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Die Rolle sprachlicher Normen für Deutschsprachige in Brasilien

Untersuchungen bei Nachfahren von Eingewanderten in Rio Grande do Sul

von Lucas Löff Machado (Band-Herausgeber:in)
©2024 Dissertation 386 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch stellt die Forschungsfrage „Welche Rolle spielen sprachliche Normen für Deutschsprachige in Rio Grande do Sul, Brasilien?". Die Studie besteht aus 41 halb-strukturierten Interviews mit Übersetzungsaufgaben sowie mit sprachbiografischen und perzeptuellen Fragen in sieben Ortschaften. Die Analyse stützte sich auf dialektologische, inhaltsanalytische und gesprächsanalytische methodologische Zugriffe. Die Ergebnisse zeigen einerseits eine Tradierung der Semantik des Hochdeutschen als homogene, schriftbezogene und monozentrische Kategorie, andererseits eine Orientierung an den lokalen Normen hauptsächlich ab dem Zweiten Weltkrieg. Zentral für die Interviewten ist weiterhin die Rolle der Sprachhomogenität im Deutschen sowie der Zweckmäßigkeit im Portugiesischen und im lokalen Deutschen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Aufbau der Arbeit
  • 1. Deutschsprachige Einwanderung in Rio Grande do Sul
  • 1.1 Anfangsphase ab 1824
  • 1.2 Ende des 19. Jahrhunderts bis 1941
  • 1.3 Sprachverbot und Zweiter Weltkrieg
  • 1.4 Nachkriegszeit bis heute
  • 2. Lokale Sprachnormen und Ortspunkte
  • 2.1 Lokale Sprachnormen
  • 2.1.1 Das Hunsrückische (Typus Deitsch )
  • 2.1.2 Das Pommerisch/Düütsch
  • 2.1.3 Plattdüütsch der Mennoniten
  • 2.1.4 Das Böhmische (Deitsch )
  • 2.1.5 Das Plattdeutsche der Westfalen
  • 2.1.6 Der Typus Deutsch aus Santa Cruz
  • 2.1.7 Das Deutsche/Deitsche der Wolhynien-Deutschen
  • 2.2 Ortspunkte
  • 2.2.1 Alto Feliz (Deitsch /Hunsrückisch )
  • 2.2.2 Arroio do Padre (Pommerisch/Düütsch )
  • 2.2.3 Colônia Nova (Plautdietsch )
  • 2.2.4 Nova Petrópolis (Deitsch )
  • 2.2.5 Imigrante (Plattdeutsch )
  • 2.2.6 Sinimbu (Typus Deutsch )
  • 2.2.7 Santa Rosa (Deutsch/Deitsch der Wolhynien-Deutschen)
  • 2.3 Zusammenfassung
  • 3. Zu den Begriffen Hochdeutsch und Portugiesisch
  • 3.1 Der Begriff Hochdeutsch im deutschen Sprachraum
  • 3.1.1 Sprachvariation bei statuierten Normen
  • 3.1.2 Statuierte Normen aus der Sicht der Laien
  • 3.2 Portugiesische Sprachnormen in Brasilien
  • 3.3 Der Begriff Hochdeutsch im lokalen Kontext
  • 3.3.1 Hochdeutsch als Bezugspunkt institutioneller Akteure
  • 3.3.1.1 Schule
  • 3.3.1.2 Kirche
  • 3.3.1.3 Presse
  • 3.3.2 Hochdeutsch als Personifizierung
  • 3.3.2.1 Deutschländer
  • 3.3.2.2 Sprachliche Vorbilder: Lehrkräfte und Pfarrer
  • 3.3.2.3 Frauen
  • 3.3.2.4 Der colono ‚Kolonist‘: Ein Gegenpol
  • 3.3.3 Hochdeutsch als lokale (Kontakt-)Varietät
  • 3.3.4 Hochdeutsch als heutige Standardsprache
  • 3.3.5 Hochdeutsch als kooffizielle Sprache
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4. Grundbegriffe der Studie
  • 4.1 Wissen
  • 4.2 Diskursgemeinschaft
  • 4.3 Sprachnormen
  • 4.4 Spracheinstellung
  • 4.5 Metapragmatische Positionierung
  • 4.6 Interaktion: Epistemische Dimension
  • 4.7 Zusammenfassung
  • 5. Methodik
  • 5.1 Erhebungsmethode
  • 5.1.1 Teilnehmende der Studie
  • 5.1.2 Ortspunktnetz
  • 5.1.3 Fragebogen und Befragungsmethode
  • 5.1.4 Interviewsituation
  • 5.2 Auswertungsverfahren
  • 5.2.1 Variationslinguistischer Zugriff: Sprechertypen und Sprachrepertoire
  • Sprechertypen
  • Übersetzungsaufgabe in die standardnahe Sprachnorm
  • Übersetzung in die lokale Sprachnorm
  • 5.2.2 Inhaltsanalytischer Zugriff: Bezeichnungen, Attribute und Narrative
  • 5.2.3 Gesprächsanalytischer Zugriff: situierte Positionierungen
  • 6. Sprechertypen und Sprachkompetenz
  • 6.1 Sprachlicher Lebenslauf
  • 6.2 Selbsteinschätzung der hochdeutschen Sprachkompetenz
  • 6.3 Sprachrepertoire
  • 6.3.1 Übersetzung in die lokale Sprachnorm
  • 6.3.2 Übersetzung ins Hochdeutsche
  • 6.3.2.1 <ü/ö> -Entrundung (fünf , müde , schöne Kinder )
  • 6.3.2.2 /pf/-Affrikate (Kopf , Apfel und pflanzen )
  • 6.3.2.3 /a/-Velarisierung (Garten , Hahn und sagen )
