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Linguistik des ökologischen Diskurses

Untersuchungen zu Kommunikationsformen in Ökologie und Umweltschutz in der Russischen Föderation

by Martin Henzelmann (Author)
©2024 Postdoctoral Thesis 370 Pages
Series: Symbolae Slavicae, Volume 39

Summary

Die vorliegende Studie fokussiert sich aus linguistischer Perspektive auf die Verhandlung von Ökologie und Umweltschutz in der Russischen Föderation. Anhand zahlreicher Beispiele werden kultursemiotische, juristische, ökonomische und andere Fragestellungen mit sprachwissenschaftlichen Ansätzen synthetisiert. Daraus ergeben sich multiple Perspektiven auf umweltbezogene Themenkomplexe, weshalb für eine differenzierte und gebrauchsbasierte Beschreibung der russischen Sprache speziell im ökologischen Diskurs plädiert wird.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Vorwort
  • 2. Zur Methodik der vorliegenden Studie
  • 3. Ökologie, Umweltschutz und Umweltprobleme in Russland
  • 3.1 Ökologie, Umweltschutz und Linguistik
  • 3.2 Die umweltpolitische Administration in Russland
  • 3.3 Zur Bedeutung der russischen Umweltpolitik
  • 4. Ökolinguistik: Die Sprache als Ökosystem
  • 4.1 Gegenstand der Ökolinguistik
  • 4.2 Stellenwert der Ökolinguistik in Russland
  • 5. Diskurslinguistik: Sprache über das Ökosystem
  • 5.1 Allgemeines zur Diskurslinguistik
  • 5.2 Der ökologische Diskurs
  • 6. Sprache in umweltrelevanten Teildiskursen
  • 6.1 Politik
  • 6.2 Nichtregierungsorganisationen
  • 6.3 Medien
  • 6.4 Bildung und Wissenschaft
  • 6.5 Tourismus
  • 6.6 Wirtschaft
  • 6.7 Weitere Akteure
  • 6.8 Zusammenfassung
  • 7. Rechtslinguistik in Russland
  • 7.1 Der Rechtsrahmen
  • 7.2 Spezifika der russischen Rechtsauffassung
  • 7.3 Spezifika der Jurisprudenz
  • 7.4 Sprachliche Modellierungen von Umweltschutz
  • 7.5 Zusammenfassung
  • 8. Internationale Rechtslinguistik
  • 8.1 Strategien bei der Anfertigung von Übersetzungen
  • 8.2 Die Agenda 21 (Повестка дня на XXI век)
  • 8.3 Das Kyoto-Protokoll (Киотский протокол)
  • 8.4 Das Übereinkommen von Paris (Парижское соглашение)
  • 8.5 Zusammenfassung
  • 9. Konstruktionsgrammatik
  • 9.1 Die Theoriebildung nach Adele Goldberg
  • 9.2 Weiterentwicklung der Ansätze
  • 9.3 Konstruktionsgrammatik und Diskurslinguistik
  • 9.4 Gebrauchsbasierte Ansätze
  • 9.5 Situation und Perspektivierung
  • 9.6 Zusammenfassung
  • 10. Visuelle Linguistik
  • 10.1 Theoretische Verortung in der Sprachwissenschaft
  • 10.2 Der Einsatz visueller Kommunikate
  • 10.3 Linguistic Landscapes
  • 10.4 Semiotic Landscapes
  • 10.5 Spezifik des Verhältnisses von Text und Illustration
  • 10.6 Sprache im Volga-Kama-Biosphärenreservat
  • 10.6.1 Visuelle Kommunikate im Volga-Kama-Biosphärenreservat
  • 10.6.2 Semiotik der Farben und Symbole
  • 10.6.3 Zentrum und Peripherie
  • 10.7 Zusammenfassung
  • 11. Schlussbetrachtungen und Ausblick
  • 12. Резюме на русском языке
  • 13. Literaturverzeichnis
  • 14. Weiterführende Literatur zu einzelnen Themenkomplexen
  • 15. Internetquellen
  • 16. Sach- und Ortsregister

1. Vorwort

Ökologische Fragestellungen sind bislang noch relativ selten Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtungen, obwohl sich in den letzten Jahren eine klare Tendenz zur Relevanz von Themen wie Umwelt, Natur und Klima in vielen gesellschaftlichen Bereichen erkennen lässt. Darin ist der Entstehungshintergrund der vorliegenden Monographie zu sehen, bei der es sich um die etwas gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift handelt, die im Dezember 2022 an der Technischen Universität Dresden angenommen wurde.

