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Die Übersetzung der napoleonischen Gesetzbücher im Königreich Italien unter besonderer Berücksichtigung des «Code de commerce»

Eine übersetzungsgeschichtliche Analyse der Akteure, Prozesse und Produkte

von Sarah Del Grosso (Autor:in)
©2024 Dissertation 444 Seiten

Zusammenfassung

Es besteht kein Zweifel daran, dass die italienische Rechtssprache durch die Übersetzung der napoleonischen Gesetzbücher geprägt wurde. Das Buch geht diesem Einfluss anhand von Archivquellen nach und zeichnet ein umfassendes Bild der beteiligten Akteure, Prozesse und Produkte. Dabei lassen sich durch erhaltene Berichte und Briefe nicht nur Arbeitsprozesse von der Rekrutierung der Mitarbeiter bis zum Druck der Gesetzbücher verfolgen – im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zwei Abschriften des Code de commerce, die in unterschiedlichen Phasen des Übersetzungsprozesses entstanden sind. Diese Abschriften werden in einen Zusammenhang mit Berichten und Briefen gestellt, sodass Korrekturen und Diskussionen der Übersetzungskommission nachvollziehbar werden.
Diese Arbeit ist mit dem Preis der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2023 sowie mit dem Premio Gaspara Stampa des Deutschen Italianistikverbands (DIV) für hervorragende Qualifikationsschriften 2024 ausgezeichnet worden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Akteure, Prozesse, Produkte: Die Übersetzer und die Übersetzung von der Rekrutierung bis zum Druck
  • 3 Prozess und Produkt: Die Übersetzung des Code de commerce und ihre Entstehung
  • 4 Schlussbetrachtungen
  • 5 Literaturverzeichnis
  • 6 Anhang

1 Einleitung

The introduction presents the objectives and the subject matter of the thesis. This includes the research question and methodology based on the leitmotifs of actors, processes and products, as well as the current state of research and an initial presentation of the archive materials. An introduction to the translation of legal language, with a focus on terminology and realia, and an overview of the French and Italian historical background complete the chapter.

Schlagworte: RechtsübersetzenGeschichte FrankreichsGeschichte ItaliensRechtsgeschichteCode de CommerceCode civilNapoleon

Nachdem am Ende des 18. Jahrhunderts in Folge der Französischen Revolution die politische Ordnung nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa auf den Kopf gestellt wird und sich neue Herrschaftsformen ausbreiten, wird unter Napoleon Bonaparte – zunächst in Frankreich – eine neue Gesetzgebung eingeführt. Die europäischen Staaten, die Napoleon ganz oder teilweise unter seine Kontrolle bringen kann, bekommen ebenfalls den Einfluss der Revolution zu spüren. Dazu zählt auch, dass die französischen Gesetzbücher zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Weg in die von der Grande Nation annektierten Gebiete finden, mal in französischer Sprache, mal in Übersetzung.

Im Königreich Italien werden Gesetzbücher eingeführt, die aus dem Französischen ins Italienische übersetzt wurden. Gegen dieses Vorgehen regt sich in Italien auch Widerstand, weil die Gesetzbücher nicht aus Italien stammen, und eigene Entwürfe für ein kodifiziertes Recht gerade im Entstehen sind. Italien selbst ist vor der Übernahme der napoleonischen Gesetzbücher freilich nicht gesetzlos; weil das Land noch nicht geeint ist, gibt es aber keine einheitliche Gesetzgebung und keine ausgebaute Rechtssprache. Auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die den französischen Einfluss im Allgemeinen und die Einführung der neuen Gesetze im Speziellen begrüßen, handelt es sich doch um die Übernahme der Gesetzgebung einer Hegemonialmacht. Für das Handelsgesetzbuch, das im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht, gibt es mehrere italienische Entwürfe, die von Frankreich aber in letzter Minute zugunsten der Übersetzung des französischen Code de Commerce und somit der Übernahme des französischen Handelsrechts abgelehnt werden.