  • 6.3.2.4 /-ǝ/-Apokope
  • 6.3.2.5 Lexikalische Variablen: fotografieren, Gurke, Mais
  • 6.4 Zusammenfassung
  • 7. Sprachbezeichnungen und sprachliche Attribute
  • 7.1 Bezeichnungen der standardnahen Sprachnormen
  • Der Begriff „Deutsch“
  • Der Begriff „Deutsch“ (bei Selbstzuordnung der Wolhynien-Deutschen)
  • Der Begriff „Hofdeutsch“
  • Der Sammelbegriff „Hunsrückisch“ (bei Zuordnung der anderen)
  • 7.2 Bezeichnungen der lokalen Sprachnormen
  • Der Begriff „Deitsch“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Deutsch“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Hunsrückisch“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Hunsrückisch“ (bei Zuordnung der anderen)
  • Der Begriff „Plattdeutsch“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „alemão-baixo“ ‚Niederdeutsch‘ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Dialekt/dialeto“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Dialekt/dialeto“ (bei Zuordnung der anderen)
  • Der Begriff „Pomerano“ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Pomerano“ (bei Zuordnung der anderen)
  • Der Begriff „sapato-de-pau“ ‚Holzschuh‘ (bei Selbstzuordnung)
  • Der Begriff „Schwaben“ bzw. „Schwäbisch“ (bei Zuordnung der anderen)
  • Der Begriff „Kaschubn“ (bei Zuordnung der anderen)
  • 7.3 Zusammenfassung der Sprachbezeichnungen
  • 7.4 Attribute der standardnahen Sprachnorm
  • 7.4.1 Struktur
  • grammatikalisch /gramatical
  • grob
  • richtiges Deutsch/alemão certo
  • correto ‚korrekt‘
  • schwer/difícil
  • leicht/fácil
  • anders /diferente
  • Deutsche Schrift
  • 7.4.2 Status und Stil
  • offiziell /oficial
  • tradicional ‚traditionell‘
  • padrão ‚standard‘
  • legítimo ‚legitim‘
  • echt
  • 7.4.3 Sprechen
  • na gramática ‚nach der Grammatik (sprechen)‘
  • anders/diferente
  • gut/bem
  • richtig (sprechen oder schreiben)
  • correto/corretamente ‚korrekt‘
  • kirchlich
  • anstrengend
  • 7.4.4 Sprechende
  • sotaque ‚Akzent‘
  • pingelig, genau
  • verdadeiro ‚echt‘
  • Deutschland/Alemanha
  • 7.5 Attribute der lokalen Sprachnorm
  • 7.5.1 Struktur
  • errado ‚falsch‘
  • leicht
  • simples/einfach
  • unificado ‚einheitlich‘
  • puxar , puxado ‚ziehen, gezogen‘
  • Mischung /mistura
  • verbrochen, gebrochen/quebrado
  • virado ‚verdreht‘
  • 7.5.2 Status und Stil
  • geweehnlich, geweehnt ‚gewöhnlich‘ / acostumado
  • normal
  • abrasileriere/aportuguesado ‘portugiesiert’
  • Heckesprooch ‚Heckensprache‘
  • 7.5.3 Sprechen
  • abreviado ‘abgekürzt’
  • geduldig, deutlich, klar
  • 7.6 Zusammenfassung der standardnahen und lokalen Attribute
  • 7.7 Positionierungen in Narrativen
  • Gegenwärtige Generation vs. Vorfahren
  • Deutschland vs. Brasilien
  • Vorfahren vs. Modellsprecher (Pfarrer/Pastor)
  • weiblich vs. männlich
  • Schule vs. Kirche
  • Stadt vs. Kolonie
  • 7.8 Zusammenfassung: Positionierungen auf Wort- und Textebene
  • 8. Situierte Bedeutung des Sprachnormwissens
  • 8.1 Positionierungen gegenüber dem Interviewer
  • 8.1.1 nicht SEHR hochdeutsch = neh [Sprachhomogenität]
  • 8.1.2 ich spreche SO gut portugiesisch wie irgendeiner [Sprachhomogenität, Schule]
  • 8.1.3 wenn MIA zwei deutsch spreche [Monozentrik, Sprachhomogenität]
  • 8.1.4 DEUTSCH SCHREIBEN ist nicht leicht [Schriftlichkeit, Frauen vs. Männer]
  • 8.1.5 Zusammenfassung
  • 8.2 Positionierungen in Gruppeninterviews
  • 8.2.1 Sprachbezeichnung des Hochdeutschen [Schrift, Schule, Sprachhomogenität]
  • 8.2.2 Status der Form Auto [Sprachhomogenität, Monozentrik]
  • 8.2.3 Sprachgebrauch des Deutschen in der Kirche [Zweckmäßigkeit, Domäne Kirche]
  • 8.2.4 Sprachkompetenz im Hochdeutschen [Schriftlichkeit]
  • 8.2.5 Zusammenfassung
  • 9. Zusammenfassung und Ausblick
  • 9.1 Zusammenfassung: Die diskursive und situierte Rolle sprachlicher Normen
  • 9.2 Ausblick: Perspektiven der Normenforschung in mehrsprachigen Kontexten
  • Anhang 1:  Sozialdaten der Teilnehmenden der Studie
  • Anhang 2:  Fragebogen
  • Anhang 3:  Übersetzung in die lokale Sprachnorm
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

