Loading...

Transposition, Migration und KörperGrenzen in der Romania

by Mariana Maia Simoni (Volume editor) Berit Callsen (Volume editor) Jasmin Wrobel (Volume editor)
©2024 Edited Collection 298 Pages
Open Access
Series: Romania Viva, Volume 53

Summary

Der vorliegende Band erforscht Bewegungen der Verrückung, Querung und Grenzüberschreitung in romanischen Kulturräumen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Aufsätze widmen sich der interdisziplinären Verhandlung von Grenz- und Körperdiskursen in Literatur und Bildmedien. Überschreitungen rücken dabei nicht nur in physisch-räumlicher Perspektive, als Migrationsbewegungen, in den Fokus, sondern ebenso in genderspezifischer, gattungstechnischer und medialer Hinsicht. Auch in diesen transpositiven Dynamiken erscheinen Körperlichkeit und Materialität häufig zugleich als Dispositiv und Movens der Überschreitung, Überschreibung und Überzeichnung.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • FM Epigraph
  • Inhalt
  • Transposition, Migration und KörperGrenzen in der Romania. 
Eine Einführung
  • Otredad, alteridad, ambivalencia: cuerpos dis/conformes
  • Hostilidad y hospitalidad del cuerpo en Cobra de Severo Sarduy y El huésped de Guadalupe Nettel
  • La poética paranoica de “Ningún Lugar Sagrado” de Rey Rosa: mimesis postcolonial reflejada en cuerpos discursivos
  • Das absolut Fremde im eigenen Körper? Zum Einsatz des Grotesken in 
Jean-Pierre Jeunets Alien Resurrection
  • Körper, Aus-/Ein-Grenzung, (posthumane) Materialität
  • El futuro era esto: Alt-Right, cuerpos “otros” y narrativas de lo monstruoso en tiempos de pandemia
  • Schließungsversuche und Systemkritik. Zur Darstellung des Dolmetschens in Shumona Sinhas Roman Assommons les pauvres ! (2011)
  • „La tierra es un cuerpo vivo.“ Mensch-Umwelt-Verhältnis, indigene Epistemologien und ökokritische Affinitäten bei Elicura Chihuailaf
  • Diaspora, (kollektives) Trauma und embodiment
  • Fremde Körper, Migrationsgeschichten und kollektives Trauma im zeitgenössischen lusophonen Roman
  • Aus politischen Gründen – Simón Radowitzkys Erfahrung mit Migration und Misshandlung. Zum Umgang mit Merkmalen eines Traumatextes beim Comicübersetzen
  • Memoria, archivo y ausencias en Dora de Ignacio Minaverry
  • Identidades/cuerpos/sexualidades itinerantes
  • Transposiciones: sobre la liminalidad del cuerpo travesti
  • Körper und Nacht als Dispositive globaler Sexarbeit am Beispiel von Fernanda Farias de Albuquerques Roman Princesa
  • Orgia(s) sob o sol: Os diários brasileiros de Tulio Carella
  • „[J]e suis Si Mahmoud ould Ali, jeune lettré tunisien qui voyage de zaouïa en zaouïa pour s’instruire…“ Intersektionales Cross-Dressing bei Isabelle Eberhardt
  • Cuerpo, (trans-)frontera, violencia
  • Agresión y trasgresión: cuerpos traspasados por exilios, fronteras y violencias en Claudia Hernández y Horacio Castellanos Moya
  • Nombrar el hedor del baldío. La literatura de no ficción como médium del feminicidio en Chicas muertas, de Selva Almada
  • Über die Autor*innen
  • Reihenübersicht

Berit Callsen, Mariana Simoni, Jasmin Wrobel

Transposition, Migration und KörperGrenzen in der Romania. Eine Einführung

“What boundaries provisionally contain remains generative,
productive of meanings and bodies. Siting (sighting) boundaries
is a risky practice.”