In italienischen Sprachgeschichten, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen, findet man, so die Rechtssprache dort überhaupt behandelt wird, immer wieder den Hinweis, dass diese durch die Übersetzung der napoleonischen Gesetzbücher beeinflusst wurde. Man könnte dabei schon fast von einem Topos sprechen – eigene systematische Forschungsarbeiten werden selten angefertigt. Auch die italienischen Rechtshistoriker*innen1 haben die Übersetzungen lange Zeit eher als gegeben hingenommen und nur die italienischen Kodifizierungsversuche betrachtet. Wellenartig, häufig geleitet durch Gedenktage, rückt die Übersetzung der Gesetzbücher wieder ins Bewusstsein, wird aber meist recht oberflächlich abgehandelt. Sprach- wie Rechtshistoriker*innen zitieren gerne dieselben Quellen und legen das Thema dann wieder, bis zum nächsten Gedenktag, ad acta.

In meiner Dissertation möchte ich mich mit der Übersetzung des Code de commerce beschäftigen, der neben dem großen Code civil eher ein Schattendasein führt. Die Wahl des Code de commerce begründet sich vor allem durch das Material, das ich bei meinen Archivaufenthalten in Mailand, im Oktober 2017 und 2018, finden konnte: Eine wahre Fülle an Dokumenten zu diesem Gesetzbuch, die die Geschichte an dem Punkt weiterschreiben lässt, an dem sie bei vielen Rechtshistoriker*innen, die sich mit dem italienischen Code de commerce beschäftigt haben, recht abrupt endet.

Mit meiner Dissertation möchte ich die einschlägige Forschung vorantreiben und die bestehende Literatur vervollständigen; die rechtshistorische Forschung befasste sich, wie bereits erwähnt, in der Vergangenheit hauptsächlich mit den italienischen Entwürfen; die Übersetzungen werden wenig beachtet, obwohl diese (im Gegensatz zu den Entwürfen) Rechtsgültigkeit erlangt und die italienische Rechtskultur langanhaltend beeinflusst haben. Historiker*innen beschreiben die Übersetzung der Gesetzbücher, wenn überhaupt, in der Regel in einem Nebensatz. In der Sprachwissenschaft werden immer wieder dieselben Beispiele zitiert, die einen Einfluss der französischen auf die italienische Sprache bezeugen sollen. Die historische Übersetzungswissenschaft hingegen beschäftigt sich bisher kaum mit historischen Fachübersetzungen. Diese Lücken möchte ich mit meiner Dissertation schließen.

Eingedenk der Tatsache, dass Übersetzungen nicht nur potenziell Einfluss auf die Entwicklung von Sprachen sowie Fachsprachen haben (vgl. z. B. Albrecht 2003), sondern durchaus auch historische Bedeutung im Rahmen des nation building erlangen können (vgl. z. B. die Beiträge in Dizdar/Gipper/Schreiber 2015), stellt dieser Blickwinkel mit Fokus auf sprach- und übersetzungswissenschaftliche Ideen auch für Historiker*innen und Rechtshistoriker*innen eine Ergänzung ihrer eigenen Forschungsarbeiten dar.

Die Übersetzungsgeschichte ist eine recht neue Teildisziplin der Übersetzungswissenschaft, die erst seit dem 21. Jahrhundert mehr Beachtung findet. Zu ihren Wegbereitern am Ende des 20. Jahrhunderts zählen Delisle/Woodsworth 1995, Venuti 1995 und Pym 1998. Die Aufarbeitung von Fachübersetzungen, auch in Hinblick auf ihre historische Bedeutung, sehe ich als einen Bestandteil zur Ergänzung der Forschung zu fachsprachlichen Übersetzungen im Bereich Recht und deren politischen Auswirkungen im Rahmen der Französischen Revolution und der napoleonischen Epoche.

1.1 Gliederung

Im Mittelpunkt meiner Dissertation steht die Übersetzung des Code de commerce. Dies ergibt sich aus dem Archivmaterial: Erhalten sind zwei handschriftliche Versionen von Korrekturläufen sowie aussagekräftiges Begleitmaterial. Ergänzt wird dies durch Archivmaterial zu den anderen Gesetzbüchern, das einen Einblick in sprach- und übersetzungsbezogene, aber auch organisatorische Problemstellungen bietet. Das erhaltene Material ermöglicht eine Analyse der Probleme, mit denen sich die Übersetzer implizit und explizit beschäftigt haben. Über das Briefmaterial und vor allem einen Bericht der Übersetzungskommission lässt sich nachvollziehen, welche Diskussionen so wichtig waren, dass sie schriftlich festgehalten wurden – etwa Diskussionen um Termini, Konzepte oder die Anpassung von Realia. Daneben gibt es auch Korrekturen, die eher nebenbei ausgeführt wurden, die aber dennoch in Hinblick auf die entstehende italienische Rechtssprache im Spannungsfeld zwischen lateinischem Erbe und französischem Einfluss interessante Einblicke ermöglichen.

