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Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90

Band 6: Zeugnisse Teil II: Film

von Yana Milev (Band-Herausgeber:in) Philipp Beckert (Band-Herausgeber:in) Michael Meyen (Band-Herausgeber:in) Marcel Noack (Band-Herausgeber:in)
©2023 Sammelband 814 Seiten

Zusammenfassung

Seit das „Ende des Kommunismus" auf 1990 festgeschrieben und der „Unrechtsstaat DDR" der Justiz übergeben wurde, inszenieren neue Institutionen, Stiftungen und Behörden auf Bundesebene den ökonomischen, kulturellen und moralischen Erfolg des Rechtsstaats. Dabei wird die Mehrheit der Neubürger mit Schockereignissen des krassen sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Stigmatisierung konfrontiert. Konzepte wie „Transformation", „Modernisierung", „Demokratisierung" treten als Euphemismen auf, die über eine neoliberale Annexion des Ostens hinwegtäuschen. Das Investmentprojekt „Aufschwung Ost" ist ein Laborfall der Globalisierung. Über eine Aufarbeitung der DDR im Totalitarismus- und Diktaturenvergleich hinaus ist eine politische Soziologie der Landnahme, des Gesellschaftsumbaus und des strukturellen Kolonialismus in Ostdeutschland längst überfällig. Das Forschungsprogramm „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziolo-gisches Laboratorium" will im dreißigsten Jahr (plus) der „Einheit" diesem Thema mit einer mehrbändigen Publikation Rechnung tragen.
Der zweite Teilband Zeugnisse stellt ein Handbuch des DEFA-Films, des Fernsehfilms der DDR sowie des Films in Ostdeutschland nach 1989/90 vor. Anhand von Dokumentar- und Spielfilmproduktionen werden vier zeithistorischen Phasen erinnerungskulturell rekonstruiert: 0/ Kriegsende und Neuanfang; A/ Aufbau und Aufbruch; B/ Umbruch und Über/Leben; C/ Neuland und Exil. Die Kapitel werden in acht Themen-Specials vertieft. Beide Bände Zeugnisse/Fotografie und Zeugnisse/Film sind ein Basiswerk der Visuellen Soziologie in Ostdeutschland nach 1945 und nach 1990.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Grußwort
  • Ein reiches Erbe als Schatz und Wegzehrung (Matthias Oehme)
  • Vorwort
  • Wider den Zerrspiegel. Filmische Zeugnisse aus der entkoppelten Gesellschaft (Grit Lemke)
  • Vaclav Havel und die Aktualität des Ostdeutschen im Film (Michael Meyen)
  • Die DEFA-Filme und der ostdeutsche Film ab 1990 im Spiegel der Visuellen Soziologie (Yana Milev, Philipp Beckert)
  • Teil II: Film
  • 0 / Ende + Anfang (1945 – 1949)
  • 1. NS-Eliten & Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Der Fall Gleiwitz, DEFA, 1961 (Gerhard Klein)
  • Der Rat der Götter, DEFA, DDR, 1950 (Kurt Maetzig_1)
  • Der Untertan, DEFA, DDR, 1951 (Wolfgang Staudte_1)
  • Professor Mamlock, DEFA, DDR, 1961 (Konrad Wolf_1)
  • Die Mörder sind unter uns, DEFA, SBZ, 1946 (Wolfgang Staudte_2)
  • 2. Antifaschistischer Widerstand
  • Stärker als die Nacht, DEFA, DDR, 1954 (Slatan Dudow)
  • Betrogen bis zum jüngsten Tag, DEFA, DDR, 1957 (Kurt Jung-Alsen)
  • Nackt unter Wölfen, DEFA, DDR, 1963 (Frank Beyer_1)
  • Sterne, DEFA, DDR / VR Bulgarien, 1959 (Konrad Wolf_2)
  • Die Verlobte, DEFA, DDR, 1980 (Günther Rücker, Günter Reisch)
  • Dein unbekannter Bruder, DEFA, DDR, 1982 (Ulrich Weiß)
  • 3. Krieg und Kriegsende
  • Ich war neunzehn, DEFA, DDR, 1968 (Konrad Wolf_3)
  • Die Abenteuer des Werner Holt, DEFA, DDR, 1964 (Joachim Kunert_1)
  • Das Schilfrohr, Deutscher Fernsehfunk, DDR, 1974
  • Mama, ich lebe, DEFA, DDR, 1977 (Konrad Wolf_4)
  • Der Aufenthalt, DEFA, DDR, 1983 (Frank Beyer_2)
  • Fallada – letztes Kapitel, DEFA, DDR, 1988 (Roland Gräf)
  • 4. Bodenreform, Kollektivierung & Kampf gegen Revanchismus
  • Schlösser und Katen, DEFA, DDR, 1957 (Kurt Maetzig_2)
  • Wege übers Land, Folge 1 – 5, Fernsehen der DDR, 1968 (Martin Eckermann)
  • Daniel Druskat, Folge 1 – 5, Fernsehen der DDR, 1976 (Lothar Bellag)
  • 5. Sozialismus & Sabotage
  • Rotation, DEFA, SBZ, 1949 (Wolfgang Staudte_3)
  • Das zweite Gleis, DEFA, DDR, 1962 (Joachim Kunert_2)
  • Sonnensucher, DEFA, DDR, 1972 (Konrad Wolf_5)
  • 6. Friedensfahrt
  • Freundschaft siegt, DEFA / Mosfilm, DDR / Sowjetunion, 1952 (Joris Ivens)
  • Friedensfahrt, DEFA / WFDiF, DDR / VR Polen, 1953
  • 7. Gegenwelten
  • Der geteilte Himmel, DEFA, DDR, 1964 (Konrad Wolf_6)
  • Der nackte Mann auf dem Sportplatz, DEFA, DDR, 1974
  • Solo Sunny, DEFA, DDR, 1980
  • Themen-Special 1. Holocaust, Schuldleugnung der Täter und schnelle Wiedereingliederung von Nazi-Eliten in der BRD im DDR-Film
  • Auschwitz-Prozess. Ein Lehrstück deutscher Geschichte
  • Die Bilder des Zeugen Schattmann
  • Themen-Special 2. Sowjetischer Film
  • Sowjetische Filme in der DDR (Auswahl)
  • A / Aufbau + Aufbruch (1949 – 1989)
  • 1. Lebensläufe: Kinder
  • Die Kinder von Golzow, Langzeitdokumentation, DEFA, ARD, RBB, DDR/BRD, 1961 – 2007 (Winfried und Barbara Junge_1)
  • 2. Lernen und Fortschritt
  • Jenseits von Golzow – Teil 1: Über das Lernen (Winfried und Barbara Junge_2)
  • 1. Vom lernenden Menschen
  • 2. Studentinnen
  • 3. Mit beiden Beinen in Himmel
  • 4. In Syrien auf Montage