„Konkurrierender Sprachgebrauch und seine Bewältigung durch Normbildungen ist kein Spiel (wenn diese Metapher auch auffallend häufig bemüht wird), man kann darin vielmehr einen Einsatz von Machtmitteln, im Extrem sogar einen Kampf sehen.“ (Gloy 2012: 37)

Betrachtet man die Beschreibung der deutschen Sprache im Laufe der Sprachgeschichte, dann stellt man fest, dass Sprachnormen und sprachliche Heterogenität Hand in Hand gehen. Von der Auseinandersetzung mit dem Latein in den letzten Jahrhunderten bis zu aktuellen Diskussionen um die Plurizentrizität und Regionalität innerhalb der Sprache wird Wissen um das Deutsche gegenüber anderen und unter Bezugsgrößen abgeglichen, abgestimmt und legitimiert. Insbesondere in Migrationskontexten bewegen sich Sprechergruppen zwischen heterogenen Normen. In Europa wurden und werden parallel zur Sprache und durch Sprache soziale, religiöse und kulturelle Normen in der alltäglichen Praxis oder auch in medialen Domänen berührt und ausgehandelt. So leben beispielsweise „zweiheimische“ Menschen (vgl. König 2014) mit Migrationshintergrund, etwa türkischer Herkunft, seit Generationen, oder in den letzten Jahren die Flüchtlinge in Deutschland (u. a. Afghanen, Kurden, Syrer), unter mehreren nationalen Sprachnormen, also Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Hocharabisch (vgl. Roth/Schramm/Spitzmüller 2018). Aus dieser Perspektive zeigen Mehrsprachigkeitskontexte, in denen deutsche Varietäten außerhalb des deutschsprachigen Sprachraums weltweit gesprochen werden, ebenfalls heterogene Normen.