Als Grundlage für die Analyse stelle ich in Kapitel 1.2 die Fragestellung und die Methodik vor. Die Auswertung des Materials im Rahmen einer Fallstudie orientiert sich in erster Linie an der Frage nach Akteuren, Prozessen und Produkten.

In Kapitel 1.3 gebe ich einen Einblick in den Forschungsstand; um bei diesem multidisziplinären Thema einen sinnvollen Überblick gewährleisten zu können, liegt der Schwerpunkt einerseits auf der Forschung zu Fachübersetzungen in der Zeit der Französischen Revolution und der napoleonischen Epoche, andererseits auf der Forschung zum Code de commerce.

Die Archivfunde aus dem Mailänder Staatsarchiv, die den Kern der Arbeit darstellen, werden in Kapitel 1.4 vorgestellt.

Als Einführung in die Analyse des Archivmaterials sind Kapitel 1.5 und 1.6 zu verstehen, in denen ich grundlegende Fragestellungen der Rechtsübersetzung kläre, aber auch den historischen Hintergrund im französisch besetzten Norditalien skizziere, mit Schwerpunkt u. a. auf der Entwicklung der Rechtssprache und den Übersetzungen der Gesetzbücher, namentlich des Code de commerce.

Die Analyse des Archivmaterials gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil der Analyse in Kapitel 2 stelle ich das im Staatsarchiv erhaltene Material, die Korrespondenzen, Berichte und Protokolle vor, um damit die Geschichte der Übersetzungen in Bezug auf Akteure, Prozesse und Produkte nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Code de commerce; auf Grund des teils nur spärlich vorhandenen Materials ergänze ich es um Informationen zu den anderen Gesetzbüchern. Die zeitliche Nähe der Übersetzungen lässt keine große Varianz in der Herangehensweise vermuten. Diese Auswertung ist historisch-deskriptiv, sie verbindet die Themen Geschichte, Rechtsgeschichte und Übersetzungsgeschichte. Im Zentrum stehen die Fragen nach den Akteuren (wer ist in den Übersetzungsprozess auf welcher Ebene involviert?) und den Prozessen (wie ist der Übersetzungsprozess organisiert?). Aus dem erhaltenen Material lassen sich schriftlich überlieferte Diskussionen über das Übersetzen und die Übersetzung nachvollziehen: Welche sprach- und übersetzungsrelevanten Probleme werden diskutiert? Wer trifft die Übersetzungsentscheidungen und wie werden sie begründet? Welche außersprachlichen Probleme, z. B. in Hinblick auf Organisation und Arbeitsbedingungen, treten auf? Dieser Teil der Analyse versteht sich als Ergänzung der Forschung, die von Rechtshistoriker*innen bereits betrieben wurde, die sich jedoch mehr für die italienischen Gesetzentwürfe als für die Übersetzung selbst interessiert haben.

Im zweiten Teil der Analyse in Kapitel 3 stehen die Produkte im Vordergrund, wozu ich die Übersetzung des Code de commerce sowie erhaltene handschriftliche Übersetzungen und begleitende Dokumente zähle. Im zweiten Teil der Analyse zeichne ich aber auch den Übersetzungsprozess anhand der vorgenommenen Korrekturen in den handschriftlichen Versionen nach. Die beiden vollständig erhaltenen Handschriften lassen sich mit weiteren Dokumenten, die im Zusammenhang mit einer Kommissionssitzung entstanden sind, aber auch mit Briefen und Berichten, einordnen. Bei der Analyse werden die Korrekturen nachvollzogen, die vom Ausgangstext bis hin zum Zieltext vorgenommen wurden, und die teilweise recht ausführlich kommentiert wurden, teilweise aber auch eher nebenbei ausgeführt wurden. Schwerpunkt der Analyse, das gibt das Material vor, liegt auf der Übersetzung von Terminologie und Realia.

In der Schlussbetrachtung in Kapitel 4 fasse ich die Ergebnisse der beiden Analysekapitel zusammen. Daran schließt in Kapitel 5 das Literaturverzeichnis an.