  • 5. Einberufen
  • 6. Wenn jeder tanzen würde, wie er wollte, na!
  • 7. Keine Pause für Löffler
  • 8. Somalia
  • Jenseits von Golzow – Teil 2: Menschen in den Landschaften ihres Lebens und ihrer Arbeit, DEFA, DDR / u. a., 1964 – 1990
  • 1. Jubiläum einer Stadt – 750 Jahre Rostock
  • 2. Auf der Oder
  • 3. Termin Spirale 1
  • 4. Das Pflugwesen – es entwickelt sich
  • 5. Diese Briten, diese Deutschen
  • 6. Gruß aus Libyen
  • 7. Nicht jeder findet sein Troja – Archäologen
  • 3. Lebens- und Arbeitswelten: Männer & Frauen
  • Drei von Vielen, DEFA, DDR, 1961 / 1988 (Jürgen Böttcher)
  • Der Sekretär, DEFA, DDR, 1967
  • Ein Vertrauensmann, DEFA, DDR, 1968
  • Im Lohmgrund, DEFA, DDR, 1977
  • Martha, DEFA, DDR, 1978
  • Die Küche, DEFA, DDR, 1986
  • Wäscherinnen, DEFA, DDR, 1972
  • Stars, DEFA, DDR, 1963
  • 4. Lebens- und Arbeitswelten: Frauen
  • Heuwetter, DEFA, DDR, 1972 (Gitta Nickel)
  • Wir von ESDA, DEFA, DDR, 1976
  • Jung sein … und was noch?, DEFA, DDR, 1977
  • Sie, DEFA, DDR, 1970
  • ...und das Weib sei nicht mehr untertan, DEFA, DDR, 1979
  • Gundula – Jahrgang 58, DEFA, DDR, 1982
  • Gestern und die neue Stadt, DEFA, DDR, 1969 (Iris Gusner)
  • Alle meine Mädchen, DEFA, DDR, 1980
  • Wäre die Welt nicht rund, DEFA, DDR, 1981
  • 5. Aufbruch: Frauen
  • Winter áde, DEFA, DDR, 1988 (Helke Misselwitz)
  • Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann, DEFA, DDR, 1989
  • Wittstock-Zyklus / 1, DEFA, DDR, 1974 – 1984 (Volker Koepp_1)
  • 1. Mädchen in Wittstock, 1974 / 1975
  • 2. Wieder in Wittstock, 1976
  • 3. Wittstock III, 1978
  • 4. Leben und Weben, 1981
  • 5. Leben in Wittstock, 1984
  • 6. Aufbruch: Jugend
  • flüstern & SCHREIEN – Ein Rockreport, DEFA, DDR, 1988 (Dieter Schumann)
  • Unsere Kinder, DEFA, DDR, 1989 (Roland Steiner)
  • Themen-Special 3. Zensierte und verbotene DEFA-Filme in der DDR
  • Die Verbotenen Filme in der DDR: Das 11. Plenum des ZK der SED
  • Themen-Special 4. Zensierte und verbotene DEFA-Filme in der BRD
  • Der „Interministerielle Ausschuss für Ost/West-Filmfragen“ und die Zensur von DDR-Filmen in der BRD
  • Themen-Special 5. Filmischer Untergrund in der DDR (Gegenöffentlichkeit)
  • Filmischer Untergrund in der DDR
  • B / Umbruch + Über / Leben (1989 – 2002)
  • 1. Fall der Utopie
  • Material, BRD, 2009 (Thomas Heise_1)
  • Die letzte DDR-Regierung oder wie man sich selbst abschafft, BRD, 2018 (Michael Erler)
  • 2. Die Zeit ist aus den Fugen
  • Die Zeit ist aus den Fugen, BRD, 1991 (Christoph Rüter)
  • 3. Manege Leipzig
  • Leipzig-Zyklus, DDR / BRD, 1986 – 2015 (Andreas Voigt)
  • 1. Alfred, DDR, 1986
  • 2. Leipzig im Herbst, DDR, 1989
  • 3. Letztes Jahr Titanic, BRD / DDR, 1991
  • 4. Glaube Liebe Hoffnung, BRD, 1994
  • 5. Große weite Welt, BRD, 1997
  • 6. Alles andere zeigt die Zeit, BRD, 2015
  • 4. Sieger
  • Die Sieger, BRD, 1994 (Dominik Graf)
  • 5. Entkoppelt
  • Wittstock-Zyklus / 2, BRD, 1992 – 1997 (Volker Koepp_2)
  • 6. Neues in Wittstock, 1992
  • 7. Wittstock, Wittstock, 1997
  • Maxhütten-Zyklus, DDR / BRD, 1986 – 1991 (Joachim Tschirner)
  • 4. Katrins Hütte, 1991
  • Neustadt-Trilogie, BRD, 1992 – 2008 (Thomas Heise_2)
  • 1. Stau – Jetzt geht's los, 1992
  • 2. Neustadt. Stau – Der Stand der Dinge, 2000
  • 3. Kinder. Wie die Zeit vergeht, 2008
  • Eisenzeit, DDR / BRD, 1991 (Thomas Heise_3)
  • 6. Im Nirgendwo
  • Verriegelte Zeit, DEFA, BRD / DDR, 1990 (Sibylle Schönemann)
  • Komm in den Garten, DEFA, BRD, 1990 (Heinz Brinkmann)
  • Der Irrgarten, BRD, 1995
  • Themen-Special 6. Beutezug-Ost: Die Treuhand-AG und das Treuhand-Trauma
  • Beutezug-Ost oder „Bischofferode ist überall!“
  • C / Neuland + Exil (2002 – 2022)
  • 1. Endspiel
  • Gundermann Revier, BRD, 2019 (Grit Lemke)
  • 2. Auskehr
  • Leipzig-Trilogie, BRD, 1990 – 2006 (Gerd Kroske)
  • 1. Kehraus, BRD, 1990
  • 2. Kehrein, kehraus, BRD, 1996
  • 3. Kehraus, wieder, BRD, 2006
  • 3. Neu Land
  • Neuland, BRD, 2007 (Daniel Kunle, Holger Lauinger)
  • Nicht-Mehr | Noch-Nicht, BRD, 2004
  • Wir könnten auch anders. Begegnungen jenseits des Wachstums, BRD, 2012
  • 4. Exil
  • Die neuen Kinder von Golzow, BRD, 2017 (Simone Catharina Gaul)
  • 5. Heimat Fragmente
  • Heimat ist ein Raum aus Zeit, BRD, 2019 (Thomas Heise_4)
  • 6. Das weite Feld
  • Das weite Feld, DEFA, DDR, 1976 (Volker Koepp_3)
  • Kalte Heimat, BRD, 1995
  • Fremde Ufer, BRD, 1996
  • Die Gilge, BRD, 1998
  • Kurische Nehrung, BRD, 2001
  • Memelland, BRD, 2008
  • Landstück, BRD, 2016
  • Seestück, BRD, 2018
  • 7. Epilog
  • Rublak – Die Legende vom vermessenen Land, DEFA, DDR, 1984 (Konrad Herrmann)
  • Themen-Special 7. Vaterland Väter Verräter
  • Vaterland Väter Verräter
  • Thomas Heise – Vaterland, BRD, 2002
  • Annekatrin Hendel – Vaterlandsverräter, BRD, 2011
  • Andreas Goldstein: Der Funktionär, BRD, 2018 & Helmut Keiser – Der 9. November '89. Ein Interview-Film, BRD, 2019
  • Themen-Special 8. Das filmische Erbe der DDR: „Babelsberger Schule des Dokumentarfilms“ und ihr Vermächtnis
  • Die DEFA als kineastisches Kraftwerk
  • Biografien
  • Edition E.G.

