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Einheit(en) in der Vielfalt von Slavistik und Osteuropakunde

Prvdentia Regnorvm Fvndamentvm

by Jan-Patrick Zeller (Volume editor) Thomas Menzel (Volume editor) Hauke Bartels (Volume editor)
©2023 Others 560 Pages

Summary

Die Festschrift zu Ehren von Gerd Hentschel vereinigt slawistische und weitere Studien
aus der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft. Dem wissenschaftlichen Elan
des Jubilars entsprechend vielfältig ist das Spektrum an systemlinguistischen, sprachhistorischen,
soziolinguistischen und kontaktlinguistischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen
Fragestellungen und der behandelten slawischen Sprachen, das seine
Schüler, Freunde und Weggefährten zusammengetragen haben. Schwerpunkte liegen
auf den besonderen Interessengebieten des Jubilars: bei der Lehnwortforschung, im
Bereich der funktionalen Grammatik und der Erforschung des Sprachkontakts zwischen
dem Russischen und dem Weißrussischen bzw. Ukrainischen.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • PRVDENTIA REGNORVM FVNDAMENTVM
  • Ein Lehnwort im polnisch-russisch-dänischen Sprachvergleich oder Wie man einen Kammerjunker integrieren kann
  • Mord, Ketzerei und ein rätselhaftes Wörterbuch – slavische Studenten im Tübingen des 16. Jahrhunderts
  • Deminutiv-hypokoristische Verbalformen in der ukrainischen Sprache. (Sprachhistorische Analyse)
  • O pewnym wydarzeniu lingwistycznym sprzed trzydziestu lat
  • “Ein System, in dem alles zueinander passt und miteinander zusammenhängt.” Rasmus Rasks Analyse des georgischen Lautsystems
  • Słowo o braku wiedzy (z Wysockim w tle)
  • A Look from Abroad: Language Use and Language Conflicts in Online Debates of the Ukrainian Diaspora Community in Germany
  • Гродна як шматмоўны палімпсест (лінгвістычнае эсэ)
  • “Taxis am Phantasma” и ограничительное условие
  • Relacje między narodowością i religią na Śląsku Cieszyńskim
  • Od wyznaczoności do generyczności. O referencji grup nominalnych z przymiotnikiem dany
  • Xenoglossie – Konzept und Bild einer unbekannten Sprache. Zu Begriff und Vorstellung von einer fremden, nicht beherrschten Sprache
  • Basiswortschatz vs. Grundwortschatz in der Sprachkontaktforschung – einige Randbemerkungen auf Basis des Slowenischen
  • Moskau auf sowjetischen Briefmarken: Kulturpolitik im Kleinformat (I)
  • Von adversativer Zuversicht. Das Konstruktionsprinzip in Serhij Zhadans Himmel über Charkiw
  • Як ми говоримо в сім’ї: деякі особливості сімейних слів та виразів
  • Zjednoczenie Niemiec i rozpad Związku Radzieckiego a sytuacja języków słowiańskich
  • The Balkan Slavic Type of Future in the Štokavian Migrational Dialects in Albania
  • The Kashubian language – a Factor Forming the Identity of Kashubians
  • Einsatz von EDV und Mikrocomputer in Lehrveranstaltungen zur digitalen Lexikografie
  • “Наливайте, куме, будем за любов пить”: Влияние контролированности коммуникативной ситуации на степень смешения языковых элементов в суржике
  • Лексiка германскага паходжання як аб’ект даследаванняў беларускiх лiнгвiстаў
  • Stilometrie, Transkription und Fieldworker Isoglosses: Aspekte der quantitativen Analyse slavischer Minderheitensprachkorpora
  • Bыкшталцоны ў беларускамоўным дыскурсе: ад агноніма да агульнаўжывальнай лексемы
  • Attitudes Toward Surzhyk: Corpus-Based Evidence from Interviews with Speakers of Ukrainian-Russian Mixed Speech in the South of Ukraine along the Black Sea Coast
  • List panów litewskich do króla Władysława Jagiełły z początku XV w. w odpisie z połowy XVI wieku
  • Croatian Blends from Personal Names
  • О гиперхарактеризации в русском глагольном формообразовании
  • “Da ta tri imena edin bog gospod zuueti” – zur Dreifaltigkeitsformel des dritten Freisinger Denkmals
  • Питання про наявність та узаконення регіональних і національних варіантів української мови
  • Germanismen im modernen Weißrussischen, die Rolle des Polnischen und des Russischen
  • Zur Grammatikalisierung der russischen Mirativ-Konstruktionen mit vzjat’: neue ipfv Pendants mit brat’
  • Wozu dient die Wahrheit? Zum syntaktischen Verhalten von PRAVDA im Polnischen und Russischen
  • Таксисные и условные союзы в восточнославянских языках
  • Zur affektiven Wertigkeit deutscher Lehnwörter im Polnischen. Eine Sentimentanalyse

PRVDENTIA REGNORVM FVNDAMENTVM

Der (Unter-)Titel dieses Bandes zu Ehren des 70. Geburtstags von Prof. Dr. Gerd Hentschel versteht sich als Übertragung einer bekannten Sentenz aus dem Bereich der Politik ins Akademische: Seine Vorlage lautet “iustitia regnorum fundamentum”, dies ist der Wahlspruch Kaiser Franz’ I. von Österreich, der auch vierzehn Jahre lang als Franz II. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war. Das Motto ist an prominenter Stelle in der Wiener Hofburg zu lesen und schon in mehrfacher Hinsicht mit historischer Bedeutung aufgeladen worden. Inhaltlich lässt sich der Wahlspruch des Kaisers Franz in eine Tradition der Gerechtigkeitstheorie seit Platons Politeia und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles stellen.

Der Versuchung, personalen Affinitäten zwischen dem Jubilar und dem Kaiser der napoleonischen Zeit und des Biedermeier nachzusinnen, sei hier allerdings nicht nachgegeben. Allein seine grammatische und pragmatische Eleganz hat uns dazu bewogen, diesen Wahlspruch in überarbeiteter Form dem Buch voranzustellen. Schon die Wahl des Numerus Plural in regnorum beeindruckt bei näherem Hinsehen. Sie bezeugt ein unaufgeregtes Selbstbewusstsein des monarchischen Herrscherhauses und unterstreicht die Selbstverständlichkeit, mit der ein Kaiser nicht eines, sondern viele Reiche kompetent anzuführen versteht. Und an dieser Stelle sind wir ganz bei unserem Jubilar: Die Vielfalt nicht nur der wissenschaftlichen Themenbereiche, in denen Gerd Hentschel ausgewiesen ist, sondern auch der Forschungsmethoden, die er beherrscht, gibt ihn durchaus als Herrn vieler Reiche des akademischen Erdenrunds zu erkennen. Von dieser Vielfalt zeugt nicht zuletzt die breite thematische Fächerung der Gerd Hentschel in diesem Band zugedachten Aufsätze. Von der Idee, die hier versammelten Texte inhaltlich zu sortieren, haben wir nach längerer Überlegung Abstand genommen. Zu willkürlich wäre jeder Versuch, das in diesen Arbeiten aufgenommene Spektrum der zahlreichen Interessengebiete des Jubilars in eine ordnende Systematik zu überführen.

