Das Strafbefehlsverfahren
Risiken für Fehlentscheidungen – Anwendung in der Praxis – Besonderheiten in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren
Summary
Strafverfahren bewältigen zu können. Dennoch birgt es nicht unerhebliche
Risiken für Fehlentscheidungen. In dieser Arbeit werden die strukturellen
Schwächen des Verfahrens und die Ursachen für Fehlentscheidungen untersucht.
Dabei wird insbesondere die Anwendung des Verfahrens in der Praxis
in den Blick genommen. Eine begleitende Befragung von Richtern und
Strafverteidigern sowie Experteninterviews mit Staatsanwälten stellen neben
der Auswertung einschlägiger Statistiken einen wertvollen Praxisbezug her.
Betrachtet werden in einem weiteren Schwerpunkt auch die Besonderheiten
der Anwendung des Verfahrens in den besonders umfangreichen Wirtschaftsund
Steuerstrafverfahren.
Excerpt
Table Of Contents
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Tabellenverzeichnis
- Grafikenverzeichnis
- Einleitung
- 1. Teil: Das Strafbefehlsverfahren
- 2. Teil: Die strukturellen Schwächen
- 3. Teil: Der Strafbefehl im Wirtschaftsstrafrecht
- 4. Teil: Reformvorschläge
- Anhang
- Literaturverzeichnis
- Internetquellenverzeichnis
- Verzeichnis weiterer Quellen
- Unveröffentlichte Quellen
Abkürzungsverzeichnis
Bezüglich der verwendeten Abkürzungen wird auf Kirchner,
Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache verwiesen.
Einleitung
Angesichts der hohen Arbeitsbelastung der Justiz, aber auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bedarf es verkürzter Verfahrensformen.1 Eine der wichtigsten hierbei ist das Strafbefehlsverfahren. 11,1 % der 2019 von der Staatsanwaltschaft erledigten Verfahren endeten mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, was über 500.000 Fällen entsprach.2 Trotz des erwünschten Beschleunigungseffekts berichten viele Strafverteidiger von erheblichen Problemen, die für den Angeklagten beim praktischen Umgang mit dem Strafbefehl entstehen. Diese reichen von Schwierigkeiten, den Strafbefehl zu verstehen hin über fehlende Möglichkeiten zur Einflussnahme auf das Verfahren. Es zeigt sich zudem, dass das Strafbefehlsverfahren bereits in seiner gesamten Konzeption eine Fülle an Schwachstellen beinhaltet, die Fehlentscheidungen begünstigen. Zum Teil sind diese im Gesetz zwingend angelegt, zum Teil entstehen sie durch die praktische Handhabung.
In der Literatur wurde dem Strafbefehlsverfahren seit langer Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es in der Praxis eine erhebliche Rolle spielt, vielfach sogar als unentbehrlich3 bezeichnet wird. Umso wichtiger ist es daher, dass die Verfahrensgrundsätze und -rechte der Betroffenen bei dieser unverzichtbaren Anwendung des Strafbefehls nicht untergraben werden.
In dieser Arbeit sollen die strukturellen Schwächen des Verfahrens und die Ursachen für Fehlentscheidungen, aber auch seine Potentiale identifiziert und untersucht werden.
Zurückgegriffen wird dabei unter anderem auf Erkenntnisse, die im Zusammenhang mit dem Rechtsberatungsprojekt für Strafbefehlsempfänger, das von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. in Zusammenarbeit mit der Law Clinic der Freien Universität Berlin angeboten wird4, gewonnen wurden. Hierbei handelt es sich um ein kostenloses Beratungsangebot, das Strafbefehlsempfängern dabei helfen soll, ihre Rechte wahrzunehmen, was ihnen durch das schriftliche Verfahren oftmals erschwert wird. Unterstützt wird das Projekt vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin; auch wurde Interesse an einer Unterstützung durch die Sozialen Dienste der Justiz bekundet, da diese zum Teil häufig mit Strafbefehlen konfrontiert werden. Das Beratungsgespräch wird durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit Unterstützung von Studentinnen und Studenten geführt. Neben der Gemeinwohlorientierung soll das Projekt eine rechtspolitische Diskussion befördern und Änderungsbedarf aufzeigen. Letzterer wird in dieser Arbeit unter anderem unter Berücksichtigung der Auswertung des gesammelten empirischen Materials nun wissenschaftlich aufbereitet.
Ein Praxisbezug wird auch durch eine begleitende und als qualitative Studie von beschränktem Umfang ausgestaltete empirische Untersuchung hergestellt, deren Gegenstand die jeweilige subjektive Erfahrung ist, die mit der Anwendung und dem Ablauf der Strafbefehlsverfahren gesammelt wurde. Die Untersuchungsgruppen waren bei den schriftlichen Befragungen Strafrichter am Amtsgericht Tiergarten und Berliner und Bremer Strafverteidiger sowie bei den Experteninterviews Berliner Staatsanwälte.
Ziel dieser Arbeit ist es, Optimierungspotential des Strafbefehlsverfahrens aufzuzeigen, um die Anfälligkeit für Fehlentscheidungen zu reduzieren, ebenso wie etwa die Gefahr, dass die Empfänger verurteilt werden, ohne die Bedeutung und Tragweite eines Strafbefehls in Gänze zu erfassen.
1 Vgl. auch AE-ASR, GA 2019, 1, 7.
2 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.6, 2019, Tabelle 2.2.1.1 und 2.2.1.2 (Deutschland), siehe 2. Teil B. I. 1. a), IV., Tabelle 1.
3 BVerfG NJW 1954, 69; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt Vor § 407 Rn. 1; MüKoStPO/Eckstein § 407 Rn. 9; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 68 Rn. 2; zu weiteren Positionen Böttcher, in: FS Odersky, 299, 314.
4 https://www.strafbefehlsberatung.de/, zuletzt abgerufen am 11.02.2021.
1. Teil: Das Strafbefehlsverfahren
Das Strafbefehlsverfahren ist im ersten Abschnitt des sechsten Buches der Strafprozessordnung unter den „Besonderen Arten des Verfahrens“ in den §§ 407–412 StPO geregelt. Es handelt sich hierbei um eine Verfahrensart, bei der der Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen schriftlichen Strafbefehl erlassen kann, der, soweit der Angeklagte hiergegen nicht binnen zwei Wochen Einspruch einlegt, rechtskräftig wird und einem Urteil gleichsteht. Es erfolgt mithin eine schriftliche Verurteilung5 ohne Hauptverhandlung.
Das Strafbefehlsverfahren ist neben den Opportunitätseinstellungen, wie etwa der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen gemäß § 153a StPO, und dem in den §§ 417 ff. StPO geregelten beschleunigten Verfahren eine vereinfachte Erledigungsform.6
Die richterliche Entscheidung ergeht, anders als im regulären Verfahren, lediglich aufgrund des durch die Ermittlungen zusammengetragenen Akteninhalts.7 Das Gericht hat die Entscheidungsgrundlage in tatsächlicher sowie rechtlicher Hinsicht zwar umfassend zu würdigen8, allerdings bleibt eine dem regulären Verfahren vergleichbare Erforschung des Sachverhaltes im Rahmen einer Hauptverhandlung9 aus. Daher wird das Strafbefehlsverfahren auch als summarisch10 bezeichnet.