Im Anhang, Kapitel 6, ist der Link zum Quellenband zu finden, der der Dissertation als CD-ROM beigelegt war. Der Quellenband beinhaltet die transkribierten Archivfunde. Auch wenn ich zur Sichtbarmachung bereits recht großzügig Zitate in die Dissertation einbauen werde, besteht so die Möglichkeit, die Texte in ihrer vollen Länge anzusehen.

1.2 Fragestellung und Methodik: Akteure, Prozesse, Produkte

In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Übersetzung des Code de commerce im Königreich Italien. Dabei untersuche ich nicht einfach den Ausgangs- und den Zieltext unter rechtssprachlichen und übersetzungswissenschaftlichen Gesichtspunkten. Vielmehr soll durch eine Kombination aus (rechts-)historischen, (fach-)sprachlichen sowie übersetzungswissenschaftlichen Fragestellungen ein möglichst detailliertes Bild der Übersetzungstätigkeit in Mailand gezeichnet werden.

Die Übersetzung der napoleonischen Gesetzbücher kann nicht als rein sprachliche Angelegenheit oder als neutraler Bedeutungstransfer zu informativen Zwecken betrachtet werden. Im Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Hegemon Frankreich und dem untergeordneten Norditalien muss auch die politische Lage einbezogen werden. Übersetzung wird von politischen Akteuren gesteuert, die Übernahme der Ausgangsrechtskultur ist eine politische Entscheidung, kein Wunsch der Juristen der Zielrechtskultur. Durch Übersetzung wird im Königreich Italien, politisch gelenkt, ein neues Rechtssystem geschaffen. Die Übersetzungspolitik ist von dem Wunsch geleitet, dass möglichst große Teile Europas administrativ an das Französische Kaiserreich angegliedert werden sollen sowie dass aus dem gesamten Kaiserreich ein möglichst einheitlicher Zentralstaat erwachsen soll. Eine staatlich gelenkte Sprach- und Übersetzungspolitik nimmt in Frankreich ab der Französischen Revolution an Fahrt auf (siehe hierzu Kapitel 1.6.1).

Zu unterscheiden ist zwischen der externen und der internen Geschichte der Übersetzung, wobei mit extern die soziokulturelle Entwicklung sowie historische Ereignisse mit Einfluss auf die (Rechts-)übersetzung gemeint sind, mit intern die diachronische Entwicklung der Übersetzungspraktiken, die Entwicklung von Normen und Funktionen sowie Schlüsselfiguren der Übersetzung (D’hulst 2014: 21). Albrecht/Plack sehen die Aufgabe der äußeren Übersetzungsgeschichte in der Sicherung historischer Fakten. Sie stellen hierzu, allerdings vornehmlich in Bezug auf literarische Texte, die Fragen:

Was wurde wann, von wem und wo übersetzt? Wer war der Auftraggeber der Übersetzung? Wie oft wurde ein bestimmtes Werk übersetzt? Kannte der spätere Übersetzer die Arbeiten seiner Vorgänger? Wenn ja, hat er sich von ihnen inspirieren lassen? Nennt er seinen Vorgänger, oder schreibt er einfach ab, ohne ihn zu nennen? (Albrecht/Plack 2018: 22)

Die Untersuchung der Übersetzungen unter retrospektiv-deskriptiver Ausrichtung gehört zur inneren Übersetzungsgeschichte; sie „beginnt dort, wo die äußere aufhört“ (Albrecht/Plack 2018: 23). Ganz so einfach ist es natürlich nicht: Albrecht/Plack bieten ein Untersuchungsraster, das unter anderem auf etwaige Modifizierungen der Makrostruktur, auf den Umgang mit Realia und Eigennamen eingeht, aber auch die Unterscheidung verschiedener Übersetzungsstrategien auf der Makroebene enthält (ebd.: 242).

Der Forschungsschwerpunkt der historischen Übersetzungswissenschaft lag in der Vergangenheit eher auf der externen Übersetzungsgeschichte (D’hulst/Schreiber 2014: 5). D’hulst/Schreiber kritisieren:

Cependant, cette histoire est demeurée partielle : elle n’aborde guère la prosopographie socio-professionnelle des traducteurs, qui sont, avec les donneurs d’ordre, les récepteurs (lecteurs et auditeurs), ainsi que les éditeurs-imprimeurs également négligés, les principaux acteurs impliqués dans la production et la diffusion des traductions. Mais surtout, nous fait défaut une étude de l’histoire interne des traductions proprement dites : des techniques appliquées par les traducteurs, des formes langagières, stylistiques et rhétoriques adaptées aux différents genres, de l’évolution des unes et des autres au cours de la période française. (D’hulst/Schreiber 2014: 5)