Donna Haraway

Der vorliegende Band widmet sich Dynamiken und Bewegungen der Verrückung, Querung und Grenzüberschreitung in romanischen Kulturräumen des 20. und 21. Jahrhunderts. Er geht aus der Sektion „Körper/Grenzen – Fremde/Körper: Migration, Exil und Grenzerfahrung in der Romania“ hervor, die auf dem virtuellen Romanistentag im Oktober 2021 in Augsburg abgehalten wurde. Zum einen versammelt der Band Diskussionen rund um den migrantischen Körper, die den Migrationsprozess selbst als verkörperte Praktik und körperliche Performance verstehen (Mansilla Quiñones/Imilán 2018: 246–247).1 Die Migrationsbewegung schreibt sich in den Körper ein, hinterlässt Spuren auf ihm. In diesem Sinne wird „Migration“ aus performativer Perspektive relevant, die das Augenmerk legen kann auf die Räume und Körper, die während des Wanderungsprozesses hergestellt werden.

Der Band situiert sich somit im Feld jüngster romanistischer Forschungsperspektiven auf Migration. In der Literatur- und Kulturwissenschaft ist dieser Themenkomplex zuletzt etwa unter spektralen und axialen Aspekten (Schuchardt et al. 2023) bzw. aus der Perspektive des spatial turn behandelt worden (Hertrampf/Nickel 2019).2 Ebenso sind jüngst emotionsbezogene Fragestellungen in literarisierten Migrations- und Reisenarrativen untersucht worden (Gallo González et al. 2021). Darüber hinaus widmet sich eine Reihe von neueren Publikationen besonders den gesellschaftspolitischen Herausforderungen in aktuellen und historischen globalen Wanderungsbewegungen und interkulturellen Kontaktsituationen und untersucht ihre literarischen Reflexionen in der Romania.3

Zum anderen erkundet der Band in einem erweiterten Sinne Bewegungen der Transposition, die nicht unmittelbar mit migrantischen Wanderungsprozessen in Zusammenhang stehen. Bewegungen der Überschreitung rücken somit nicht nur in physisch-räumlicher, sondern ebenso in genderspezifischer, gattungstechnischer und medialer Hinsicht in den Blick. Auch in diesen transpositiven Dynamiken erscheint Körperlichkeit und Materialität häufig zugleich als Dispositiv und Movens der Überschreitung, Überschreibung und Überzeichnung. Gerade diese multiplen Über-Gänge verweisen auch auf ein körperliches Eingebundensein in die Welt, das – gewissermaßen als „relation in progress“ – stets durchzogen ist von Irruptionen, Fragmentierungen und sistierenden Momenten und das die privilegierte Positionalität des menschlichen Subjekts hinterfragt. Stacy Alaimo hat aus ökokritischer und neumaterialistischer Forschungsperspektive das Konzept der „transcorporeality“ (Kuznetski/Alaimo 2020: 139) geprägt, das auf eine ebensolche dynamische Verbundenheit zwischen Körper und (Um)Welt abzielt und sie als verkörpert und situiert versteht (Kuznetski/Alaimo 2020: 140).

Travestie, Flucht, Geburt, Metamorphose, Gewalt, Übersetzung – so unterschiedlich die thematischen Kristallisationspunkte des Bandes in semantischer Hinsicht erscheinen, eint sie doch strukturell die dynamische Be- und Überschreitung von KörperGrenzen; darüber hinaus stoßen sie, von verschiedener Warte aus, Überlegungen zur eigentlichen Produktion von Grenzen und zur wechselseitigen Hervorbringung von Körper-Grenzen-Räumen an. Diese Vielfalt der Perspektiven verschleiert nicht die spezifische Materialität der Körper, sie verweist vielmehr auf die Vorläufigkeit, Willkür und Porösität ihrer jeweils individuellen Abgrenzung zur Umwelt: Die Grenze selbst, ebenso wie dynamische Perspektivierungen zwischen innen und außen, zwischen dem Bekannten und dem Fremden, rücken dadurch in den Blick. Der Begriff der Grenze fungiert als wichtiges theoretisch-methodologisches Instrument in unseren Überlegungen. Einerseits erlaubt er es, sich auf Prozesse zu konzentrieren und weniger auf Entitäten oder Objekte. Andererseits ermöglicht der Grenzbegriff es, Abgrenzungen sichtbar zu machen und Unbestimmtheitszonen und Räume multipler Zugehörigkeiten offenzulegen, die durch unausgesprochene Machtstrukturen bestimmt sind.