Ausgehend von dieser Heterogenität beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der Rolle von Sprachnormen für Nachfahren deutschsprachiger Eingewanderter im Kontext einer Sprachvariation des Deutschen in Brasilien. Die Rolle der Sprachnorm wird hier am Bespiel des Konzepts Hochdeutsch erforscht. Dieser Begriff ist in dieser Arbeit aus der situierten Sicht der brasilianischen Sprecher und Sprechnerinnen und nicht aus europäischer Perspektive zu verstehen, etwa als Ausprägung mitteldeutscher und oberdeutscher Sprachvarietäten bzw. Standardvarietäten oder aus historischer Sicht als Leitvarietät spezifischer Kreise, Akteure oder Schichten in den Normierungsdebatten (s. 3.1). Selbst wenn diese semantischen Merkmale zum Teil durchaus tradiert sind und in diese Arbeit einfließen, geht es hier in erster Linie um den Standpunkt der vorliegenden lokalen Akteuren und Akteurinnen eines deutsch- portugiesischsprachigen Kontexts.

Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen Sprechende aus dem brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, in den deutschsprachige Sprechergruppen ab 1824 aufgrund von Landknappheit sowie politischer und religionsfeindlicher Umstände in ihren Heimatländern im 19. (u. a. Hunsrücker, Pommern, Westfalen und Böhmen) und 20. Jahrhundert (z. B. Mennoniten und Deutsche aus Wolhynien in der Ukraine) eingewandert sind.2 Deutschsprachige Nachfahren der Eingewanderter in Brasilien umfassen nach Schätzungen heute ca. noch 500.000 bis 1.000.000 Personen (Altenhofen 2019; Rosenberg 2018) und bilden multiple Zugehörigkeiten ab (Rosenberg 2018).3 Die heutigen noch Deutschsprachigen sind in einem Kontinuum mehrsprachig (Roche 2016: 21): Einerseits beherrschen praktisch alle sowohl Deutsch als auch brasilianisches Portugiesisch, wobei die Sprachkompetenz in beiden Sprachen erheblich variieren kann, was als äußere Mehrsprachigkeit definiert werden kann. Das deutsche Sprachrepertoire kann je nach Individuum zwischen Kommunikationssprache und Identifikationssprache verortet werden (Rosenberg 2018: 195).4 Es handelt sich um Kontexte, in denen Deutsch vielfach zur Kommunikation innerhalb und außerhalb der Familie dient oder eher nur noch passiv verstanden wird. Andererseits kommt der Sprachkontakt unter den Eingewanderten verschiedener Sprachvarietäten (z. B. Hunsrückisch, Pommerisch und Westfälisch) hinzu, was also eine innere Mehrsprachigkeit bedeutet.5 Sprachgruppen wie das Hunsrückische stellen aufgrund ihrer kontinentalen Ausbreitung Spracharchipele dar (Steffen/Altenhofen 2014) und stehen im Kontakt mit verschiedenen anderen lokalen Varietäten des Deutschen. In diesem Zusammenhang geht Thun (2010) von einem Varietätenkomplex aus. Nicht zu vergessen sind Sprachgruppen, mit denen dtspr. Gruppen im Laufe der Einwanderungsgeschichte in Kontakt geraten sind. Solche Kontaktgruppen sind zum einen die einheimischen Bevölkerungen in Waldregionen, vor allem Kaingang und Guarani – was bisher aus sprachlicher Perspektive wenig untersucht wurde – und zum anderen weitere Einwanderungsgruppen aus anderen Herkunftsländern, wie z. B. Italien und Polen. Unter den unterschiedlichen Sprachkonzepten dieser Konstellation wird das Hochdeutsche oft als eine „Sprachnorm in Abbau“ dargestellt. Dennoch nimmt es bis heute eine strukturierende Funktion in den lokalen Diskursen gegenüber anderen Sprachnormen ein.