Aufgrund seiner reinen Schriftlichkeit begegnet das Verfahren rechtsstaatlichen Bedenken. Durch das Fehlen der Hauptverhandlung werden die Grundsätze der Mündlichkeit11 und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ebenso durchbrochen12, wie der Grundsatz der Öffentlichkeit.13 Und obwohl die einseitige Straffestsetzung ohne Hauptverhandlung und Urteil erfolgt14, steht die Verurteilung durch einen Strafbefehl einer Verurteilung im ordentlichen Verfahren gleich15. Zwar bleibt die Entscheidung vorläufig, bis die Möglichkeit eines Einspruchs aufgrund des Ablaufs der zweiwöchigen Frist nicht mehr besteht; dann allerdings tritt die volle Wirkung eines Urteils ein, sodass der Strafbefehl auch vollstreckt werden kann.16
A. Der Ablauf des Strafbefehlsverfahrens im Überblick
I. Die amtsgerichtliche Zuständigkeit
Das für den Erlass des Strafbefehls zuständige Gericht ist gemäß § 407 Abs. 1 Satz 1 StPO das Amtsgericht mit seinen beiden Spruchkörpern, also dem Strafrichter als Einzelrichter im Sinne von § 25 GVG und dem Schöffengericht.17 Letzteres ist faktisch aber nur in den Fällen von § 408a StPO zuständig, wenn der Strafbefehlsantrag nach Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht gestellt wird.18 Grund hierfür ist die Neufassung des § 25 GVG durch das RpflEntlG von 199319, der seitdem regelt, dass der Strafrichter für Vergehen mit einer erwarteten Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren zuständig ist. Da aber eine höhere Freiheitsstrafe als ein Jahr durch einen Strafbefehl nicht verhängt werden kann (§ 407 Abs. 2 Satz 2 StPO), liegt sein Erlass in aller Regel in der einzelrichterlichen Zuständigkeit.20
Wird Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt, so wird eine Hauptverhandlung vor demselben Richter anberaumt, der diesen erlassen hat. Eine Rollentrennung findet hier nicht statt. Dies wirft die Frage auf, ob das Strafbefehlsverfahren bereits an diesem Punkt ein größeres Risiko für Fehlentscheidungen birgt als das reguläre Verfahren; aber auch im Normalverfahren ist derselbe Richter sowohl für die Entscheidung im Zwischenverfahren nach § 203 StPO, als auch für die Entscheidung in der Hauptverhandlung zuständig, sodass es sich zunächst nicht um ein spezifisches Risiko des Strafbefehlsverfahrens handelt. Dennoch bleibt dies mit Blick auf den in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten gesetzlichen Richter nicht gänzlich unproblematisch, weil dieser Verfahrensgrundsatz auch eine Unvoreingenommenheit des Richters gegenüber der Anklage gewährleistet, welche in den §§ 22 ff. StPO eine prozessuale Stütze findet.21 Gerade beim verkürzten Verfahren, in dem – anders als beim regulären Verfahren – in der Hauptverhandlung Abstriche bezüglich der Einbringung von Beweisen gemacht werden22 und so unter Umständen eine geringere Aufklärung geleistet wird, könnte dieser Umstand Fehlentscheidungen im Strafbefehlsverfahren jedoch stärker begünstigen als im Normalverfahren.23
II. Der Verfahrensablauf
Dem Strafbefehl hat stets ein reguläres Ermittlungsverfahren gemäß der §§ 158 ff. StPO vorauszugehen.24 Dieses wird in der Regel durch die Polizei geführt und die Akte nach Abschluss der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft geleitet25, welche dann entscheidet, auf welchem Weg die weitere Verfahrenserledigung erfolgen soll. Bei dem Zustandekommen eines Strafbefehls sind mithin zum einen die klassischen Ermittlungsorgane beteiligt, zum anderen unterscheidet sich das Ermittlungsverfahren vor einem Strafbefehlsantrag zumindest theoretisch nicht von demjenigen im Regelverfahren. Auch wenn die Polizei oder die Staatsanwaltschaft ab einem bestimmten Zeitpunkt erwartet, dass das Verfahren durch Strafbefehl abgeschlossen werden kann, darf sich dies nicht auf die Art und Intensität der Ermittlungen auswirken.26 Diesen Ablauf schilderten auch die im Rahmen der eigens durchgeführten Experteninterviews befragten Berliner Staatsanwälte.27 Die Antworten schilderten das Prozedere, dass der Staatsanwalt die Akte in aller Regel28 erstmals nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen zu sehen bekommt29 und anhand des Akteninhalts seine Abschlussentscheidung trifft oder gegebenenfalls noch weitere Ermittlungen verfügt. B1 betonte dabei, dass ein Strafbefehl ebenso wie eine Anklage zustande käme. Anders als bei der allgemeinen Kriminalität ermittelte die Staatsanwaltschaft bei den großen Verfahren und im Bereich der Wirtschaftsstrafsachen auch überwiegend selbst. Auf Nachfrage gab er dann an, dass in den allgemeinen Verfahren eine Überprüfung der polizeilichen Arbeit nur in Form der Prüfung des Akteninhalts stattfände. Die Entscheidung über einen Strafbefehl machte er persönlich in erster Linie von der Straferwartung abhängig, nie hingegen von dem Umstand, ob der Beschuldigte bestreitet oder nicht, weil er dem Angeklagten immer noch die Chance geben wollte, die Sache ohne Hauptverhandlung „über sich ergehen zu lassen“. B2 gab an, dass im Falle eines hinreichenden Tatverdachts und der Eignung des Falles für einen Strafbefehl ein entsprechender Antrag gestellt würde, den das Gericht dann unterschreiben könnte. Die Eignung eines Falles hinge dabei nicht davon ab, ob der Beschuldigte sich zuvor geäußert hätte.30 Es würde auch zuvor einen Auszug aus dem Bundeszentralregister eingeholt (so auch B6), wobei hieraus aber selten Rückschlüsse auf frühere Einsprüche gegen früherer Strafbefehle gezogen würden und dies auch nicht bestimmend für einen Strafbefehl wäre.31 Auf die Nachfrage, inwiefern polizeiliche Ermittlungen überwacht würden, gab B2 an, dass aufgrund des Umstandes, dass Staatsanwälte die meisten Fälle tatsächlich erst mit polizeilichem Schlussbericht erstmalig zu sehen bekämen, gar keine Möglichkeit bestünde, auf das Ermittlungsverfahren Einfluss zu nehmen. B6 antwortete zudem, dass man sich in vielen Fällen für einen Strafbefehl entschiede, einfach um eine Hauptverhandlung zu vermeiden und das Verfahren schneller und kostengünstiger zu gestalten.
Da gemäß § 409 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StPO im Strafbefehl auch die konkrete Rechtsfolge beantragt werden muss, sind alle für die Rechtsfolge relevanten Umstände erschöpfend zu ermitteln, vgl. auch Nr. 14 f. RiStBV.32 Dennoch wird teilweise eine weniger intensive Beweisaufnahme beim Strafbefehlsverfahren vermutet.33 Dies könnte womöglich damit zusammenhängen, dass auch für den späteren Erlass eines Strafbefehls das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts genügt, sodass es dazu kommen könnte, dass nur auf einen solchen hin ermittelt wird.34 Eine Studie von Meinberg hingegen ergab, dass Strafbefehlen regelmäßig ein aufwändiges Ermittlungsverfahren vorausgehe, das auf eine klare Sach- und Rechtslage oder eine unbedeutende Fallgestaltung hindeute und die Fälle bei der Abschlussverfügung überwiegend – sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht – aufgeklärt seien.35
Dennoch ist jedenfalls das abstrakte Risiko einer mangelhaften Aufklärung bei – zunehmenden – verkürzten Verfahrenserledigungen36 durchaus nicht abzusprechen, gerade mit Blick auf den Umstand, dass es für den Erlass eines Strafbefehls genügt, wenn sich aus den Akten bereits ein hinreichender Tatverdacht ergibt. Dass allerdings der Bericht der Polizei manchmal eine Empfehlung für oder gegen einen Strafbefehl enthält, ist nach den eindeutigen Angaben der im Rahmen von Experteninterviews befragten Berliner Staatsanwälte nicht gegeben.37
Eine Begründung der Entscheidung für die Beantragung eines Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft ist des Weiteren nicht erforderlich, vgl. § 409 StPO, wodurch sie hierbei relativ freie Hand hat. Da auch eine Überprüfung dieser Entscheidung nicht erzwungen werden kann38, erfolgt diese wichtige Weichenstellung fernab gerichtlicher Kontrolle. Sofern die Staatsanwaltschaft sich etwa für das Strafbefehlsverfahren entscheidet (zu den Kriterien sogleich), hat der Angeschuldigte keine Möglichkeit, ein Anklageverfahren herbeizuführen und muss selbst bei Einlegung des Rechtsbehelfs Abstriche hinnehmen.39
