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Transferwissenschaften: Mode oder Mehrwert?

Unter Mitarbeit von Koray Parlar und Anna Malena Pichler

von Konstantin S. Kiprijanov (Band-Herausgeber:in) Thorsten Philipp (Band-Herausgeber:in) Thorsten Roelcke (Band-Herausgeber:in)
©2023 Sammelband 280 Seiten
Open Access
Reihe: Transferwissenschaften, Band 16

Zusammenfassung

Wissenstransfer und kooperative Forschung an den Schnittstellen von Universität, Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Kultur gewinnen für alle an Wissensproduktion und Innovationsprozessen beteiligten Akteure und Institutionen zunehmend an Relevanz. Schlüsselwörter wie Transferwissenschaften, Transdisziplinarität und transformative Wissenschaft bestimmen inzwischen die wissenschaftstheoretische Debatte, doch bleiben deren konzeptionelle und terminologische Grundlagen vielfach unklar und umstritten. Welche Mehrwerte, Funktionen, Potentiale und Aporien verbinden sich mit der Idee der Transferwissenschaften? Wie verändert sich ihr Stellenwert in der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung? Inwieweit geht sie mit einer Innovation hochschuldidaktischer Methoden einher?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • About the author
  • About the book
  • This eBook can be cited
  • Inhaltsverzeichnis
  • Transferwissenschaften: Mode oder Mehrwert? Zur Einführung
  • I. Ansätze der Wissenschaftstheorie
  • Zur Epistemologie transdisziplinärer Forschung: Wissenstypen
  • Differenz als Ressource: Methoden der Grenzarbeit
  • Transferwissenschaften, Transdisziplinarität und Wissenskommunikation: Warum es dabei auf die Sprache(n) ankommt
  • Ein Modell fachlicher Kommunikation weitergedacht: Inter- und Transdisziplinarität
  • II. Methodik der Transferwissenschaften
  • Reflexivität durch Transdisziplinarität
  • Transferkanäle zwischen Wissenschaft und Politik: Eine kontextualisierte Übersicht
  • Strategien für den Transfer zwischen Gesellschaft und Wissenschaft – eine empirische Typologie
  • Transformationsprozesse gestalten – die Rolle der Wissenschaft in der Praxis
  • III. Zukunftswerkstatt Transdisziplinäre Lehre
  • Hochschuldidaktik in einer Wissenschaft vom Wissenschaftstransfer
  • Transferdidaktik: Kompetenzorientierung in der transferwissenschaftlichen Ausbildung
  • Wissenstransfer und Wissenstransformation: Zukünfte didaktisch handelnd aufschließen
  • Vom bunten Vogel zum Zugpferd? Das Projekt Sprachkompass als Beispiel angewandter Diskurslinguistik
  • Das Decision Theatre Lab: transdisziplinäre Lehr- und Lernformate in der Mathematik
  • Wissenschaft (be)greifbar machen. Projektlabor Wissenschaftskommunikation – ein disziplinübergreifendes Kurskonzept
  • Didaktische Experimente im Spielfeld zwischen Universität und Gesellschaft: Ein transdisziplinäres Lernlabor im Einkaufszentrum
  • Beitragendenprofile
  • Gutachterinnen und Gutachter

Konstantin S. Kiprijanov / Thorsten Philipp / Thorsten Roelcke *

Transferwissenschaften: Mode oder Mehrwert? Zur Einführung

Der Ruf nach Transfer, Transdisziplinarität und Wissenschaftskommunikation hat in den letzten zwei Jahrzehnten alle wissenschaftlichen Institutionen erreicht. Ähnlich wie Interdisziplinarität im wissenschaftstheoretischen wie politischen Kontext längst als „Synonym von Innovation“ (Zemanek 2012: 53) erscheint, sind auch Begriffe wie Transfer, Transdisziplinarität und Transformation zu hoher Attraktivität in Förderausschreibungen, Antragstexten und Reflexionen zur Wissenschaftstheorie gelangt. Trennscharfe Definitionen erscheinen weiterhin rar. Alles nur Mode?