Aussagen über das Hochdeutsche im Rahmen von Reiseberichten, soziologischen oder sprachwissenschaftlichen Werken lassen zwei Topoi erkennen: Hochdeutsch als „Vergangenheitskategorie“ und als „Gegenwartskategorie“. So finden sich Äußerungen, die Hochdeutsch als Resultat einer sprachlichen Anpassung unter rheinländischen und pommerischen Sprechenden begreifen (Lacmann 1906) oder die Abwesenheit bzw. den Verlust einer Standardsprache im brasilianischen Kontext hervorheben (Willems 1980).6 Hinzu kommen gegenwärtige Ansätze, welche ein lokales Hochdeutsch annehmen, das als omnipräsente Sprache beispielsweise in schriftlichen Erzeugnissen symbolisiert ist (z. B. alte Briefe, Inschriften usw., vgl. Altenhofen 2019: 536). In einer Reihe von soziolinguistischen, dialektologischen und sprachpolitischen Studien zum Deutschen in Brasilien zeichnen sich Sprachvarietäten, unter anderem in Form des Hochdeutschen, als Bezugsgröße für die jeweiligen Untersuchungen ab (s. 3.3).

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Studie der Frage nach der Rolle von Sprachnorm für lokale Akteure und Akteurinnen in Rio Grande do Sul nachgegangen. Die Rolle der Sprachnorm materialisiert sich im Wissen und wird anhand von Positionierungen zum Konzept Hochdeutsch erschlossen. Hinzu kommen weitere lokale Varietäten, die hier als lokale Sprachnormen betrachtet werden. Statt einer strikten perzeptuellen Fragestellung zu Beginn des Dissertationsprojekts, wobei Hochdeutsch als vorgegebenes Konzept vorliegen würde, rückte die Frage „Wie wird Sprachnormwissen von lokalen Sprechern und Sprecherinnen überhaupt konstruiert?“ in den Vordergrund dieser Studie. Die Leitfrage der Arbeit lässt sich also folgendermaßen formulieren:

Welche Rolle spielen sprachliche Normen für deutschsprachige Brasilianer und Brasilianerinnen in Rio Grande do Sul?

Mit Blick auf die diskursive Ebene von Bewertungshandlungen lässt sich diese übergeordnete Frage in zwei weitere Fragen untergliedern:

  1. (1) Wie positionieren sich die Sprechenden zum Hochdeutschen auf der Makroebene der sozialen Praktiken?
  2. (2) Wie positionieren sich die Sprechenden auf der Mikroebene der sozialen Praxis, also im durchgeführten Interview selbst?

Grundlegend für diese Forschungsfragen ist die Annahme, dass Positionierungen, also Bewertungshandlungen zum Sprachgebrauch im weiten Sinne, Wissen mehrfach reflektieren. Bewertungshandlungen zu einem Objekt, Sachverhalt oder Person zeigen Wissensbestandteile an, die einerseits als vergesellschaftlichte Diskurse auf der Makroebene (Praktik), andererseits als situierte Diskursrealisationen auf der Mikroebene (Praxis) zu begreifen sind. Hier wird die Unterscheidung zwischen Praktiken und Praxen nach Spitzmüller et al. (2017: 8) zugrunde gelegt: Beide Ebenen bezeichnen Formen der Bedeutungskonstitution, wobei Praktik auf translokale und Praxis auf lokale Wissensformen zurückgehen. Wenn sich jemand über das Hochdeutsche – wenn auch im Interview – äußert, kann er oder sie sich in einem Kontext zu seinen oder ihren unmittelbaren Interaktanten positionieren und sich zudem mit diskursiven Werthaltungen verbinden.

Diskurs lässt sich einleitend als ein semantisches Netz von Aussagen verstehen, in dem Bedeutung reproduziert bzw. konstruiert wird.7 Da Diskursrealisationen nicht nur ein Widerhall eines Diskurses sind (Roth 2008: 325), sondern Teil des Repertoires handelnder Menschen in sozialen Kontexten, wird der vorliegenden Arbeit von Anfang an eine soziokognitive Auffassung vom Diskurs zugrunde gelegt (van Dijk 2014), wonach kognitives Wissen (Bewertungen, Vorstellungen, Überzeugungen usw.) auf sozialer Ebene geteilt und modifiziert werden. Wie später diskutiert wird, konstituiert sich das Wissen innerhalb von contextualization universes (Bloomaert 2005) bzw. mental models (van Dijk 2014) der Personen, die nicht nur objektive Formen enthalten, sondern eben Diskurswissen. Daraus resultiert eine weitere Grundannahme: in Bewertungen (= Wissen) zu Konzepten von Sprachnormen (unter anderem Hochdeutsch) schwingen nicht nur Bestandteile des semantischen Wissensvorrates eines Individuums oder einer gesamten Diskursgemeinschaft mit, sondern auch Kontextwissen als Basis für solche soziale Handlungen.