In diesem Zusammenhang wird beispielsweise auch die Versagung des rechtlichen Gehörs vor der richterlichen Entscheidung zugunsten eines Strafbefehls relevant. Denn der Richter muss den Angeklagten gemäß § 407 Abs. 3 StPO nicht nach § 33 Abs. 3 StPO zuvor anhören, weshalb es von erheblicher Bedeutung ist, dass der Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren nach § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO angehört und ihm auf diese Weise zumindest eine Möglichkeit – wenn auch nicht vor dem Richter – eingeräumt wird, sich zu den erhobenen Vorwürfen zu äußern.40 Problematisch ist hierbei allerdings, dass es bei einfachen Sachen, wie sie bei Strafbefehlen eigentlich gegeben sind, gemäß § 163a Abs. 1 Satz 2 StPO ausreicht, wenn dem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben wird, sich schriftlich zu äußern. Der Beschuldigte erhält zu diesem Zweck von der Polizei ein Schreiben, in dem ihm stichwortartig und ohne detaillierte Angaben vorgeworfen wird, eine Straftat begangen zu haben. Er kann dann, ohne den Stand der Ermittlungen zu kennen, schriftlich auf einem beigefügten Äußerungsbogen Stellung beziehen. Es wird darauf hingewiesen, dass sämtliche Angaben freiwillig sind, gerade auch solche zu beruflichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, ohne dass erläutert wird, dass diese Angaben für eine korrekte Sanktionsbemessung erforderlich sind. Sofern sich der Beschuldigte nicht innerhalb von zwei Wochen zum Vorwurf äußert, wird davon ausgegangen, dass sich der Beschuldigte nicht äußern will.41
Es wird sich zeigen, dass im Zusammenhang mit dem rechtlichen Gehör bei Strafbefehlen erhebliche Probleme bestehen.42
Sofern sich die Staatsanwaltschaft für das Strafbefehlsverfahren entschieden hat, stellt sie bei dem zuständigen Richter einen (außer bei § 408a StPO) schriftlichen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, § 407 Abs. 1 Satz 2 StPO.43 Die befragten Staatsanwälte B3 und B5 schilderten im Rahmen der Experteninterviews, dass der Strafbefehlsantrag so formuliert werde, dass der Richter „dann einfach gegenzeichnen“ kann (B3) beziehungsweise der Strafbefehl „ein Unterschriftsfeld für den Richter vorsieht“ (B5).44 Erforderlich für die Entscheidung zugunsten eines Strafbefehls ist wegen der Gleichstellung mit der öffentlichen Klage, § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO, zunächst ein hinreichender Tatverdacht45 im Sinne der §§ 170 Abs. 1, 203 StPO.46 Weiterhin muss die Staatsanwaltschaft eine Hauptverhandlung nach dem Ergebnis der Ermittlungen für nicht erforderlich erachten. Dies kann dann der Fall sein, wenn die sich aus dem Akteninhalt ergebenden Umstände einen hinreichenden Tatverdacht47 begründen und der Richter bereits daraus einen Schuldspruch fällen und die Rechtsfolgen aussprechen kann.48 Im Gegensatz dazu ergibt sich aus Nr. 175 Abs. 3 Satz 1 RiStBV, wann die Staatsanwaltschaft von der Stellung eines Strafbefehlsantrags absehen soll, nämlich dann, wenn „die vollständige Aufklärung aller für die Rechtsfolgenbestimmung wesentlichen Umstände oder Gründe der Spezial- oder Generalprävention49 die Durchführung einer Hauptverhandlung geboten erscheinen lassen.“50 Eine Hauptverhandlung ist insbesondere dann nicht erforderlich, wenn in ihr keine wesentliche Abweichung vom Ermittlungsergebnis zu erwarten ist, nicht jedoch schon dann, wenn ein Einspruch zu erwarten ist.51
Der Richter hat nach der Antragsstellung mehrere Möglichkeiten, über diesen zu entscheiden. Gemäß § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO kann er den Erlass eines Strafbefehls ablehnen, wenn er den Angeschuldigten für nicht hinreichend verdächtig erachtet. Andernfalls kann er den Strafbefehl wie von der Staatsanwaltschaft beantragt erlassen und ihn dem Angeklagten zustellen52, § 408 Abs. 3 Satz 1 StPO. Eine Hauptverhandlung beraumt er in den drei in § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO aufgezählten Fällen an, nämlich, wenn er entweder Bedenken hat, ohne eine solche zu entscheiden, etwa weil er Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeschuldigten53 oder am Tatnachweis hegt54 oder wenn er von der rechtlichen Beurteilung der Staatsanwaltschaft abweichen will oder aber wenn er eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft auf ihrem Antrag beharrt. Dem Richter steht es nämlich nicht zu, einen Strafbefehl zu erlassen, der von dem Antrag in irgendeiner Form abweicht.
Falls der Richter eine derartige Änderung vornehmen möchte, hat er die Akten mit seiner Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zurückzugeben mit der Folge, dass diese ihren Antrag entsprechend ändert oder der Richter anderenfalls die Hauptverhandlung anberaumt.55
Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr beantragt hat und der Richter diesem Antrag entsprechen will, hat er dem Angeschuldigten gemäß § 408b StPO einen Pflichtverteidiger zu bestellen, sofern dieser nicht bereits verteidigt ist.
Nachdem der Strafbefehl erlassen wurde, steht dem Angeklagten die Möglichkeit zu, Einspruch einzulegen und, wenn dieser zulässig ist, auf diese Weise eine Hauptverhandlung zu erzwingen, § 411 Abs. 1 Satz 2 StPO. Der Einspruch kann gemäß § 410 Abs. 2 StPO auch (zum Beispiel auf die Tagessatzhöhe, § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO) beschränkt56 eingelegt werden. Ist der Einspruch unzulässig, wird er gemäß § 411 Abs. 1 Satz 1 StPO durch Beschluss verworfen. Auch für den Fall, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht erscheint, bestimmt § 412 StPO, dass der Einspruch verworfen wird.57
Die Klage beziehungsweise der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls kann von der Staatsanwaltschaft bis zum Erlass des Strafbefehls begründungslos nach § 156 StPO zurückgenommen werden.58 Ab Erlass des Strafbefehls ist § 411 Abs. 3 Satz 1 StPO für eine Rücknahme maßgeblich.59 Sobald die Hauptverhandlung begonnen hat, ist für die Klagerücknahme die Zustimmung des Einspruchsführers notwendig, § 411 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 303 StPO.60 Infolge der Rücknahme wird das Verfahren zurück in den Stand des Ermittlungsverfahrens versetzt, sodass die Staatsanwaltschaft eine neue Abschlussverfügung treffen muss61 – ein Strafklageverbrauch tritt nicht ein62.
Die Rücknahme des Antrags auf Erlass eines Strafbefehls63, der nach § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO die öffentliche Klage ersetzt, stellt einen Eingriff der Staatsanwaltschaft in die gerichtliche Verfahrensherrschaft dar, zu dessen Rechtfertigung Effizienzaspekte angeführt werden64, wie etwa das Argument, dass man dem Gericht dadurch, dass die Fällung und Ausfertigung eines Urteils entfallen, Mühe und Zeitaufwand erspare.65
Legt der Angeklagte gegen den erlassenen Strafbefehl hingegen keinen Rechtsbehelf ein, so erwächst der Strafbefehl ohne Hauptverhandlung gemäß § 410 Abs. 3 StPO in Rechtskraft und steht einem Urteil gleich.
Den Ausgang des Verfahrens bekommt der Staatsanwalt, der den Strafbefehl beantragt hat, am Ende mitgeteilt (Antwort aller interviewten Staatsanwälte auf Frage 4). Jeder Terminvermerk der an Sitzungstagen vertretenden Kollegen würde gesehen (B1) und mit Rechtskraft der Entscheidung die Akte vom Gericht zurückerhalten (B2, B3, B4 unter dem Vorbehalt, dass der entsprechende Staatsanwalt nicht inzwischen die Position gewechselt hat oder er den Strafbefehl in Vertretung eines anderen Kollegen beantragte, B6), da die Staatsanwaltschaft zugleich Vollstreckungsbehörde wäre und die Sache dann – nach Entscheidung über die Asservate (B166, B2) – an die entsprechende Vollstreckungsabteilung geschickt würde (B2, B3, B4, B6).67
Wie bereits erwähnt hat der Angeschuldigte wegen § 407 Abs. 3 StPO, anders als im regulären Verfahren vor der richterlichen Entscheidung, keinen Anspruch darauf, gehört zu werden, um Einwendungen gegen den Erlass eines Strafbefehls vorzubringen (vgl. § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO für das Normalverfahren), obwohl Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 6 EMRK gerade dies gewährleisten.68 Erst mit Einlegung des Einspruchs kann der Beschuldigte erstmals gegenüber dem Richter seine eigene Auffassung darlegen, sofern er nicht schon im Ermittlungsverfahren vernommen wurde. Letzteres ist, wie erwähnt, nicht immer der Fall. Denn aufgrund von § 163a Abs. 2 Satz 2 StPO besteht die Möglichkeit, dem Beschuldigten lediglich die Gelegenheit einer schriftlichen Äußerung einzuräumen, die aber nicht von jedem Beschuldigten wahrgenommen wird beziehungsweise werden kann.69
Dadurch, dass keine Hauptverhandlung stattfindet, sind auch diejenigen Verfahrensgrundsätze ausgehebelt, die erst in dieser zur Geltung kommen: Die Mündlichkeit, die Unmittelbarkeit sowie die Öffentlichkeit finden in einem rein schriftlichen Verfahren ohne Beweisaufnahme durch den Richter keine Anwendung.70 Mit Einlegung des Einspruchs kann zwar eine Hauptverhandlung erzwungen werden, allerdings setzt dies gerade das Aktivwerden des Angeklagten voraus. Hier stellt sich die Frage, ob die Einhaltung der Verfahrensgrundsätze davon abhängig gemacht werden darf. Der Angeschuldigte ist damit deutlich schlechter gestellt als im regulären Zwischen- und Hauptverfahren. Gerade die fehlende anfängliche Anhörung könnte mit dem Ziel des Strafbefehlsverfahrens, nämlich der Verfahrensbeschleunigung, konfligieren, wenn der Angeklagte eben aus dem Umstand heraus, sich bisher nicht geäußert zu haben, Einspruch einlegt.