Tatsächlich gewinnen Wissenstransfer und kooperative Forschung an den Schnittstellen von Universität, Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Kultur für alle Akteur*innen und Institutionen, die an Wissensproduktion, Forschung und Lehre beteiligt sind, an Relevanz. Konzeptionelle und terminologische Grundlagen des Transfergeschehens bleiben indes vielfach unklar und umstritten: Welchen Konzeptionen, Verständnissen, Prämissen und Grenzen unterliegen Transfer und Wissenschaftskommunikation? Welche Versprechen und Aporien verbinden sich mit der Idee der Transferwissenschaften? Wie sollte eine Methodologie der Transferwissenschaften beschaffen sein? An welcher der besagten Schnittstellen sollen Transferwissenschaften angesiedelt sein und welche Institutionen einbinden? Inwieweit gehen sie mit einer Innovation hochschuldidaktischer Methoden einher? Welche Foren stehen Hochschulen und anderen Einrichtungen der Wissensproduktion heute zur Verfügung, um über die Innovationskraft transdisziplinärer Projekte nachzudenken und diese zu gestalten?

Unser Band setzt an diesen Fragestellungen an und beleuchtet Theorien, Praktiken und aktuelle didaktische Erprobungsversuche des Transfergeschehens. Mit dem Begriff der Transferwissenschaften beziehen wir uns auf eine seit den 1990er Jahren bestellte, vielfach rekultivierte und weiterhin produktive diskursive Anbaufläche: Transferwissenschaften untersuchen „die kulturellen, sozialen, kognitiven, sprachlich-medialen und emotionalen Bedingungen, die medialen Wege sowie Prinzipien und Probleme der Wissensproduktion und -rezeption unter dem Gesichtspunkt ihrer strukturellen und sozialen Vernetzung, ihrer Relevanz für Nicht-Expert*innen und den Chancen ihres globalen sowie gruppen- und zielspezifischen Transfers. Kurz: Die Transferwissenschaft erforscht Bedingungen, Prinzipien, Formen, Strategien sowie Probleme und Erfolgschancen des Metawissens über Wissen zum Zwecke einer nicht eingeschränkten Verfügbarkeit von (Sonder-)Wissen für alle potentiell an Wissen Interessierten“ (Antos 2001: 5).

Transferwissenschaften verstehen wir in den Spuren dieses Debattenstrangs, den Gerd Antos und Sigurd Wichter, Susanne Göpferich, Rainer Bromme, Joachim Grzega und viele andere begründet und belebt haben, als Syntagma methodischer Ansätze, die um einen zentralen Gegenstand kreisen: den Wissenstransfer (Ballod et al.: 2020: 8). Dabei geht es nicht einfach um ein lineares Weitergeben von Information. Die gesellschaftliche Wirkung von Wissen ist vielmehr daran gebunden, dass Wissen nicht nur erworben und reproduziert, sondern rekursiv geteilt, verworfen, kritisch befragt und permanent mit neuen Wissensressourcen verknüpft wird. Wissen wird durch diese disruptiven Prozesse nicht nur vervielfältigt, sondern unentwegt transformiert – und gerade diese Wandlungs-, Gestaltungs- und Transformationsprozesse stehen im Mittelpunkt der Transferwissenschaften (ebd.).

Dieses Verständnis wird durch die Arbeiten des Forschungsprojekts Transferwissenschaft um die empirische Beforschung der praktischen und strategischen Gestaltungsbedingungen des Wissensaustausches zwischen unterschiedlichen Akteuren, Organisationen und Gesellschaftsbereichen erweitert (Muschner 2023). Das Projekt wurde 2019–22 in Kooperation zwischen dem Center for Responsible Research and Innovation (CeRRI) des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) und der Technischen Universität Berlin durchgeführt und legte den Fokus auf multidirektionalen, interorganisationalen Wissenstransfer in seiner Bedeutung für Innovationsökosysteme. Mit vorrangig sozialwissenschaftlichen Methoden und mithilfe transdisziplinärer Ansätze folgte das Projekt dem Ziel, die Grundlage für eine evidenzbasierte Gestaltung des Wissenstransfer durch Akteur*innen in Wissenschaftsmanagement und Wissenschaftspolitik zu schaffen. Damit schloss das Projekt an eine Transferperspektive an, die über den klassischen, linearen Technologietransfer hinausgeht und eine klare Ausrichtung auf einen „starken als auch breiten Impact wissenschaftlicher Forschung auf Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Umwelt“ aufweist (Muschner et al. 2021: 3).

