französischen Gemeinde und einer oder mehrerer ausländischer Gemeinden, die sich per Eid dazu bekennen, einen ständigen Austausch zwischen ihnen, in allen Lebensbereichen zu entwickeln, um eine tiefe Verbindung zwischen ihren Mitbürgern zu schaffen, die auf einem besseren Verständnis beruht.15

Auch aufseiten der DDR galt eine Partnerschaft erst als ,offiziell‘, wenn beide Gemeinderäte dem Vorhaben zugestimmt hatten. Da viele französische Stadträte die Partnerschaft mit einer ostdeutschen Stadt ablehnten, mussten andere Wege zur Etablierung der kommunalen Verbindung gefunden werden. Wenn der französische Gemeinderat sein Einverständnis zur Partnerschaft verweigerte, wurde der Partnerschafts- bzw. Freundschaftsvertrag zumeist mit dem ansässigen Lokalkomitee der französischen Freundschaftsgesellschaft Échanges franco-allemands (EFA) geschlossen.16 Das französische Außenministerium unterschied dahingehend zwischen zwei Formen von ,jumelage‘ über den Eisernen Vorhang hinweg: Auf der einen Seite die offizielle Partnerschaft zwischen zwei Städten, die auf der Grundlage der Charta der Fédération mondiale des villes jumelées beruhte17, und auf der anderen Seite die Verbindung zwischen einem Lokalkomitee der prokommunistischen EFA und dem Rat der Stadt bzw. dem Freundschaftskomitee in der DDR, die einer inoffiziellen Partnerschaft entsprach.18 Für diese Form der inoffiziellen Zusammenarbeit finden sich in den Quellen auch weitere Bezeichnungen: Der Rat des Bezirkes Potsdam betitelte diese inoffiziellen Verbindungen als „Komiteebeziehungen“19, während der Quai dʼOrsay die Bezeichnung « quasi-jumelages » verwandte.20 Die vorliegende Studie wird sich der Begriffe ‚offizielle‘ und ‚inoffizielle‘ Partnerschaft bedienen.

Aufgrund dieser unterschiedlichen Definitionen gestaltet sich die genaue Bezifferung der Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg als schwieriges Unterfangen. Laut Tanja Herrmann, die im Rahmen ihrer Dissertation ein eigenes Register für deutsch-französische Partnerschaftsabschlüsse angelegt hat, wurden bis zum Mauerfall 1989 insgesamt 84 Partnerschaften zwischen französischen und ostdeutschen Kommunen geschlossen, wobei sowohl Herrmann als auch vorherige Forschungen von einer tatsächlich höheren Anzahl ausgehen.21 Die französische Freundschaftsgesellschaft EFA ging im Jahr 1966 davon aus, dass „153 französische Städte […] freundschaftliche Beziehungen zu ostdeutschen Städten [unterhielten], davon 58 offizielle Partnerschaftsbeziehungen.“22 Die Ursache für diese variierenden Angaben23 ist die uneinheitliche statistische Erfassung und Kategorisierung vonseiten der offiziellen Stellen in der DDR. Teilweise wurden jegliche Beziehungen (Partnerschaftsvertrag zwischen Gemeinderäten, Partnerschaftsvertrag zwischen ostdeutscher Gemeinde und französischem EFA-Komitee und Freundschaftskontakte ohne Vertrag) als offizielle Partnerschaft deklariert.24 Während die französischen Behörden per definitionem nur offizielle Verbindungen als ,Städtepartnerschaften‘ bzw. ,jumelages‘ registrierten, wurde bei den ostdeutschen Behörden jegliche Form der Kooperation als ,Städtepartnerschaft‘ erfasst.25

Die erschwerte Festschreibung einer Definition und die unterschiedlichen Statistiken lassen bereits erahnen, dass die ostdeutsch-französischen Partnerschaften andere Rahmenbedingungen aufwiesen als die westdeutsch-französischen. Das Eingangszitat verdeutlicht einmal mehr, dass die Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg in einer anderen politisch-ideologischen Wertegemeinschaft angesiedelt waren als die westdeutsch-französischen. Während im westlichen Staatengefüge die partnerschaftliche Verständigung über Einigung und europäische Integration verlief, wurden die sozialistischen Staaten über die Idee der Völkerfreundschaft, vor allem im Bekenntnis zur Sowjetunion, zusammengehalten. Die Konzepte von Völkerfreundschaft und internationaler Solidarität markierten den ideologischen Unterbau, der die Kohäsion der sozialistischen Staaten garantieren sollte.26 Vor allem in der DDR und in ihren Beziehungen zu anderen Staaten kam der internationalen Völkerfreundschaft eine allumfassende Relevanz zu.

Gleichzeit müssen die Kommunalpartnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg als Teil jener Dreiecksbeziehung zwischen den zwei Deutschlands und Frankreich verstanden werden.27 Die deutsch-deutschen Beziehungen nach 1945 lassen sich durch eine grundsätzliche Ambivalenz charakterisieren, die sich in „Trennung und Gemeinsamkeit“ und in „Verflechtung in der Abgrenzung“ niederschlug.28 Trotz aller Abgrenzungsbestrebungen, Polemiken und gesellschaftlichen und politischen Unterschiede verband beide deutsche Staaten unweigerlich dieselbe Sprache, Geschichte, Kultur und Mentalität. Beide standen nach Kriegsende vor denselben Herausforderungen: der Besatzungszeit, dem Wiederaufbau und dem Erbe der nationalsozialistischen (NS) Diktatur. Beziehungsgeschichtlich blieben beide deutsche Staaten trotz ihrer Abgrenzungsbemühungen miteinander verwoben.29 Im vierzigjährigen Bestehen der DDR war die Bundesrepublik ihr beständiges Feind- und Vorbild, wobei letzteres weitaus mehr Faszination auf die Führung und die Bevölkerung in der DDR ausübte als umgekehrt.30

Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren – eine zentralstaatliche Politisierung der Partnerschaften durch die SED-Führung, eine kommunistische Ausrichtung der französischen Akteure und eine Eingliederung in ein trianguläres Beziehungsgeflecht – erlauben es die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften, andere Fragestellungen zu den Zielen und zur Praxis der kommunalen Beziehungen zu stellen als es die westdeutsch-französischen vermögen. Die vorliegende Studie setzt daher den Fokus auf die Besonderheiten und die Charakteristika der ostdeutsch-französischen Partnerschaften.