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Ein reiches Erbe als Schatz und Wegzehrung

Matthias Oehme

Sie halten das Dokument eines seriellen Werks in der Hand, dessen Herausgeberin zu den intensivsten Spurenlesern in der ferneren wie nahen Vergangenheit Ostdeutschlands gehört – ausgerüstet mit den neuesten Werkzeugen ihres Fachs ebenso wie mit einem untrüglichen Gespür für jegliche soziale Verwerfungen und einem empathischen Antrieb, der den Respekt für ihren Gegenstand nicht in Nostalgie kippen lässt. Hervorgebracht hat sie, unter mannigfacher Mitarbeit bester Fachleute, einen weiteren Beitrag zum Monument einer ostdeutschen Sozial- und Kulturgeschichte, die ihren politischen, eingreifend-appellativen Charakter nicht verleugnet.

Seit 2016 hat Yana Milev gemeinsam mit dem Fotografen Philipp Beckert unermüdlich die filmischen Zeugnisse jenseits der Schlussstricherzählung zusammengetragen und konzeptualisiert. Der Medienwissenschaftler Michael Meyen gibt dem Werk in dem von ihm initiierten Projekt „Das mediale Erbe der DDR“ einen angemessenen Kontext. Der Grafikdesigner Marcel Noack bringt das Konvolut im unverwechselbaren Design der Reihe ins Bild.

Dieses Buch ragt aus der kritischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit der ostdeutschen Filmkultur heraus wie die Filme dieses Landstrichs ihrerseits im internationalen Filmschaffen. Hier war es, wo auf beispiellose Zerstörung ein hoffnungsstrotzender Aufbau folgte, hier existierte in eigentümergestützter Staatlichkeit und revolutionärer gesellschaftlicher Erneuerung das deutsche Novum eines sozialistischen Landes, hier auch wickelte sich eine widersprüchlich wachsende Gesellschaft aus alten Konflikten und verstrickte sich in neue, selbstgeschaffene. Sie sprach sich mit allen künstlerischen Kräften Mut zu, nicht zuletzt und sehr besonders mit denen des Films. Der zeigte in vielen Facetten, wie die Menschen hier lebten und arbeiteten in Begeisterung und Verzweiflung, in Aufbegehren und Melancholie, in produktivem Miteinander. Im reichen und vielfältigen Bild dieser bis heute berührend unverwechselbar erscheinenden Filmkultur materialisiert sich nicht nur eine exotische Landeskunde, für die heute zumindest die Wohlmeinenden sich noch erwärmen können. Kraft und lebendige Wirkung dieser Kunst führten einst in eine neue Epoche, und dahin weisen sie noch. Niedergang, Niederlage, Enteignung des gesellschaftlichen Produzenten haben nicht dazu geführt, dass die hart errungnen Mittel und der unbestechliche künstlerische Blick abgestorben wären. Auch in späteren Filmen ist ihr Weiterwirken unverkennbar: eine Tradition, unveräußerlich, unvergesslich, unkaputtbar, ←23 | 24→unverschweigbar. Wie ein frisch geschlüpfter Vogel schleppen die Filme aus dem kolonisierten Land die Schalen ihrer Herkunft mit sich, bleiben Geschichte und Geschichten und Erzählweisen verbunden, zehrend vom früh erarbeiteten ästhetischen Gewinn, „der bis ins Heute reicht“, wie Günter Jordan sagt. Sie wollen ihre Herkunft nicht verleugnen. Ihr Erbe uns zu erschließen, dazu trägt dieser Band auf einzigartige Weise bei.

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Wider den Zerrspiegel. Filmische Zeugnisse aus der entkoppelten Gesellschaft

Grit Lemke

Der Fotografie ist es eigen, dass sie die Zeit festhalten kann. Ihre Funktion „Gespaltene Gesellschaft“ heißt es seit ein paar Jahren und vor allem seit der Coronapandemie und den damit einhergehenden Protesten. Wie ein Menetekel schwebt der stetig kolportierte Begriff über unseren Köpfen und verheißt Unheil. Das Land breche auseinander, wird lamentiert. Und somit suggeriert, zuvor sei es nicht gespalten, also quasi eins gewesen. Denn was da vom vermeintlichen Ganzen abbricht, ist natürlich der Osten. „Dunkeldeutschland“, das falsch spricht, falsch denkt, falsch wählt. Noch in der Schule der 1970er Jahre wurden derart renitente Kinder in die Ecke gestellt, zum Schämen. Nichts anderes widerfährt dem Osten in den westlich dominierten Medien (also auch denen des Ostens) seit mehr als 30 Jahren.

Erstaunlich daran ist nur das Erstaunen über die – soeben sensationell entdeckte – Spaltung: Hat doch der von Yana Milev geprägte Begriff der „Entkoppelten Gesellschaft“ das Phänomen schon seit geraumer Zeit treffend beschrieben (wie eine Vielzahl weiterer Autorinnen und Autoren, z. B. Jana Hensel und Wolfgang Engler dies taten). Indem es hier in einen kolonialen Zusammenhang gestellt wird, lassen sich seine einzelnen Aspekte genauer beschreiben und analysieren – in einem, wie Milev sagt – „soziologischen Laboratorium“.