Wie die “iustitia” eine der herrscherlichen Haupttugenden ist, so sind “sapientia” und mehr noch “prudentia” die hervorragenden Etiketten des Wissenschaftlers. Nur um diese kann es im Wahlspruch des vorliegenden Sammelbandes gehen. Während “sapientia” die Urteilskraft einer natürlichen Weisheit bezeichnet, die – vielleicht auf moralischer Grundlage – dem Einzelnen als allgemeine Handlungsmaxime dienen sollte, ist “prudentia” die analytische und reflektierende Klugheit, die Ausdauer sowie beständiges Interesse voraussetzt und bei wissenschaftlichen Tätigkeiten besonders vonnöten ist. Diese Klugheit zeichnet unseren Jubilar aus – sei es bei der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, sei es durch den akademisch tief fundierten Rat, den er zu erteilen vermag und vermittels dessen er sich international Anerkennung in Kollegenkreisen erworben hat. Beständigkeit ist ihm zu eigen in seiner Offenheit für innovative wissenschaftliche Fragestellungen. Diese Aufgeschlossenheit hat ihn immer wieder dazu bewegt, sich intensiv in neue Forschungsmethoden einzuarbeiten. So erlaubt es allein schon das wissenschaftliche Oeuvre unseres Jubilars, sich einen Überblick über wichtige Wandlungen in den Forschungsfragen und Vernetzungen der slawistischen Sprachwissenschaft während der letzten 45 Jahre zu verschaffen.

Ein roter Faden, der das Wirken Gerd Hentschels von den Anfängen bis in die neueste Zeit durchzieht, ist sein Interesse für den deutsch-slavischen und innerslavischen Sprachkontakt. Schon in seinen frühen Arbeiten zur strukturalistischen Phonologie und Phonetik des Polnischen werden Phänomene des Sprachkontakts berücksichtigt. Das Wörterbuch der deutschen Lehnwörter in der polnischen Schrift- und Standardsprache, ein Projekt, an dem er unter der Leitung seines großen Förderers Andrzej de Vincenz mitwirkte und das er schließlich aus Göttingen nach Oldenburg überführte, hat ihn zu vielen weiteren Untersuchungen des Sprachkontakts im Wortschatz angeregt. Daneben widmete er sich aber auch Problemen des internen grammatischen Wandels im Sinne der Markiertheitstheorie und der funktionalen Syntax, vor allem mit Blick auf das Russische und Polnische. Letztere sollte ein weiteres kontinuierliches Arbeitsgebiet für ihn werden. Schon seit den 1980er-Jahren nutzte Gerd Hentschel intensiv computergestützte korpuslinguistische Forschungsmethoden, die er über die Jahre an seine Forschungsfragen anpasste und grundlegend weiterentwickelte. Als er sich nach der Jahrtausendwende intensiver mit den Problemen von Standardsprachlichkeit und sprachlicher Identitätsbildung (zunächst am Beispiel der Minderheitensituationen in Polen) auseinandersetzte, erkannte er schnell die Bedeutung von Korpusstudien, die allein über das Intuitive hinausweisende Schlüsse zum strukturellen und soziolinguistischen Status nicht-standardisierter Varietäten erlauben. Gerd Hentschel begann, eigene Korpora der nicht-reflektierten mündlichen Rede zu erstellen – zunächst in Weißrussland, dann in der Ukraine, aber auch in Polen in den Sprachgemeinschaften der Lemken und Kaschuben. Seine umfangreichen wissenschaftlichen Kontakte waren bei all diesen Projekten von großem Nutzen. Die so entstandenen Materialsammlungen zum innerslavischen Sprachkontakt wurden umfassend annotiert und lassen sich inzwischen auf allen sprachlichen Ebenen mit fundierten statistischen Mitteln auswerten: hinsichtlich der Lautung, der Flexionsmorphologie, der Syntax und des Wortschatzes, und im letzten und umfassendsten Analyseschritt auch hinsichtlich der sprachlichen Identität bzw. Autoidentifikation von Sprechern. Mit diesen qualifizierten Korpora hat der Jubilar der wissenschaftlichen Öffentlichkeit weitläufig nutzbare Forschungsmaterialien zur Verfügung gestellt, deren Auswertung wiederum in einige Beiträge dieses Sammelbandes eingeflossen ist.

Wie wir in der langjährigen Auseinandersetzung mit Gerd Hentschels wissenschaftlichen Arbeiten erleben durften, sind seine Werke im Allgemeinen nicht monothematisch: Sie durchleuchten Probleme umfassend, von verschiedenen Seiten und im größeren Zusammenhang. Dabei wird der Leser oftmals auf eine Reise mit ganz unerwarteten Zwischenzielen mitgenommen, die jedes für sich schon publikationswürdige Erörterungen abgeben würden. Und ein weiteres charakteristisches Merkmal der wissenschaftlichen Arbeiten Gerd Hentschels ist an dieser Stelle zu nennen: Die Zuneigung für logische Strukturen, die eine ganze Reihe von Untersuchungen des Jubilars zur Grammatik auszeichnet. Sie haben viel Beachtung gefunden und ziehen sich kontinuierlich durch seine wissenschaftlichen Kontakte, mit Spuren bis hin in den vorliegenden Sammelband. Dabei sorgt die Grundlegung in der Funktionalen Grammatik bei Gerd Hentschel immer für die notwendige “Bodenhaftung”, da sprachliche Strukturen nie um ihrer selbst willen komplex gedacht werden.

Überhaupt ist Gerd Hentschel dem kollegialen Disput herzlich zugeneigt, wenn er den Zweck hat, in der Abwägung der Argumente Problemlösungen zu erarbeiten. Diskussionen führt er mit hohem persönlichem Einsatz. Keinesfalls lässt sich ihm nachsagen, er sei konfliktscheu. Da es ihm um die konstruktive Auseinandersetzung zum Nutzen von Wissenschaft und Wissenschaftlern geht, kann man dem Jubilar für die Aufmerksamkeit und für das Interesse, mit dem er auch gegenteilige Meinungen aufnimmt, nur von Herzen danken. Wie oft sind wir am sachlichen Disput mit unserem Doktorvater gewachsen. Die Erfahrung hat gelehrt, dass aus inhaltlichen Differenzen keinerlei persönliche Vorbehalte bei ihm erwachsen, so dass die fruchtbare Zusammenarbeit mit einem Menschen, dem man nicht nur das sagen darf, “was er gern hören möchte”, auf einem echten Verhältnis des Vertrauens und der Zuversicht gründet. Diese Eigenheit unseres Jubilars spricht nun wieder seine hoch zu schätzende, natürliche “sapientia” an. Wie schon erwähnt, hat sich Gerd Hentschel als ernsthafter Ratgeber einen Namen gemacht, wobei ihm seine jahrzehntelangen vielfältigen Erfahrungen im akademischen Leben zugutekommen, an denen er Kollegen und Freunde bereitwillig teilhaben lässt.