1.1 Forschungsstand

Auch wenn es bereits in der Zwischenkriegszeit erste Bemühungen und Beispiele für Städteverschwisterungen gab, markiert die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Blütezeit der kommunalen Verschwisterungen, allen voran der deutsch-französischen, die heute auf ein Netzwerk von über 2.200 Partnerschaften angewachsen sind. Hans Manfred Bock betitelte sie deshalb als „die erfolgreichste Form der deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen in der Nachkriegszeit.“31

Erste Thematisierungen der Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR lassen sich vor dem Fall des Eisernen Vorhangs ausschließlich in politikwissenschaftlichen Untersuchungen verorten.32 Dass Städtepartnerschaft als Untersuchungsgegenstand erst in anderen Fachdisziplinen wie der Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft oder der Theologie Beachtung fanden, bevor sie sich als historiografisches Forschungsobjekt etablierten, ist ein generelles Phänomen und trifft auch auf die Partnerschaften zwischen Frankreich und der Bundesrepublik33 sowie zwischen der Bundesrepublik und Osteuropa34 zu. Für diese Entwicklung lassen sich zweierlei Gründe anführen. Der erste ist die verspätete Wahrnehmung von Städtepartnerschaften als historiografisches Analyseobjekt, die erst ab den 1990er Jahren einsetzte. Corine Defrance und Tanja Herrmann führen die „bestehenden Archivsperren, die nicht zwangsläufige Komptabilität von kommunalen und europäischen Forschungsinteressen sowie die Komplexität der Quellenlage“ als Erklärung für das verzögerte Forschungsinteresse der Historiker an.35 Den Grundstein für die historische Untersuchung von Städtepartnerschaften legte Cécile Chombard-Gaudin mit ihrem Aufruf, kommunale Partnerschaften häufiger als Analyseobjekte in die geisteswissenschaftliche Forschung zu integrieren.36 Im Verlauf der 1990er Jahre und seit den 2000er Jahren nahm das geschichtswissenschaftliche Interesse an den kommunalen Beziehungen stetig zu37, wobei sich die Untersuchungen vermehrt auf Partnerschaften in Westeuropa, allen voran auf die deutsch-französischen konzentrieren.38 Der im Jahr 2020 von Corine Defrance, Tanja Herrmann und Pia Nordblom herausgegebene Sammelband Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert und die daran enthaltenen Beiträge verdeutlichen, dass Städtepartnerschaften es ermöglichen, neue Fragen an die europäische Geschichte zu stellen.39

Auch wenn die Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg bereits vor Chombard-Gaudins Aufruf vereinzelt Bestandteil wissenschaftlicher Betrachtungen waren, fungierte die Öffnung der ostdeutschen Archive nach 1990 als Katalysator für die historische Analyse der ostdeutsch-französischen Partnerschaften. Der sich den Historikern neu erschließende Aktenzugang führte sowohl in Deutschland als auch, in einem nicht unerheblichen Maße, in Frankreich zu einem Zuwachs der DDR-Forschung40, auch wenn es bereits vor dem Mauerfall Vertreter einer französischen Deutschlandforschung gab.41 Seit Ende der 1990er Jahre fanden zudem vermehrt Studien zu den transnationalen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR Eingang in die Kultur- und Geschichtswissenschaften.42 In seiner 2004 veröffentlichten Habilitation Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen gab Ulrich Pfeil dem Forschungsthema erste Konturen, indem er eine umfassende Gesamtdarstellung über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interaktionen beider Länder vorlegte.43 Auch Christian Wenkel betrachtete in seiner Dissertation Auf der Suche nach einem „anderen Deutschland“ die Perzeption der DDR in der französischen Politik und Gesellschaft und stellte die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kooperationen zwischen Frankreich und dem zweiten deutschen Staat in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen.44 Sowohl Pfeil als auch Wenkel widmeten sich in den entsprechenden Unterkapiteln dem Phänomen der Städtepartnerschaften.45

Mit der Dynamik des ansteigenden Forschungsinteresses für Städtepartnerschaften auf der einen und für die bilateralen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR auf der anderen Seite konnten Studien zu den Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg ebenfalls einen Anstieg verbuchen.46 Gleichzeitig geriet die Rolle und Aufgabe von lokalen Entitäten als politische Akteure immer stärker in das geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsinteresse.47 In Bezug auf die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften lag der Fokus vorrangig auf den Kommunen als Mittel einer auswärtigen Kulturpolitik und einer Anerkennungspolitik auf Umwegen.48 In den letzten Jahren erschienen zudem vermehrt Arbeiten zu spezifischen Aspekten der Partnerschaften wie dem Jugendaustausch49, der kommunistischen Erinnerung50 sowie Fallstudien zum Verlauf und zur Praxis einzelner Partnerschaften, wie die Arbeiten von Regina Gerber, Hélène Simoneau, Ulrich Pfeil, William Richier und Thomas Höpel verdeutlichen.51 Lucie Filipová wandte sich in ihrem Werk Erfüllte Hoffnung, das anhand von fünf Fallstudien fünf Dekaden der städtepartnerschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland und den Einfluss der staatlichen Beziehungen auf die Partnerschaften untersucht, mit Calais/Wismar ebenfalls einer ostdeutsch-französischen Verbindung zu.52 Tanja Herrmann betrachtete in ihrer Studie zum zweiten deutsch-französischen Städtepartnerschaftsboom (1985-1994) ebenso vier ostdeutsch-französische Partnerschaften, die jedoch erst nach dem Mauerfall vertraglich besiegelt wurden.53 Neben der Analyse einzelner Partnerschaften nahmen Untersuchungen zu den staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren der Partnerschaften wie zur Freundschaftsgesellschaft Échanges franco-allemands (EFA)54, zur Fédération mondiale des villes jumelées (FMVJ)55 und zum Deutschen Städte- und Gemeindetag der DDR (DSGT)56 gleichermaßen zu. In den vergangenen Jahren konnten sich Städtepartnerschaften und das Wirken von Freundschaftsgesellschaften in der Zeit des Kalten Krieges somit verstärkt als historische Forschungsobjekte etablieren. Dabei kann innerhalb dieses Forschungsaspekts zwischen blockinternen Kooperationen, wie die Dissertation von Markus Pieper verdeutlicht57, blockübergreifenden Verbindungen58 und trilateralen Ansätzen, wie die von Jürgen Dierkes vorgelegte Dissertation illustriert59, differenziert werden. Eine Besonderheit der Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg und damit ein weiteres Forschungsfeld, das seine Konjunktur in der Wendezeit hatte, stellen die deutsch-deutschen Partnerschaften60 dar, die bis zum Mauerfall 1989 auf 98 angewachsen waren.61