Die Tragweite ökologischer Phänomene geht deutlich über naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Zusammenhänge hinaus. So sind soziale und kulturelle Komponenten wichtig, wenn beispielsweise Nutzflächen in unmittelbarer Nähe von Naturschutzgebieten erschlossen werden und einerseits Arbeitsplätze bringen, andererseits aber auch die Zerstörung lokaler Ökosysteme nach sich ziehen. In diesem Spannungsfeld ist gleichermaßen zu beobachten, dass Sprache gezielt eingesetzt wird, um etwa Protest oder Zustimmung zum Ausdruck zu bringen, sie wirkt aber auch auf anderen Ebenen regulierend wie etwa in der umweltschutzrelevanten Gesetzgebung.

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Studie, die die Interaktion unterschiedlicher Themenkreise der Ökologie in der Russischen Föderation aus linguistischer Perspektive untersucht und dabei auf vier große Komponenten eingeht: Diskurslinguistik, Rechtslinguistik, Konstruktionsgrammatik und visuelle Linguistik. Diese Bereiche wurden ausgewählt, weil sie verdeutlichen, dass verschiedene Ansätze eine mannigfaltige Projektionsfläche für linguistische Untersuchungen bieten, die bislang noch nicht mit Fragen aus dem ökologischen Diskurs in der Russischen Föderation synthetisiert wurden. Sie können in ihrer Wechselwirkung mit kulturwissenschaftlichen, historischen, politischen, ökonomischen, biologischen und zahlreichen anderen Faktoren in Relation gesetzt und beschrieben werden. Dadurch ergibt sich eine multiple Perspektive auf ökologische Themenkomplexe, die gezielt die Frage aufgreift, welche Rolle der russischen Sprache in bestimmten Domänen zukommt und wie sie somit gebrauchsbasiert analysiert werden kann. Die Arbeit möchte aufzeigen, wie verschiedene sprachwissenschaftliche Richtungen und Interessen innerhalb eines konkreten und sehr komplexen Diskurses miteinander koordiniert und in einer „inneren Interdisziplinarität“ zusammengeführt werden können. Dazu werden kulturspezifische, gesellschaftsrelevante, politische und diskursinhärente Konstellationen aufgegriffen und anhand von Fallbeispielen erörtert.

Die Untersuchung ist wie folgt strukturiert: Zunächst werden einige Hintergrundinformationen beleuchtet, die notwendig sind, um die Bedeutung der Ökologie in der russischen Gesellschaft einzuordnen. Es schließen sich linguistische Analysen an, die in einem ersten Teil auf die Forschungstradition der Ökolinguistik eingehen, die eine Sprache und ihre stetige Weiterentwicklung analog zu einem Ökosystem betrachtet. Weiterhin werden die zentralen Aspekte der Diskurslinguistik beschrieben und einige Diskursakteure identifiziert, die die Einbindung einer ökologischen Thematik in Kommunikationsstrategien in den Vordergrund rücken. Es wird davon ausgegangen, dass umweltrelevante Fragestellungen sehr verschieden gewichtet werden können und dass dementsprechend gezielt semantische und lexikalische Isotopien auftreten. Anschließend wird die Rechtslage in der Russischen Föderation und ihre sprachliche Modellierung ausgewertet. Sie offenbart zahlreiche Schnittmengen zur westeuropäischen Jurisprudenz, muss aber vor dem Hintergrund einer eigenständigen russischen Rechtstradition interpretiert werden. Die russische Rechtssprache wird in den Ausführungen als Schutzinstrument für das Ökosystem angesehen. Um die Verflechtungen zwischen Grammatik und Lexik zu ergründen, die sich aus der Rezeption ökologisch relevanter Phänomene ergeben, wird die Konstruktionsgrammatik als kognitive Modellierung eines Ökosystems exemplarisch aufgearbeitet. Schließlich wird die Visualisierung von Sprache analysiert, die im öffentlichen Raum zur Wahrnehmung und Strukturierung von Naturphänomenen beiträgt. In diesem Teil wird es neben semantischen auch um semiotische Aspekte gehen.