Im Rahmen dieser Einleitung soll weiterhin der Zusammenhang zwischen dem Konzept Hochdeutsch und dem Begriff Sprachnorm beleuchtet werden.

Hochdeutsch als Sprachnorm

Sprachnormen bestehen aus Erwartungen auf fremdes Sprachverhalten bzw. von Fremden auf das Selbst, welche soziale Verbindlichkeit und allgemeine Gültigkeit haben (Gloy 1980: 364–367; 2004: 393). Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen versprachlichte Ausformungen von Sprachnormen. Gloy (1980) unterscheidet zwei grundlegende Existenzweisen von Sprachnormen: Statuierte und subsistente Sprachnormen. Statuierte Normen verfügen über eine äußerliche Festsetzung. Deren Geltungsanspruch ist zumeist institutionalisiert (z. B. durch Normautoritäten wie die Schule oder Normvermittler in Form von Wörterbüchern). Subsistente Normen hingegen haben einen stillschweigenden Charakter. Konstitutiv für die Beschreibung von Sprachnormen ist der Interpretationscharakter: Jede Normformulierung ist eine Ableitung von einem sozialen Phänomen, das seine Verbindlichkeit zunächst in dem sozialen Abgleichen zwischen Individuen erreicht und sich erst danach als Disposition oder Formulierung weiter ausbreiten kann (Gloy 1980; 2004).8 In diesem Sinne stellt die statuierte Gestaltung von Sprachnorm in Form von Standardsprachen ein sekundäres Phänomen dar. Bei der Entstehung von Nationalstaaten lässt sich zum Beispiel sehen, wie bei der Durchsetzung solcher Sprachnormen weitere subsistente Sprachnormen entweder parallel existieren oder im Zuge der sprachkulturellen Einheitlichkeit verdrängt werden können (Davies/Langer 2006: 32; Milroy/Milroy 1985: 27). Im Sprachkontakt können subsistente Sprachnormen auf eine hybride Basis hinweisen. So können Mischvarietäten (z. B. translanguaging) von den lokalen Sprechenden als Sprachnorm legitimiert werden (Pupp Spinassé 2005; Altenhofen 1996; Auer 1999).

Hier ist eine für die vorliegende Arbeit relevante Problematik der Normenforschung anzugehen. Laut Gloy (2012) lassen sich Sprachnormen nicht über gleichmäßige Phänomene erschließen. Handeln oder Gewohnheiten können zwar normkonform sein, müssen aber keine Sprachnorm implizieren. Dennoch sprechen für die hiesige Verwendung des Begriffs lokale (subsistente) Sprachnormen anstatt nur Sprachvarietäten bzw. Ortsvarietäten zwei Aspekte, die hier kurz angerissen und in folgenden Kapiteln weiter diskutiert werden. Zum einen liegen bereits für die meisten hier untersuchten Sprechergruppen einige soziolinguistische Arbeiten vor, die auf den Gebrauch dieser Sprachvarietäten in Abhängigkeit von bestimmten – vor allem familiären – kommunikativen Kontexten hinweisen (s. 2). Es ist anzunehmen, dass die deutschen Varietäten ebenso eine soziale Verbindlichkeit in solchen Domänen erhalten.

Im Rahmen dieser lokalen Sprachnormen ist für die Gewährspersonen des vorliegenden Forschungskontexts Hochdeutsch –wenn auch nicht für alle, wie die Analyse zeigen wird – ein mehr oder minder rekurrentes Konzept. Strukturell können die Diskursrealisationen dieser Personen über das Hochdeutsche allerdings verschiedene Sprachvarietäten des Deutschen abbilden. Die folgende Graphik (Abb. 1) veranschaulicht das Spektrum des Begriffs Hochdeutsch aus subjektiver Perspektive der Deutschsprachigen in Rio Grande do Sul:

Abb. 1:Semantischer Skopus des Konzepts Hochdeutsch aus objektiver und subjektiver Sicht.