Hier zeigt sich eine Fehleranfälligkeit des Verfahrens, die schon mit der einseitig durch Polizei und Staatsanwaltschaft festgelegten Entscheidungsgrundlage beginnt. Auch die fehlende Kontrolle durch die Öffentlichkeit und die fehlende eigene Wahrnehmung der Beweistatsachen durch den Richter wirft – hier zunächst rein theoretisch – die Frage auf, ob die Entscheidung nicht anders ausfällt, als wäre aufgrund einer Hauptverhandlung entschieden worden.71
B. Der Anwendungsbereich
I. Beschränkung auf Vergehen
In § 407 Abs. 1 Satz 1 StPO ist explizit bestimmt, dass sich die Anwendung des Strafbefehlsverfahrens auf Vergehen beschränkt.72 Solche sind gemäß § 12 Abs. 2 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind. Ein Verfahren zum Beispiel wegen Raubes gemäß § 249 Abs. 1 StGB, der im Mindestmaß ein Jahr Freiheitsstrafe vorsieht, mit einem Strafbefehl zu erledigen, scheidet also aus. Die Möglichkeit einer geringeren Bestrafung gemäß § 249 Abs. 2 StGB ist wegen § 12 Abs. 3 StGB, der bestimmt, dass Milderungen, die für minder schwere Fälle vorgesehen sind, für die Einteilung außer Betracht bleiben, irrelevant.
Bei welchen Vergehen das Strafbefehlsverfahren im konkreten Fall zur Anwendung gebracht werden kann, ist weiter durch die in § 407 Abs. 2 StPO vorgesehenen Rechtsfolgen festgelegt.73 Maßgeblich ist zunächst der in den einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches angeordnete Strafrahmen; denn durch Strafbefehl erledigt werden dürfen nur Verfahren, die in die Kompetenz des Amtsgerichtes nach §§ 24, 25 GVG fallen.74
Die Fälle dürfen gemäß § 407 Abs. 1 StPO zudem keine Hauptverhandlung erforderlich machen, sie müssen also einfach gelagert, das heißt unkompliziert und überschaubar sein und eine klare Beweislage aufweisen.75 Wann die geforderte Einfachheit und Klarheit vorliegt, kann schwierig zu beurteilen sein, zumal bereits die Bestimmung dieser Begriffe problematisch ist.76
Angewandt wird das Strafbefehlsverfahren aber nicht nur zur massenhaften Erledigung einfach gelagerter Bagatellkriminalität77, vielmehr ist es auch auf die Fälle mittlerer Kriminalität ausgeweitet worden.78 Damit wird das Verfahren auch bei solchen Sachverhalten eingesetzt, die nach der ursprünglichen Konzeption dem Regelverfahren vorbehalten bleiben sollten.79 Zwar ist das Verfahren auf Vergehen beschränkt, allerdings kann auch bei einem Vergehen eine (zur Bewährung ausgesetzte) Freiheitsstrafe erforderlich sein, womit der Bereich der leichteren Kriminalität verlassen wird. In solchen Fällen wird auf das reguläre Verfahren verzichtet, und ein Verfahren angewandt, in dem die Verfahrensgrundsätze des rechtlichen Gehörs, der Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit nur auf Einspruch des Angeklagten hin gewahrt werden. Diese Erledigungsart birgt bei solchen Sachverhalten ein höheres Risiko für den Angeklagten, Fehlentscheidungen zu unterliegen.
II. Die Anwendungshäufigkeit bei einzelnen Delikten
Das Strafbefehlsverfahren ist im Grundsatz auf jedes Vergehen anwendbar. Dies zeigen auch die aktuellen differenzierteren Statistiken aus Baden- Württemberg.80 Bereits die Statistik von 1998 ließ erkennen, dass Vergehen, bei denen es zu keiner Verurteilung durch ein Strafbefehlsverfahren kam, die Ausnahme darstellten.81 Nach dieser Statistik82 sind die Delikte, bei denen die Verurteilung im Strafbefehlsverfahren überdurchschnittlich häufig vorkommt, aus dem Bereich der Vermögensdelikte die Entziehung elektrischer Energie (§ 248c StGB) und das Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB)83, bei den Urkundsdelikten die Fälschung technischer Aufzeichnungen (§ 268 StGB) und der Missbrauch von Ausweispapieren (§ 281 StGB), aus dem Bereich der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung der Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und das Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), weiterhin auch die Beleidigung (§ 185 StGB)84 und die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB)85. Im Umweltstrafrecht wurde der Strafbefehl häufig auf den unerlaubten Umgang mit Abfällen (§ 326 Abs. 1 StGB) und Sachbeschädigungsdelikte wie die Sachbeschädigung (§ 303 StGB)86, die gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304 StGB) und die Zerstörung von Bauwerken (§ 305 StGB) angewandt, im Bereich des strafbaren Eigennutzes auf die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels (§ 284 Abs. 1, 2, 4 StGB) und die Beteiligung am unerlaubten Glücksspiel (§ 285 StGB). Auch bei Delikten wie der Fischwilderei (§ 293 StGB) sowie im Nebenstrafrecht wurde vermehrt im Wege des Strafbefehlsverfahrens erledigt. Im Bereich des Nebenstrafrechts sind Verstöße gegen das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, gegen das Tierschutzgesetz, die Abgabenordnung und das Pflichtversicherungsgesetz zu nennen, ebenso wie Aufenthaltsdelikte und § 21 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StVG – überall lag die Quote aller Verurteilungen durch Strafbefehl ohne Einspruch bei über 80 %.87
Häufig genannt werden bezüglich der Anwendungshäufigkeit des Strafbefehlsverfahrens vor allem auch die Verkehrsdelikte88, hier unter anderem das Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG), die Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB), das unerlaubte Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB), sowie in selteneren Fällen die Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB).89 Strafbefehle werden auch häufig im Bereich der Vermögensdelikte90, insbesondere beim Betrug91, aber auch bei den Eigentumsdelikten92 hier vor allem den Ladendiebstählen93, beantragt. Auch bei den einfachen Betäubungsmitteldelikten94 und vor allem in Steuerstrafsachen95, aber auch bei einfachen Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz sowie bei mittlerer Wirtschaftskriminalität, Korruptions- und Umweltstrafverfahren96 findet das Strafbefehlsverfahren vermehrt Anwendung.
Aufgezählt werden weiterhin Verfahren, in denen es um fahrlässige Brandstiftung, Nötigung, Streitigkeiten unter Nachbarn oder in der Familie, vorsätzliche Körperverletzung, kleinere Insolvenzdelikte, Delikte des Nebenstrafrechts, Umweltstraftaten, Straftaten nach dem Lebensmittel-, Wein-, und Naturschutzrecht oder auch ärztliche Kunstfehler geht.97
Auch die aktuellen Erledigungsstatistiken der Staatsanwaltschaft für ganz Deutschland98 zeigen, dass sich die Anwendung des Strafbefehlsverfahrens nicht auf bestimmte Vergehen beschränkt, aber ein erheblicher Anteil der Strafbefehle im Bereich der Verkehrsstraftaten beantragt wird. 2019 liegt die Antragsquote hier bei knapp über 40 %. Ein Viertel der Anträge werden wegen Betrugs- und Untreuefällen gestellt. Danach kommen mit 14 % Diebstähle und Unterschlagungen, gefolgt von Straftaten nach dem BtMG mit 9 %. 6 % der Anträge auf Erlass eines Strafbefehls ergehen im Bereich vorsätzlicher Körperverletzungen. Auf Wirtschafts- und Steuerstrafsachen sowie Geldwäschedelikte fallen 3 %. Den kleinsten Teil machen Aufenthaltsdelikte (2 %) und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (1 %) aus.
Im Jahr 2019 werden innerhalb der Straßenverkehrsdelikte 20,5 % durch Strafbefehl erledigt, innerhalb der Betrugs- und Untreuefälle sind es 11 %, innerhalb der Diebstähle und Unterschlagungen 10,3 %. Die Strafbefehlsanträge, die auf Freiheitsstrafe lauten, machen davon jeweils weniger als 1 % aus.
Auch die Strafbefehle, zu denen im Rahmen des Rechtsberatungsprojekts Beratungen in Anspruch genommen wurde, bewegten sich im Wesentlichen im Rahmen dieser Delikte.99
III. Anwendungsbeschränkung in Sonderfällen
Ausnahmen beziehungsweise Beschränkungen der Anwendung des Strafbefehlsverfahrens gibt es, wenn beispielsweise der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt ist oder sich die Verfolgung eines Falles nicht nach Erwachsenenstrafrecht richtet.
1. Verfahren gegen Abwesende
Gegen Abwesende100 kann kein Strafbefehl erlassen werden101, weil es regelmäßig an der Zustellung scheitert.102 Eine öffentliche Zustellung ist unzulässig.103 Sofern der Beschuldigte allerdings einen Zustellungsbevollmächtigten bestellt, §§ 116a Abs. 3, 127a Abs. 2, 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO, ist der Erlass eines Strafbefehls möglich.104
Gemäß § 276 StPO gilt der Beschuldigte als abwesend, wenn sein Aufenthalt unbekannt ist oder wenn er sich im Ausland aufhält und seine Gestellung vor das zuständige Gericht nicht ausführbar oder nicht angemessen erscheint. Nr. 175 Abs. 2 RiStBV bestimmt für den Fall der Abwesenheit, dass das Verfahren vorläufig einzustellen oder, sofern der Strafbefehlsantrag schon gestellt wurde, eine vorläufige Einstellung nach § 205 StPO zu beantragen ist.