Insgesamt möchte die Untersuchung einen Beitrag zur bislang wenig erforschten Problematik des ökologischen Diskurses und seiner polydimensionalen Struktur in der Russischen Föderation sowie seinen multiplen Erscheinungsformen aus sprachwissenschaftlicher Sicht leisten. Sie möchte gleichermaßen für das Forschungsgebiet sensibilisieren, zur Theoriebildung beitragen und aufzeigen, welche thematischen Vertiefungen künftigen Studien vorbehalten sein können.

Für die zahlreichen konstruktiven Gespräche und die wichtigen kritischen Anmerkungen möchte ich mich in erster Linie bei Prof. Dr. Holger Kuße von der Technischen Universität Dresden herzlich bedanken. Des Weiteren gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Thede Kahl von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der mir nicht nur mit wertvollen Hinweisen zur Seite stand, sondern auch die Veröffentlichung des Manuskripts in der Reihe „Symbolae Slavicae“ entscheidend befürwortete. Prof. Dr. Milivoj Alanović von der Universität Novi Sad in Serbien sei ebenfalls mein ausdrücklicher Dank für seine inspirierenden Denkanstöße ausgesprochen.

2. Zur Methodik der vorliegenden Studie

Die vorliegende Untersuchung greift zentrale Punkte auf, die im Zusammenhang mit ökologischen und ökopolitischen Fragen stehen und verbindet sie mit linguistischen Ansätzen. Dazu wird zunächst auf unterschiedliche Konstellationen eingegangen, die ähnlich wie bei Warnke/Spitzmüller (2008: 8, im Folgenden kursiv hinterlegt) in einem konkreten Diskurs ausgewertet werden können. Nach einer Einführung in die für Russland spezielle Verortung der umweltrelevanten Thematik sowie der Rolle der Diskurslinguistik werden Handlungen von Diskursakteuren vorgestellt, die den russischen ökologischen Diskurs mitgestalten und es wird ausgewertet, wie diese Akteure auf kommunikativer Ebene vorgehen. In diesem Zusammenhang wird eine Auswahl relevanter Akteure zusammengestellt, die sich auf der Annahme gründet, dass diese Gruppen oder Erscheinungen in unterschiedlicher Form Narrative des Ökologischen in ihre Kommunikationsstränge einflechten. Zu den ausgewählten Diskursakteuren werden jeweils unterschiedliche Daten zusammengetragen, auf deren Grundlage exemplifizierte Schlussfolgerungen gezogen werden. Dabei steht nicht immer die Frage nach Quantität im Raum, sondern es wird gezielt nach Einzelphänomenen gesucht, die in einem größeren Kontext reflektiert werden müssen. So werden sieben verschiedene Akteure, ihre umweltbezogenen Handlungsfelder und die daraus resultierenden Versprachlichungen ergründet und in Relation zueinander gesetzt. Verflechtungen und Konflikträume, die sich innerhalb einzelner Teildiskurse konstituieren, werden beleuchtet.

Weiterhin wird die bei Warnke und Spitzmüller erwähnte Raumstrukturierung unter einem juristischen Gesichtspunkt erfasst. Es wird davon ausgegangen, dass das Recht im Allgemeinen und das Umweltrecht in der Russischen Föderation im Speziellen als zentrales Organ der sprachlichen Raumstrukturierung fungiert. Daher wird ein Korpus bestehend aus nationalen russischen und internationalen Rechtsdokumenten zusammengestellt, aus dem hervorgeht, wie sich die konkrete Umsetzung ökologischer Raumgestaltung entlang sprachlicher Muster konfiguriert. Sprache wird im rechtsverbindlichen Rahmen als Schutzinstrument eines Ökosystems verstanden.