Siebzig Jahre Gerd Hentschel – das ist auch für uns Herausgeber dieses Bandes als seine Schüler Gelegenheit zur Retrospektive. Einer von uns hat den Jubilar schon vor dreißig Jahren kennenlernen dürfen, ein anderer vor neunundzwanzig, und der dritte vor zweiundzwanzig. Die Anregungen, die wir aus unserem Oldenburger Bildungsweg teilweise vor vielen Jahren schon in die Ferne mitgenommen haben, begleiten uns in Forschung und Lehre beinahe täglich.

So ist es kein Zufall, dass wir für die Einbandillustration dieses Buches Wanda ausgesucht haben, die Prinzessin aus der Stadt Krakau, welche dem Jubilar schon früh ans Herz gewachsen ist. Um ein Bonmot aufzugreifen, das er gern weitergegeben hat, gelten in der klassischen Etymologie bekanntlich die Vokale gar nichts, die Konsonanten wenig. Wenn die traurige Krakauer Prinzessin Wanda nun in einer barocken Tradition als “Wenda” zur Urmutter der Wenden erklärt wurde, scheinen unsere Lebenswege geradezu vorgezeichnet. Sie haben uns schließlich aus der in Oldenburg gepflegten polnischen Lehnwortkunde sämtlich in wendische Länder, nämlich in die Lausitz und nach Vorpommern geführt.

Wir wünschen Gerd Hentschel einen weiterhin produktiven und unruhigen Ruhestand, viel Freude an der Familie, aber auch an der weiteren Verfolgung seiner vielfältigen wissenschaftlichen Interessen.

Cottbus – Bautzen – Greifswald

Hauke Bartels – Thomas Menzel – Jan Patrick Zeller

Lars Behnke (lars.behnke@hum.ku.dk)

Universität Kopenhagen

Ein Lehnwort im polnisch-russisch-dänischen Sprachvergleich oder Wie man einen Kammerjunker integrieren kann

Schlüsselwörter: Lehnwort, Russisch, Polnisch, Dänisch, Sprachwandel

1. Einleitung

Unter den vielfältigen Forschungsinteressen Gerd Hentschels schien mir immer das für Lehnwörter eines der konstantesten zu sein. Jedenfalls überschreitet die Phase, in der der Jubilar den Weg deutscher Lehnwörter ins Polnische und weiter in ostslavische Varietäten erforscht und dokumentiert hat,1 deutlich die Phase, in der ich als Student in seinen Seminaren oder als Assistent an seinem Lehrstuhl an der Oldenburger Slavistik die Arbeiten daran verfolgen konnte. Auch wenn meine eigene Beteiligung am Thema sich in dieser Zeit auf die Rolle des neugierigen Beobachters beschränkt hat, möchte ich hier die Gelegenheit ergreifen, einen kleinen Beitrag zu liefern.

Während viele der Arbeiten Gerd Hentschels zum deutschen Lehngut im Slavischen die Intensität und Extensität des Sprachkontakts quantitativ anhand der Menge und der Lebensdauer von Lehnwörtern im Slavischen untersuchen (z. B. Hentschel 2009; Hentschel/Menzel 2001), möchte ich mich hier auf ein einzelnes Wort beschränken, dabei jedoch nicht nur dessen Weg ins Polnische und Russische, sondern auch nordwärts ins Dänische verfolgen, nämlich Kammerjunker,2 ursprünglich eine Personenbezeichnung für einen jungen Edelmann, der im Dienst eines Fürsten steht (Grimm s. v.).3 Ich möchte untersuchen, inwieweit das Wort zur “Nachhaltigkeit der lexikalischen Beeinflussung” (Hentschel 2009: 158) der drei Sprachen durch das Deutsche beigetragen hat, und verfolgen, wie es semantisch, kulturell und grammatisch integriert wurde.

Eine entscheidende Voraussetzung für den Verbleib eines Lehnwortes in der aufnehmenden Sprache ist zweifellos das Vorhandensein eines entsprechenden Denotats, wobei im Vergleich zur Gebersprache durchaus Verschiebungen, z. B. Verallgemeinerungen oder Spezifizierungen möglich sind (vgl. Hentschel/Menzel 2001: 190). Hier zeigt sich bereits ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden untersuchten slavischen Sprachen und dem Dänischen: Während der Rang eines Kammerjunkers und die damit verbundenen Funktionen in allen drei Staaten der Vergangenheit angehören und heutige Verwendungen des Ausdrucks allenfalls eine historische Referenz haben, lebt das Wort im Dänischen ohne Aktivierung eines historischen Kontexts weiter, und zwar als Bezeichnung für ein Gebäck, genauer für einen zwiebackähnlichen Keks, der heute als Beilage zu einem sommerlichen Gericht, der Buttermilchkaltschale (dän. kærnemælkskoldskål), nicht wegzudenken ist (s. Abb. 1). Die Entwicklung im Dänischen führt uns also unweigerlich auch in die Kulinaristik (ein Bereich, in dem man vom Jubilar ebenso viel lernen kann).

Abb. 1:Dänische Kammerjunker in ihrer heutigen natürlichen Umgebung (Foto: privat)

Abb. 1:Dänische Kammerjunker in ihrer heutigen natürlichen Umgebung (Foto: privat)

Der Frage nach dem Integrationsgrad des Lehnworts Kammerjunker ins Polnische, Russische und Dänische soll vor allem auf der Grundlage der Informationen in einschlägigen Wörterbüchern der drei Sprachen nachgegangen werden (vgl. auch die Vorgehensweise für das WDLP). Für die Entwicklung im Dänischen wird die empirische Grundlage durch ein Zeitungskorpus der Tageszeitung Politiken und ein Kochbuchkorpus erweitert (s. unten).

2. Zur Integration von Kammerjunker ins Polnische, Russische und Dänische

2.1 Kammerjunker als “gut belegtes” Lehnwort im Polnischen, Russischen und Dänischen

Der erste Beleg für Kammerjunker findet sich in den untersuchten Wörterbüchern der drei Sprachen für das Dänische, und zwar für 1612 in Kalkars Ordbog (KO), das den Zeitraum zwischen 1300 und 1700 erfasst. Für das Russische enthält der Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka (SRJaXVIII) einen Erstbeleg von 1708, und für das Polnische können wir auf das von Andrzej de Vincenz und Gerd Hentschel herausgegebene Wörterbuch der deutschen Lehnwörter in der polnischen Schrift- und Standardsprache (WDLP) zurückgreifen, das 1755 als Datum des Erstbelegs nennt. Als Keksbezeichnung gibt das Ordbog over det danske sprog (OODS), das den Wortschatz von 1700 bis ca. 1950 dokumentiert, eine Verwendung von 1903 aus der Tageszeitung Politiken an (vgl. auch Jensen 2012).