Die Arbeit mit Archivmaterial führt zwangsläufig zu einer nicht im Voraus planbaren, eher aleatorischen Vorgehensweise. Die Schwierigkeit, einen methodischen Ansatz für derlei Forschungsvorhaben zu finden, bringt Dullion auf den Punkt: „Étant donné la spécificité de nos objectifs et de notre objet d’étude, notre démarche ne peut pas se fonder sur un modèle théorique et conceptuel prêt à appliquer“ (2007: 29). D’hulst spricht gar von einer „bricolage intellectuel“ (2015b: 285), nachdem er wenige Jahre zuvor noch konstatiert hat: „the history of translation has not received the attention it merits in terms of research and cannot be compared to any other type of research in translation studies“ (D’hulst 2001: 21).

Die Fülle an Material lässt eine Untersuchung im Rahmen einer Fallstudie zu. Auf diese Weise kann die schon bestehende rechtshistorische Literatur um sprach- und übersetzungswissenschaftliche Ideen ergänzt werden. Der Faktor Übersetzung wurde von italienischen Rechtshistoriker*innen in Bezug auf die Kodifizierungsbewegung lange ausgeblendet, nimmt langsam an Bedeutung zu, jedoch vor allem insofern, als die Tatsache der Übersetzung überhaupt angesprochen wird. Fachsprachliche Texte stehen erst in jüngerer Zeit verstärkt im Fokus der Übersetzungsgeschichte, Untersuchungen zur historischen Fachsprache im Bereich Recht aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht sind rar. Neben der Übersetzung selbst geht es auch um den Arbeitsalltag der Übersetzer in einem politisch angespannten Kontext (Französische Revolution, Hegemonie).

Bei der Fallstudie handelt es sich um ein Instrument, das dem multidisziplinären Ansatz dieser Dissertation entgegenkommt. Übersetzung kann immer nur in dem spezifischen soziokulturellen Kontext ihrer Entstehung verstanden werden (Toury 1995: 93); gerade für diese Kontextbezogenheit bietet sich die Fallstudie an (vgl. Saldanha/O’Brian 2014: 206). Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Übersetzung nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem bestimmten, in diesem Fall historischen und politischen Kontext (vgl. Koskinen 2008: 72). Für Gillham ist ein case „a unit of human activity embedded in the real world; which can only be studied or understood in context; which exists in the here and now; that merges in with its context so that precise boundaries are difficult to draw“ (Gillham 2000: 1). Yin definiert das Ziel einer case study wie folgt:

A case study is an empirical method that

  • investigates a contemporary phenomenon (the “case”) in depth and within its real-world context, especially when
  • the boundaries between the phenomenon and context may not be clearly evident. (Yin 62018: 15)

Auch wenn Yin und Gillham sich einig sind, dass die case study nicht geeignet ist für historische Fragestellungen, halte ich sie im Fall der hier behandelten Themenstellung für anwendbar (vgl. hierzu Saldanha/O’Brian 2014: 207), gerade auch wegen der durch die Archivmaterialien gut nachvollziehbaren Diskussionen unter den Akteuren (mehr zu case studies in Saldanha/O’Brian 2014: 205–233).

Die Einschränkung, mit der die Fallstudie in Bezug auf historische Arbeiten umgehen muss, ergibt sich aus der Arbeitsweise und daraus, dass Rückfragen aus offensichtlichen Gründen nicht möglich sind:

Researchers working with historical material will not be able to obtain the same type of first-hand experience and will therefore need to resort to alternative ways of sourcing revealing information that allows them to go beyond the superficial aspects recorded in easily accessible historical documents. Archives containing letters, diaries and records of everyday communication can be very useful, but not always available. Paying particular attention to details, close and critical discourse analysis of documents […] can go some way towards making written documents reveal more than their superficial linguistic content, but the conclusions will always remain more speculative than when a dialogue can be established with living participants. (Saldanha/O’Brian 2014: 233)

Diese Problematik kann ich im Rahmen meiner Dissertation vor allem auf Briefmaterial beziehen, das unvollständig vorliegt, z. B. nur die Briefe einer Seite, also etwa Antworten, nicht aber die vorab gestellten Fragen. Teilweise können diese Lücken mit Hilfe der rechtshistorischen Sekundärliteratur geschlossen werden.