Abb. 1:Semantischer Skopus des Konzepts Hochdeutsch aus objektiver und subjektiver Sicht.

Die Sprechenden können einerseits ihre Bewertungshandlungen an der Standardsprache im Sinne einer Abgrenzung zu den faktischen lokal gebrauchten Sprachnormen (zum Basisdialekt oder zur Umgangssprache von bestimmten lokalen Sprechergruppen) orientieren. Andererseits liegen dieser Orientierung variable Wissensbestände zugrunde, die meistens nicht mit einer überregionalen Akzeptabilität übereinstimmen und bezüglich der Sprachkompetenz von einer begrenzten Anzahl von Sprechern und Sprecherinnen beherrscht werden. Vielmehr geht das Hochdeutsche auf diskursive Konstruktionen zurück, deren begriffliche Extension im Laufe der Einwanderung gleichzeitig erweitert und reduziert wurde.

Reduziert wird dieser Skopus des Hochdeutschen einerseits dadurch, dass bis zum Sprachverbot der Nationalisierungskampagne unter dem Präsidenten Getúlio Vargas (1937–1945) tatsächlich Diskurse einer „Standardsprache“ ortsübergreifend in den dtspr. Kolonien in Brasilien rezipiert und institutionalisiert (z. B. dtspr. Schule) wurden. Andererseits wird die Extension dieses Begriffs dadurch erweitert, dass subsistente Normen die Orientierungsfunktion im Laufe der Einwanderung übernommen haben. So dürfte ein Wort wie Grummbeere ‚Kartoffel‘ als unangemessen in der Schule erscheinen, dennoch außerhalb dieses Kontexts für einzelne Personen (z. B. niederdeutscher Varietäten) akzeptierbar sein.

Daher wird der Begriff standardnahe Sprachnorm alternativ in dieser Arbeit verwendet, um die Semantik von Bewertungshandlungen zu unterscheiden, die sich nicht mit der Standardsprache im engen Sinne abdecken lassen und trotzdem eine Positionierung am standardkonformen Pol im Gegensatz zur lokalen Sprachnorm ausdrücken.9 Hierzu rückt der betreffende Äußerungskontext in den Vordergrund der Analyse: Positionierungen zum Hochdeutschen können beispielsweise auf definitorischen Formulierungen der standardnahen Sprachnorm (z. B. hochdeutsch ist de richtiche deutsch) oder ex negativo auf dem Faktischen der lokalen Sprachnormen (z. B. mia spreche deitsch net de hochdeitsch) basieren.

Aufbau der Arbeit

Im ersten Kapitel wird die Einwanderungsgeschichte hinsichtlich ihrer drei Phasen thematisiert, welche von einer beginnenden autarkischen Struktur bis zur Entwicklung der Kolonien in der Gegenwart mit der Zunahme des Portugiesischen reicht. Ein Exkurs wird in Bezug auf die Nationalisierungskampagne unter Getúlio Vargas (1937–1945) vorgenommen, dessen Wirkungsmechanismen eine mehrfache Rolle für den Diskurs über das Hochdeutsche spielen.

Im zweiten Kapitel wird eine Charakterisierung der Akteurebene vorgenommen. Dabei werden die sieben Ortspunkte der Studie in Rio Grande do Sul porträtiert. Hervorgehoben werden geografische, historische und sprachliche Informationen. Einen Einblick in historische und sprachliche Daten dieser Sprechergruppen bietet die folgende Tabelle:

Tab. 1:Eigene Sprachbezeichnung und Herkunftsregion des Ortspunktnetzes.
Ortschaft Selbstbezeichnung der Sprache durch Sprechende Gründungs-jahr Herkunftsregion(en)
Alto Feliz Deitsch/Hunsrückisch 1849 Hunsrück
Nova Petrópolis Deitsch 1872 Nordböhmen / Hunsrück
Imigrante Plattdeutsch 1882 Westfalen
Sinimbu Deutsch 1857 Hunsrück / Pommern
Arroio do Padre Pommerisch/Plattdüütsch 1858 Pommern
Santa Rosa Deutsch/Deitsch 1891 Wolhynien (heute Ukraine) / Posen
Colônia Nova Plautdietsch 1951 Russland

Das dritte Kapitel thematisiert zunächst die Begriffe Hochdeutsch und Portugiesisch als statuierte Sprachnormen im Laufe ihrer Standardisierungsgeschichte. In diesem Kapitel wird die bisherige Forschung zum Hochdeutschen präsentiert, wobei die bereits hier eingeführten Topoi der Vergangenheit bzw. Gegenwart auf wissenschaftlicher Ebene verdeutlicht werden.