Die Reflexion von Transfergeschehen betrifft aber nicht nur die kommunikativen Aufgaben, die sich mit Wissenstransfer und Wissenschaftskommunikation verbinden (vgl. Ruser 2021). Gerade transdisziplinären Praktiken der Zusammenarbeit kommt im Konzept der Transferwissenschaften eine zentrale Rolle zu (Pelikan/Roelcke/Weber 2020: 20). Damit berührt der Diskurs zwangsläufig die Frage nach den kulturellen Voraussetzungen, die mit Transdisziplinarität als methodischem Kern verbunden sind: die Pluralität. Neben der Vielfalt der (1) Wissensressourcen, auf die der wissenschaftliche Suchprozess zugreift, indem er neben disziplinär erschlossenem, akademischem Fachwissen auch Alltags-, Erfahrungs-, Berufs-, Körper- und Situationswissen einbindet, hebt Transdisziplinarität auf die Pluralität der (2) Akteur*innen der Wissensproduktion ab: neben Hochschulmitgliedern sind dies Praxisexpert*innen aus Zivilgesellschaft, Industrie, Kultur und Politik, Anwender*innen, Träger*innen autochthonen Wissens usw. Damit einher geht auch die Heterogenität von (3) Erkenntniswegen: Alle Karrieren, Lebens- und Bildungswege erbringen Wissensbestände und bergen Potenziale, die zu einer Problemlösung beitragen können, und darüber hinaus muss auch die Offenheit der (4) Partizipationschancen ermöglicht und verteidigt werden. Schließlich geht es im Hochschulkontext auch um die Anerkennung der Vielfalt von (5) Verantwortungsrollen und Aufgaben: gerade in der Moderation von Umweltkonflikten zeigt sich, dass die Teilnehmer*innen in ihren Funktionen und Verantwortungen unterschiedliche Rollen besetzen und Fragen der Haftung, Rechenschaft und Verantwortung im Vorfeld definiert werden müssen (Philipp 2023).

Transferwissenschaften verstehen wir daher weniger als eigene Disziplin, sondern als diskursiven Rahmen, in dem wir neue Forschungs- und Lernallianzen andenken, vorbereiten, verwerfen, erproben (Pelikan/Roelcke/Weber 2020: 34) und damit disziplinäres wie transdisziplinäres Arbeiten neuen Ufern zuführen. Transferwissenschaften sind damit auch der konkreten Gestaltung von Transferprozessen verpflichtet. Die „Refiguration von Wissensstrukturen jenseits der Disziplin“ (Philipp/Schmohl 2021: 18), die die Arena der Transferwissenschaften konditioniert, hat indes vielfältige Auswirkungen auf Hierarchien, Pfadabhängigkeiten, Machtkonstellation und Steuerungsmechanismen. Mit ihr verschieben sich Rollendefinitionen und -verständnisse, Anerkennungskulturen und Praktiken der Incentivierung (vgl. Pelikan/Jeffery/Roelcke 2021).

Mit der Diskussion über aktuelle Fragestellungen und Entwicklungen im Transfergeschehen befasste sich die Tagung Transferwissenschaften – Transdisziplinarität – Wissenstransfer: Mode oder Mehrwert?, die am 21. und 22. April 2022 an der Technischen Universität Berlin stattfand. Sie verfolgte das Ziel, die Bedeutung und den Nutzen von Transdisziplinarität für Wissenstransfer aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, indem sie Vertreter*innen der Bereiche Theorie, Praxis, Methodik und Didaktik zu einem fächerübergreifenden Dialog einlud. Unser Band folgt der Struktur dieser Tagung, indem er zunächst aktuelle Ansätze der Wissenschaftstheorie, Überlegungen zu einer zeitgenössischen Methodik der Transferwissenschaften und schließlich aktuelle Experimentierräume und Praktiken der Transferdidaktik in den Blick nimmt.