Diese impliziten Machtstrukturen wirken etwa bei Grenzziehungen zwischen binären Kategorien wie Natur und Kultur, menschlich und animalisch, Vernunft und Emotion und vielen weiteren, deren Trennung die Grundlage für die Idee der (westlichen) Moderne geschaffen hat. Verdrängung und Migration selbst bilden die Fundamente für einen Großteil der Modernekonstrukte, v.a. wenn man sie mit kolonialen, patriarchalen, versklavenden und extraktivistischen Praktiken in Zusammenhang bringt, die noch immer in den heutigen territorialen Regimen wirken.

Der „andere“ Körper, der durch den hegemonialen westlichen Diskurs stigmatisiert wird, widersetzt sich jedoch diesen binären Zuschreibungen, mehr noch: Im „Fremden“, „Sonderbaren“, „Anormalen“ oder „Queeren“ findet sich ein entscheidendes Potential der Durchkreuzung angelegt, das in zwei Richtungen wirkt: einmal im Sinne des Überquerens und Überwindens von Grenzen und Binarismen, indem Brücken geschaffen und produktive Zwischenräume belassen werden; des Weiteren ergibt sich in der Durchkreuzung das Potential, auferlegte Grenzlinien selbst durchzustreichen und zu tilgen. Die Bewegung der Transposition, das Fließende und auch Ambivalente, das der Überschreitung innewohnt, und ihre Implikation für die Herstellung von Körperlichkeit, bilden einen wichtigen thematischen Konvergenzpunkt des Bandes.

Der Begriff der Migration und Wanderung wiederum wird in unseren Überlegungen auch auf meta-konzeptueller Ebene relevant. Im Jahr 2003 veröffentlichte Mieke Bal ihr Werk Travelling concepts in the Humanities, das sich der Transposition von Begriffen zwischen unterschiedlichen Disziplinen widmet und ihre möglichen Wanderungswege rekonstruiert; dies zieht eine ständige Rekontextualisierung nach sich. Die Begriffswanderung wird somit verräumlicht, sie verortet sich zwischen Wissensfeldern, aber auch zwischen kulturellen und geopolitischen Räumen. Auf diese Weise wird die binäre Logik des kolonialen Imports oder der Übertragung unterlaufen – weil kein Interesse mehr besteht an einer asymmetrischen Ordnung.