Der ökologische Raum wird aber nicht nur durch seine Akteure oder durch normative Dokumente strukturiert, sondern auch auf kognitiver Ebene. Aus diesem Grund werden einige Ansätze aus der Konstruktionsgrammatik aufgegriffen, die es ermöglichen, Sprache als kognitive Modellierung eines Ökosystems zu theoretisieren. Es werden einige Beispiele auf ihre Bedeutung im ökologischen Rahmen untersucht und dabei der Versuch unternommen, die konstruktionsgrammatischen Annahmen mit praktischen Beispielen zu verknüpfen.

Ein zentraler Punkt sind zudem visuelle Kommunikate, die als Implementierung mannigfaltiger diskursspezifischer und juristischer Sachverhalte im öffentlichen Raum dienen. Durch eine Visualisierung werden Personen, die ein definiertes Gebiet betreten auch dann zu Diskursteilnehmern, wenn sie sich möglicherweise gar nicht mit einem konkreten Diskursphänomen auseinandersetzen. Anhand von ausgewählten Beispielen, die sich u.a. auf empirische Beobachtungen stützen, werden daher multiple Ansätze gewählt, um die Interaktion von Texten und Bildmaterial im weitesten Sinne texttheoretisch und praxisorientiert zu modellieren. Die Trilogie der von Warnke und Spitzmüller eingeführten Eckpfeiler zur Diskursanalyse, bestehend aus Handlungen von Diskursakteuren, Raumstrukturierung und visuellen Kommunikaten, wird dabei als Fundament für eine Analyse interaktionaler Parameter erachtet und um eine konstruktionsgrammatische Komponente erweitert, die eine Theoretisierung an der Schnittstelle von textlinguistischen, grammatischen und semiotischen Komponenten ermöglicht. Diese Aspekte werden stets im Zusammenhang mit naturrelevanten Phänomenen in der Russischen Föderation betrachtet und figurieren als Kernelemente des spezifisch russischen ökologischen Diskurses.

Die Studie möchte zur Theoriebildung dieser komplexen ökologischen Sachverhalte aus linguistischer Perspektive beitragen. Weiterhin setzt sie sich das Ziel, den Niederschlag ökologischer Debatten in Russland multidimensional zu dokumentieren und im Rahmen der sprachwissenschaftlichen Slavistik à jour zu bringen.

Reflektieren wir aber zunächst einmal die Frage, welchen Stellenwert Ökologie und Umweltschutz in der Russischen Föderation einnehmen, um dann aufzuzeigen, wie man mit umweltrelevanter Thematik in der Sprachwissenschaft umgeht.

3. Ökologie, Umweltschutz und Umweltprobleme in Russland

3.1 Ökologie, Umweltschutz und Linguistik

Im globalen Maßstab scheint sich immer deutlicher ein Bewusstsein dafür herauszubilden, wie wichtig der Umgang mit natürlichen Ressourcen, unterschiedlichen Ökosystemen und den natürlichen Lebensräumen von Flora und Fauna ist. Firmen werden weltweit aufgefordert, nachhaltig zu produzieren und umweltbewusst zu handeln. Regelmäßig versammeln sich in zahlreichen Ländern Jugendliche in der Bewegung Fridays for Future (kurz FFF), die für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur demonstrieren und so auf ihre Zukunft aufmerksam machen. Dies ist Grund genug zu hinterfragen, in welchen Sphären des öffentlichen Lebens die Umwelt überhaupt eine Rolle spielt und welche sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten sich dafür in der Russischen Föderation bieten.

Russland ist aus geographischer Perspektive betrachtet eines der vielfältigsten Länder der Erde. Die längsten Flüsse der Welt durchlaufen das Land, eine faszinierende Flora und Fauna erstreckt sich vom Japanischen Meer bis an die Ostseeküste, die klimatischen Bedingungen liegen zwischen denen am Arktischen Ozean und den Subtropen, ausgedehnte Wald- und Steppengebiete gehören ebenso zum Landschaftsbild wie die höchsten Gipfel Europas im Kaukasus. Diese einzigartige Vielfalt gilt es zu schützen, aber auf welcher Grundlage geschieht das?