Einer dieser Aspekte betrifft die Produktion von Bildern und Narrativen. Denn auch die Bilder sind entkoppelt, so wie die Erzählungen. Jene, die auf oder in ihnen dargestellt werden, finden sich in ihnen nicht wieder. Gesehen-Werden wird zu einer zentralen Kategorie gesellschaftlichen Zusammenhalts in einer Zeit, da sich die nicht mehr „nur“ entkoppelten, sondern nunmehr abgespaltenen Teile der Gesellschaft zunehmend radikalisieren. Denn Gesehen-Werden und Sich-selbst-Sehen gehören zusammen. Im Blick der anderen spiegeln wir uns, setzen unser Bild neu zusammen und können darauf reagieren, ja uns sogar korrigieren.

Man könnte also annehmen, es handle sich um eine Art blinder Spiegel, in dem wir einfach nicht oder allenfalls eben etwas verschwommen erscheinen. Die Realität jedoch ist dramatischer – denn was in dem Spiegel erscheint, ist ein Zerrbild. Ähnlich den Spiegelkabinetten auf dem Rummel unserer Kindheit, als wir uns mit Monsterköpfen, Spinnen-Gliedmaßen oder auf Zwergengröße geschrumpft sahen – und nicht wiedererkannten.

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Ähnliches widerfährt uns Ostlern gewöhnlich, wenn wir den Fernseher einschalten. (Wobei sich die Frage stellt, ob die weitgehende Abwesenheit ostdeutscher Geschichten im gesamtdeutschen Kino so gesehen eher ein Segen ist.) Was hier passiert, hat die postkoloniale Filmwissenschaft eingehend beschrieben: Stereotype werden produziert und beständig reproduziert – auf Leinwänden und Bildschirmen, schließlich massenhaft auch in den Köpfen. Es lassen sich Muster kolonialer Filmproduktion benennen, die auf die Darstellung von Ostdeutschen und ihrer Geschichte fast hundertprozentig zutreffen: Die wichtigen Positionen wie Buch, Regie und Produktion sind von – im kolonialen Zusammenhang – „Weißen“ besetzt. Der Hauptheld wird als repräsentativ für seine Gruppe dargestellt. Die Probleme, welche im Verlauf des Films auftauchen werden, sind ausschließlich in der Zugehörigkeit zu seiner Gruppe begründet. Diese wird zudem mit der Vergangenheit, gern auch dem Düsteren, der Nacht und dem Schatten verknüpft (nach Radmila Mladenowa, „Antigipsyism and Film“, Universität Heidelberg 2020).

Betrachtet man allein die mittlerweile inflationär auftauchenden ostdeutschen TV-Krimi-Reihen, treffen alle Punkte vollständig zu. Fest steht: Das Problem des Ossis ist, dass er Ossi ist. Andere Probleme, mit denen der Rest der Menschheit sich konfrontiert sieht, treffen auf ihn nicht zu. Vielmehr hat er nur ein Problem: die Stasi, welche sein Leben – auch nach 30 Jahren – vollumfänglich bestimmt.

Indem dieses Narrativ überaus erfolgreich infiltiert wurde, geriet und gerät komplett ins Vergessen, dass es sie gibt: Filme über uns, in denen wir uns sehen und in denen die anderen uns sehen können. Es ist wichtiger denn je, sich an sie zu erinnern. Da war doch noch was? Ein Kriegsende, ein zerstörtes Land, eine zerstörte Generation: „Die Abenteuer des Werner Holt“, „Mama, ich lebe“. Ein Aufbruch: „Wege übers Land“, „Sonnensucher“. Eine Desillusionierung: „Solo Sunny“, „Wäscherinnen“, Volker Koepps „Wittstock“-Filme – so wie unzählige Werke der Schule des DEFA-Dokumentarfilms … Letztere übrigens auch über die enge Welt der DDR hinaus wahrgenommen und stilprägend – wo wurde dies je gesamtdeutsch gewürdigt oder reflektiert? Dann wieder ein Aufbruch, wieder eine Desillusionierung: Andreas Voigts Leipzig-Zyklus …

Es geht also darum, sich dieser Werke zu erinnern, sie – vor allem! – auch kommenden Generationen zugänglich zu machen und zu erhalten, sie aufzuführen. Und es geht auch darum, näher hinzusehen: auf die Bedingungen ihrer Entstehung und Rezeption, das Ringen ihrer Macherinnen und Macher, ihren Vertrauenspakt mit ihrem Publikum.

Es ist vielleicht nicht schön, was wir in diesen Filmen finden können. Warum sollten wir auch schöner oder besser sein als andere Deutsche oder Weltenbürger? (Auch dies ist ein gefährliches Narrativ.) Schön wäre, wenn die hier vorgestellten Zeugnisse aus der entkoppelten Gesellschaft ihrer Bestimmung zugeführt werden: der Rekonstruktion von Erinnerung, Zugehörigkeit und gemeinschaftlicher Vision. Hinsehen ist immer gut. So wie Zuhören. Denn vielleicht hat das renitente Kind in der Ecke etwas zu erzählen.

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Vaclav Havel und die Aktualität des Ostdeutschen im Film

Michael Meyen

Die DDR ist wieder ein Thema, in bestimmten Kreisen zumindest. Lange habe ich nicht verstanden, wie das passieren konnte. Pegida natürlich, die Wahlerfolge der AfD und überhaupt diese komischen Ostdeutschen. Immer ein wenig abseits der offiziellen Linie, immer ein wenig renitenter als der westdeutsche Durchschnitt. Schon bei den Flüchtlingen, bei Greta Thunberg und bei den Essgewohnheiten (Thüringer Bratwurst!), dann bei den Masken, beim Impfen und beim Spazierengehen und nun auch beim Krieg um Putin und das russische Gas.

Das allein konnte es aber nicht sein. Ich bin 2002 an die Ludwig-Maximilians-Universität nach München berufen worden und habe dort seitdem versucht, die DDR zum Thema zu machen – in Seminaren, in Vorlesungen, über Publikationen. In der Forschung hat das funktioniert, bei den Studenten aber nicht. In Spezialkursen saßen höchstens eine Handvoll Teilnehmer und in Pflichtveranstaltungen kam bei der Evaluierung immer wieder der Kommentar, der Professor solle doch bitte seine Ausflüge in die Geschichte unterlassen. In Kurzform: Schluss mit den ollen Kamellen, hinein in die Gegenwart der Digitalplattformen. Zeig uns das Tor in das Schlaraffenland der Influencer, bitte. Ich habe die DDR-Bezüge irgendwann gestrichen und erst über Fußball gesprochen (was auch nicht funktioniert) und dann über unverfängliche Beispiele. Irgendwas mit dem Internet.