Der mehrsprachige Band versammelt Beiträge auf Spanisch, Deutsch und Portugiesisch und trägt dem Anliegen der Reihe „Romania Viva“ insofern Rechnung, als er multi- und transmediale Perspektiven auf den Gegenstand erkundet; so nehmen die Aufsätze narrative Texte, Lyrik, graphische Narrative sowie Filme der Romania in den Blick. Der Band strukturiert sich in fünf thematischen Sektionen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen in der Betrachtung und Analyse von Bewegungen auf und über KörperGrenzen: Die erste Sektion, „Otredad, alteridad, ambivalencia: cuerpos dis/conformes“, beschäftigt sich mit der Ambivalenz dis/konformer Körper und untersucht die performative Identität des „anderen“ Körpers. In seinem Aufsatz „Hostilidad y hospitalidad del cuerpo en Cobra de Severo Sarduy y El huésped de Guadalupe Nettel“ unternimmt René Ceballos eine vergleichende Untersuchung des Romans Cobra (1972) des aus Kuba stammenden Severo Sarduy und des Romans El huésped (2006) der mexikanischen Schriftstellerin Guadalupe Nettel. Auf der Folie des mit Derrida als doppelbödig bestimmbaren Konzeptes der Gastfreundschaft, das sowohl die Figur des Gastgebers als auch jene des Fremden einschließt, analysiert Ceballos die jeweiligen Konzeptionen von Körperlichkeit. Erweist sich der Körper bei Sarduy als Dispositiv und Territorium zahlreicher Transformationen, in deren Folge auch die Subjekt-Körper-Beziehung stetigen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist, bewegen sich auch die Imaginationen von Körperlichkeit in Nettels Roman in einem ambivalenten Bereich: Der Körper der Protagonistin wird befallen von einem Wesen, das sich vom ungebetenen Gast zum geduldeten Mitbewohner wandelt.

Der Artikel von Jorge Estrada Benítez, „La poética paranoica de ʻNingún Lugar Sagradoʼ de Rey Rosa: mimesis postcolonial reflejada en cuerpos discursivos“, konzentriert sich auf den Gestus einer „paranoiden Poetik“ in der Analyse der Erzählung „Ningún lugar sagrado“ (1998) des guatemaltekischen Autors Rodrigo Rey Rosa. Hier ist die Migrationserfahrung des Protagonisten nur einer der Faktoren, die eine Erfahrungslücke erzeugen, die ein unheimliches Oszillieren zwischen verschiedenen Interpretationsrahmen verursacht. Estrada Benítez verbindet den liminalen Charakter dieses Übergangs zwischen den Rahmen mit der intermittierenden Lesbarkeit der Welt und betont somit den körperlichen Aspekt der Paranoia.

Der Aufsatz „Das absolut Fremde im eigenen Körper? Zum Einsatz des Grotesken in Jean-Pierre Jeunets Alien Resurrection“ von Matthias Hausmann widmet sich dem dritten Teil der von Ridley Scott 1979 begründeten Alien-Reihe. Er erkundet in Jeunets 1997 veröffentlichtem Film die besondere Verschränkung von Science Fiction und Groteskem als Ästhetiken, die in ähnlicher Weise eine Auseinandersetzung mit dem Fremden befördern und dabei mit Strategien der Verkehrung und Verzerrung arbeiten. Alien Resurrection nimmt, wie der Aufsatz herausarbeitet, insbesondere die körperlichen Implikationen dieser Ästhetiken in den Blick und stellt den Alien als Hybridwesen ins Zentrum der filmischen Handlung. Auf diese Weise werden nicht nur Körpergrenzen beständig transzendiert (wie Bachtin herausgestellt hat, ein zentrales Merkmal des Grotesken), auch binäre Geschlechtskategorien bricht der Film auf und hinterfragt damit ebenso konventionelle Sichtweisen wie er neue Erkenntnisprozesse anstößt. Die zweite Sektion, „Körper, Aus-/Ein-Grenzung, (posthumane) Materialität“, nimmt die Konstruktion von Körperlichkeit in machtasymmetrischen Strukturen in den Blick und fragt zudem nach den Implikationen neu-materialistischer Perspektiven auf Relationen von Körper und Umwelt.