Umweltschutz hat in den modernen westlichen Gesellschaften einen vergleichsweise hohen Stellenwert. In Schutzgebieten gelten strenge Auflagen, die Fehlverhalten eindämmen sollen und von vorn herein regeln, welche Aktivitäten erlaubt sind und welche nicht. Zahlreiche gesellschaftliche und politische Bewegungen bestehen auf dem Grundsatz, Ressourcen nicht in erster Linie aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu erschließen, sondern vielmehr nach alternativen Lösungen zu suchen, die das ökologische Gleichgewicht gewährleisten. In der EU werden diese Forderungen heutzutage stärker denn je überprüft, aber wie gestaltet sich die Lage in Russland? Sind die Gesetze zum Umweltschutz effektiv, oder haben sie vermeintlich deklarativen Charakter und werden als wenig praktikabel erachtet? Wie agiert die couragierte Zivilgesellschaft, die sich der realen Probleme annimmt und nach konkreten Verbesserungsvorschlägen sucht?

Wie in jedem Land der Erde gibt es auch in der Russischen Föderation Umweltprobleme, die teilweise ein gravierendes Ausmaß erreichen und deren Hintergründe nicht ohne Weiteres durchsichtig erscheinen. So berichtete die Tagesschau über einen Umweltskandal in der Tundra, der Ende Mai 2020 dazu führte, dass aus einem Kraftwerkstank 21.000 Tonnen Dieselkraftstoff ausliefen und die umliegenden Ökosysteme erheblich verschmutzten (Ruck 2020). Bekannt sind auch die verheerenden Einschnitte in die natürlichen Lebensräume seltener Tier- und Pflanzenarten, die die Olympiastätte Soči im Zuge von Baumaßnahmen der „grünen Spiele“ hinnehmen musste. Für diejenigen, die in erster Linie Profit aus natürlichen Ressourcen wie der Landschaft oder Bodenschätzen schlagen wollen, scheint Umweltschutz eher ein Hindernis als ein Gut zu sein, und das gilt nicht nur für Russland. Dort gibt es aber auch ein Netzwerk von Akteuren, die mit wenig Geld, hohem Aufwand und zum Teil unter widrigen Bedingungen dazu beitragen, dass die Grundidee des Naturschutzes in die Praxis umgesetzt werden kann, dass Maßnahmen durchgeführt oder rechtswidrige Großprojekte gestoppt werden.

Mit Fragen der Umwelt hängen aber weit mehr Themen als Wirtschaftswachstum, Schutzgebiete und Protestaktionen zusammen. So lässt sich beispielsweise der Klimawandel nicht auf eine bestimmte Personengruppe reduzieren, da er weltweit als Herausforderung gilt1, er bringt aber sehr wohl neue Aufgaben im Hinblick auf Arbeitstechnologien und Ressourcennutzung mit sich, so dass beispielsweise Wirtschaftsunternehmen und Tourismusverbände angemessen darauf reagieren müssen. Verbraucher sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob und wie sie ihre Lebens- und Konsumgewohnheiten ändern sollen, um möglicherweise einen Beitrag zum Naturschutz zu leisten, welche gesundheitlichen und finanziellen Perspektiven sie dadurch erwarten können, wie sich eine Energiewende2 realistisch vollziehen kann und wie das die kommende Generation beeinflussen wird. Wasserknappheit, Hungersnöte, Armut und sogar Kriege werden in diesen Kontext eingeordnet und lassen erahnen, wie wichtig in der Praxis der Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen ist, die unseren täglichen Bedarf decken sollen.