Neuerdings ist alles anders. Im Sommersemester 2022 war mein Forschungsseminar „Stasi, Doping, Stacheldraht? Die DDR im Film“ überbucht. Zwei der Teilnehmer sind für die Recherche das erste Mal in ihrem Leben in den Osten gefahren und waren so begeistert wie Archäologen vom Schlage Heinrich Schliemanns. Zur Vorlesung „Das mediale Erbe der DDR“ gab es im Winter davor knapp 80 Anmeldungen und im Winter 2022/23 knapp 60. Wenn ich bei Vorträgen über damals spreche und über das, was man daraus für heute entnehmen kann, merkt das Publikum auf. Die Vergangenheit scheint näher zu kommen, obwohl sie immer weiter zurückliegt.

Um das zu verstehen, musste ich Vaclav Havel entdecken. Für einen Historiker wie mich ist dieser Satz eigentlich ein Unding. Als ob man Vaclav Havel noch entdecken müsste. Gelesen hatte ich ihn trotzdem nie – bis zum Sommer 2022. Versuch, in der Wahrheit zu leben. Ein Büchlein von 1978 und doch brandaktuell, weil es Erfahrungen beschreibt, die viele Menschen im westlichen ←27 | 28→Kulturkreis bisher nicht machen konnten oder mussten. Wo hat man in den 1990ern oder in den Nullerjahren schon über Parallelgesellschaften nachgedacht oder das Demokratienarrativ angezweifelt? Vaclav Havel hat beide Systeme schon damals auf eine Stufe gestellt und die Manipulation im Konsumkapitalismus für weit raffinierter gehalten als daheim in Prag.1

Die Ausgabe, die mir der Onlinehändler geschickt hat, ist ein halbes Jahr vor dem Mauerfall erschienen. Es gibt ein kurzes Vorwort von Freimut Duve, der fast zwei Jahrzehnte Lektor bei Rowohlt war und auf dieser Bastion eine politische Karriere gründete, die ihn bis in den Bundestag führte. Die Neuauflage des Buches von 1978 sei ein „Zeichen des Respekts vor dem großen tschechischen Autor“, schreibt der SPD-Mann aus Hamburg am 7. März 1989. „Vaclav Havels Stimme ist immer weit über sein Land hinaus gehört worden: auch in den langen Zeiten, in denen er eingesperrt war. Seine Stimme und sein Text sind der lebendige Ausdruck des Widerstands und der Hoffnung.“2

Vielleicht hat Freimut Duve am 9. November gefeiert und dann noch einmal am 29. Dezember, als Vaclav Havel Staatspräsident wurde. Hoffnung erfüllt sozusagen. Ich, Freimut Duve, Kopf hinter der Reihe „rororo Essay“, hatte den richtigen Riecher. Vielleicht ist der Sekt aber auch im Schrank geblieben. Wenn Duve den Text genau gelesen hat, dann wusste er, dass Havels Kritik keineswegs nur auf den real existierenden Sozialismus zielte, sondern den Westen einschloss. Die „Demokratie vom traditionellen parlamentarischen Typ“, daran lässt Vaclav Havel keinen Zweifel, ist für ihn Teil des Problems und auf keinen Fall die Lösung. Im Gegenteil: Dieser Künstler und Politiker, Jahrgang 1936, der daheim Aufführungs- und Publikationsverbot, Haft und Hausarrest erlebt und so allen Grund hatte, die regierende Partei und ihren Sozialismus zu verdammen, stellte beide Systeme auf eine Stufe und war sich nicht einmal sicher, welche Seite gefährlicher ist. Die Manipulation jedenfalls sei drüben „unendlich feiner und raffinierter als die brutale Art des posttotalitären Systems“.3

Havels Schlüsselbegriff heißt Ideologie. Das ist zunächst nicht weiter verwunderlich, wenn es um Gesellschaften im sowjetischen Einflussbereich geht. Vaclav Havel interessiert sich aber nur am Rande für Marx, Engels oder Lenin. Ideologie ist für ihn ein „Instrument der Kommunikation innerhalb der Machtstruktur, die ihr den inneren Zusammenhalt sichert“ – ein Instrument, das viel wichtiger ist als die „physische“ Seite der Macht. Ideologie: Das ist „einer der Pfeiler der äußeren Stabilität dieses Systems“. Dieser Pfeiler ist allerdings, das kommt als Havels Clou, „auf Sand gebaut – nämlich auf der Lüge“.4 ←28 | 29→Um das nachvollziehen zu können, muss man Havels Begrifflichkeit übernehmen. Ideologie ist bei ihm die „Machtinterpretation der Wirklichkeit“.5 In meiner Sprache und auf das Hier und Jetzt gemünzt:6 die Realität der Leitmedien, die wir nicht nutzen, weil wir uns über die Wirklichkeit informieren wollen (über das, was ohne unser Wollen da ist), sondern weil wir wissen wollen, was die anderen wissen oder zu wissen glauben (vor allem die, die über unser Leben entscheiden), und weil wir die Definitionsmachtverhältnisse kennen müssen, um zu überleben. Wer hat es geschafft, seine Themen und seine Perspektiven auf die große Bühne zu bringen, in die Tagesschau, in die Süddeutsche Zeitung, in den Spiegel? Vaclav Havel sagt: Die „Machtinterpretation der Wirklichkeit ist letzten Endes immer den Machtinteressen untergeordnet; deshalb hat sie in ihrem Wesen die Tendenz, sich von der Wirklichkeit zu emanzipieren, eine Welt des ‚Scheins‘ zu schaffen, sich zu ritualisieren“.7

Dieses Buch taucht, wenn man so will, in ganz unterschiedliche Welten des „Scheins“ ein – in Filme, die unter gegensätzlichen ideologischen Vorzeichen produziert wurden und die zwar im Kontext der jeweils gerade hegemonialen Diskurse zu lesen sind, aber zugleich darüber hinausweisen, weil das soziale Feld der Kunst in der Lage ist, politische und wirtschaftliche Ansprüche zu brechen und manchmal auch ganz abzuwehren. Das ist leichter, wenn die Arenen und die Budgets klein sind, aber auch beim Spielfilm nicht vollkommen ausgeschlossen. Wie schon in anderen Publikationen des Projekts „Entkoppelte Gesellschaft“ weitet dabei gerade das Überschreiten von Zeit- und Systemgrenzen den Blick. Das Leben hört nicht da auf, wo die historische Forschung normalerweise Zäsuren setzt. Die Menschen sind noch da, die in der DDR Filme gesehen und gemacht haben, ihre Themen und die Filme sowieso. Und plötzlich ist das alles wieder hochaktuell.