Miguel Rivas Venegas stellt in seinem Aufsatz „El futuro era esto: Alt-Right, cuerpos ʻotrosʼ y narrativas de lo monstruoso en tiempos de pandemia“ aus transnationaler und historischer Perspektive die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen der COVID-19-Pandemie und den Diskriminierungs- und Marginalisierungsstrategien der internationalen Neuen Rechten. Rivas Venegas zeigt in diesem Kontext, wie die rechten Bewegungen die Opposition von vermeintlichen „Gewinnern“ und „Verlierern“ um die von „gesunden“ und „kranken“ Körpern ergänzen – ein rhetorischer Rückgriff auf die dichotomische (und xenophobe, rassistische, antisemitische) Idee des „nacional-sano“ und des „foráneo-enfermo“. Rivas Venegas analysiert in diesem Kontext u.a. die rhetorischen Auslassungen und Social Media-Posts von Vox, AfD und Matteo Salvini. Die vor dem Hintergrund von Pandemie und Migration als „cuerpos ʻotrosʼ“ markierten Körper weisen darüber hinaus Beziehungen zu dem Begriff des Monstruösen auf, weil dieser auch etymologisch auf Kreaturen verweist, die Andersartigkeit zeigen.

Der Aufsatz „Schließungsversuche und Systemkritik. Zur Darstellung des Dolmetschens in Shumona Sinhas Roman Assommons les pauvres ! (2011)“ von Florian Gödel widmet sich dem Roman der bengalisch-französischen Autorin Shumona Sinha unter dem Fokus der Dynamik des Öffnens und Schließens von Grenzen, die in verschiedenen Dolmetschsituationen im Verlauf des Textes auf unterschiedliche Weise offenbar wird. Die gewählte Perspektive macht allererst die (politischen, körperlichen und sprachlichen) Grenzverläufe in den dargestellten Asylverfahren sichtbar und zeigt auf, dass der Akt des Dolmetschens selbst stets einen Raum des Dazwischen beschreitet, der die Beziehungen zwischen Körper und Medium, zwischen linearer Erzählung und konfuser Faktenkumulierung immer wieder neu zur Disposition stellt. In dieser Hinsicht arbeitet der Aufsatz auch eine systemkritische Ausrichtung des Romans heraus: Gerade in machtasymmetrischen Situationen kann Verständigung nur als gemeinsames Verstehen gelingen.

In ihrem Aufsatz „ʻLa tierra es un cuerpo vivoʼ. Mensch-Umwelt-Verhältnis, indigene Epistemologien und ökokritische Affinitäten bei Elicura Chihuailaf“ beschäftigt sich Jenny Haase mit der Beziehung zwischen Poetik, Körper/Grenzen und Naturverhältnis in Lyrik, Essay und Autobiografie des Mapuche-Dichters Elicura Chihuailaf. Das Werk Chihuailafs als Einladung zum interkulturellen Dialog verstehend, fokussiert der Aufsatz die Überlagerungen von spirituellem und poetischem Sprechen, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in ausgewählten Gedichten des in Chile lebenden Autors. Ohne auf eine Vereinnahmung indigener Kosmovision abzuzielen, setzt es sich die Autorin ebenfalls zum Ziel, Berührungspunkte zwischen dem nicht-westlichen Lebensstil und Naturverständnis und westlichen ökokritischen sowie neumaterialistischen Ansätzen herauszuarbeiten. Die Auflösung binärer Verhältnisbestimmungen zwischen Mensch und Natur scheint hier als ein wichtiger Konvergenzpunkt auf.

Sektion drei, „Diaspora, (kollektives) Trauma und embodiment“, widmet sich der traumatischen Erinnerung, die dem (diasporischen) Subjekt körperlich eingeschrieben ist. In ihrem Aufsatz „Fremde Körper, Migrationsgeschichten und kollektives Trauma im zeitgenössischen lusophonen Roman“ untersucht Joanna M. Moszczyńska aus vergleichender Perspektive den brasilianischen Roman Por que sou gorda, mamãe? (2006) von Cíntia Moscovich und A Gorda (2016) der portugiesischen Autorin Isabela Figueiredo. Beiden Romanen ist gemeinsam, dass die Fettleibigkeit der Protagonistinnen eine Ausdrucksform transgenerationaler Traumata ist: ihre Körper werden laut der Autorin zu Orten der Einschreibung kollektiv-traumatischer Erinnerung. Während die namenlose Erzählerin in Moscovichs autofiktionalem Roman eine aschkenasische Jüdin ist, deren Urgroßeltern vor den Pogromen im Russischen Reich geflohen sind, handelt es sich bei der Protagonistin von Figueiredos ebenfalls autofiktionalem Werk um eine Tochter von retornados, „Rückkehrer*innen“ aus den ehemals von Portugal kolonialisierten afrikanischen Ländern wie Mosambik oder Angola. Moszczyńska zeigt in ihrer Analyse wie die adipösen Körper beider Frauen mit unterschiedlichen, an Erinnerungsdiskurse gebundenen Bedeutungen kodifiziert sind, die sie nicht zuletzt als „Fremdkörper“ lesbar machen.