1.2 Forschungsziele und Fragestellungen

Trotz eines zunehmenden Forschungsinteresses für Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg und mehrerer Fallstudien eröffnen sich den Historikern noch einige Forschungsdesiderate in diesem relativ jungen Wissenschaftsfeld. So fehlt es an einer systematischen und chronologischen Untersuchung von mehr als zwei oder drei ostdeutsch-französischen Partnerschaften in der Longue durée. Die vorliegende Arbeit setzt sich deshalb zum Ziel, sieben Fallstudien von ostdeutsch-französischen Partnerschaften, die zwischen 1959 und dem Mauerfall im Jahr 1989 geschlossen wurden, intensiv in ihren Zielstellungen und ihrer praktischen Umsetzung zu beleuchten. Der Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf Kontinuitäten, Zäsuren, Parallelen sowie Unterschieden in der Partnerschaftsentwicklung. Die Analyse von sieben Städtepartnerschaften62 liefert eine Vergleichsbasis, um allgemeingültige Aussagen über die partnerschaftliche Entwicklung zu treffen und Spezifika einzelner Partnerschaften herauszustellen. Ein weiteres Ziel der Studie ist es, zu klären, wie „durchherrscht“63 die Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg waren und wann die Akteure der Partnerschaften an ihre politischen und ideologischen Grenzen gerieten.64 Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka sprach sich im Jahr 2016 dafür aus, die „DDR-Geschichte stärker als bisher in die grenzüberschreitenden, transregionalen und transnationalen Diskurse, Forschungsprojekte und Darstellungen“65 einzugliedern. Diesem Ansatz fühlt sich die vorliegende Untersuchung verpflichtet.

Vorherige Studien haben aufgezeigt, dass die ostdeutsch-französischen Partnerschaften vordergründig für die politischen Zwecke der SED-Führung, allen voran der verfrühten diplomatischen Anerkennung durch die französische Regierung genutzt wurden. Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Erkenntnis an und untersucht intensiv, wie die DDR-Führung versuchte, das Bild des ,besseren‘ Deutschlands in die französischen Partnerschaften zu implementieren. Interessenpolitisch befand sich die SED-Führung in Bezug auf die Städtepartnerschaften in einer grundsätzlichen Ambivalenz, da sie einerseits auf politische und gesellschaftliche Kontakte zum Westen angewiesen war, andererseits aber die westliche Einflussnahme bzw. eine feindliche Unterwanderung fürchtete. Dem Ausmaß der persönlichen Kontakte innerhalb der Partnerschaften und der Wahrnehmung und Kritik vonseiten der Organisatoren und Teilnehmenden wurde in der Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt. Es wird deshalb gefragt, inwiefern die französischen Kommunen, die außenpolitischen Bemühungen der DDR-Führung mittrugen und wie das Bild des ,besseren Deutschlands‘, welches die DDR-Führung zu transportieren versuchte, von den französischen Teilnehmenden rezipiert wurde. Da die Studie von einer Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs ausgeht, der in „limitiert[er], politisch kontrolliert[er] und ideologisch reglementiert[er]“ Weise, den „Austausch von Personen und Ideen“66 zuließ, richtet sich das Erkenntnisinteresse insbesondere auf die Frage, wie der Austausch und die Realität der Kontakte von Bürgern aus zwei Ländern aussahen, die sich im Kontext des Kalten Krieges feindlich gegenüberstanden. Gab es persönliche Kontakte fernab der Ideologie? Inwiefern behinderte die ideologische Aufladung der Partnerschaften die Kontakte zwischen den Teilnehmenden? Wann traten Teilnehmende miteinander in Kontakt und wann wurden diese Kontakte bzw. die Annäherung zwischen ostdeutschen und französischen Teilnehmenden zu einer Gefahr für die Regierungen in Paris und Ost-Berlin? Boten die Partnerschaften ferner die Möglichkeit für subversive und oppositionelle Handlungen gegen das SED-Herrschaftssystem? Die vorliegende Untersuchung will Antworten auf diese Fragen finden.

Ein anderes Forschungsdefizit, welches die Studie schließen möchte, ist eine umfassende Analyse von Rolle, Einfluss und Intentionen der staatlichen, parteilichen und (zivil-)gesellschaftlichen Akteure in Frankreich und in der DDR. Die Untersuchung der Akteure erlaubt es, das politische Ausmaß der Partnerschaften und die Entscheidungsmechanismen in der DDR und in Frankreich nachzuzeichnen und diese zu kontrastieren: Wer entschied in der DDR und in Frankreich über die Aufnahme, die Aufkündigung und die Durchführung der Partnerschaften? Welche Rolle spielten staatliche, parteiliche und (zivil-)gesellschaftliche Akteure in den Partnerschaften und wie beeinflussten sie diese? Dabei wird zu erläutern sein, inwiefern man von einem zivilgesellschaftlichen Engagement in den ostdeutsch-französischen Partnerschaften sprechen kann. Mit welchen Hoffnungen und Intentionen gingen die französischen Bürgermeister eine Partnerschaft mit einer Stadt in der DDR ein? Ein besonderer Fokus soll dabei auf der Vergangenheit der französischen und ostdeutschen Bürgermeister gelegt werden, die aufgrund ihrer kommunistischen Überzeugung ähnliche Erfahrungen in Widerstand, Deportation und Verfolgung hatten durchleben müssen. In welcher Hinsicht markierten diese Erlebnisse aus der Kriegszeit Anknüpfungspunkte für die partnerschaftliche Zusammenarbeit? Des Weiteren wird zu fragen sein, inwiefern diese Berührungspunkte durch Mythen des Kommunismus und durch die Verwendung von Freund- und Feindbildern verstärkt wurden. Auch darauf soll eine Antwort gefunden werden. Erstmalig wird diese Studie zudem umfassend die Rolle und den Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf die Städtepartnerschaften untersuchen. Dabei wird zu klären sein, ob die Partnerschaften einen Schauplatz für geheim- und nachrichtendienstliche Tätigkeiten boten.

Und schließlich wird hier auch nach der Entwicklung der Partnerschaften in der Wendezeit gefragt. Bislang gibt es zwar Analysen zu den Partnerschaften zwischen Frankreich und ostdeutschen Städten in den 1990er Jahren67, eine Untersuchung über den Wandel und die Kontinuitäten in der Wendezeit hinweg steht jedoch noch aus. Deshalb wird untersucht, wie sich die politischen Veränderungen der Wendezeit auf Akteure, Ziele und Praxis der Partnerschaften über den einstigen Eisernen Vorhang auswirkten.

Die Forschungsziele und Fragestellungen verdeutlichen, dass das Thema der vorliegenden Studie in breitere Kontexte einzuordnen ist: Neben dem Kalten Krieg68 und den deutsch-französischen Beziehungen69 als Handlungsrahmen verspricht die Analyse von Städtepartnerschaften Rückschlüsse auf Herrschaftspraktiken in ihren jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus erlaubt die ,dichte Erzählung‘ aus staatlicher, parteilicher, kommunaler und persönlicher Sicht neue Erkenntnisse über die Bedeutung von Eigen-, Fremd- und Feindbildern im Kalten Krieg. Die vorliegende Studie vermag es, die Entwicklungen der Partnerschaften mit den politischen Konjunkturen des Kalten Krieges abzugleichen und eine Chronologie des Kalten Krieges aus alltagshistorischer Perspektive zu präsentieren.