Was die Letztbelege angeht, so sind diese natürlich immer im Lichte des Erscheinungsjahres des Wörterbuchs zu betrachten. Für Kammerjunker zeigt sich in allen drei Sprachen, dass die Beleglage mehr als 100 Jahre umfasst, was im Sinne von Hentschel/Menzel (2001) für eine “gute” Beleglage spricht. Das zwischen 1918 und 1956 herausgekommene dänische OODS enthält einen Letztbeleg von 1927, der bis 1965 erschienene Bol’šoj akademičeskij slovar’ russkogo jazyka (BASRJa, in der Ausgabe von 2007) einen Beleg von 1899 und zusätzlich noch Verweise auf andere Wörterbücher, in denen das Lexem enthalten ist und von denen das letzte aus dem Jahr 1937 stammt. Für das Polnische schließlich enthält das WDLP einen letzten Eintrag von 1874. Dabei ist jeweils zu berücksichtigen, dass ein Wort wie Kammerjunker über den hier als Letztbeleg gewerteten Eintrag hinaus weiter im Gebrauch bleiben kann, jedoch mit einem historischen Bezug (so etwa im WDLP mit einem als “arch.” markierten Eintrag von 1921). Ergänzt man die Informationen über das Ende der Lebensdauer eines Lehnworts durch Informationen aus neueren, weniger umfangreichen Wörterbüchern, so lässt sich abermals ein Unterschied zwischen den beiden slavischen Sprachen und dem Dänischen feststellen. Sowohl im Polnischen als auch im Russischen kann Kammerjunker als Personenbezeichnung wohl als ausgeschieden oder zumindest als ungebräuchlich betrachtet werden: Der polnische, korpusbasierte Inny słownik języka polskiego (ISJP) enthält keinen Eintrag mehr für kammerjunkier, der online zugängliche Bol’šoj tolkovyj slovar’ (BTS) enthält lediglich eine Bedeutungsangabe, die auf vorrevolutionäre Zeiten verweist. Im Dänischen muss zwischen der Bedeutung von kammerjunker als Personenbezeichnung und Keksbezeichnung unterschieden werden: Letztere wird im Danske ordbog (DDO), das den aktuellen Sprachgebrauch erfasst, zuerst angeführt, und zwar mit einem Beleg von 1990, während auch hier die danach folgende Personenbezeichnung auf einen historischen Zustand verweist. Korpusdaten bestätigen diesen Befund: Während kammerjunker als Keksbezeichnung bis 2022 in seiner Vorkommenshäufigkeit sogar gewinnt, geht der Anteil von Personenbezeichnungen zurück. Der wohl letzte Verweis auf eine Person ohne historischen Bezug stammt im Korpus wohl aus der Todesanzeige des letzten verbliebenen Vertreters der Klasse der dänischen Kammerjunker im Jahr 2005.

Auch eine zweite Bedingung für “gut belegte” Lehnwörter ist erfüllt, denn für alle drei Sprachen gilt, dass das Lemma Kammerjunker jeweils mit mehreren Verwendungsbeispielen verschiedener Autoren belegt ist. Für das Polnische ist dieser Tatbestand bemerkenswert, denn Hentschel (2009) zeigt, dass nur 35 % der “besser belegten” Lehnwörter, die ab der letzten Hälfte des 18. Jh.s ins Polnische gekommen sind, eine Zeitspanne von 100 Jahren zwischen Erst- und Letztbeleg überdauern.

Die folgende Analyse der jeweiligen Integrationskriterien von Kammerjunker steht also unter verschiedenen Vorzeichen: Während eventuelle Wandelphänomene im Polnischen und Russischen aufgrund der heutigen Ungebräuchlichkeit als abgeschlossen gelten dürften, sind sie im Dänischen noch in vollem Gang.

2.2 Semantische Integration

2.2.1 Kulturhistorischer Hintergrund

Die für das Deutsche bei Grimm angegebene Bedeutung von Kammerjunker als ‘junger Edelmann im Dienst eines Fürsten’ hält den historischen Tatsachen nicht immer ganz stand. So berichtet Freyer (2013, mit Verweis auf Moser 1754), dass der Regent diesen Titel durchaus auch als “leeren Titel” an Personen ohne klare Dienstverpflichtung verleihen konnte, um ihnen “eine weitere Karriere zu ermöglichen”. Nach Krünitz (1785) ist die Klasse der Kammerjunker im Laufe des 18. Jahrhunderts stark angewachsen, und außerdem wurde mit dem Kammerherrn ein weiterer Rang eingeführt, der den Kammerjunker auf einen niedrigeren Rang verbannte, und er stand damit in der Hierarchie zwischen dem Kammerherrn und dem Kammerpagen.

In Russland wurde der Titel des Kammerjunkers Anfang des 18. Jh.s unter Peter dem Großen eingeführt und bezeichnete die niedrigste Position auf einer 1722 eingeführten Rangtabelle, die die Hierarchie im Staat, bei Hof und im Militär und die damit verbundenen möglichen Laufbahnen der Amtsinhaber regelte und bis 1917 galt. Ins Polnische ist das Wort kurz vor dem Ende der polnischen Staatlichkeit eingeführt worden und verweist deswegen wohl eher auf ein fremdes, russisches oder deutsches (preußisches, sächsisches o. a.) Konzept.

In Dänemark wurde der Titel des Kammerjunkers bereits im 16. Jh. eingeführt und dann bis 1947 vergeben (vgl. DDO). Laut Madsen (1900: 411) waren die Kammerjunker im 16. Jh. wie in deutschsprachigen Gebieten jüngere, adlige Hofbedienstete.

2.2.2 Bedeutungsverschiebungen

In allen drei Sprachen kann eine – sicher den politischen Gegebenheiten geschuldete – Bedeutungserweiterung von Kammerjunker festgestellt werden, bei der einzelne Bedeutungsmerkmale wie [jung], [adlig] oder [im höfischen Dienst stehend] aufgegeben werden. Im Russischen wird in den untersuchten Wörterbüchern üblicherweise zwischen der Bezeichnung des Titels und metonymisch der Person, die diesen Titel trägt, unterschieden. Das Merkmal [höfisch] ist dabei fast durchgehend vertreten, das Merkmal [jung] ist nur gelegentlich anzutreffen (z. B. im BTSRJa oder im RSemS). Das Merkmal [adlig] wird nicht explizit genannt. Im Polnischen gilt dasselbe wie im Russischen, wobei hier das Merkmal [jung] konstanter zu sein scheint. Im Dänischen markiert das OODS für die Zeit ab dem 18. Jh. das Element [höfisch] als veraltet und nennt stattdessen die Bedeutung eines Titels für einen Rang in der vierten (und damit niedrigsten) Rangklasse als vorherrschend.