1 Vgl. Michael Meyen: In der Wahrheit leben. In: Rubikon vom 7. Oktober 2022.

2 Vaclav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 5.

3 Ebd., S. 5.

4 Ebd., S. 22.

5 Ebd., S. 19.

6 Vgl. Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021.

7 Havel, Wahrheit, S. 19.

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Die DEFA-Filme und der ostdeutsche Film ab 1990 im Spiegel der Visuellen Soziologie

Filmische Zeugnisse aus vier zeithistorischen Phasen der gesellschaftlichen Transformation: Krieg und Nachkrieg / SBZ, DDR und Ostdeutschland nach 1989/1990

Yana Milev, Philipp Beckert

Die Intention für den zweiten Teilband Zeugnisse / Film entstand aufgrund des vorherrschenden bundesdeutschen Diskurses, der beinhaltet, dass die DDR keine Holocaust-Aufarbeitung geleistet hatte. Wie infam eine solche Behauptung ist, hat sich vor allem an der Ausarbeitung des vorliegenden Teilbandes herausgestellt. Bereits im Jahr 2016 haben wir eine Film-Ethnografie entlang von vier zeithistorischen Phasen zwischen Krieg / Nachkrieg und Nachwende im Ostteil Deutschland begonnen. Das konzeptionelle Ergebnis spiegelt sich in vier Kapiteln wider, sowie in acht Themen-Specials. Die Forschung zu diesem Teilband Zeugnisse / Film stand also ganz am Anfang der Forschung „Entkoppelte Gesellschaft“ und hatte diese über alle weiteren Bände begleitet und inspiriert.

Während des Anlegens einer Sammlung an schier unzählbaren Filmen und Digitalisaten kristallisierte sich die Dramaturgie des Gesamtprojektes in neun Bänden heraus. Dabei bilden die Teilbände Zeugnisse / Fotografie und Zeugnisse / Film den Grundstock einer Visuellen Soziologie der Fotografie und des Films in der SBZ, der DDR und in Ostdeutschland nach 1989/90.

Beide Teilbände der Visuellen Soziologie, Zeugnisse / Fotografie und Zeugnisse / Film, bilden eine Kongruenz, so dass hier von einem größeren Einleitungstext abgesehen werden kann. Dieser kann im Vorgängerband Zeugnisse / Fotografie nachgelesen werden und stimmt in der Konzeptualisierung der zeithistorischen Phasen, dargestellt in den Kapiteln A /, B / und C / auch mit diesem Band überein. In vorliegendem Band ist allerdings ein viertes Kapitel 0 / hinzugekommen, dass allen Zeiten vorausgeht und für die folgenden Zeiten bestimmend wurde: der Zweite Weltkrieg, sein Ausgang im Finanzkapitalismus und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Entsprechend ←30 | 31→untersuchen wir die geteilte gesellschaftliche, wirtschaftliche und ideologische Entwicklung im Westen und im Osten Deutschlands nach diesem Krieg, wovon die Filmproduktionen der DEFA und des Fernsehens der DDR Zeugnis ablegen.

Der vorliegende Band Zeugnisse / Film kann insofern als Handbuch des DEFAFilms, des Fernsehfilms der DDR, des Films in Ostdeutschland nach 1989/90 gesehen werden. Er stellt Themen zum Antifaschistischen Widerstand, zu Bodenreform und Kollektivierung, zum Kampf gegen Revanchismus und Sabotage, zur Bildung der internationalen Friedensbewegung, zu Lebens- und Arbeitswelten in der DDR, zu Formen des Umbruchs und der Entkopplung nach der Wiedervereinigung vor, mit Vertiefung in den Themen-Specials. In diesen wurden einzigartige Dokumente zur Holocaust-Aufarbeitung, zur Schuldleugnung und schnellen Wiedereingliederung der Täter in der BRD, zum Sowjetischen Film, zu den Verbotenen Filmen in der DDR, zu den verbotenen DDR-Filmen in der BRD, zum filmischen Untergrund in der DDR, zum Beutezug-Ost der Treuhand AG, zum Verlust des Referenzraumes „Heimat“ oder zum Filmerbe der DEFA, der „Babelsberger Schule des Dokumentarfilms“, zusammengestellt.

Wir haben uns mit den Pionieren des DEFA Dokumentarfilms getroffen, mit Jürgen Böttcher, Barbara und Winfried Junge, hatten mehrmals mit Wolfgang Kohlhaase telefoniert und wertvolle Impulse erhalten. So beginnt dieser Band im Ergebnis eines der Gespräche mit Kohlhaase mit dem Film „Der Fall Gleiwitz“.

Wir danken Stefanie Eckart von der DEFA-Stiftung für zahlreiche Empfehlungen und Herstellung von Kontakten, so zu Günter Jordan oder Günter Agde. Wir danken den Begegnungen und persönlichen Gesprächen mit den Regisseur:innen Grit Lemke, Thomas Heise, Volker Koepp, Winfried und Barbara Junge, Jürgen Böttcher, Konrad Herrmann, Christoph Rüter und deren Unterstützung des Projekts. Unser Dank geht weiterhin an Heino Deckert, ma.ja.de-Film, Olaf Jacobs, Jacobs & Hoferichter Film- und Fernsehproduktion GmbH, Holger Lauinger und Daniel Kunle, Sein-im-Schein-Filmproduktion, für die Bereitstellung der Rechte.

Unser Dank gilt allen Beiträgerinnen und Beiträgern brillanter Filmanalysen, Filmrezensionen und Essays, und auch hier den persönlichen Kontakten mit Andreas Willisch, Jörg Schweinitz, Detlef Kannapin, Rüdiger Suchsland, Dieter Daniels, Claus Löser, Robert Allertz, Ralph Dobrawa, Detlef Endeward, Marian Petraitis, Daria Gordeeva, Michael Meyen, Cornelia Klauß und Róža Domašcyna.