1.3 Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen

Die vorliegende Studie ist eine quellengestützte Untersuchung, die sich in erster Linie der historischen Methode verschreibt. Auf Grundlage der obigen Fragestellungen wurden in ausgewählten staatlichen Archiven in Deutschland und Frankreich Primärquellen eingesehen, um sie anschließend, unter Berücksichtigung der Quellenkritik, auszuwerten und Rückschlüsse auf Konjunkturen, Praktiken und Abläufe der Partnerschaften sowie auf die Intentionen der Akteure treffen zu können.

Die Untersuchung setzt voraus, dass die DDR-Gesellschaft nicht von der Parteidiktatur gelähmt war, sondern sich durch eine Komplexität aus gesellschaftlicher Angepasstheit charakterisieren lässt, wie Mary Fulbrook sie definierte.70 Auch Thomas Lindenberger plädierte dafür, die „Gesellschaft in der DDR“ nicht als „abgestorben oder stillgelegt“ anzusehen, sondern „vor allem [als] begrenzt.“71 Die DDR war zum einen physisch begrenzt durch die von Grenzsoldaten bewachte Mauer und zum anderen im „Innern“ durch „zahlreiche andere, unsichtbare Grenzen, von denen dennoch jeder DDR-Bürger wußte“.72 Aufgrund dieser staatlichen Beschränkungen erweist es sich als schwierig von einer zivilgesellschaftlichen Einbindung der DDR-Bewohner in die ostdeutsch-französischen Partnerschaften zu sprechen. Die Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg zeichneten sich durch eine Unilateralität im Personenverkehr und im Ideenfluss aus, die vor allem von der SED-Führung gewollt war und bestimmt wurde. Da eine wechselseitige Beeinflussung, eine beziehungsgeschichtliche Verflechtung und ein gesamtgesellschaftlicher Kultur- und Ideentransfer, wie man sie eher in den westdeutsch-französischen Partnerschaften antrifft, nicht gegeben waren, dienen die Überlegungen zur Transfergeschichte73, weder der Kulturtransfer74 noch die Histoire croisée75, als geeignete Methode für die Analyse. Zwar wird die Studie die Perzeption und Wahrnehmung von französischen Teilnehmenden thematisieren, jedoch lediglich in eine Richtung, ausgehend von der DDR. Es wäre wenig förderlich, die politische Einflussnahme, welche die SED-Führung zu steuern versuchte, methodisch als Transferleistung zu verorten. Die Analyse legt den Fokus vor allem auf die Realität der Kontakte in den Partnerschaften und auf das Verhalten der involvierten Akteure. Daher bedarf es eines anderen Konzepts, um die Handlungsweisen der Bewohner des zweiten deutschen Staates im Rahmen der Partnerschaften zu untersuchen.

Zur Deutung der individuellen und subjektiven Handlungsmöglichkeiten im Herrschaftsalltag der DDR wird die Studie den von Alf Lüdtke Anfang der 1990er Jahre erstmals aufgebrachten Begriff des ,Eigen-Sinns‘ verwenden, der unterschiedliche theoretische Auslegungen und Bedeutungen zulässt.76 Bereits vor Lüdtkes alltagsgeschichtlicher Analyse sind Elemente des von ihm aufgebrachten Konzepts des ,Eigen-Sinns‘, der sowohl mit als auch ohne Bindestrich seine Bedeutung behält, in anderen historisch-anthropologischen Schriften anzutreffen. So geschehen bei Christian Garves Veröffentlichung aus dem Jahr 1790 über das Verhältnis der schlesischen Landbevölkerung zu den Gutsherren77 und bei Paul Göhres Berichten über seine Arbeit in einem Berliner Großbetrieb kurz vor der Jahrhundertwende.78 Der Begriff des ,Eigen-Sinns‘ bietet sich als theoretisches Konzept an, um, „individuelle Verhaltensweisen und Handlungen in ihrer Bedeutung für Macht und Herrschaft, für Unterwerfung und Aufbegehren, für Mitmachen, Widerstehen oder Aussteigen“ zu untersuchen.79

Die Theorie des ,Eigen-Sinns‘ bietet, dank verschiedener Deutungskonzepte, die Möglichkeit, unterschiedliche Herrschaftsstrukturen zu untersuchen. Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes und den sich daraus anschließenden Archivöffnungen, fand der Begriff unter Thomas Lindenberger Anwendung, um die Herrschaftspraktiken der DDR zu analysieren. Laut Lindenberger soll ,Eigen-Sinn‘ „die potentielle Mehrdeutigkeit von Haltungen und Handlungen erschließen […]; genaugenommen geht es […] um die ,Eigen-Sinne‘ der in der DDR lebenden Menschen.“80 Da das menschliche Verhalten generell und somit auch das ,eigen-sinnige‘ von Komplexität und Ambivalenzen geprägt ist, lässt es sich laut Lindenberger durch eine Mehrdimensionalität charakterisieren:

Der Begriff des ,Eigen-Sinns‘ zielt auf den deutenden und sinnproduzierenden Aspekt individuellen wie kollektiven Handelns in sozialen Beziehungen. Er soll die potentielle Mehrdeutigkeit von Haltungen und Handlungen erschließen und ist gewissermaßen im Plural zu denken; genaugenommen geht es hier um die ,Eigen-Sinne‘ der in der DDR lebenden Menschen. Das Spektrum der als ,eigen-sinnig‘ zu charakterisierenden Verhaltensweisen und Motive ist daher breit angelegt. Es reicht vom Übereifer der glühenden Idealisten und der egoistischen Nutzung der Möglichkeiten einer aktiven Mitarbeit über äußerlich loyales, aber innerlich distanziertes Verhalten bis hin zu passiven Formen der Verweigerung, zu offener Dissidenz und Gegenwehr.81

,Eigen-Sinn‘ ist jedoch nicht mit ,Widerstand‘ oder ,Opposition‘ gegen das politische System gleichzusetzen, sondern beschreibt die individuelle Anpassungsbereitschaft und Partizipation in „ideologisch definierte[n]“ Gesellschaftsordnungen wie in der DDR.82 Laut Lindenberger dient ,Eigen-Sinn‘ vielmehr dazu, „das Ausbleiben von Widerstand und offener Auflehnung nachzuvollziehen.“83 Herrschaft und ,Eigen-Sinn‘ sollen jedoch nicht als konträre Konzepte verstanden werden, die voneinander abhängig sind und sich gegenseitig bedienen. ,Eigen-Sinn‘ erlaubt vielmehr, folgende Unterscheidung zu treffen:

Der herrschaftlich intendierte und meist ideologisch definierte Sinn von Ordnungen, erzwungenen Verhaltensweisen und Verboten ist eine Sache. Die je eigene Bedeutung, die Individuen in ihre Beteiligungen an diesen Ordnungen und Handlungen hineinlegen, ist eine andere.84

Laut Lindenberger „kann“ ,Eigen-Sinn‘ in Widerstand gegen staatliche Beschlüsse enden; er dient aber auch dazu, die „gezielte[] Nutzung und damit Reproduktion herrschaftskonformer Handlungsweisen zu beobachten“.85 Da das Konzept eng mit der individuellen Herrschaftsauslegung verbunden ist, bietet sich ein alltagsgeschichtlicher Forschungsansatz zur „Rekonstruktionen von alltäglichen Kollusionen und Konflikten, aber auch [zur] Entfremdung und Dissens zwischen Parteiherrschaft und Werktätigen“ an.86 Des Weiteren eröffnet es neue Forschungsfragen zur Untersuchung individueller Handlungsmuster aus historischer, kulturwissenschaftlicher und soziologischer Sicht. Die Kulturwissenschaftlerin Dorothee Röseberg bedient sich des Konzepts, um die Frankreichvorstellungen von DDR-Bürgern, beispielsweise Französischlehrenden, zu analysieren.87 In Daniel Fischers Dissertationsschrift findet es Verwendung, um den stadtbürgerlichen Eigensinn von DDR-Kommunen am Beispiel von Stadtfesten und Jubiläen zu hinterfragen.88

Methodisch folgt die vorliegende Untersuchung dem Ansatz der Alltagsgeschichte, die auf die „schrittweise Rekonstruktion des Handelns und Verhaltens, des Deutens und Fühlens der Menschen“ abzielt.89 Alltagsgeschichte rückt die Eigentümlichkeiten des partnerschaftlichen Austausches, die individuellen Perzeptionen der daran beteiligten Akteure und die soziale Praxis in der Fokus der Analyse.90 Des Weiteren erlaubt Alltagsgeschichte und der Blick auf einzelne Städtepartnerschaften „Vergleiche neuen Typs – Vergleiche ,von unten herauf‘“ anzustellen.91 Alltagsgeschichte ermöglicht es somit, eine Geschichte des Kalten Krieges ,von unten‘ zu schreiben, wie sie auch Philippe Buton, Olivier Büttner und Michel Hastings als Herausgeber des Sammelbandes La Guerre froide vue d’en bas einforderten: „Ziel ist es, die Topografie des Kalten Krieges neu zu denken, indem sie mit subnationalen territorialen Dynamiken konfrontiert wird, weit weg von den diplomatischen Arenen, aber nahe am alltäglichen Theater sozialer Interaktionen.“92

Um den Forschungsansatz ,von unten‘ zu verfolgen und um einen Gesamtüberblick über die kommunalen Partnerschaften in einem Zeitraum von 30 Jahren zu erhalten, wurden sieben Städtepartnerschaften, die zwischen 1959 und 1989 geschlossen wurden, analysiert. Die Chronologie war das maßgebliche Auswahlkriterium für die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus. Ein fortlaufendes Vorgehen erlaubt es, Partnerschaftsbeispiele aus allen Zeitabschnitten der DDR zu diskutieren.

Die Zeitspanne von 1959 bis 1972 markiert die Hochzeit der ostdeutsch-französischen Partnerschaften. Mit der Zielsetzung, eine diplomatische Anerkennung auf Umwegen zu erreichen, lassen sich zu Beginn des Jahres 1972 141 partnerschaftliche Beziehungen und Kontakte zwischen französischen und ostdeutschen Städten verzeichnen.93 Mit Montreuil/Cottbus (gegründet 1959), Longlaville/Calbe (gegründet 1960), Bègles/Suhl (gegründet 1962) und Drancy/Eisenhüttenstadt (gegründet 1963) wurden vier Vertreter dieser Blütezeit untersucht. Die vier Fallbeispiele repräsentieren somit zum einen die Hochphase quantitativ und erlauben es, zum anderen, die Entwicklungen der Partnerschaften in der Longue durée zu betrachten. Montreuil/Cottbus wurde in den Korpus aufgenommen, da es eine der ersten fünf ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften war, die im Jahr 1959 aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der DDR geschlossen wurden.94 Der Fall Longlaville/Calbe wurde ausgewählt, da es in der Forschung noch keine Studien zu dieser Partnerschaft gibt, obwohl sie regelmäßig in den Sekundär- und in den Primärquellen Erwähnung findet. Mit Drancy/Eisenhüttenstadt wurde eine Verbindung untersucht, die auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag, da beiden Städten bis heute eine herausgehobene politische und gesellschaftliche Relevanz in ihren nationalen Kontexten zukommt. Drancy ist als Ort des größten Sammel- und Durchgangslagers für die in Frankreich lebenden Juden als Schauplatz des Schreckens und als ,Vorhof des Todes‘ ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Eisenhüttenstadt wiederum war die erste neugegründete Stadt in der DDR und stand symbolisch für den Aufbruch in eine neue und sozialistische Gesellschaftsordnung.95 In keiner anderen Partnerschaft war die Anbahnung so starken Polemiken ausgesetzt wie in diesem Fallbeispiel. An der entsprechenden Stelle wird die Arbeit genauer auf die Auseinandersetzungen um die Partnerschaftsanbahnung eingehen. Auch wenn sich die Hochburgen der PCF vornehmlich im Pariser Ceinture rouge und im Norden und Osten Frankreichs befanden, schloss dies nicht aus, dass kommunistisch regierte Städte anderer französischer Regionen beispielsweise der Region Rhône-Alpes Partnerschaften mit DDR-Kommunen abschlossen.96 Um eine frühe Partnerschaft zu betrachten, die außerhalb der Hochburgen der PCF lag, wurde exemplarisch die Verbindung zwischen Bègles, ein kommunistisch regierter Vorort von Bordeaux, und der thüringischen Stadt Suhl untersucht.97 Letztere war in der DDR ein wichtiger Standort für die Fahrzeugherstellung.