Der case ist im Falle der vorliegenden Dissertation die Übersetzung der napoleonischen Gesetzbücher, vornehmlich des Code de commerce, für das Königreich Italien. Die zunächst sehr eng gefasste Definition der „translation proper“ (Jakobson 1981: 190) greift in diesem Kontext zu kurz, weil Akteure und Prozesse dabei ausgeschlossen bleiben.

Der case umfasst sowohl die Übersetzer und weitere Akteure als auch das Translat und weitere Nebenprodukte; die Beschreibung von Akteuren und Produkten ermöglicht zudem einen Blick auf die Prozesse. Für die beiden Kapitel, die sich mit der Analyse des Archivmaterials befassen, habe ich mich zu einer Untergliederung nach Akteuren, Prozessen und Produkten entschieden, auch wenn diese nicht eindeutig voneinander zu trennen sind und ineinander übergehen. Somit gibt es zu den drei Kategorien auch nur zwei Kapitel, trennscharf untergliedert werden können sie nicht.

Mit Akteuren sind in der vorliegenden Dissertation alle Personen gemeint, die in den Übersetzungsprozess involviert sind (vgl. Wolf 2006: 11–12), zum einen die Übersetzer selbst, zum anderen aber auch weitere Mitarbeiter, die Hilfstätigkeiten ausführen (Schreiber, Drucker), sowie Politiker im Königreich Italien und in Frankreich selbst. Die Ebene der Akteure ist eng verzahnt mit den Prozessen: Hiermit ist der Ablauf des Übersetzungsprozesses gemeint, von der Ablehnung des eigenen italienischen Entwurfs bis hin zur gedruckten Übersetzung. Dizdar nutzt den Begriff des „Translationsprozesses“ (2014: 36) für „eine Vielfalt anderer Tätigkeiten im Umfeld des Übersetzens; und der Prozess erstreckt sich von dem Vorschlag, diesen oder jenen Text zu übersetzen, bis hin zur Rezeption und dem (Nach)Wirken (der ‚Funktion’) der Texte“ (ebd.). Nachwirken und Rezeption werden im vorliegenden Falle nicht betrachtet, wohl aber beginnt der Prozess der Übersetzung mit Napoleons Entscheidung und umfasst verschiedene Arbeitsstufen bis zum Druck und dem Inkrafttreten der Gesetzbücher. Das trifft sowohl für Kapitel 2 als auch, in besonderem Maße, für Kapitel 3 zu: Der Prozess wird anhand von Briefen, aber auch am konkreten Beispiel der handschriftlichen Versionen der Übersetzung und der dort vollzogenen Korrekturen beleuchtet; dies ermöglicht eine Annäherung daran, mit welchen Fragen sich die Akteure konfrontiert sahen. Die Übersetzung ist zugleich das Produkt, das in Kapitel 3 betrachtet wird. Allerdings lässt sich der Begriff des Produkts ausweiten und geht vom Ausgangstext über verschiedene Zwischenstufen zum offiziellen Zieltext, einschließlich jener Dokumente, die die Übersetzungsentscheidungen dokumentieren. Nebenprodukte der Übersetzung, Briefe, Berichte und Notizen, ermöglichen eine bessere Einordnung der Übersetzungsentscheidungen, zeichnen aber auch verschiedene Stufen des Übersetzungsprozesses nach. Die Einbeziehung historischer Hintergründe, maßgeblich der hegemonialen Situation und der durch Napoleon verbotenen Eingriffsmöglichkeiten und des Scheiterns der italienischen Entwürfe, runden das Bild ab.

Die Analyse der Produkte geht in der vorliegenden Dissertation vom Code de commerce aus; diese Entscheidung begründet sich allein durch das Archivmaterial. Im Bereich der Prozesse fließen ergänzend auch Materialien zu den anderen Gesetzbüchern ein, vornehmlich zum Code civil. Durch die zeitliche Nähe und weil alle Übersetzungen unter denselben politischen Bedingungen durchgeführt wurden, halte ich diese Nebeneinanderstellung für vertretbar.