In diesem Zusammenhang danken wir im Besonderen dem Verlag Neues Berlin, Eulenspiegel Verlagsgruppe, dem Schüren Verlag Marburg, dem Karl Dietz ←31 | 32→Verlag Berlin für die Bereitstellung der Rechte und der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Förderin des vorliegenden Projektes.

Unser Dank gilt schließlich dem Fachbeirat des vorliegenden Bandes, namentlich Grit Lemke, Detlef Kannapin, Michael Meyen und Sigrid Schade, die bereits 2017 das Projekt der Visuellen Soziologie in der DDR und in Ostdeutschland an der ZHdK in Zürich gefördert haben.

Dieses Buch ist dem in diesem Jahr verstorbenen Filmkritiker, Filmhistoriker, Autor und Journalisten Ralf Schenk gewidmet, der sich wie kein Zweiter für die Rettung und den Erhalt des filmischen Erbes der DEFA engagierte.

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0 / Ende + Anfang 1945 – 1949

1. NS-Eliten & Verbrechen gegen die Menschlichkeit

2. Antifaschistischer Widerstand

3. Krieg & Kriegsende

4. Bodenreform, Kollektivierung & Kampf gegen Revanchismus

5. Sozialismus & Sabotage

6. Friedensfahrt

7. Gegenwelten

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1. NS-Eliten & Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Gerhard Klein

Der Fall Gleiwitz, DEFA, DDR, 1961

Wolfgang Kohlhaase: Der Fall Gleiwitz

Kurt Maetzig_1

Der Rat der Götter, DEFA, DDR, 1950

Detlef Kannapin: Der Rat der Götter (1950)

Detlef Endeward: Der Rat der Götter (1950)

Bärbel Beuchler: In Memoriam. DEFA-Legende Kurt Maetzig. Sein Prinzip hieß Wahrheit

Wolfgang Staudte_1

Der Untertan, DEFA, DDR, 1951

Detlef Kannapin: Der Untertan

Konrad Wolf_1

Professor Mamlock, DEFA, DDR, 1961

Detlef Kannapin: Professor Mamlock

Wolfgang Staudte_2

Die Mörder sind unter uns, DEFA, SBZ, 1946

Heinz Kersten: Staudtes „Die Mörder sind unter uns“

Christoph Hartung: Die Mörder sind unter uns. Ein Film aus den Trümmern und über die Trümmer der Stadt

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Gerhard Klein

Der Fall Gleiwitz

DEFA, DDR, 1961

Der Film rekonstruiert minutiös den von den Nazis am 31. August 1939 fingierten polnischen Überfall, der den Grund für den Krieg gegen Polen liefern sollte. Der Rundfunksender Gleiwitz befindet sich nahe der polnischen Grenze. Sechs aus Polen stammende Volksdeutsche kommen von einer SS-Schule im Sonderauftrag nach Gleiwitz und werden von SS-Hauptsturmführer Naujocks empfangen. Am 31. August gibt Heydrich aus Berlin den telefonischen Befehl, die geplante Aktion durchzuführen. Ein KZ-Häftling wird in eine polnische Uniform gesteckt, zum Sender gebracht, erschossen und als „Beweis“ für den Überfall der Polen zurückgelassen. Am Morgen darauf wird „zurückgeschossen“.

Wolfgang Kohlhaase

Der Fall Gleiwitz. Eine Erinnerung

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Originaltitel Produktionsland

Der Fall Gleiwitz
Deutsche Demokratische Republik

Filmart

Spielfilm für Kino

Format

35mm; schwarz-weiß; Tonfilm

Länge

67 Minuten

Uraufführung

24.08.1961

Produzent

DEFA-Studio für Spielfilme

Regie

Gerhard Klein

Buch

Wolfgang Kohlhaase Günther Rücker

Dramaturgie

Klaus Wischnewski

Kamera

Jan Čuřík

Jan Nemecek

Bauten

Gerhard Helwig

Requisite

Herbert Rother

Kostüm

Gerhard Kaddatz

Maske

Klaus Becker Eva Nendel

Schnitt

Evelyn Carow

Ton

Karl Tramburg Peter Sonntag

Musik

Kurt Schwaen

Produktionsleitung

Erich Albrecht

Aufnahmeleitung

Manfred Peetz

Darstellende

Hannjo Hasse (Helmut Naujocks)

Herwart Grosse (Gestapo-Chef Müller)

Hilmar Thate (KZ-Häftling)

Georg Leopold (Volksdeutscher Wyczorek)

Wolfgang Kalweit (Volksdeutscher Kraweit)

Rolf Ripperger (Volksdeutscher Bieratzki)

Christoph Beyertt (Volksdeutscher Sitte)

Rudolf Woschick (Volksdeutscher Tutzauer)

Manfred Günther (Volksdeutscher Kühnel)

Rolf Ludwig (SS-Arzt)

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Der Fall Gleitwitz. Eine Erinnerung

Wolfgang Kohlhaase

Der Film hatte einen politischen Gedanken. Wir befanden uns im Kalten Krieg. Da war der Luftkorridor, und es waren immer Zwischenfälle möglich. Wenn man die Definitionshoheit hat, kann man ein Ereignis herstellen, wie man will. Und sollte man zu solcher Mechanik, an einem historischen Beispiel, nicht einen Film machen? (…) Und natürlich kannten wir Hitlers Satz vor den Generälen am 20. März 1939: „Ich werde Grund zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft.“ (…) Dieser Stoff kam uns sofort entgegen. (…) Wir wollten Leute zeigen, die in bestimmten Zusammenhängen funktionieren, und zugleich noch etwas anderes versuchen, nämlich etwas vom Gemüt des Faschismus in Deutschland zeigen.

Also wir wollten keinen über Einfühlung hergestellten Bericht über den Fall Gleiwitz. Und irgendwann verband sich dieser Stoff mit der Erinnerung an den tschechoslowakischen Film Die weiße Taube von František Vlácil, mit dieser Symmetrie der Bilder und ihrer Kälte und Nüchternheit. Und wir überlegten, ob wir das nicht auch so machen könnten, und guckten uns Fotos aus der Nazizeit an. Auch bei Leni Riefenstahl findet man das: die Mittelachse, den einen Mann, der durch alle anderen geht, die Blöcke, die Symmetrie, die die Perspektive vermeidet. Wir wollten dem Publikum ein kaltes Bild dieser Vorgänge vermitteln.