Der Zeitabschnitt nach der diplomatischen Anerkennung der DDR durch Frankreich 1973 stellt eine weitere Phase der Partnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg dar, die vor allem bei den französischen Partnern mit neuen Hoffnungen auf stärkeren beidseitigen Austausch aufgeladen war. Im Vergleich zur Hochphase mit 141 (offiziellen und inoffiziellen) Verbindungen wurden zwischen 1973 und 1989 lediglich 13 offizielle und inoffizielle Partnerschaften geschlossen.98 Der Fall Bobigny/Potsdam (gegründet 1974) steht stellvertretend für eine der ersten Partnerschaften nach der diplomatischen Anerkennung. Die Verbindung hat die Besonderheit, dass Bobigny vor der Verschwisterung mit Potsdam seit 1964 eine Partnerschaft mit dem sächsischen Glashütte unterhielt, die zugunsten der Partnerschaft mit Potsdam beendet wurde. Potsdam wiederum verfügte seit Mitte der 1960er Jahre über inoffizielle Kontakte zu Rouen (Normandie). Das Fallbeispiel erlaubt es, mehrere Verbindungskonstellationen, deren Interaktionen und die Aufkündigung einer Partnerschaft zu untersuchen sowie die Unterschiede zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen herauszuarbeiten. Mit Hagondange/Magdeburg (MD) soll eine weitere inoffizielle Partnerschaft analysiert werden, die im Verlauf des Untersuchungszeitraums (1959-1990) und auch nach der Wende nicht in eine offizielle Verbindung umgewandelt wurde. Eine Besonderheit dieser Partnerschaft ist, dass Magdeburg bzw. Magdeburger Stadtviertel mehrere inoffizielle Partnerschaften und Kontakte zu französischen Städten, u. a. zu Talange und Metz unterhielten.99 Eine weitere Eigenart des Falls Hagondange/Magdeburg war das quantitative Ungleichgewicht hinsichtlich der Einwohnerzahl und der Wirtschaftsstärke, auch wenn beide Städte Standorte der Stahlproduktion waren.100 Die Studie ist um chronologische Kontinuität bemüht, indem mit Montreuil/Cottbus eine der ersten ostdeutsch-französischen Partnerschaften und mit Lille/Erfurt (gegründet 1988) die letzte Partnerschaft, die vor dem Fall der Berliner Mauer vertraglich besiegelt wurde, untersucht wird. Der Fall Lille/Erfurt weist zudem zwei Besonderheiten auf. Zum einen wurde der Partnerschaftsvertrag erst im Jahr 1988 unterzeichnet, obwohl bereits seit Beginn der 1960er Jahre freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Städten bestanden. Zum anderen war Lille eine der wenigen sozialistisch regierten Städte, die eine Partnerschaft mit einer ostdeutschen Stadt eingingen. Da Städtepartnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg grundsätzlich ähnliche bis identische Charakteristika aufwiesen, erlaubt es die Untersuchung von sieben Städtepartnerschaften, generelle Aussagen – im Sinne des pars pro toto – über die kommunalen Partnerschaften zwischen Frankreich und der DDR zu treffen.

1.4 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Studie gliedert sich in drei thematische Schwerpunktsetzungen – Akteure, Praxis und Ziele sowie die Wendezeit 1989/90 – wobei jedes Kapitel bzw. Unterkapitel chronologisch geordnet ist. Die Arbeit analysiert die großen Entwicklungslinien, Konjunkturen und Konflikte der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften anhand der sieben vorgestellten Einzelfälle. Das zweite Kapitel liefert einen chronologischen Überblick über die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR von 1949 bis 1989 und ist somit als Grundlagenkapitel und als Hinführung zur Studie zu verstehen. Ausgehend von einer deutschen Zweistaatlichkeit und einer ausgeprägten Blockkonfrontation werden die Bemühungen der SED-Führung um offizielle Kontakte zur französischen Regierung und die Deutschlandpolitik Frankreichs über vier Jahrzehnte vorgestellt. Das Kapitel legt den Schwerpunkt auf die Konjunkturen, Herausforderungen, Chancen und Charakteristiken der Zusammenarbeit zwischen Paris und Ost-Berlin.

Kapitel drei wendet sich den parteilichen, staatlichen und (zivil-)gesellschaftlichen Akteuren der Partnerschaften zu. Bevor die einzelnen Beteiligten, deren Vernetzungen und Kooperationen untereinander sowie deren Einfluss auf die Partnerschaften untersucht werden, wird der institutionelle Rahmen der europäischen Partnerschaftsbewegung in der Nachkriegszeit im Spannungsgefüge des beginnenden Kalten Krieges beleuchtet. Der Fokus des Kapitels liegt auf den parteilichen und staatlichen Kontrollmechanismen, die in den Partnerschaften zur Anwendung kamen und fragt ferner, ob der Begriff der Zivilgesellschaft auf die Kommunalpartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR, Verwendung finden kann.

Das vierte Kapitel macht den größten Umfang der vorliegenden Studie aus, da es die Ziele und die Praxis der Partnerschaften untersucht. In einem ersten Schritt wird auf die Intentionen, die Entstehungsgeschichten und die Entwicklungen der Partnerschaften eingegangen. Dabei wird für jedes Fallbeispiel der Weg der Anbahnung dargelegt. Das Vorgehen erlaubt einen umfassenden Blick auf die Interessengegensätze zwischen den kommunalen, den staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Da die Anbahnung zwischen Drancy und Eisenhüttenstadt in Frankreich eine landesweite Polemik auslöste, soll auf diesen Fall detaillierter eingegangen werden. Anschließend wird beleuchtet, inwiefern die Partnerschaften zur Wiedergabe der außenpolitischen Bestrebungen der DDR-Führung genutzt wurden, ob dieser Weg ,von unten‘ von Erfolg gekrönt war und wann es zu Konfrontationen zwischen den kommunalen Partnern kam. Am Beispiel des Prager Frühlings soll untersucht werden, wie sich parteiliche Gegensätze zwischen der SED und PCF auf lokaler Ebene niederschlugen. Da sich die DDR als friedlicher, weltoffener und eigenständiger Staat darstellen und eine vorzeitige diplomatische Anerkennung durch die französische Regierung erwirken wollte, widmet sich das zweite Unterkapitel der Vermittlung und Implementierung von Mythen, Selbst-, Freund- und Feindbildern auf lokaler Ebene. Den Mittelpunkt der Analyse bilden die Mythen des Kommunismus, die sowohl von der SED und als auch von der PCF vermittelt wurden. In einem dritten Schritt wird gefragt, inwiefern Partnerschaften als Ort von Austausch, Verständigung und Annäherung fungierten. Welche gesellschaftlichen Gruppen und Vereine wurden zusammengebracht und welche Themen standen im Mittelpunkt der Zusammenkünfte? Zur Klärung dieser Fragen betrachtet das Unterkapitel die Formen und Entwicklungen des personellen und thematischen Austausches. Es führt die Analyse anhand einer repräsentativen Auswahl von Delegationen durch, wobei ein gesonderter Blick auf den Kinder- und Jugendaustausch fällt, da Kinder und Jugendliche quantitativ die größte Teilnehmergruppe ausmachten.