Die komplexen ökologischen Zusammenhänge wurden im Rahmen unterschiedlicher Projekte aufgegriffen. So wurde mit der Erstellung einer sog. Fuzzy Cognitive Map modellieret, wie umfassend sich ein am Klimawandel orientiertes Netzwerk von Akteuren und Problemstellungen gestaltet3. Diese Fuzzy Cognitive Map setzt sich zum Ziel, die Zusammenhänge zwischen Phänomenen wie Biodiversität, Ökosystemen, Resilienz sozialer und natürlicher Systeme oder die Zusammenhänge zwischen Biodiversität und Öffentlichkeit zu modellieren, wenngleich multidimensionale Interpretationen denkbar sind (etwa erforderliche Schutzmaßnahmen oder der Dienstleistungssektor in Ökosystemen uvm.). Dieses Konstrukt bildet symbolisch die Wechselwirkungen ab, die sich – ganz allgemein gesprochen – zwischen den Bedürfnissen menschlichen Lebens und der Existenz von Naturräumen ergeben. Ein Musterschema entstand im Zuge einer Sommerschule, die sich der computergestützten Modellierung der Problematik widmete und die Fragestellung ergründen wollte, „What factors will lead to a change in the natural environment and how will that effect human well-being“ (alle Details dazu sind auf der Homepage beschrieben, auf die in Fußnote 3 verwiesen wird). Je größer ein Faktor optisch abgebildet ist, desto wichtiger ist sein Inhalt in Bezug auf die Fragestellung. Die Fuzzy Cognitive Map ist eine von mehreren Optionen der Visualisierung und wird als aggregated social map bezeichnet, da sie unterschiedliche Konzepte als Punkte darstellt, die wiederum für relevante Kriterien oder Konstellationen stehen.

In einem Musterbeispiel wurden 226 Konzepte identifiziert, welche vor allem die Zusammenhänge zwischen Wohlstand auf der einen und Klimawandel auf der anderen Seite skizzieren und somit aufzeigen, welche Herausforderungen und Lebensrealitäten Einflüsse auf beide Phänomene haben. Beispielsweise wird dargestellt, dass der menschliche Wohlstand vor allem mit der Bevölkerung selbst in Wechselwirkung steht, dass aber auch andere Größen wie der Tourismus oder die Verhältnisse im Wald des Amazonas eine Auswirkung darauf haben. Der Tourismus wiederum steht in Wechselwirkung mit Faktoren wie Kaufkraft, wirtschaftlichen Möglichkeiten oder dem Interesse an anderen Orten, während die Verhältnisse im Amazonas von der Nutzung der Region oder Bebauungsvorhaben abhängen. So werden unterschiedliche Aspekte untereinander vernetzt, die ihrerseits zwischen Wohlstand und Klimawandel angesiedelt und jeweils an weitere Faktoren gekoppelt sind. Der Vorteil dieser Darstellung besteht darin, sämtliche Interaktionen gebündelt zu visualisieren (in diesem Fall 226 Komponenten, die ineinandergreifen). Es ist allerdings unmöglich, sich im Rahmen einer Studie mit all diesen Faktoren und Wechselwirkungen zu befassen, so dass hier eine Auswahl getroffen werden muss, die an eine individuelle Konstellation angepasst ist und zudem Raum für sprachwissenschaftliche und kultursemiotische Ansätze bietet. Bereits die weiträumige Verzahnung von Mechanismen, die anhand dieser Problematik illustriert wurden, zeigt, dass es ein illusorisches Unterfangen wäre, die Gesamtheit aller beteiligten Personen und Sachverhalte abzubilden, die am Themenkreis partizipieren. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie auch nur eine selektive Auswahl kommentiert, die in unterschiedlicher Intensität Einflussgrößen auf das Diskursfeld der Ökologie motiviert.

Gewiss kann es nicht das Ziel der vorliegenden Untersuchung sein, die rechtlich beabsichtigten Formulierungen auf daraus abgeleitete und tatsächlich realisierte Handlungsstrategien, geschweige denn auf die Umsetzung und den Zusammenhang zwischen Gesetz und Realität hin zu bewerten. Es soll vielmehr vorgestellt werden, welche Teilbereiche es gibt, in die der Themenkreis der Naturproblematik aus linguistischer Perspektive einfließt. Es ist aufschlussreich, den administrativen Rahmen zur Handhabung umweltpolitischer Sachverhalte zu betrachten, bevor konkrete Analysen mit einem sprachwissenschaftlichen Fokus angeschlossen werden.