Im Dänischen ist auffällig, dass das OODS darüber hinaus auch einige spöttische, pejorative Verwendungen von kammerjunker verzeichnet, was darauf hinweist, dass das Potential, das sich aus der Vergabepraxis dieses Titels ergibt, ausgenutzt wird. So verwendet Ludvig Holberg 1731 Kammerjunker etwa zur Bezeichnung einer Person, die ein übertrieben höfliches Gebahren zeigt. In dieser Bedeutung bildet es auch das Erstglied in Verbindungen wie Kammerjunker Snak ‘Kammerjunkerschnack’ oder Kammerjunkerphrase ‘Kammerjunkerphrase’. Eine ähnliche spöttische Verwendung wird in den Wörterbüchern des Polnischen und Russischen für Kammerjunker nicht verzeichnet, zumindest nicht explizit. Im Wörterbuch der Sprache Puškins (SJaPu), der 1833 selbst zum Kammerjunker ernannt wurde und nicht erfreut darüber war (vgl. Reyfman 2012: 96), werden keine spöttischen Verwendungen genannt, während die Bezeichnungen für die anderen “Kammer”-Bediensteten durchaus scherzhafte oder ironische Verwendungen zeigen, z. B. wenn er kamer-paž ‘Kammerpage’ abwertend für kamer-junker verwendet. Die Belegstelle für kamerjunk(i)er im Wörterbuch der Sprache Mickiewiczs (SJAM) ist zwar ebenfalls nicht als spöttische Verwendung markiert, aber durchaus implizit als solche lesbar: kamerjunkry świszczą jak puszczyki ‘Die Kammerjunker pfeifen wie die Eulen’. Anders verhält es sich im Falle von Junker, also ohne einschränkendes Erstglied. Hier scheinen diese konnotativen Bedeutungselemente stärker lexikalisiert. Schon bei Grimm (s. v.) ist ein gewisser inflationärer Gebrauch abzulesen, der es erlaubt, die Bezeichnung auch für unadelige Personen (z. B. Kaufleute) zu gebrauchen, und so ist der Weg nicht weit zu scherzhaften oder abwertenden Verwendungen. Solche werden für Junker in allen drei entlehnenden Sprachen verzeichnet.

Neben der Verwendung von Kammerjunker als Personenbezeichnung zeigt von den drei untersuchten Sprachen nur das Dänische mit der Bedeutung ‘zwiebackähnlicher Keks’ eine Bedeutungserweiterung auf den nicht-personalen Bereich. Die Motivation für diese zunächst intransparent anmutende Erweiterung bleibt in den Wörterbüchern selbst unerklärt. Jensen (2012) vermutet eine metaphorische Übertragung, bei der das Konzept der Rangtabelle die Quelldomäne darstellt: So wie der (menschliche) Kammerjunker am Ende der höfischen Ranghierarchie steht, so sind (kulinarische) Kammerjunker am Ende der “Gebäckshierarchie” zu finden, dort, wo auch Zwieback seinen Platz hat.

2.2.3 Zur semantischen Integration von kammerjunker als Keksbezeichnung im Dänischen – Eine Kochbuchanalyse

Die Frage, ob Kammerjunker zur Zeit seiner Entlehnung ein neues Denotat bezeichnet oder ein anderes, einheimisches Wort zur Bezeichnung desselben Denotats ersetzt, stellt sich vermutlich weniger für den personalen Kammerjunker, dessen Einführung in Dänemark und Russland mit der Neuorganisation höfischer oder staatlicher Strukturen verbunden ist bzw. das in Polen eher auf fremde, nicht-polnische Verhältnisse verweist. Hier steht es möglicherweise in einem Konkurrenzverhältnis zu dem aus dem Französischen entlehnten szambelan (vgl. Dor). Auch für das Dänische ist mit hirdsvend eine Konkurrenzform belegt, etwa im Hilfswörterbuch zur Erhaltung und zur Bewahrung des Heimischen und Vertreibung des unnützen Fremden in unserer Muttersprache von 1875 (Dahl 1875), jedoch ist diese als puristische Gegenreaktion gegen das als deutsch empfundene Wort zu verstehen.

Interessanter ist die Frage, ob kammerjunker als Keksbezeichnung eine frühere Bezeichnung ersetzt oder beide ihre Bedeutung spezialisieren, denn es scheint klar, dass kammerjunker als Keksbezeichnung eine eigenständige dänische Innovation ohne Basis im Deutschen war. Um Antwort auf diese Frage zu erhalten, wurde hier eine sicher nicht repräsentative Analyse von 35 dänischen Kochbüchern aus dem Zeitraum von 1838 bis 2021 durchgeführt. Ausgangspunkt für diese Untersuchung ist die im heutigen Dänemark als fest empfundene Verbindung von kammerjunker zur oben bereits erwähnten koldskål ‘Kaltschale’ auf Buttermilchbasis. So heißt es in einem im Mai 2021 in Politiken veröffentlichten Kammerjunkertest: Kammerjunkere hører sammen med koldskål, som yin hører sammen med yang ‘Kammerjunker gehören zur Kaltschale, wie Yin zu Yang gehört’. Sucht man in Kochbüchern nach Kaltschale und ihren potentiellen Begleitern, so stellt sich heraus, dass die frühen Kaltschalen ohne Buttermilch und stattdessen mit Bier, etwas Wein oder Fruchtsaft, Zucker, Zimt und Zitrone zubereitet wurden und Buttermilch als Basis erst gegen Ende des 19. Jh.s aufkam (vgl. Madam Sif 2021). Als Suppeneinlage wird anstatt der erst später in Erscheinung tretenden kammerjunker durchgängig tvebak ‘Zwieback’ genannt, das früher als Lehnwort aus dem Niederdeutschen ins Dänische gelangt war (vgl. DDO). Man kann sagen, dass sowohl kammerjunker als auch tvebak gebundene Elemente sind, die eine Suppenbasis benötigen. Die Kochbuchanalyse soll Aufschluss darüber bringen, in welchem Konkurrenzverhältnis beide a) hinsichtlich ihres Kontexts und b) hinsichtlich ihrer Merkmale (bzw. Zutaten) zueinander stehen, um so die Frage nach dem Verhältnis beider Lehnwörter zu beantworten. Eine Suche nach tvebak und kammerjunker führt uns dabei in die Kapitel zu kalten Milch- und Fruchtsuppen, die damit hier den invariablen Kontext für die tvebak-kammerjunker-Variation darstellen sollen.

Die Analyse zeigt zunächst, dass kammerjunker in den untersuchten Kochbüchern erst 1932 in Tante Dorthes Kogebog for smaa piger ‘Tante Dorthes Kochbuch für kleine Mädchen’ (TDK 1932) auftaucht, also ca. 30 Jahre nach dem Erstbeleg in Politiken, während tvebak bereits im Kochbuch von Mangor (1838) als Einlage für eine Reihe von Suppen vorkommt (Stachelbeer- oder Reismehlsuppe, Eiermilch). Danach verbindet sich tvebak mit einer wachsenden Zahl von Suppenbasen, ab 1909 auch mit der später dem kammerjunker vorbehaltenen Buttermilchkaltschale. Die enge Bindung von kammerjunker und koldskål hat sich scheinbar erst stabilisieren müssen, denn in den populären, seit den 1930er-Jahren in vielen Auflagen erscheinenden Kochbüchern der Tørsleffreihe (DRK 1991 und DGD 2017) tauchen kammerjunker als Einlage z. B. zu Saft- oder Hagebuttensuppe auf, während für andere Kaltschalen noch tvebak vorgeschlagen wird. In GMLL von 2003 und VM von 2021 sind kammerjunker die einzige Option als Kaltschalenbeilage. Allerdings verschwindet auch die Mehrheit der anderen kalten Suppen aus dem Repertoire, sodass von einem Verdrängungseffekt in doppeltem Sinne gesprochen werden kann.