2. Verfahren gegen junge Beschuldigte
Strafverfahren gegen jugendliche Beschuldigte, also solche, die zwischen 14 und einschließlich 17 Jahre alt sind (§ 1 Abs. 2 JGG), können aus Erziehungsgründen105 gemäß §§ 79 Abs. 1, 104 Abs. 1 Nr. 14 JGG nicht im Wege des Strafbefehlsverfahrens erledigt werden.106 Hier ist vielmehr das vereinfachte Jugendverfahren nach den §§ 76 bis 78 JGG anzuwenden107 oder von der Verfolgung nach § 45 JGG abzusehen.108
Bei Heranwachsenden, also solchen Tätern, die 18, aber noch nicht 21 Jahre alt sind, § 1 Abs. 2 JGG, hängt die Anwendbarkeit des Strafbefehlsverfahrens davon ab, ob gemäß § 105 Abs. 1 JGG im Einzelfall Erwachsenenstrafrecht angewandt wird, §§ 79 Abs. 1, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG; ob dies der Fall ist, muss die Staatsanwaltschaft hier aufgrund ihrer Ermittlungen entscheiden.109 Im Falle der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts ist für den Erlass des Strafbefehls gemäß § 108 Abs. 2 JGG in der Regel der Jugendrichter zuständig.110 Die Festsetzung einer Freiheitsstrafe durch Strafbefehl scheidet gegen einen Heranwachsenden allerdings aus, § 109 Abs. 3 JGG.
Falls ein Strafbefehl entgegen den §§ 79 Abs. 1 JGG, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG gegen einen Jugendlichen erlassen wurde, ist dieser dennoch wirksam.111 Dieser Mangel kann dadurch geheilt werden, dass die Sache infolge eines Einspruchs an das Jugendgericht abgegeben und eine Hauptverhandlung anberaumt wird.112
Die Anwendbarkeit des Strafbefehlsverfahrens auch auf Heranwachsende ist allerdings problematisch. Zum Teil wird zurecht auch gefordert, die Anwendung des Verfahrens in diesen Konstellationen auszuschließen.113 Denn die Entscheidung, inwiefern die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG vorliegen, sind in einem rein schriftlichen Verfahren nicht zuverlässig festzustellen.114 Für eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters und die Einschätzung seiner sittlichen und geistigen Entwicklung (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) ist – vergleiche auch die Entscheidung über eine kurze Freiheitsstrafe nach § 47 StGB115 − ein persönlicher Eindruck unentbehrlich.116
Die derzeitige Rechtslage, nach der ein entgegen §§ 79 Abs. 1, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG erlassener Strafbefehl dennoch wirksam ist und der Heranwachsende erst durch die Einlegung eines Einspruchs selbst aktiv darauf hinwirken muss, dass in seinem Fall Jugendstrafrecht angewandt wird117, ist insofern besonders problematisch, als das Strafbefehlsverfahren risikoreicher als das Normalverfahren ist118 und diese Risiken auf diese Weise dem Heranwachsenden zusätzlich aufgebürdet werden. Denn der Strafbefehl ergeht in einem rein schriftlichen Verfahren ohne eine aufklärende Hauptverhandlung und ist daher anfälliger für Fehler, die nur dann behoben werden können, wenn der Angeklagte sich – gegebenenfalls mit Hilfe eines Verteidigers – dagegen wehrt.
Insbesondere dann, wenn der Heranwachsende nicht vor nicht allzu langer Zeit straffällig wurde und daher vorher eine Gesamtwürdigung im Sinne des § 105 Abs. 1 JGG aufgrund eines persönlichen Eindrucks vorgenommen werden konnte, kann bei der Entscheidung im summarischen Verfahren auf eine solche nicht einmal unterstützend zurückgegriffen werden. Dementsprechend sollte gerade beim Erlass von Strafbefehlen gegen Heranwachsende, die erstmals strafrechtlich auffällig werden und bei denen die Einschätzung nach § 105 Abs. 1 JGG zuvor noch nicht anhand eines persönlichen Eindrucks getroffen wurde, besondere Zurückhaltung geboten sein.119
Dennoch besteht vielmehr der Verdacht, dass in der Praxis bei der Staatsanwaltschaft eine Neigung dazu besteht, die Anwendbarkeit von Erwachsenenstrafrecht zu bejahen, um eine Erledigung im Wege des Strafbefehlsverfahrens zu ermöglichen.120 Dies würde eine missbräuchliche Anwendung121 des Verfahrens darstellen, im Rahmen derer zudem gegen den Grundsatz vorrangiger Anwendung des Jugendstrafrechts bei verbleibenden Zweifeln über den Entwicklungsstand des Heranwachsenden122 verstoßen würde.
Diese Sonderkonstellation soll hier aber nicht weiter vertieft werden123, wenngleich eine Anwendung des Strafbefehlsverfahrens auf Heranwachsende aus den genannten Gründen nicht befürwortet werden kann. Die spezifischen Risiken des Strafbefehlsverfahrens realisieren sich bei seiner Anwendung auch hier, allerdings mit der zusätzlichen Gefahr, dass § 105 Abs. 1 JGG umgangen und damit gerade auch jüngeren, unerfahreneren Beschuldigten das Risiko einer Fehlentscheidung aufgebürdet wird.
3. Sonstige Verfahrenskonstellationen
Wird ein Strafverfahren gegen einen inhaftierten Beschuldigten geführt, kann es dennoch durch Strafbefehl abgeschlossen werden.124 Allerdings bestimmt Nr. 175 Abs. 4 RiStBV, dass in solchen Fällen zu prüfen ist, ob das beschleunigte Verfahren nach § 417 StPO eine raschere Erledigung ermöglicht. Da dieser Vorrang des beschleunigten Verfahrens dem Beschleunigungsgrundsatz entstammt, kann aber auch das Strafbefehlsverfahren vorrangig anzuwenden sein, wenn beispielsweise eine Absprache125 zwischen allen Verfahrensbeteiligten stattgefunden hat.126
Eine Entschädigung des Verletzten im Wege des Adhäsionsverfahrens nach § 403 StPO ist nur im Rahmen einer Hauptverhandlung möglich, weshalb es nicht angewandt werden kann, wenn der Strafbefehl mangels Einspruchs rechtskräftig wird.127 Sofern aber eine Hauptverhandlung stattfindet, sei es, infolge eines Einspruchs oder infolge einer Ablehnung des Strafbefehlsantrages nach § 408 Abs. 2 Satz 2 StPO, ist die Geltendmachung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen im Wege des Adhäsionsverfahrens möglich.128
Durch den Ausschluss des Adhäsionsverfahrens im Strafbefehlsverfahren erfährt der Verletzte den Nachteil, dass er zivilrechtliche Ansprüche in einem gesonderten Zivilrechtsstreit einklagen muss, was für ihn höhere Kosten verursacht129 und ihm die Beweislast aufbürdet130 – zudem entspricht eine mehrfache Inanspruchnahme der Justiz auch nicht dem Ökonomisierungsgedanken des Strafbefehlsverfahrens.131
C. Die Ziele und Zwecke
Das Strafbefehlsverfahren dient – wie erwähnt – primär der Wirtschaftlichkeit von Strafverfahren. Fälle, die weniger kompliziert gelagert sind, bedürfen ihrer Erledigung keines großen Aufwandes und sollen unkompliziert geklärt werden.132 Viele halten das summarische Verfahren für unentbehrlich133 beziehungsweise für das – neben den §§ 153 und 153a StPO – wichtigste Rechtsinstitut im Strafverfahren, um diese ökonomische Erledigung herbeiführen zu können134. Verfolgt werden neben den staatlichen Interessen aber auch die Interessen des Beschuldigten.
I. Die staatlichen Interessen
Zum einen sind bezüglich derjenigen Ziele und Zwecke, die im staatlichen Interesse stehen, Gründe der Verfahrensökonomie anzuführen.135 Ohne den Aufwand, den eine Hauptverhandlung erfordert (vgl. §§ 212 ff., 226 ff. StPO), ist ein Verfahren schneller und effizienter zum Abschluss zu bringen.136 Die auf diese Weise erreichte verkürzte Verfahrensdauer liegt dabei auch im Sinne des Beschleunigungsgrundsatzes137.
In dem Zusammenhang spielt auch die Ressourcenentlastung138 eine große Rolle, denn die Erledigung im Wege des Strafbefehlsverfahrens entlastet die Gerichte spürbar.139
Diese wären völlig überfordert, wenn jedes Verfahren einer Hauptverhandlung und eines Urteils bedürfe.141 Die Erledigungsstatistik der Staatsanwaltschaft142 zeigt für das Jahr 2019, dass 547.665 Anträge auf Erlass eines Strafbefehls gestellt wurden. Ein großer Teil der anfallenden Verfahren bewegt sich mithin im Spektrum der Vergehen und in der Bagatellkriminalität143, das heißt im strafbefehlsfähigen Bereich. Würden diese Fälle nun vom Strafrichter144 verhandelt werden, müssten monatlich etwa 44.948 zusätzliche Fälle verhandelt werden. Verteilt auf die 638 in Deutschland befindlichen Amtsgerichte145 wäre dies eine monatliche Mehrbelastung insbesondere für die Strafrichter – je nach Größe des Amtsgerichts, die sehr unterschiedlich ausfallen kann – von durchschnittlich etwa siebzig Fällen pro Amtsgericht.