Anschließend (Kap. 4) werden die grundlegenden Konzepte zur diskurslinguistischen Analyse und der Theorie der Positionierung präsentiert. Das Kapitel gliedert sich in eine Einführung in die Diskursanalyse mit Fokus auf die soziokognitive Perspektive und Begriffserklärung der Konzepte Wissen, Diskursgemeinschaft, Sprachnormen (als Teil des Diskurswissens), Spracheinstellung sowie Spracheinstellung im Kontext. Die Präsentation und Erklärung dieser analytischen Konzepte mündet schließlich ins Konzept der metapragmatischen Positionierung (Spitzmüller/Flubacher/Bendl 2017; Tophinke/Ziegler 2006; Bucholtz/Hall 2005: 586; König 2014). Hinzu tritt die epistemische Dimension als Markierung von Wissensverhältnissen in den Interaktionen während dieser Studie.

Die Methodik der Arbeit wird im fünften Kapitel behandelt. Im Zentrum des Kapitels steht der Kontext der Datenerhebung (Teilnehmende, Ortspunkte und Fragebogen), wobei besondere Aufmerksamkeit dem Interview zukommt, da dieses als Entstehungskontext der Positionierungen zu betrachten ist. Die Methodik selbst besteht aus der Kombination qualitativer Methoden: (1) soziolinguistisch-dialektologischer, (2) inhaltsanalytischer und (3) gesprächsanalytischer Zugriff. Alle drei Methoden setzen sich mit Wissenskonstituierung durch Sprache auseinander, wobei unterschiedliche Schwerpunkte des Sprachnormwissens gesetzt werden.

Schließlich wird die Analyse in drei Kapitel aufgegliedert (Kap. 6, 7 und 8): Sprechertypen und Sprachkompetenz in der lokalen und in der standardnahen Sprachnorm (Kap. 6), Inhaltsanalyse auf der Wort- und Textebene (Kap. 7) und situierte Bedeutungskonstitution des Sprachnormwissens (Kap. 8). Die Positionierungen sind ein durchgehendes analytisches Interesse in allen Auswertungen. Jedem Kapitel folgt eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse. Abschließend wird ein globales Fazit über die Makro- und Mikroebene des Wissens der Sprecher und Sprecherinnen gezogen und auf der Basis von Interviews eine Antwort auf die Kernfrage nach der Rolle von Sprachnormen bei Deutschsprachigen in Rio Grande do Sul versucht.


2 Im Jahr 2024 werden 200 Jahre der deutschen Einwanderung nach Brasilien gefeiert. Mit Blick auf die Einwanderungsgruppen, die historisch betrachtet keine einheitliche nationale deutsche Zugehörigkeit hatten, wird in dieser Studie der Begriff deutschsprachig (dtspr.) verwendet.

Details

Seiten
386
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631881453
ISBN (ePUB)
9783631881460
ISBN (Hardcover)
9783631869222
DOI
10.3726/b21225
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Mai)
Schlagworte
Sprachwissen Lateinamerika Positionierung Hochdeutsch Niederdeutsch Sprachbezeichnung Löff Machado, sprachliche Normen für Deutsch in Brasilien
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 386 S., 2 farb. Abb., 11 s/w Abb., 42 Tab.

Biographische Angaben

Lucas Löff Machado (Band-Herausgeber:in)

Lucas Löff Machado ist Professor im Zentrum für Sprachen und Kommunikation an der Bundesuniversität von Pelotas (UFPel), Brasiiien. Er studierte an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul (UFRGS) und promovierte mit einem DAAD-Stipendium an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt auf dem Gebiet der deutschen Sprachwissenschaft.

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Titel: Die Rolle sprachlicher Normen für Deutschsprachige in Brasilien