Der erste, an Theorie orientierte Teil unseres Bandes knüpft an Überlegungen wie diesen an und entwickelt sie mit Blick auf die Differenzierung verschiedener Arten von Wissen, die Differenz als transdisziplinäre Ressource, die Bedeutung von Viel- und Mehrsprachigkeit und die Modellierung transdisziplinärer Kommunikation weiter. So beschäftigt sich Armin Grunwald im Rahmen einer Epistemologie transdisziplinärer Forschung zunächst mit verschiedenen Typen von Wissen. Er setzt sich auf Grundlage der Unterscheidung zwischen System-, Zukunfts- und Kontextwissen sowie normativer Orientierung und Handlungswissen mit verschiedenartigen erkenntnistheoretischen Herausforderungen von Reallaboren auseinander und zeigt dabei Lösungsansätze durch eine Differenzierung des sog. Orientierungswissens. Letztlich geht es hier (erst einmal) um die brisante Frage nach der Möglichkeit transdisziplinärer Forschung überhaupt und (noch) nicht um diejenige nach deren Mehrwert. Beides lässt sich aus der Theorie heraus begründen, bedarf jedoch des Nachweises aus der Praxis transdisziplinärer Forschung öffentlicher und wissenschaftlicher Akteure.

Differenzen können als ein wesentliches Charakteristikum transdisziplinären Arbeitens gelten. Ulli Vilsmaier setzt in ihrem Beitrag an solchen Differenzen an und stellt diese als wesentliche Ressource dar, indem im Rahmen solcher Arbeit Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Positionen und Perspektiven eigens bestimmt, wenn nicht herausgearbeitet oder ausgehandelt werden müssen. Hierbei stehen nicht ganze wissenschaftliche oder öffentliche Institutionen im Fokus, sondern einzelne Personen, die gemeinsam in einen solchen Prozess des Aushandelns treten. Als Konsequenz fordert und entwirft die Autorin eine responsive Forschungsmethodik, welche individuelle Erkenntnis- und Handlungsspielräume wissenschaftlich tätiger Personen nicht nur ernst nimmt, sondern zu einem konstitutiven Element von Forschung überhaupt macht.

Details

Seiten
280
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631883877
ISBN (ePUB)
9783631883884
ISBN (Hardcover)
9783631883860
DOI
10.3726/b21016
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (September)
Schlagworte
Wissenstransfer Transdisziplinarität Transformation Wissenschaftstheorie Gesellschaft
Erschienen
Peter Lang – Lausanne · Berlin · Bruxelles · Chennai · New York · Oxford. 2023. 280 S., 19 farb. Abb., 8 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Konstantin S. Kiprijanov (Band-Herausgeber:in) Thorsten Philipp (Band-Herausgeber:in) Thorsten Roelcke (Band-Herausgeber:in)

Konstantin S. Kiprijanov forscht, berät und kommuniziert zu den Themen Public Engagement, Partizipation und Wissenschaftskommunikation. Derzeit arbeitet er als Projektkoordinator und Postdoc im Projekt „Public Engagement with Planetary Health" am Museum für Naturkunde Berlin. Thorsten Philipp ist Politologe und verantwortet die Förderung transdisziplinärer Lehrprojekte an der TU Berlin. Darüber hinaus lehrt er disziplinenübergreifend an der Leuphana Universität Lüneburg, an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und an der Universität Freiburg. Thorsten Roelcke ist Leiter des Fachgebiets und des Studiengangs Deutsch als Fremd- und Fachsprache an der TU Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Deutsch als Fremdsprache, fachliche Kommunikation und Sprachwandel im Deutschen.

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Titel: Transferwissenschaften: Mode oder Mehrwert?