Aber auch für die Staatsanwaltschaft tritt eine Entlastung ein; durch den Wegfall der Hauptverhandlung muss sie dort insbesondere keine Sitzungen vertreten.146 Zudem ist auch die abstrakte Gefahr zu befürchten, dass das Ermittlungsverfahren dadurch deutlich in unzulässiger Weise beschleunigt wird, dass nur auf den erforderlichen hinreichenden Tatverdacht hin und nicht erschöpfend ausermittelt wird.147
Dadurch, dass weder Hauptverhandlung noch Urteil erforderlich sind148, werden also Arbeitskraft, Zeit und Kosten eingespart149.
Das staatliche Interesse an der Erledigung im vereinfachten Verfahren zeigt sich auch in Nr. 175 Abs. 3 RiStBV, wonach ein Strafbefehl stets zu erwägen und bei Vorliegen der Voraussetzungen auch beantragt werden soll. Ein Interesse des Staates an einer zügigen Erledigung der Verfahren ist grundsätzlich auch notwendig.
Allerdings steht es der Staatsanwaltschaft frei, die Verfahrensart zu wählen, ohne dass der Beschuldigte, anders als im Normalverfahren nach § 201 Abs. 1 StPO hierauf Einfluss nehmen kann. Dies birgt das Risiko, dass Konflikte mit dem Ziel des Strafverfahrens, nach dem die Erforschung der Wahrheit150 unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze weit im Vordergrund steht, auftreten können. Die Gefahr läge hier darin, dass die Entscheidung des Staatsanwalts zugunsten des Strafbefehlsverfahrens von seinem Interesse an einer schnellen Erledigung und an der Vermeidung einer aufwändigen Aufklärung des Falles im Rahmen einer Hauptverhandlung beeinflusst wird und er dem Ergebnis der Ermittlungen eine Endgültigkeit beimisst, die sie im Einzelfall nicht verdient.151
II. Die Interessen des Beschuldigten
Ein verkürztes Strafverfahren liegt ebenfalls im Sinne des Beschuldigten und im Falle eines Strafbefehls kann sein Fall kostensparend, ohne Zeitverlust und ohne Aufsehen erledigt werden.152
Da mangels Hauptverhandlung zum Beispiel keine Kosten für die Ladung von Zeugen und Sachverständigen anfallen, zeigt sich hier eine spürbare Ersparnis.153 Die Urteilskosten reduzieren sich gemäß Anlage 1 (§ 3 Abs. 2) zum GKG, KV Nr. 3118 im Falle eines Strafbefehlsverfahrens auf die Hälfte.
Für den Beschuldigten kann außerdem von erheblicher Bedeutung sein, das Verfahren nicht vor der Öffentlichkeit führen zu müssen, weil er dadurch möglicherweise an einen medienwirksamen Pranger gestellt würde.154 Der Beschuldigte bleibt für die Öffentlichkeit anonym, muss seine persönlichen Verhältnisse nicht offenlegen und entgeht der psychischen wie auch physischen Belastung, die ein Hauptverfahren mit sich bringt.155 Insofern kann das Strafbefehlsverfahren im Sinne aller Beteiligten sein.
Seine im Gegenzug zum Normalverfahren schwächere Prozessstellung156 erschwert allerdings die aktive Durchsetzung des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten. Er kann beispielsweise auch selbst nicht beantragen, dass sein Fall im Wege des Strafbefehlsverfahrens erledigt wird – dies kann lediglich angeregt werden.157 In Wirtschaftsstrafverfahren verhält es sich mit der Durchsetzung seiner Interessen und der Erwirkung einer Erledigung durch Strafbefehl aber im Gegensatz zu anderen Verfahren, in denen der Beschuldigte nicht verteidigt ist, regelmäßig so, dass die Verteidigung aktiv auf ein Strafbefehlsverfahren hinwirkt, wenn beispielsweise eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO nicht gelingt.158
Problematisch kann auch sein, dass das Interesse des Beschuldigten unter Umständen nicht nur so weit geht, wie die Sachverhaltsfeststellung und die daraufhin getroffene Entscheidung korrekt sind. Sein Wunsch, eine öffentliche Hauptverhandlung um jeden Preis zu vermeiden, kann dazu führen, dass er sich sogar sehenden Auges einer zu hohen Strafe unterwirft, indem er entweder auf einen Einspruch verzichtet oder aber im Gegenzug für die Beantragung eines Strafbefehls ein Geständnis ablegt.159 Insofern ist das Strafbefehlsverfahren auch unter dem Aspekt der Vermeidung einer Hauptverhandlung nicht durchweg positiv für den Beschuldigten.
D. Die zulässigen Rechtsfolgen
Im Vergleich zum regulären Verfahren sind die Rechtsfolgen, die im verkürzenden Strafbefehlsverfahren verhängt werden können, beschränkt. Zulässig sind nur die in § 407 Abs. 2 StPO abschließend aufgezählten Sanktionen.160 Die Beschränkung der Straffestsetzung beim Strafbefehl ist mit Blick auf das dortige Ausreichen eines hinreichenden Tatverdachts und die damit im Gegensatz zum Normalverfahren, in dem für eine Verurteilung die richterliche Überzeugung notwendig ist, geringere Anforderung161 zwingend. Denn von den zulässigen Rechtsfolgen hängt maßgeblich ab, welchen Anwendungsbereich das Verfahren hat.162
I. Die Hauptstrafen
Die erste vorgesehene Hauptstrafe und die in der Praxis am weitaus häufigsten durch Strafbefehl verhängte Strafe163 ist die in § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 StPO genannte Geldstrafe im Sinne von § 40 StGB.
Auch bei der Festsetzung im Strafbefehlsverfahren gelten die in den §§ 40 Abs. 1 Satz 2 und 54 Abs. 2 Satz 2 StGB festgelegten Höchststrafen von bis zu 360 Tagessätzen bei einer Einzelstrafe und bis zu 720 Tagessätzen bei einer Gesamtgeldstrafe.164 Ebenfalls möglich ist eine Verhängung nach den §§ 47 Abs. 2 und 49 Abs. 2 StGB.165
Zahlungserleichterungen nach § 42 StGB müssen bereits im Antrag konkret bezeichnet sein.166 Eine erlittene Untersuchungshaft wird gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auch auf eine im Strafbefehl angeordnete Geldstrafe angerechnet; hier muss die Staatsanwaltschaft nur dann einen gesonderten Antrag stellen, wenn diese Anrechnung gerade nicht stattfinden soll.167 Die Aufführung einer Gesamtsumme kann im Einzelfall sinnvoll sein, ist aber nicht zwingend vorgeschrieben.168
Bei der Bestimmung der Höhe der Tagessätze sind gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 StGB die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu berücksichtigen. Die der Bemessung zugrunde zu legenden Einkünfte des Täters sowie die anderen hierfür relevanten Faktoren können nach § 40 Abs. 3 StGB von der Staatsanwaltschaft geschätzt werden, sofern sie nicht zuvor erschöpfend ermittelt worden sind, was nach Nr. 14 Abs. 1 RiStBV eigentlich vorgesehen ist. Auf die Möglichkeit einer Schätzung und die damit einhergehende Problematik insbesondere für den Beschuldigten ist noch zurückzukommen.169
Die Höhe der Geldstrafe ist für das Strafbefehlsverfahren nicht begrenzt und kann im selben Maße verhängt werden wie im regulären Verfahren. Eine Geldstrafe von 360 oder sogar 720 Tagessätzen liegt aber weit außerhalb des Bereichs der leichten Kriminalität. Zu beachten ist, dass die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) besteht, wenn die Geldstrafe nicht gezahlt wird; diese tritt kraft Gesetzes ein und muss im Strafbefehl nicht beantragt werden.170 Diese Ersatzfreiheitsstrafe kann entsprechend der zulässigen Tagessatzanzahl bis zu zwei Jahre betragen, auch wenn die Entscheidung in einem verkürzten Verfahren getroffen wird. Bereits hier wird das Ausmaß der Nichtbeschränkung der Höhe der Tagessätze besonders deutlich.