Wir wollten uns den Film von Vlácil in Prag noch einmal ansehen und den Kameramann befragen. So lernten wir Jan Čuřik kennen, und der wollte unseren Film machen und war auch für unsere Überlegungen zu gewinnen. Rücker und ich schrieben im Kontakt zu Klein das Drehbuch im Bewusstsein der beabsichtigten Stilistik. (…)

Wir fuhren nach Gleiwitz und fanden dort noch den Sendeturm und das Original-Sendehaus und besichtigten alles. Der Sendeturm bot auch wieder die Symmetrie an, denn der stand beim Blick von der Straße aus wirklich symmetrisch dahinter. Wir überlegten, ob wir eventuell auch etwas von oben machen könnten, und stiegen auf den Turm. Er hatte eine Holzkonstruktion und knarrte wie ein altes Segelschiff. Ich bin nach zwanzig Metern wieder abgestiegen. Klein stieg etwas weiter, der Kameramann noch ein Stück höher und unser Regie-Assistent Erwin Stranka ist bis ganz hoch geklettert, und alle bewunderten ihn. Als er wieder unten war, stellte er fest, dass er sein Drehbuch mit allen Eintragungen oben liegen gelassen hatte. Es folgte ein bitterer zweiter Aufstieg. Er brauchte fast eine Stunde und ging wortlos ins Bett.

Aber es passierte noch etwas anderes: Am letzten Abend vor dem Drehen, alles war abgesprochen, hatten wir noch Zeit und gingen in Gleiwitz ins Kino. Dort lief ein ganz schöner, auf jeden Fall respektabler Film von Jerzy Kawalerowicz, Nachtzug.

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Čuřik fand den Film ausgezeichnet, und Klein fand ihn gut, aber schlecht. Und da beide ernsthafte Menschen waren, endete das Gespräch nach einer Stunde damit, dass Čuřik sagte: „Ich reise ab, das Ganze ist ein Missverständnis, wir können den Fall Gleiwitz nicht zusammen drehen.“ Die beiden beschlossen, nicht mehr miteinander zu reden, es war laut geworden. Die ganze Nacht gingen Emissäre im Hotel umher und fragten, ob man sich nicht doch noch am nächsten Morgen versuchsweise treffen könnte. So war es dann auch. (…)

1961 kam Der Fall Gleiwitz heraus, gleich nach dem Bau der Mauer. Er hatte es nicht leicht beim Publikum, weil er bestimmte Sehgewohnheiten nicht bediente. Konsequenz unserer Inszenierung war auch, dass der Film beim Schnitt immer kürzer wurde. Damit hatten wir ein Problem: Wenn er noch kürzer würde, würde er dem Studio gar nicht als Spielfilm abgenommen werden. Wir wollten ihn aber auf keinen Fall länger machen, als er nach dem Zwang der Bilder sein musste. (…)

Die Abnahme im Studio war durchwachsen. Dudow gefiel er, ihm gefiel die Radikalität. (…) Völlig unvermutet traf uns der Verdacht, wir könnten den Faschismus ästhetisiert haben. lch glaube, das war in erster Linie durch Alfred Kurella angestoßen. Ihm fehlte auch völlig das Positive. Es reichte nicht, dass diese große stumme Figur im Film das erste Opfer eines Krieges ist, der am Ende 50 Millionen Menschen das Leben kostet. Wo ist der Widerstand? Das war der alte Hut: Wo ist das Positive? Aber der neue Hut war: Ästhetisierung des Faschismus. Das war der Riefenstahl-Vorwurf. Ich meine aber, dass dieser Film eine Gegenposition aufbaut und dass er die kalte Mechanik nicht verklärt, sondern darstellt.

© Wolfgang Kohlhaase, 1961
Erstabdruck in: Spur der Filme, Zeitzeugen über die DEFA. Hrsg. Ingrid Poss, Peter Warnecke.
Ch. Links Verlag Berlin 2006, S. 168.
Mit Dank für den Wiederabdruck an Wolfgang Kohlhaase.

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Kurt Maetzig

Der Rat der Götter

DEFA, DDR, 1950

Der Film thematisiert die Verstrickung der IG Farben in Rüstungsproduktion und Giftgasherstellung für die Konzentrationslager. Dem Vorstandsvorsitzenden Geheimrat Mauch geht es um Expansion und Gewinn für die Firma um jeden Preis. Der Chemiker Dr. Scholz ist ein Mitläufer, der sich aus Angst um Stellung und Familie der Wahrheit verschließt. Als 1948 eine verheerende Explosionskatastrophe in Ludwigshafen beweist, dass der Konzern trotz Verbotes der Alliierten wieder Sprengstoff produziert, bricht Scholz sein Schweigen.

Detlef Kannapin

Der Rat der Götter

Detlef Endeward

Der Rat der Götter

Bärbel Beuchler

In Memoriam. DEFA-Legende Kurt Maetzig. Sein Prinzip hieß Wahrheit

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Originaltitel Produktionsland

Der Rat der Götter
Deutsche Demokratische Republik

Filmart

Spielfilm für Kino

Format

35mm; schwarz-weiß; Tonfilm

Länge

111 Minuten

Uraufführung

12.05.1950

Produzent

DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft

Verleih

Details

Seiten
814
Erscheinungsjahr
2023
ISBN (PDF)
9783631900031
ISBN (ePUB)
9783631900048
ISBN (MOBI)
9783631900055
ISBN (Hardcover)
9783631868362
DOI
10.3726/b20689
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 816 S., 25 farb. Abb., 60 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Yana Milev (Band-Herausgeber:in) Philipp Beckert (Band-Herausgeber:in) Michael Meyen (Band-Herausgeber:in) Marcel Noack (Band-Herausgeber:in)

Yana Milev ist Kultursoziologin, Ethnografin und Kuratorin. Sie begründete 2017 am SfS der HSG in Kooperation mit dem ICS der ZHdK das Forschungsprojekt „Entkoppelte Gesellschaft" das auf eine mehrbändige Publikation angelegt ist. Philipp Beckert ist Fotograf und Ethnograf. Er ist Gründungsmitglied von NUXN Photos – Plattform für Fotografie, Film und Visuelle Soziologie sowie Fachbeirat des publizistischen Projektes „Entkoppelte Gesellschaft". Michael Meyen ist Professor für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Er ist Sprecher des Forschungsverbunds »Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung« und Mitherausgeber des Online-Handbuchs »DDR im Film«. Marcel Noack ist Fotograf, Bildender Künstler, Grafiker und Kurator. Er leitet den Kunstraum PING•PONG–Fotografie im Leipziger Westen und ist seit 2017 in der redaktionellen Leitung des publizistischen Projektes „Entkoppelte Gesellschaft".

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Titel: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90