Die Comicübersetzerin Lea Hübner expliziert in ihrem Beitrag mit dem Titel „Aus politischen Gründen – Simón Radowitzkys Erfahrung mit Migration und Misshandlung. Zum Umgang mit Merkmalen eines Trauma-Textes beim Comicübersetzen“ die Herausforderungen und Schwierigkeiten beim Übersetzen von Comics im Allgemeinen und der Übersetzung von Werken, die kollektive wie persönliche traumatische Erfahrungen wiedergeben, im Speziellen. Anhand einiger ausgewählter Beispiele aus ihrer eigenen Übersetzung der argentinischen Graphic Novel 155 Simón Radowitzky (2016), erschienen 2019 bei bahoe books unter dem Titel Simón Radowitzky. Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer, zeigt sie auf, wie sich ihre Eindrücke und das empathische Nachempfinden zunächst als Leserin – und erst in einem zweiten Schritt als Übersetzerin – auf die Übertragungsarbeit auswirken. Hierbei stellen die spezifischen Text-Bild-Verhältnisse im Comic sowie die durch das Format der Sprechblasen und Legenden begrenzten „Texträume“ eine zusätzliche Herausforderung dar.

Amadeo Gandolfo und Pablo Turnes diskutieren in ihrem Beitrag „Memoria, Archivos y Ausencias en Dora de Ignacio Minaverry“ dessen bisher fünfteilige Comic-Reihe Dora (2009–2021) unter den Gesichtspunkten postmemorialer und multidirektionaler Erinnerung sowie der Frage danach, wie diese Erinnerung mit der Körpererfahrung und der sexuellen Orientierung der Protagonistin verbunden ist. Dabei zeigen sie, auf welche Weise sich Minaverrys Werk über deren „condición itinerante“ auszeichnet: Dora Bardavid, die der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden angehört, wird als selbst ein wenig „wurzellose“ Amateur-Spionin in die Jagd und Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern verwickelt und reist zu diesem Zweck u.a. durch Deutschland, Frankreich und Argentinien. Hierbei analysieren Gandolfo und Turnes, wie durch die Perspektive der Protagonistin sowie durch eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumente, die Dora aufspürt, multidirektionale Verbindungen (Rothberg) zwischen den Verbrechen der Nazis und der letzten Militärdiktatur Argentiniens geschaffen werden.

Die vierte Sektion, „Identidades/cuerpos/sexualidades itinerantes“, untersucht fließende körperlich-sexuelle Identitäten: so etwa den transsexuellen oder travestischen Körper auf Reisen und im Migrationsprozess. Der Artikel „Transposiciones: sobre la liminalidad del cuerpo travesti“ von Cintia Daiana Garrido geht von materialistischen Überlegungen zum Begriff der Grenze aus, um sich dem Roman Las malas der argentinischen Autorin Camila Sosa Villada zu nähern und ihn zu analysieren. Garrido hebt den performativen Charakter dieses Romans hervor, der den Vorgang der travestización mit der Konstruktion vom Körper und dem Akt des Schreibens selbst zusammenfallen lässt.