3.2 Die umweltpolitische Administration in Russland

Das Ministerium für Ökologie und natürliche Ressourcen der Russischen Föderation (Министерство природных ресурсов и экологии Российской Федерации, kurz Минприроды России) ist das zentrale Organ in der Russischen Föderation, welchem grundsätzliche Umweltfragen obliegen. Seine Aufgaben sind in den Bereichen Umweltschutz, Nutzung natürlicher Ressourcen und ökologischer Unversehrtheit angesiedelt. In seiner heutigen Form besteht es seit dem Jahre 2008 und ist strukturell wie folgt aufgebaut (nachzulesen unter http://www.mnr.gov.ru/about/#structure): Es gibt einen Minister, aktuell Aleksandr A. Kozlov, der durch einen Erlass des Präsidenten bestimmt wird, und der sechs

Stellvertreter hat. Das Ministerium führt seine Arbeit in 13 unterschiedlichen Departements durch, die für konkrete Aufgabenfelder zuständig sind (etwa für die staatliche Politik zur Handhabung der besonders zu schützenden Gebiete, die Wasser- und Forstwirtschaft, die Rechtsabteilung oder den Pressedienst). Sie werden im Wesentlichen von den Stellvertretern des Ministers geleitet. Hinzu kommen sechs Föderale Behörden und Dienste, die dem Ministerium untergeordnet sind, so etwa die Föderale Behörde für Forstwirtschaft oder die Föderale Behörde für Wasserwirtschaft.

In Russland existieren unterschiedliche Kategorien von Naturschutzgebieten, die allgemein unter den „Besonders geschützten Naturgebieten und Objekten Russlands“ (Особо охраняемые природные территории и объекты России, kurz ООПТ) summiert werden. Sie werden direkt vom Ministerium verwaltet und lassen sich in Unterkategorien aufteilen. Diese Struktur wurde bereits im föderalen Gesetz mit dem Titel „Об ООПТ“ (1995, mit Änderungen 2013) festgelegt, welches die entsprechenden Gebiete als nationales Gut definiert (ab hier aus Černych 2014: o. S., bei ihm Kapitel 2). Die ranghöchste Kategorie kommt demnach staatlichen Naturschutz- und Biosphärenreservaten (государственные природные заповедники) zu. Dem folgen Nationalparks (национальные парки), Naturparks (природные парки), staatliche Naturschutzgebiete bzw. Wildgehege (государственные природные заказники), Naturdenkmäler (памятники природы), dendrologische Parks und botanische Gärten (дендрологические парки и ботанические сады) und weitere Kategorien (иные категории ООПТ). Unterschieden wird weiterhin danach, ob ein Schutzgebiet föderale, regionale oder lokale Bedeutung erfährt. Nach den Angaben von Černych ergibt sich daraus die Konstellation in Tabelle 1.

Tab. 1:Schutzgebiete und ihre Bedeutung nach Černych 2014.
Bezeichnung Bedeutungsebene
Государственные природные заповедники Föderale Bedeutung
Национальные парки Föderale Bedeutung
Природные парки Regionale Bedeutung
Государственные природные заказники Regionale oder föderale Bedeutung
Памятники природы Regionale oder föderale Bedeutung
Дендрологические парки и ботанические сады Regionale oder föderale Bedeutung
Иные категории ООПТ nicht definiert

Dmitrij Černych (2014: o. S., Unterpunkte bei ihm in Kapitel 2) umreißt weiterhin die Herausbildung der einzelnen Struktureinheiten, die hier in Anlehnung an seine Studie kurz nachgezeichnet werden sollen. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Erwägungen getroffen wurden, Naturschutzgebiete auf dem Territorium der heutigen Russischen Föderation zu errichten, verfolgte man zwei verschiedene Strategien im Umgang mit den staatlichen Naturschutz- und Biosphärenreservaten. Die erste bestand im Wesentlichen darin, Wildtieren einen Schutzraum zu bieten und wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, während die zweite darauf abzielte, ein bestimmtes Gebiet mit der darin vorkommenden Flora und Fauna möglichst im Originalzustand zu erhalten. 1929 wurde dann die Leitlinie vorgeschlagen, staatliche Naturschutz- und Biosphärenreservate sollten drei Hauptfunktionen erfüllen, nämlich den authentischen Artenbestand in einem definierten Gebiet zu schützen, wissenschaftliche Forschungen zu ermöglichen und für den kulturellen Mehrwert des Naturschutzes zu werben. 1958 kam dann der Vorschlag auf, ein ganzes Netzwerk von Naturschutzgebieten ins Leben zu rufen, was aber nicht realisiert wurde. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam es zu einer administrativen Neuausrichtung, die im Gesetz aus dem Jahr 1995 kulminierte und im weitesten Sinne auch heute noch Gültigkeit besitzt. Demzufolge sind Staatliche Naturschutz- und Biosphärenreservate gegenwärtig klar definierte und streng geschützte Räume, in denen jegliche ökonomische oder sonstige Nutzung der vorhandenen Ressourcen untersagt ist, es sei denn, es gibt dazu entsprechende gesetzliche Regelungen4. Černych spricht weiterhin davon, dass die Umsetzung der Schutzmaßnahmen von zahlreichen Spezialisten bemängelt wird und dass sie letztlich oftmals an der Lebensrealität scheitern. Es fehle an finanzieller Unterstützung, so dass sich die Erhaltung der notwendigen Infrastruktur nur durch legalen Erkundungstourismus aufrechterhalten ließe (Černych 2014: o. S.). Demgegenüber existiert aber auch die Ansicht, dass die Umwelt um jeden Preis geschützt werden sollte, unabhängig von sämtlichen Schwierigkeiten, und dass Tourismus dabei nicht förderlich ist.