Wo Menschen zusammenkamen, bestand auch stets die Möglichkeit zu persönlichen Kontakten zwischen den Teilnehmenden. Da die Partnerschaften eine direkte Verbindung zum westlichen Ausland darstellten, befand sich die DDR-Führung in einem stetigen Interessenkonflikt zwischen Nutzen und Gefahren der Partnerschaften. Das vierte Unterkapitel wird daher die Involvierung des MfS auf die Partnerschaften genauer untersuchen. Obwohl das MfS ebenso ein staatlicher Akteur wie das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) war, soll mit Blick auf den sachsystematischen Zusammenhang der Einfluss des MfS auf die Partnerschaften im Kapitel „Ziele und Praxis“ thematisiert werden. Dafür sollen Steuerungs- und Beobachtungsmethoden des „Mielke-Konzerns“101 im Rahmen der Kommunalpartnerschaften und die Rolle der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) analysiert werden.

Geheimdienstakten bedürfen generell einer besonderen Analyse und Quellenkritik, „um die in ihnen enthaltenen Mythen und Sprachmuster einordnen zu können“ und um die Inhalte der Akten „intensiver in gesellschaftliche und zwischenstaatliche Kontexte“ einzugliedern.102 Für die Quellenkritik ist es daher unumgänglich, „den Bedeutsamkeitskult, der in der Wissensform der Geheimdienste angelegt ist, zu reflektieren.“103 Jens Gieseke stellt drei Schritte für eine methodologische und historische Einordnung der Quellen des MfS vor: „die Dekonstruktion der Mythologie des ,Geheimen‘, die Unterscheidung von Aktenbürokratie und historischem Geschehen, [und] die intensivere Reflektion über die politisch-geheimdienstliche Sprache als rituellen Sprechakten“.104 Die vorliegende Arbeit wird die genannten methodologischen Prämissen berücksichtigen.

Das fünfte und letzte Kapitel der Studie thematisiert die Partnerschaften in der Wendezeit 1989/90. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der DDR und den neuen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten werden die Kontinuitäten und Veränderungen in der Partnerschaftsarbeit untersucht. Das Kapitel liefert eine kurze Analyse über die Entwicklungen und Intentionen der französischen und ostdeutschen Akteure nach dem Mauerfall, die Partnerschaftsziele und Praktiken sowie über neue Partnerschaftsmöglichkeiten mit anderen Ländern. Die Untersuchung stellt erstmalig die Chancen und Herausforderungen für die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften während der Wendezeit vor.

1.5 Quellenlage

Die empirische Grundlage der vorliegenden Untersuchung markieren unveröffentlichte Quellen in staatlichen Archiven – in Stadtarchiven, Landesarchiven, Archives départementales und nationalen Archiven – in Deutschland und Frankreich. Der Quellenbestand umfasste zudem Zeitungsartikel der Lokalpresse, Fotografien, die während der Aufenthalte entstanden sind, Gastgeschenke und veröffentlichte Schriften über die jeweiligen Städte. In den französischen und deutschen Stadtarchiven wurden die Bestände der betreffenden Städtepartnerschaft eingesehen, wobei deren Umfang je nach Partnerschaft variierte. Das Material setzte sich überwiegend aus Partnerschaftsverträgen, Jahresvereinbarungen, Einschätzungen über die Partnerschaftsbeziehungen, Grußworten, Korrespondenzen zwischen den Rathäusern und/oder den Freundschaftskomitees, Redemanuskripten, Unterlagen für die Ausstellung von Einreise-Visa und organisatorischen Unterlagen zu den Aufenthalten wie Teilnehmerlisten, Rahmenprogrammen sowie Reiseberichten zusammen. In den deutschen Stadtarchiven umfassten die Bestände zu den Partnerschaften größtenteils Überlieferungen der ehemaligen Räte der Städte, die ein hohes Maß an Objektivität voraussetzen. Verträge, Vereinbarungen, Einschätzungen und Manuskripte boten einerseits die Möglichkeit, die offiziellen Ziele und Entwicklungen der Partnerschaften darzulegen, andererseits durfte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Einschätzungen der Städte mitunter mit politischen Beschönigungen aufgeladen waren. Die organisatorischen Unterlagen zu den Partnerschaften gaben Einblick in das Ausmaß und den Aufwand der praktischen Umsetzung. Mehrheitlich blieb es jedoch bei Programmvorschlägen oder -plänen, aus denen sich schwerlich erkennen ließ, wie der Austausch im Detail abgelaufen war. Zur Rekonstruktion der Aufenthalte wurden Zeitungsartikel, Reiseberichte und Interviews mit Zeitzeugen wie Partnerschaftsverantwortlichen oder ehemaligen Teilnehmenden, unter Berücksichtigung der entsprechenden Quellenkritik105, durchgeführt. Neben den subjektiv geprägten Schilderungen in Reiseberichten und Interviews boten die Korrespondenzen zwischen den Partnerschaftsverantwortlichen die Möglichkeit, deren Beziehungen zueinander nachzuvollziehen. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland waren die Unterlagen in den kommunalen Archiven frei zugänglich. Des Weiteren wurden exemplarisch für die Rolle der Bezirke innerhalb der Partnerschaften die Bestände des Rates des Bezirkes Magdeburg im Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) und die Bestände des Rates des Bezirkes Erfurt im Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (LATh – HStA Weimar) eingesehen. Für die Einsichtnahme in personenbezogenes Archivgut im LATh – HStA Weimar wurde bei der Thüringer Staatskanzlei ein Antrag auf Verkürzung der Schutzfristen gestellt, dem stattgegeben wurde. Aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus und der engen Zusammenarbeit zwischen den Städten und den Bezirken der DDR verfügten die Landesarchive über Quellenmaterial zu den Städtepartnerschaften, das ebenfalls in den Kommunalarchiven lagerte. Im LASA fanden sich zahlreiche Dokumente zu den Partnerschaften Longlaville/Calbe und Hagondange/Magdeburg. Das LATh-HStW besaß eine ausgiebige Dokumentation über die Partnerschaft Lille/Erfurt.