Ebenfalls verhängt werden kann gemäß § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 2 StPO die wenig praxisrelevante171 Verwarnung mit Strafvorbehalt172 im Sinne des § 59 StGB. Bei dieser Sanktion wird die Schuld des Täters zwar festgestellt173, die Verhängung der bestimmten Geldstrafe hingegen ausgesetzt; der Täter bleibt während der Bewährungszeit von Vollstreckung und Verurteilung verschont.174 Nach § 59 Abs. 1 StGB kann die Verwarnung bei Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen ausgesprochen werden. Zugleich hat über die Bewährungszeit und die Auflagen ein Beschluss nach § 268a i.V.m. § 59a StGB zu ergehen.175 Eine Einstellung nach den §§ 153 oder 153a StPO ist gegenüber der Verwarnung mit Strafvorbehalt aber oft vorzugswürdig, um einen Eintrag in das Bundeszentralregister zu vermeiden.176
Gemäß §§ 59 Abs. 1, 59c StGB kann die Verwarnung mit Strafvorbehalt auch im Rahmen der Bildung von Gesamtstrafen erfolgen; § 59 Abs. 2 StGB bestimmt, dass daneben Einziehung oder Unbrauchbarmachung möglich sind, nicht hingegen Maßregeln der Besserung und Sicherung.177
Als Rechtsfolge des Strafbefehls kann gemäß § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 8 StPO auch eine Geldbuße gegen eine juristische Person oder Personenvereinigung178 festgesetzt werden. Diese bestimmt sich nach § 30 OWiG und findet gemäß § 30 Abs. 4 Satz 1 OWiG im verbundenen Verfahren statt, bei dem sowohl gegen Täter der Anknüpfungstat als auch gegen den Verband vorgegangen wird.179 Im Antrag muss angegeben werden, in welcher Höhe die Geldbuße verhängt werden soll; allerdings ist das Gericht hieran nicht zwingend gebunden.180
Das Gericht kann auch von Strafe absehen, § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO181, wenn dies nach § 60 StGB oder der einschlägigen Norm des Nebenstrafrechts oder des Besonderen Teils182 des Strafgesetzbuchs möglich ist.
Der Täter wird zwar schuldig gesprochen, aber auf die Festsetzung der Strafe verzichtet.183 Die Praxisrelevanz dieser Sanktion ist, ebenso wie die der Verwarnung mit Strafvorbehalt, jedoch sehr gering, da, sofern ein Absehen von Strafe möglich ist, aus Gründen der Einfachheit nach § 153b StPO (Absehen von der Verfolgung bei möglichem Absehen von Strafe) eingestellt wird.184 Allerdings kann, wenn das Ermittlungsverfahren bereits erhebliche Kosten verursachte, ein Bedürfnis für die Erledigung durch einen Strafbefehl bestehen, da in diesem, anders als bei § 153b StPO, dem Beschuldigten gegebenenfalls die Kosten in Rechnung gestellt werden können; unter Umständen erscheint auch die Festsetzung einer Sicherungsmaßregel (§§ 69, 69a StGB) als geboten.185
Durch die Einführung des § 407 Abs. 2 Satz 2 StPO durch das RPflEntlG von 1993186 ist auch die Verhängung einer Freiheitsstrafe im Strafbefehl möglich187, wenn diese höchstens ein Jahr beträgt, zur Bewährung ausgesetzt wird und der Angeschuldigte einen Verteidiger hat. Fehlt letzterer, hat das Gericht ihm gemäß § 408b StPO einen solchen zu bestellen.
Mit der Festsetzung der Freiheitsstrafe und ihrer Aussetzung zur Bewährung muss ein Bewährungsbeschluss gemäß den §§ 268a Abs. 1 StPO, 56a ff. StGB ergehen.188
Delikte, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden, lassen sich in aller Regel bereits zur mittleren Kriminalität zählen. Von allen Fällen, die durch Strafbefehl erledigt werden können, sind solche, bei denen eine Freiheitsstrafe beantragt wird, die schwerwiegendsten. Die Statistiken zeigen, dass grundsätzlich in allen Deliktsbereichen Freiheitsstrafen durch Strafbefehl beantragt werden. Die prozentual gesehen meisten Freiheitsstrafen innerhalb eines Deliktsbereichs werden im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (2019 waren es hier 0,4 %, also 349 Fälle) beantragt, gefolgt von den Wirtschafts-, Steuerstrafsachen und Geldwäschedelikten (0,3 %, 403 Fälle). Die größte Anzahl an Freiheitsstrafen hingegen wird bei den Betrug- und Untreuesachen beantragt (798 Fälle), gefolgt von vorsätzlichen Körperverletzungsdelikten (662 Fälle) sowie den Straßenverkehrsdelikten (461 Fälle) und den Diebstählen und Unterschlagungen (458 Fälle).189
Bei der Beantragung eines Strafbefehls, der auf Freiheitsstrafe lautet, ist nach § 408b StPO eine gerichtliche Pflichtverteidigerbestellung nötig, sofern der Angeschuldigte noch nicht verteidigt ist. Zwar steht der verteidigte Angeschuldigte in Hinblick auf die Wahrung seiner Rechte in aller Regel besser als der nicht verteidigte, allerdings ist fraglich, ob eine Pflichtverteidigung unter diesen Voraussetzungen ausreicht, um die Risiken des Verfahrens zu kompensieren, insbesondere wenn es um weitreichendere Folgen wie Freiheitsstrafen geht, bei denen ein Bewährungswiderruf droht. Diese Rechtsfolge ist weniger dazu geeignet, in einem summarischen Verfahren festgesetzt zu werden. Denn der Richter kann sich mangels zuvor gewährtem rechtlichen Gehör keinen persönlichen Eindruck von dem Angeschuldigten machen und muss seine Prognoseentscheidung auf einer anderen Entscheidungsgrundlage treffen, als es bei einer Hauptverhandlung der Fall ist.190 Anders als beim Regelverfahren ist beim Strafbefehlsverfahren zwar bei jeder beantragten Freiheitsstrafe eine Verteidigung erforderlich, und nicht nur dann, wenn die erwartete Strafe eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr beträgt191, sodass ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt; allerdings ist fraglich, ob das verkürzte Verfahren aufgrund seiner defizitären Einhaltung der Verfahrensgrundsätze für die Erledigung derartiger Fälle überhaupt geeignet ist.192 Denn insbesondere auch durch diese Rechtsfolge ist eine Beschränkung auf die Bagatellkriminalität nicht mehr gegeben.193
II. Die Nebenstrafe
Die Nebenstrafe, die gemäß § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 3 StPO im Strafbefehl festgesetzt werden kann, ist das Fahrverbot nach § 44 StGB beziehungsweise § 25 StVG i.V.m. § 21 Abs. 1 Satz 2 OWiG.194 Die Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) ist nach § 51 Abs. 5 StGB anzurechnen; gemäß § 409 Abs. 1 Satz 2 StPO ist mit der Anordnung eine Belehrung nach § 268c Satz 1 StPO zu verbinden.195 Das Fahrverbot kann auch neben einer Freiheits- oder Geldstrafe oder der Entziehung oder Unbrauchbarmachung angeordnet werden, allerdings nicht neben einer Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 Abs. 3 StGB.196 Früher war diese Rechtsfolge lediglich im Zusammenhang mit Verkehrsstraftaten interessant. Seit 2017197 wurde ihr Anwendungsbereiche allerdings erweitert, sie kann heute auch dann angeordnet werden, wenn das begangene Delikt kein Verkehrsdelikt ist.
III. Die Nebenfolgen
Als Nebenfolgen sind nach § 407 Abs. 2 Satz 1 StPO die Einziehung (Var. 4), die Vernichtung (Var. 5) und die Unbrauchbarmachung (Var. 6) nach § 74d Abs. 1 Satz 2 StGB durch Strafbefehl zulässig.
Die Einziehung ist gemäß der §§ 73 ff. StGB von Taterträgen, gemäß §§ 74 ff. StGB auch von Tatprodukten, Tatmitteln und Tatobjekten möglich; bei Betäubungsmitteln kann auf § 33 BtMG, bei Waffen auf § 54 WaffG zurückgegriffen werden.198 Die Anordnung einer Einziehung ist gemäß § 432 Abs. 1 Satz 1 StPO auch dem Einziehungsbeteiligten (§ 424 Abs. 1 StPO) zuzustellen, soweit er am Verfahren beteiligt war.199
Nach § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Var. 7 StPO kann auch die Bekanntgabe der Verurteilung angeordnet werden, wenn dies nach materiellem Recht (z.B. §§ 103 Abs. 2, 165, 200 StGB) zulässig ist200, wenn also insbesondere der regelmäßig notwendige Antrag des Verletzten vorliegt201.
Es können gemäß § 407 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2a StPO auch Maßnahmen nach § 20 TierSchG getroffen, also das Halten oder Betreuen von Tieren jeder oder bestimmter Art oder auch der berufsmäßige Umgang mit ihnen verboten werden.202
IV. Die Maßregel der Besserung und Sicherung
In § 407 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist als zulässige Rechtsfolge des Strafbefehls auch die Entziehung der Fahrerlaubnis im Sinne der §§ 69 ff. StGB vorgesehen. Die Sperre der Neuerteilung (§ 69a Abs. 1 Satz 1 StGB) darf danach aber höchstens zwei Jahre betragen und gilt ab Verkündung des Urteils, hier also ab Erlass des Strafbefehls.203 Ein kalendarischer Endtermin darf nicht bestimmt sein204, eine Beschränkung der Sperre nach § 69a Abs. 2 StGB ist jedoch zulässig205.