Die Auswertung der Briefe stellt eine Ergänzung zu den historischen und rechtshistorischen Werken dar, die zwar in der Regel die Einführung oder sogar die Übersetzung der Gesetzbücher erwähnen, aber nicht dezidiert thematisieren. In Kapitel 1.6.2 stelle ich dar, dass die Rechtshistoriker*innen die nie in Kraft getretenen italienischen Entwürfe mit sehr viel Sorgfalt in ihrer Entstehung rekonstruiert haben, die viel einflussreicheren, weil in Kraft getretenen übersetzten Gesetzbücher aber eher stiefmütterlich behandeln. In allgemeinen geschichtlichen Abhandlungen werden die Übersetzungen oft eher beiläufig erwähnt – gelegentlich auch unvollständig und fehlerhaft. Die Rolle der Übersetzungen als solche in einem Spannungsfeld aus historischer Bedeutung (sie waren immerhin rechtsgültig und prägen das italienische Rechtssystem bis heute) und der eher marginalisierenden Behandlung lassen sich wohl am ehesten dadurch erklären, dass die Wichtigkeit in den als innovativ geltenden französischen Gesetzbüchern lag, die italienischen, quasi inhaltsgleichen Gesetzbücher dagegen rechtshistorisch (trotz ihres Einflusses auf Italien) als wenig bedeutsam betrachtet wurden.

Die Übersetzungen selbst bieten mehrere Betrachtungsebenen: Es handelt sich einerseits um juristische Fachübersetzungen, die mit den üblichen Problemen aufwarten (siehe hierzu Kapitel 1.5), aber auch sprachexterne Faktoren spielen eine große Rolle; diese ergeben sich aus der hegemonialen Beziehung zwischen Frankreich und dem untergeordneten Italien. Die Übersetzungen haben auch eine politische Dimension (vgl. Del Grosso im Druck); die Geschichte der Übersetzung in Kapitel 1.6 ist auch eine Geschichte des Widerstands gegen die aufgezwungenen Ideen der Hegemonialmacht.

Durch die Darstellung von Akteuren, Prozessen und Produkten können interne und externe Übersetzungsgeschichte im Rahmen einer Fallstudie untersucht werden.

1.3 Forschungsstand

Die Beschäftigung mit vornehmlich fachsprachlichen Übersetzungen aus der Zeit der Französischen Revolution und der napoleonischen Epoche hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Vorläufer gibt es bereits im 20. Jahrhundert, z. B. in Bezug auf Regional- und Minderheitensprachen Schlieben-Lange 1985 für das Okzitanische und Le Berre 1995 für das Bretonische; Reichardt 1988 hat sich mit dem Deutschen in Deutschland beschäftigt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befasst sich die Historikerin Lachenicht 2004 in ihrer Dissertation u. a. mit Übersetzungen ins Deutsche im Elsass. Die genannten Werke beschäftigen sich alle mit einer durch Frankreich beeinflussten Sprachpolitik. Davon weicht Kleinman 2005 ab, die sich mit Übersetzern und Übersetzungen in Irland beschäftigt, die nicht von Frankreich aus gesteuert waren. In der Geschichtswissenschaft ist der Umgang mit Übersetzungen generell, nicht nur auf das hier besprochene Thema bezogen, häufig noch unbefriedigend. Neben Lachenicht 2004 hat sich in jüngerer Zeit Baccini mit dem Umgang mit Sprache, vor allem auch mit sprachlichen Problemen, in der napoleonischen Zeit in Italien beschäftigt (exemplarisch Baccini 2019a/b); sie befasst sich in ihrer Dissertation u. a. mit den Problemen institutioneller Zweisprachigkeit, erwähnt aber auch die Übersetzung der Gesetzbücher (nicht nur für das Königreich Italien, sondern auch für andere Regionen Italiens) und thematisiert die Zweisprachigkeit des Gesetzesblattes Bollettino delle leggi und weiterer Dokumente (Baccini 2019a: z. B. 33, 245–247).

Details

Seiten
444
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631897331
ISBN (ePUB)
9783631897348
ISBN (Hardcover)
9783631897324
DOI
10.3726/b21336
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Mai)
Schlagworte
Rechtsübersetzung Übersetzungsgeschichte Archivarbeit Übersetzungsprozess Fachübersetzen Sprachkontakt Rechtssprache Übersetzungspolitik Napoleonische Gesetzbücher
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 444 S., 2 s/w Abb., 13 Tab.

Biographische Angaben

Sarah Del Grosso (Autor:in)

Sarah Del Grosso studierte Übersetzungswissenschaft am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz in Germersheim, wo auch ihre Promotion erfolgte. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin forscht sie dort u. a. zu Übersetzungen in der napoleonischen Zeit – nicht nur in Italien.

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