Die National- und Naturparks in Russland sind nach einem international üblichen Muster strukturiert (Černych 2014: o. S.). Es handelt sich demnach bei Nationalparks um ausgedehnte Territorien, die eine unikale Landschaft beheimaten sowie eine einmalige Flora und Fauna beherbergen, in denen weiterhin eine eingeschränkte Ressourcennutzung möglich ist, in denen die Einhaltung spezieller Vorschriften durch Schutzpersonal geprüft wird und in denen Erholungs- und Bildungsurlaub genehmigt ist. Aus der Kombination dieser Parameter ergibt sich, dass heute weltweit drei verschiedene Typen von Nationalparks existieren. Der erste Typ wird als klassischer bzw. nordamerikanischer bezeichnet. Er charakterisiert sich durch weiträumige Flächen und unikale Landschaftsbilder. Der zweite Typ wird als europäischer Typ bezeichnet, seine Ausdehnung ist wesentlich geringer als die des ersten Typs und die Auslastung dadurch stärker. Beim dritten Typ handelt es sich um ein Reservat riesigen Ausmaßes mit einer exotischen Flora und Fauna, bei dem man auch vom afrikanischen Typ spricht.

Auf dem gegenwärtigen Gebiet der Russischen Föderation existieren seit 1983 Nationalparks, nämlich der Nationalpark Losinyj Ostrov (Национальный парк Лосиный Остров) nahe bei Moskau und der Nationalpark Soči (Сочинский национальный парк). Laut russischer Rechtslage wird innerhalb der Nationalparks unterschieden zwischen räumlichen Zonen, die unzugänglich sind und autark bleiben, und anderen Zonen, in denen unter Einschränkungen und Auflagen eine Teilnutzung möglich ist, die den kulturellen Wert des Gebiets vermitteln und Erholungszwecken dienen. Gleichzeitig ist damit ausdrücklich die Aufgabe verbunden, eine entsprechende Infrastruktur zu errichten und den Zugang für die interessierte Öffentlichkeit zu gewährleisten. Gerade dann, wenn Nationalparks sich in der Nähe von größeren Städten befinden, wird der Tourismus unter Umständen zu einer enormen logistischen Herausforderung und zur Belastung für das Ökosystem. Černych fasst die grundlegenden Unterschiede zwischen Naturschutz- und Biosphärenreservaten und Nationalparks, die sich im Wesentlichen an der Frage orientieren, wie welche Flächen zu nutzen sind, wie folgt zusammen (frei nach Černych 2014)5:

Details

Pages
370
Year
2024
ISBN (PDF)
9783631901199
ISBN (ePUB)
9783631901205
ISBN (Hardcover)
9783631901182
DOI
10.3726/b20770
Language
German
Publication date
2024 (July)
Keywords
Russistik Russland Umwelt Sprachanalyse Slavistik Diskurslinguistik Diskursanalyse Diskursakteur Sprachwissenschaft
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 370 S., 13 farb. Abb., 29 Tab.

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