Die Merkmalsanalyse in den (wenigen) Kochbüchern, die Rezepte für tvebak und kammerjunker enthalten, legt nahe, dass es sich denotativ um mehr oder weniger dasselbe Produkt handelt, das aus Mehl, Butter/Margarine, Zucker, Backpulver, Ei, Milch oder Sahne und etwas Kardamom besteht und auf dieselbe Weise gebacken wird (mitunter mit kleineren Abweichungen). Das Kogebog for unge husmødre ‘Kochbuch für junge Hausfrauen’ von 1971 (KUH) enthält ein Rezept für tvebak und setzt kammerjunker in Klammern dahinter, was für eine Synonymie spricht. Mitunter gelten kammerjunker als die süßere Variante, was vielleicht eher daran liegt, dass es auch andere tvebak-Sorten, z. B. aus Roggenmehl gibt, die ohne Zucker auskommen und gerieben als Paniermehl oder zum Andicken von Suppen benutzt wurden, sodass die Funktion als Suppeneinlage nur eine in einem breiteren funktionalen Spektrum von tvebak ist. Die gelegentlich in Politiken enthaltenen Preisangaben sind uneindeutig: Am 17. Januar 1941 wird empfohlen, tvebak zu kaufen, falls man Brotmarken genug habe, ansonsten müsse man auf die kleinen kammerjunker zurückgreifen. Eine Preisliste vom 8. Juli 1958 zeigt hingegen, dass Kammerjunker teurer waren als Zwieback. Möglicherweise spielt hier ein Größenunterschied eine Rolle, denn als Suppeneinlage wird tvebak zumeist mit dem Adjektiv smaa ‘klein’ angeführt. Nach der Übernahme von kammerjunker als Kaltschaleneinlage könnte also von einer Funktionseinschränkung bei tvebak gesprochen werden, allerdings ist tvebak als Paniermehl und Suppenbinder auch von anderen Konkurrenten bedroht, und die Gerichte, in denen es eine Rolle spielte, finden sich kaum noch in Kochbüchern.

Auffälliger ist aber ein “stilistischer” Unterschied. Der Kochbuchbeleg von 1932 setzt kammerjunkere in Anführungszeichen, und das Buch ist darüber hinaus in seiner Sprache an “kleine Mädchen” adressiert, also stilistisch markiert. Eine Parallele zur spöttischen Verwendung für den personalen Kammerjunker kann darin gesehen werden, dass die kulinarische Variante gelegentlich in “feineren” Kontexten genannt wird, als es bei tvebak der Fall ist: In Mesterkokkens kogebog ‘Meisterkochs Kochbuch’ von 1958 (MK) finden sich kammerjunker im Abschnitt zu festlichen Weihnachtsgerichten, tvebak aber nicht, und Madam Sif berichtet, dass man kammerjunker beim Bäcker kaufte und nicht selbst backte (vgl. Madam Sif 2021).

Die Analyse deutet also auf eine Verdrängung des Wortes tvebak als Einlage durch kammerjunker hin, die sich zumindest anfangs vor allem stilistisch unterschieden. Dass tvebak auch in seinen weiteren Funktionsbereichen weiter geschwunden ist, ist hingegen nicht dem kammerjunker anzulasten.

2.3 Soziokulturelle Integration – Fremdheit

Wir haben schon gesehen, dass die Wörterbücher des Polnischen die Bedeutung von kamerjunkier ausschließlich als etwas Fremdes beschreiben, das sein Denotat entweder im zaristischen Russland oder an deutschen Fürstenhäusern hat. Der Fremdheitsgrad für das russische Pendant ist erwartungsgemäß weniger ausgeprägt, jedoch wird neben Russland auch Bezug auf einige andere monarchistische Länder genommen. Das Dänische bildet hier das andere Extrem. Hier steht außer Frage, dass kammerjunker sich auf Verhältnisse am dänischen Hof bezieht, teilweise wird diese Referenz sogar explizit genannt. Bemerkenswert ist, dass kammerjunker in keinem Wörterbuch als Lehnwort des Deutschen markiert wird (anders als junker, dessen mittelniederdeutsche Herkunft benannt wird). Dass es sich um eine dänische Schöpfung handelt, scheint unwahrscheinlich, denn die Umgestaltung der dänischen Hofstrukturen im 16. Jh. lief laut Madsen (1900: 441) nach deutschem Vorbild ab. Eine plausiblere Erklärung für das Fehlen einer Herkunftsangabe aus dem Deutschen könnte sein, dass nach der Reformation eine bedeutende Migration aus Deutschland nach Dänemark einsetzte, die auch die höheren und einflussreicheren Gesellschaftsschichten am dänischen Hof und in der Staatsverwaltung umfasste (vgl. Winge 2002, die berichtet, dass um 1700 ca. 20 % der Bevölkerung Dänemarks deutschsprachig war). Am Hofe dürfte der Anteil größer gewesen sein, zumal die meisten Gemahlinnen der dänischen Könige aus deutschsprachigen Landen stammten und sicher ihren Hofstaat mitbrachten. Der Entwicklung wurde erst mit dem Indigenatsgesetz von 1776 ein Ende gesetzt. Vielleicht ist der Grund für das Fehlen einer deutschen Herkunftsangabe also, dass die Entlehnung von einer Migration begleitet war und das Wort sich in Kreisen etablierte, in denen das Deutsche die dominante Sprache war. Dass das Konzept kammerjunker später sogar als typisch dänisch aufgefasst werden konnte, mag das folgende Zitat von Hans Christian Andersen belegen: “[N]aar en Dansk kommer til Hamborg, og man i Hotellet ikke veed hans Titel, kaldes han Kammerjunker” ‘Wenn ein Däne nach Hamburg kommt, und man kennt im Hotel seinen Titel nicht, nennt man ihn Kammerjunker’ (aus Kun en spillemand, 1837).

2.4 Morphologische Integration

Als letztes Maß für die Integration von Kammerjunker in die drei untersuchten Sprachen soll uns die Frage beschäftigen, inwieweit sich das entlehnte Wort in seinem Wortbildungs- und Flexionsverhalten an das System der aufnehmenden Sprache angepasst hat.