In seinem Beitrag „Körper und Nacht als Dispositive globaler Sexarbeit am Beispiel von Fernanda Farias de Albuquerques Roman Princesa“ unterzieht Janek Scholz den autofiktionalen Text der brasilianischen trans* Autorin einer machtkritischen Analyse. Hierbei untersucht Scholz, auf welche Weise in Princesa die Dispositive „Körper“ und „Nacht“ als Austragungsorte multipler Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse fungieren. Nach kurzen, aber prägnanten Skizzierungen von Albuquerques Lebensgeschichte und der trans* Migration von Brasilien nach Italien untersucht Scholz, wie die Protagonistin Princesa als mehrfachen Diskriminierungsformen ausgesetzte Migrantin um die eigene Verortung kämpfen muss: als Brasilianerin in Italien und als trans* Frau, die tagsüber eher bemüht ist, eine als traditionell weiblich gelesene Rolle als Haus- und Ehefrau einzunehmen, deren Körper aber nachts vor allem von Freiern begehrt wird, die diesen als dezidiert nichtbinär wahrnehmen. Hierbei zeigt der Autor auch, wie sich Migrationsbewegung und Transition miteinander verflechten und sich gegenseitig bedingen: die Orte, die Princesa während ihrer Trans*Migration durchläuft, werden auf diese Weise auch zu Stationen ihrer körperlichen Veränderungen.

In seinem Artikel „Orgia(s) sob o sol: Os diários brasileiros de Tulio Carella“ weitet Philipp Seidel die Erfahrung des Migrantenkörpers über eine individuelle Geschichte der Vertreibung hinaus aus. Der Artikel analysiert die Tagebücher des argentinischen Dramatikers Tulio Carella während seiner Jahre in Brasilien. Indem er den hybriden Charakter sowohl des Tagebuchgenres als auch des eigenen Lebens des Autors hervorhebt – sowohl im Hinblick auf die Migrationserfahrung in Brasilien als auch auf die Erfahrung seiner Sexualität –, betont Seidel die komplexen Verbindungen zwischen Schreiben und Körperlichkeit und leistet damit einen Beitrag zur Literaturgeschichtsschreibung des Cono Sur.

Details

Pages
298
Publication Year
2024
ISBN (PDF)
9783631900413
ISBN (ePUB)
9783631900420
ISBN (Hardcover)
9783631900406
DOI
10.3726/b20731
Open Access
CC-BY
Language
German
Publication date
2024 (June)
Keywords
Gewalt Trauma LGBTIQ Romanistik Lateinamerika Literatur Bildmedien Exil Diaspora
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 298 S., 23 s/w Abb.

Biographical notes

Mariana Maia Simoni (Volume editor) Berit Callsen (Volume editor) Jasmin Wrobel (Volume editor)

Berit Callsen ist Juniorprofessorin für Romanische Kulturwissenschaft an der Universität Osnabrück. Sie forscht u.a. zu Körperlichkeit im Rahmen von Disability Studies und Body Studies. Im Jahr 2023 war sie Thematic Research Fellow im Rahmen von Mecila in São Paulo (USP/Cebrap). Mariana Simoni ist Juniorprofessorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas mit Schwerpunkt Brasilianistik an der Freien Universität Berlin und assoziierte Forscherin des Centre Marc Bloch Berlin. Seit 2022 co-leitet sie das Teilprojekt Postautonome künstlerische Interventionen in Brasilien und Argentinien (1512 SFB Intervenierende Künste). Jasmin Wrobel ist Juniorprofessorin für Iberoromanische Kulturwissenschaft m. Schwerpunkt Lateinamerika an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie u.a. an einem Buch zu lateinamerikanischen Comics arbeitet. Zw. 2022 und 2023 forschte sie als Marie Curie Postdoctoral Fellow an der University of Manchester, vorher war sie an der Freien Universität Berlin beschäftigt.

Previous

Title: Transposition, Migration und KörperGrenzen in der Romania