Wenn die Entziehung als Maßregel nach Art der Tat an sich angemessen und geboten erscheint, aber nicht angeordnet wird, ist dies gemäß §§ 409 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. 267 Abs. 6 Satz 2 StPO im Strafbefehlsantrag und später im Strafbefehl zu begründen.206
Die Rechtsfolgen in § 407 Abs. 2 StPO können zudem kombiniert werden207, wobei die Verhängung nebeneinander nur bei entsprechender materiellrechtlicher Zulässigkeit möglich ist.208
Der Antrag der Staatsanwaltschaft kann sich auch gegen mehrere Beschuldigte richten; dann steht im Ermessen des Richters, ob die Rechtsfolgen gegen jeden einzeln oder gemeinsam ergehen.209
E. Die Rechtsbehelfe
Ist der Strafbefehl erlassen worden, sieht das Gesetz vor, dass sich der Angeklagte hiergegen nur mittels Einspruchs zur Wehr setzen kann, § 410 Abs. 1 StPO. Einen Rechtsbehelf gegen die Wahl des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gibt es nicht. Zwar ist es auch im Regelverfahren nach § 210 Abs. 1 StPO nicht möglich, gegen den Eröffnungsbeschluss Rechtsbehelf einzulegen, allerdings hat der Angeschuldigte im Regelverfahren vor der Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung zumindest die Möglichkeit, sich gegenüber dem Richter zu äußern und so unter Umständen die richterliche Entscheidung zu beeinflussen, § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO. Zwar sieht das Strafbefehlsverfahren ein solches förmliches Zwischenverfahren auch nicht vor, dennoch fehlt eine entsprechend vergleichbare Möglichkeit hier völlig.
Wird ein Einspruch mangels Zulässigkeit durch Beschluss verworfen, kann hiergegen gemäß § 411 Abs. 1 Satz 1 StPO die sofortige Beschwerde nach § 311 StPO eingelegt werden.210 Für den Fall, dass der Richter über die auf die Höhe der Tagessätze beschränkte Einspruchseinlegung durch Beschluss entscheidet, kann gegen diesen Beschluss ebenfalls sofortige Beschwerde eingereicht werden, § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO.
Der Staatsanwaltschaft steht das Mittel der sofortigen Beschwerde für den Fall zu, dass der Vorsitzende des Schöffengerichts sich für unzuständig hält und die Sache an den Strafrichter abgibt, § 408 Abs. 1 Satz 1 StPO.
I. Der Einspruch des Angeklagten
Der Einspruch ist – nach einer nur gegebenenfalls erfolgten Vernehmung im Ermittlungsverfahren nach § 163a StPO211 – die erste formelle Möglichkeit des dann Angeklagten, auf das Strafverfahren Einfluss zu nehmen. Durch die Möglichkeit, das schriftliche Strafbefehlsverfahren in eine mündliche und öffentliche Hauptverhandlung überzuleiten, soll insbesondere sein Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 6 EMRK gesichert sein.212 Ob dies mit Blick auf § 407 Abs. 3 StPO, wonach der Angeschuldigte vor Erlass des Strafbefehls nicht durch das Gericht gehört werden muss, tatsächlich auch der Fall ist, ist fraglich, denn das rechtliche Gehör muss bereits vor der richterlichen Entscheidung gewährt werden213. Jedenfalls ist die Erlangung rechtlichen Gehörs, anders als im Regelverfahren, im Strafbefehlsverfahren davon abhängig, dass das Angeklagte von sich aus aktiv wird und Einspruch einlegt214, was für ihn deutlich nachteilhafter ist.
Der Einspruch zeitigt zwar einen Suspensiv-, aber keinen Devolutiveffekt und ist somit kein Rechtsmittel, sondern nur ein Rechtsbehelf.215 Dennoch sind die allgemeinen Vorschriften über Rechtsmittel, soweit sie sich nicht auf diejenigen der Staatsanwaltschaft beziehen, nach § 410 Abs. 1 Satz 2 StPO auf ihn anwendbar.216
1. Die Voraussetzungen
a) Die Einspruchsberechtigung
Berechtigt, Einspruch einzulegen, ist nach § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO zunächst der Angeklagte. Über die Verweisung in § 410 Abs. 1 Satz 2 StPO können auch die dort genannten Personen Einspruch einlegen. Gemäß § 297 StPO ist dies der Verteidiger, nach § 298 StPO der gesetzliche Vertreter.217 Letzterer kann diesbezüglich, anders als der Verteidiger, sogar gegen den Willen des Angeklagten agieren.218
Einspruchsberechtigt sind weiterhin die im Sinne von § 427 Abs. 1 StPO Einziehungsbeteiligten, die Nebenbeteiligten, die von einer Vernichtungs- oder Unbrauchbarmachungsanordnung betroffen sind, vgl. §§ 439 i.V.m. 427 Abs. 1 StPO, sowie die juristische Person oder Personenvereinigung (§§ 444 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. 427 Abs. 1 StPO).219 Falls der Strafbefehl nur eine Ordnungswidrigkeit enthält, kann auch der hiervon Betroffene Einspruch einlegen220, sowie jeder, gegen den eine in § 407 Abs. 2 StPO nicht genannte Rechtsfolge festgesetzt wird221. Insofern bestehen gegenüber der Rechtsmitteleinlegung im regulären Verfahren keine Besonderheiten.
Nicht berechtigt, Einspruch einzulegen, ist dagegen mangels Beschwer die Staatsanwaltschaft.222
b) Zuständigkeit und Form
Zuständig für die Entscheidung über einen Einspruch ist gemäß § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO derselbe Richter, der den Strafbefehl zuvor erlassen hat, also der iudex a quo223. Dieser Umstand ist, wie sich noch zeigen wird, mit Blick auf eine mögliche Voreingenommenheit nicht unproblematisch.224
Der Einspruch ist nach § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen. Dieser Voraussetzung ist genügt, wenn er fernschriftlich225 eingelegt wurde, zum Beispiel durch ein Telefax226 oder durch elektronische Dokumente nach Maßgabe der §§ 32a ff. StPO227. Eine telefonische Einlegung ist hingegen unzulässig.228 Solange der Einspruchsführer erkennbar ist, schadet eine fehlende Unterschrift nicht.229
Der Einspruch muss nicht, kann aber begründet werden.230
Nach § 184 GVG ist der Einspruch in deutscher Sprache einzulegen.231 Allerdings könnte man daran zweifeln, ob dies nach europäischem Recht auch dann gelten muss, wenn der Beschuldigte die deutsche Sprache nicht oder nicht ausreichend beherrscht.232 Denn unter anderem heißt es im Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren233: „Diese Richtlinie sollte gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.“ Der EuGH urteilte, dass die Art. 1–3 dieser Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift, die regelt, dass der Einspruch gegen einen Strafbefehl in der Verfahrenssprache einzulegen ist, auch wenn er diese Sprache nicht beherrscht, nicht entgegenstehen234, vorausgesetzt die zuständigen nationalen Behörden sind nicht gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie der Auffassung, dass der Einspruch im konkreten Verfahren ein wesentliches Dokument darstellt.235 Fraglich bleibt dabei, wann ein Einspruch kein wesentliches Dokument sein soll.236
Jedenfalls dann, wenn der Angeklagte verteidigt ist, stellt sich dieses Problem aber nach der Ansicht der Rechtsprechung des BGH nicht, da fremdsprachige Schreiben in diesem Fall unbeachtlich seien, zumal die Entscheidung des EuGH nur den Nichtverteidigten betreffe.237
c) Die Einspruchsfrist
Die Frist zur Einspruchseinlegung beträgt zwei Wochen, § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO, und ist nach § 43 StPO zu berechnen.238 Vor dem Strafverfahrensänderungsgesetz von 1987 war die Frist für die Einlegung nur eine Woche lang.239 Heute ist sie eine Woche länger als bei Rechtsmittelsachen (§§ 314 Abs. 1, 341 Abs. 1 StPO) und an die Einspruchsfrist bei Bußgeldsachen (vgl. § 67 Abs. 1 Satz 1 OWiG) angepasst. Die Verlängerung der Frist sollte eine Einschränkung von Wiedereinsetzungsanträgen bewirken, die bei Einsprüchen gegen Strafbefehle besonders häufig seien.240
Details
- Pages
- 808
- Publication Year
- 2023
- ISBN (PDF)
- 9783631900666
- ISBN (ePUB)
- 9783631900673
- ISBN (Hardcover)
- 9783631897119
- DOI
- 10.3726/b20758
- Language
- German
- Publication date
- 2023 (November)
- Keywords
- Strafbefehlsverfahren in der Praxis Risiken für Fehlentscheidungen Anwendung des Verfahrens Strafverfahren strukturelle Schwächen des Verfahrens
- Published
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 808 S., 8 farb. Abb.