Um die Rolle der französischen Präfekturen innerhalb der Partnerschaften zu untersuchen, wurden in Frankreich die Archives départementales du Nord aufgesucht. Für die Analyse der staatlichen Akteure der Partnerschaftsarbeit wurden in Frankreich die Archives du Ministère des Affaires étrangères de la République française (MAE) in La Courneuve und in Deutschland die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) in Berlin-Lichterfeld besucht. In La Courneuve erlaubte der Bestand „Europe – RDA“ (EU, RDA) Einblick in die staatliche Involviertheit des französischen Außenministeriums und Innenministeriums in die Städtepartnerschaften. Im Bundesarchiv lag der Fokus auf den Beständen des DSGT, der Liga für Völkerfreundschaft und auf den Protokollen des Sekretariats des Zentralkomitees (ZK) der SED, um die parteiliche Ebene miteinzubinden. Die Archivbestände des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) lieferten weitere Einsichten in die staatliche Kontrolle der Partnerschaften. Die Studie vermag es, allgemeingültige Aussagen über die Entwicklungen der ostdeutsch-französischen Partnerschaften zu treffen, da beim Konsultieren der Quellen in den Landesarchiven und in den nationalen Archiven, vornehmlich in La Courneuve, Material zu anderen Partnerschaften gesichtet und mit den Ergebnissen des Untersuchungskorpus abgeglichen wurde. Die Dokumente umfassten Anträge zur Aufnahme einer Städtepartnerschaft und zur Ausstellung von Einreise-Visa für die ostdeutschen Delegationen.106

Die Unterlagen des MfS wurden in der BStU eingesehen, bevor die Überführung der Stasi-Akten in das Bundesarchiv am 19. November 2020 durch den Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. In der BStU wurden mehrheitlich die Bestände der Bezirksverwaltungen, der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), der Hauptabteilung II (Spionageabwehr/HA II) und der Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund, HA XX) konsultiert. Im Hinblick auf die Rolle der inoffiziellen Mitarbeiter hat die vorliegende Studie u. a. Berichte und Tonbandabschriften, welche diese für das MfS angefertigt haben, ausgewertet, jedoch nicht die Akten eingesehen, welche das MfS über die entsprechen IM angelegt hatte. Die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) wurden im Übrigen nicht eingesehen107, da die Autorin dafür einen weiteren Forschungsantrag bei der BStU hätte stellen müssen, der nicht den Forschungszielen des Promotionsprojektes entsprochen hätte. Der Großteil der konsultierten Quellen der BStU stammte aus den 1980er Jahren. Das ist vordergründig auf die allgemeine Überlieferung der Bestände des MfS zurückzuführen, da circa 90 Prozent der tradierten Quellen aus den 1970er und 1980er Jahren herrühren.108 Um eine möglichst breite Aussagebasis zum Einfluss des MfS auf die Partnerschaften zu erhalten, wurde nicht länger an der Auswahl der Fallbeispiele festgehalten, sondern alle Akten, die dem Forschungsantrag entsprachen und die der Autorin von der Behörde zugänglich gemacht wurden, konsultiert. Trotz mehrerer Passagen, die von der BStU nachträglich geschwärzt wurden, um personenbezogene Informationen zu schützen, gelang es der Autorin, Handlungs- und Gesprächsketten nachzuvollziehen und zu rekonstruieren.


1 Arbeitsplan für das Jahr 1966 der Freundschaftskomitees Drancy und Eisenhüttenstadt, 22.01.1966, in: Archives municipales (AM) de Drancy, Eisenhüttenstadt 1962 à 1966.

2 Vgl. Herrmann, Tanja, Ein Baustein der deutsch-französischen Versöhnungsgeschichte? Die Städtepartnerschaft Wolfsburg-Marignane, Wolfsburg 2011 (Wissenschaftliche Beiträge zu Wolfsburg, 2); Defrance, Corine, Pfeil, Ulrich (Hrsg.), Verständigung und Versöhnung nach dem „Zivilisationsbruch?“. Deutschland in Europa nach 1945, Brüssel [u.a.] 2016 (Deutschland in den internationalen Beziehungen, 9); Defrance, Corine, Kißener, Michael, Nordblom, Pia (Hrsg.), Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen 2010 (Édition lendemains, 7); Filipová, Lucie, Erfüllte Hoffnung. Städtepartnerschaften als Instrument der deutsch-französischen Aussöhnung, 1995-2000, Göttingen 2015 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 237).

3 Vgl. Lemke, Michael, Die Deutschlandpolitik der DDR zwischen Moskauer Oktroi und Bonner Sogwirkung, in: Kocka, Jürgen, Sabrow, Martin (Hrsg.), Die DDR als Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven, Berlin 1994 (Zeithistorische Studien, 2), S. 181-185.

4 Vgl. Pfeil, Ulrich, Zentralisierung und Instrumentalisierung der auswärtigen Kulturpolitik der DDR. Ein Aspekt der Frankreichpolitik der DDR 1949-1973, in: Timmermann, Heiner (Hrsg.), Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 92), S. 621-642; Fäßler, Peter E., „Antifaschistisch“, „friedliebend“ und „fortschrittlich“: Botschaften und Formen außenwirtschaftlicher Repräsentation der DDR während der 1950er und 1960er Jahre, in: Paulmann, Johannes (Hrsg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln [u.a.] 2005, S. 139-161; Höpel, Thomas, „Die Kunst dem Volke“. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945 – 1989, Leipzig 2011.

5 Grunert, Thomas, Langzeitwirkungen von Städte-Partnerschaften. Ein Beitrag zur europäischen Integration, Kehl am Rhein [u.a.] 1981 (Europa-Forschung, 1), S. 83.

6 Zwischen 1950 und 1958 wurden 39 Partnerschaften geschlossen. Herrmann, Tanja, Der zweite deutsch-französische Städtepartnerschaftsboom (1985-1994). Akteure, Motive, Widerstände und Praxis, Berlin [u.a.] 2019 (Transformationen – Differenzierungen – Perspektiven, 4), S. 71.

7 Pfeil, Ulrich, Rendsburg – Vierzon – Bitterfeld. Ein Fallbeispiel deutsch-französischer Städtepartnerschaften im Kalten Krieg, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 129 (2004), S. 141-161, hier S. 146.

8 Im Folgenden wird beim Fehlen geschlechtsneutraler Formulierungen in der Regel die grammatisch männliche Form verwendet. Sie bezieht sich – sofern nicht anders angegeben – auf Personen jeglichen Geschlechts.

Details

Seiten
456
Erscheinungsjahr
2023
ISBN (PDF)
9783631907696
ISBN (ePUB)
9783631907702
ISBN (Hardcover)
9783631907375
DOI
10.3726/b21136
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Deutsch-Französische Beziehungen Kalter Krieg DDR-Frankreich Ministerium für Staatssicherheit Außenpolitik Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR (1959-1990) Constanze Knitter
Erschienen
Bruxelles, Berlin, Bern, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 456 S.

Biographische Angaben

Constanze Knitter (Autor:in)

Constanze Knitter ist Absolventin des binationalen Masterstudiengangs Interkulturelle Deutsch-Französische Studien/EIFA der Universitäten Tübingen und Aix-en-Provence. Ihre Doktorarbeit hat sie im Cotutelle-Verfahren an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université de Lorraine verteidigt.

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Titel: Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR (1959-1990)