2.4.1 Wortbildung (Komposition)

Kammerjunker ist nicht das einzige Wort für Hofbedienstete, das zur Bezeichnung von Dienstgraden aus dem Deutschen in die drei Sprachen entlehnt wurde: Daneben findet sich eine Reihe weiterer Komposita mit dem Erstglied Kammer-. Als Maß für die Integration dieses Musters soll hier untersucht werden, inwieweit das zweite Glied selbst ebenfalls aus dem Deutschen (oder einer anderen Gebersprache) oder aus dem Erbwortschatz der aufnehmenden Sprache stammt. Wenn Letzteres der Fall ist, wird dies als höherer Integrationsgrad betrachtet.

Die Durchsicht der Wörterbücher deutet an, dass sich Wörter mit dem Erstglied Kammer- in den beiden slavischen Sprachen auf Zweitglieder beschränken, die ebenfalls aus dem Deutschen gekommen sind (oder über dessen Vermittlung). Im Russischen finden sich Dienstbezeichnungen wie kamerger, -diner, -lakej, -paž, -frau, -fur’er (vgl. Dal’). Zu einer stärkeren Integration scheint es bei den Bezeichnungen für die weiblichen Personen (Ehefrauen oder weibliche Bedienstete) zu kommen, wo Formen wie kamergerša (Dal’) oder das scherzhafte kamerpažicha (SJaPu) belegt sind. Auch im Polnischen werden ausschließlich Verbindungen von kam(m)er- mit nicht-polnischen Zweitgliedern verzeichnet: Neben den ins WDLP aufgenommenen kam(m)erher, -dyner findet sich bei Dor auch noch -paż. Eine Ausweitung auf das weibliche Pendant wird nicht notiert. Im Dänischen ist hingegen zum einen die Anzahl von “Kammerbediensteten” größer, außerdem finden sich dänische Zweitglieder wie kammerpige ‘-mädchen’, kammerdreng ‘-junge’ (OODS) oder auch kammerhest ‘-pferd’ (KO).

Als Keksbezeichnung ist die Transparenz von kammer und junker heute verblasst, was wiederum kammerjunker zum neuen Erstglied von Kompositabildungen machen kann, z. B. kammerjunker-pusher ‘Kammerjunkerdealer’ (Politiken, 01.07.1992), kammerjunkerekstase ‘Kammerjunkerextase’ (ebd. 28.07.2001) etc.

2.4.2 Flexion

In der Flexion verhält sich Kammerjunker in den beiden slavischen Sprachen unauffällig und passt sich den polnischen bzw. russischen Mustern an. Ähnliches kann auch für das Dänische gesagt werden, allerdings gibt es hier Unterschiede zwischen kammerjunker als Personen- und als Keksbezeichnung. Da Kammerjunker allein im Dänischen weiterhin produktiv ist, soll uns hier abschließend dessen Flexionsverhalten, genauer die Pluralmarkierung interessieren. Angeregt durch die Beobachtung von Jensen (2012), der die erste Verwendung in der Keksbedeutung in der Tageszeitung Politiken entdeckt hat, wurde dazu im elektronisch abrufbaren Archiv der Zeitung eine Korpusanalyse durchgeführt.4

Zwei Fragen sollten durch die Korpusanalyse beantwortet werden: 1) Wie verteilen sich die Referenzen auf Person und Keks; 2) wie ist die Verteilung der Singular- und Pluralmarkierungen?

Nach dem ersten Beleg 1903 steigt der Anteil von kammerjunker als Gebäck bis 1942 auf einen Anteil von 13 %. Ab 1993 liegt der Anteil von kammerjunker als Keksbezeichnung konstant und steigend über 50 %, im letzten Jahrzehnt bei ca. 97 % (Abb. 2 und 3).

Abb. 2:Seiten mit kammerjunker als Personen- und Keksbezeichnung im Politiken-Archiv, 1884–1942, n =2055

Abb. 2:Seiten mit kammerjunker als Personen- und Keksbezeichnung im Politiken-Archiv, 1884–1942, n =2055

Abb. 3:kammerjunker als Personen- und Keksbezeichnung im Politiken-Archiv 1943–2022, n =731

Abb. 3:kammerjunker als Personen- und Keksbezeichnung im Politiken-Archiv 1943–2022, n =731

Nach Harnisch (2010: 105) kann von Integration eines Lehnworts gesprochen werden, wenn “suffixverdächtige Wortausgangsstrukturen als morphosemantisch nutzbar erachtet und dann auch genutzt werden”. Genau dies scheint in der aktuellen Entwicklung von kammerjunker als Keksbezeichnung der Fall zu sein, und zwar bezüglich der Interpretation des finalen Elements -er. Im Deutschen ist dies die reduzierte Form des “verdunkelten” Kompositums Jung-herr (vgl. Grimm), das sich zu Junker entwickelt hat und sich in ein System von Personenbezeichnungen einreiht, zu denen sowohl die transparenten Nomina agentis wie Herrsch-er, aber auch morphologisch einfache, jedoch suffixverdächtige Formen wie Kais.er gehören (vgl. Harnisch 2000). Auf dem Weg ins Dänische wird kammerjunker nun einer Reanalyse unterzogen, die mit der Homonymie von dän. -er zu tun hat: Wie im Deutschen kann im Dänischen -er eine personenbezeichnende Endung sein (hersk-er, aber kajs.er) und bildet dann den Stamm für das Pluralsuffix -e (hus > hus-e ‘Häuser’), also kammerjunk.er-e. Daneben gibt es im Dänischen aber auch das Pluralsuffix -er (bil > bil-er ‘Autos’). Außerdem können Definitheitssuffixe hinzutreten, z. B. hus-e-ne ‘die Häuser’ oder bil-er-ne ‘die Autos’. Es ergibt sich also eine potentielle Ambiguität des Elements -er, die zu Schwankungen im Gebrauch führen kann. So weist z. B. auch DDO darauf hin, dass die Verwendung des Elements -er als Plural von manchen als inkorrekt angesehen werde.

Für die Ermittlung, ob wir es bei einer Wortform auf -er mit einer Singular- oder Pluralform zu tun haben, wurden die Vorkommen auf der Grundlage von Kongruenz mit Artikelwörtern oder Adjektiven klassifiziert. Eine verbleibende Gruppe ohne kongruierende Wortformen wurde als “ambig” gesondert behandelt. Die Ergebnisse zeigen, dass bei kammerjunker als Personenbezeichnung die Sache eindeutig scheint. Hier korrelieren Singular- und Pluralformen mit entsprechender einzahliger oder mehrzahliger Referenz:

Abb. 4:Numerusmarkierung bei kammerjunker als Personenbezeichnung, n =292

Abb. 4:Numerusmarkierung bei kammerjunker als Personenbezeichnung, n =292

Bei kammerjunker als Keksbezeichnung (Abb. 5) wird zunächst deutlich, dass sie eine andere “natürliche Vorkommensart” oder Disposition (im Sinne von Talmy 1988) zeigen und vorwiegend im Plural auftreten, sodass die Analyse der Wortform zu den konkurrierenden Pluralformen kammerjunker-e und kammerjunk-er führen kann. Die Eigenschaft, sich in Kaltschale langsam aufzulösen, trägt aber wohl dazu bei, dass neben der pluralischen auch eine nicht-zählbare Disposition der Form möglich wird. Wenn es z. B. in einer Werbeanzeige vom 12.06.1964 “Kammerjunker til kærnemælkskoldskål” ‘Kammerjunker zur Buttermilchkaltschale’ heißt, dann scheint die Interpretation als nicht-zählbare, aber doch aus diskreten Einheiten bestehende Menge (wie z. B. Reis) plausibel (“discrete” und “bounded” bei Talmy 1988: 180 f.). Diese ambigen Verwendungen sind früher attestiert als diejenigen mit eindeutiger Singularkongruenz. Hier gibt es Vorkommen, bei denen eine singularische Mengenbedeutung am plausibelsten ist, wie in Discountvare kommer tættest på idealet af en kammerjunker ‘Discountware kommt dem Ideal eines Kammerjunkers am nächsten’ (Politiken, 27.07.2013), sodass man eine (wenn auch noch nicht sehr weit vorangeschrittene) Tendenz zur Ausbildung einer singularischen Lesart beobachten kann.

Abb. 5:Numerusmarkierung bei kammerjunker als Keksbezeichnung, n =416

Abb. 5:Numerusmarkierung bei kammerjunker als Keksbezeichnung, n =416

In dieser Zeit tauchen auch Verwendungen mit Referenz auf ein einzelnes Exemplar aus der Menge der Kammerjunker auf, wobei hier neben der gleichlautenden Form kammerjunker (z. B. lille tvebak: Hvilket er, hvad den ovnbagte kammerjunker er ‘kleiner Zwieback, (welches ist,) was der im Ofen gebackene Kammerjunker ist’; Politiken, 05.06.2004) auch innovative Singularformen auftreten, die als Konsequenz einer Reanalyse von kammerjunker als Pluralform kammerjunk-er interpretiert werden müssen, z. B. kammerjunk (men en kammerjunk bør også kunne spises hel ‘Aber ein Kammerjunk sollte auch ganz gegessen werden’; Politiken, 28.07.2001) und kammerjunke (Det er for mig en kammerjunke ‘Das ist für mich ein Kammerjunke’, Politiken, 29.11.2014). Die folgende Grafik 6a zeigt, dass die innovativen Verwendungen im gleichen Zeitraum auftreten, in dem es überhaupt zu eindeutig kongruierenden Singularverwendungen kommt. Grafik 6b belegt, dass das Aufkommen der Form kammerjunker als eindeutig pluralisch kongruierende Form erst danach, im letzten untersuchten Jahrzehnt auftritt.

Abb. 6:Entwicklung der Endungen für singularische Verwendungen (6a) und pluralische Verwendungen (6b) von kammerjunker

Abb. 6:Entwicklung der Endungen für singularische Verwendungen (6a) und pluralische Verwendungen (6b) von kammerjunker

Die Reanalyse von kammerjunker bei Keksbezeichnungen von einer Singular- zu einer Pluralform mag also wie folgt abgelaufen sein:

  • Stadium 1: kammerjunker ist singularisch, kommt aber selten vor und bildet den Plural auf -e (kammerjunker-e). Die Verteilung ist analog zu der bei Personenbezeichnungen. Diese Verteilung ist bis heute dominant.
  • Stadium 2: kammerjunker wird in artikellosen Verwendungen aufgrund der natürlichen Disposition des/der Referenten alternativ als singularische Menge konzeptualisiert, die aus diskreten Einheiten besteht.
  • Stadium 3: Bei der Notwendigkeit der Referenz auf ein einzelnes Exemplar entstehen aus dieser alternativen Interpretation innovative Formen wie kammerjunk und kammerjunke, die eine pluralische Form kammerjunker implizieren.
  • Stadium 4: Die innovative Verwendung von kammerjunker mit eindeutiger Pluralkongruenz tritt erst im Anschluss auf.

Ob dieses Szenario zutrifft, mag die weitere Entwicklung oder auch andere Korpusuntersuchungen zeigen. Neben der Reanalyse von kammerjunker wäre auch eine Analogie zur Pluralendung von tvebak(k)-er, den Konkurrenten der Kammerjunker, als Einfluss auf die pluralische Lesart denkbar.

3. Schluss

Die Bedeutungsverschiebung auf ein neues Denotat hat im Dänischen dem Kammerjunker seine Produktivität gesichert, während das Lehnwort im Polnischen und Russischen einen geringeren Integrationsgrad erreicht hat und heute praktisch ausgeschieden ist. Auch wenn Kammerjunker in der Kaltschale kaum singularisch auftreten und darüber hinaus die Gefahr besteht, mit ihrer Umgebung zu einer Masse zu verschmelzen, sodass sie ihre Zählbarkeit einbüßen, so wird doch in den regelmäßig in der dänischen Presse erscheinenden Kammerjunkertests deutlich, dass die Kunst der Herstellung eines Kammerjunkers darin liegt, ihm so lange wie möglich eine gewisse Knusprigkeit zu erhalten, so seinen Individuierungsgrad beizubehalten und ihn vor dem Ertrinken in der Kaltschale zu bewahren, wie zum Beispiel am 29.05.2021 in Politiken: Derfor er det vigtig, at kammerjunkeren ikke bare suger alt til sig med det samme ‘Deshalb ist es wichtig, dass der Kammerjunker nicht einfach alles sofort aufsaugt’.


1 WDLP (2010) oder auch das DFG-Projekt Wörter auf Wanderschaft: Der Weg deutscher Lehnwörter des Polnischen ins Ostslavische (https://uol.de/slavistik/forschung/sprachwissenschaft/drittmittelprojekte/woerter-auf-wanderschaft/woerter-auf-wanderschaft, letzter Zugriff: 11.02.2023).

2 Wenn Kammerjunker sprachübergreifend gemeint ist, wird hier die deutsche Schreibweise verwendet.

3 Bei Grimm werden neben dem Polnischen, Russischen und Dänischen auch das Schwedische und Niederländische als Sprachen genannt, die das Wort entlehnt haben.

Details

Pages
560
Publication Year
2023
ISBN (PDF)
9783631904268
ISBN (ePUB)
9783631904275
ISBN (Hardcover)
9783631889886
DOI
10.3726/b20960
Language
German
Publication date
2023 (July)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 560 S., 34 s/w Abb.

Biographical notes

Jan-Patrick Zeller (Volume editor) Thomas Menzel (Volume editor) Hauke Bartels (Volume editor)

Die Herausgeber sind ehemalige Schüler und Mitarbeiter von Gerd Hentschel. Hauke Bartels ist Direktor des Sorbischen Instituts / Serbski institut in Bautzen und Professor für Sorabistik an der Technischen Universität Dresden. Thomas Menzel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sorbischen Institut / Serbski institut und außerplanmäßiger Professor an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Jan Patrick Zeller ist Professor für Slawische Sprachwissenschaft an der Universität Greifswald.

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