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„Neigt euer Ohr zu den Worten meines Mundes!“ (Ps 78,1)

Studien zu den Asaph-Psalmen

von Beat Weber (Autor:in)
Monographie 460 Seiten

Zusammenfassung

Die Psalmen gehören zu den bekanntesten und beliebtesten Büchern der Bibel. Die zwölf dem „Asaph“ zugeschriebenen Psalmen (Ps 50; 73–83) sind zwar weniger bekannt als andere, aber nicht weniger wichtig. Mit den Asaph-Psalmen als Einzelpsalmen, als Gruppe sowie mit ihren Eigenheiten und Verbindungen zu anderen biblischen Texten hat sich der Verfasser seit vielen Jahren intensiv beschäftigt. Daraus ist eine Reihe von Beiträgen entstanden, die in verschiedenen Zeitschriften, Sammelbänden und Festschriften veröffentlich wurden. Im vorliegenden Band sind zehn von ihnen gesammelt und werden in einer überarbeiteten und aktualisierten Form neu zugänglich gemacht. Hinzu kommen zwei umfangreiche Studien zu den Psalmen 78 und 81, die hier erstmals veröffentlicht werden.
Ein zweiter Band mit Psalmen- und Psalterstudien soll in dieser Reihe als ÖBS 58 erscheinen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Beiträge zu einzelnen Asaph-Psalmen
  • I.1„Unser Gott kommt …!“ (Ps 50,3). Psalm 50 und sein Setting im Lichte aufgenommener Überlieferungen
  • 1. Einleitung
  • 2. Text, Übersetzung und Kommunikationsstrukturen von Psalm 50
  • 2.1 Text und Übersetzung
  • 2.2 Strukturen und Kommunikationsweisen
  • 3. Erläuterungen zu Psalm 50,1–6 (Stanze I)
  • 3.1 Zum kommunikativen Setting
  • 3.2 Zu Intertextualität und Traditionsmilieus
  • 4. Erläuterungen zu Psalm 50,7–15 (Stanze II)
  • 5. Erläuterungen zu Psalm 50,16–23 (Stanze III)
  • 6. Ergebnis und Auswertung
  • I.2„In Salem wurde sein Versteck …“ (Ps 76,3). Psalm 76 im Lichte literarischer und historischer Kontexte neu gelesen
  • 1. Arbeitsübersetzung von Psalm 76
  • 2. Zu Psalm 76 insgesamt
  • 3. Strophe A (Verse 2–4)
  • 4. Strophen B und C (Verse 5–7 und 8–10)
  • 5. Strophe D (Verse 11–13)
  • 6. Psalm 76 im Kompositionsgefüge der Psalmen (74 –) 75 – 76 – 77 (– 78)
  • 7. Fazit
  • 8. Nachtrag: zur „Melchisedek“-Studie von Robert Cargill
  • I.3„Ich will auftun zum Gleichnis meinen Mund …“ (Ps 78,2). Psalm 78 und seine Deutung der Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit
  • 1. Einleitung
  • 2. Zur Struktur von Psalm 78
  • 3. Psalm 78,1–11: die Psalmeröffnung und die Ephraimiten
  • 3.1 Text und Übersetzung
  • 3.2 Kommunikative Konstellationen
  • 3.3 Inhalt, Art und Funktion der Überlieferung
  • 3.4 Die Generationen-Konstellationen in Psalm 78,3–8
  • 3.4.1 Die erste Generationen-Konstellation (Ps 78,3–4)
  • 3.4.2 Die zweite Generationen-Konstellation (Ps 78,5–6b)
  • 3.4.3 Die dritte Generationen-Konstellation (Ps 78,6c–8d)
  • 3.5 Psalm 78,9–11: „die Söhne Ephraims“
  • 3.6 Überblick über die Väter-Söhne-Relationen
  • 3.7 Erwägungen zur Literarkritik von Psalm 78,9–11
  • 4. Psalm 78,12–55 und einige Charakteristika des Psalms
  • 4.1 Psalm 78,12–55 im Überblick: von Ägypten bis zur Landgabe
  • 4.2 Speisung und Tränkung des Volkes
  • 4.3 Überlieferungsgut und Rezeption
  • 4.4 Theologisierung
  • 4.5 Vergangenes wird gegenwärtig
  • 5. Psalm 78,56–72: von Ephraim zu David und von Schilo zum Zion
  • 5.1 Text und Übersetzung
  • 5.2 Götzendienst, Preisgabe Schilos und Gottesgericht (Psalm 78,56–64)
  • 5.2.1 Psalm 78,56–58
  • 5.2.2 Psalm 78,59–64
  • 5.3 Gottes Eingreifen und Gottes Erwählen und Verwerfen (Psalm 78,65–72)
  • 5.3.1 Psalm 78,65–66
  • 5.3.2 Psalm 78,67–72
  • 6. Ertrag und Einordnung
  • 6.1 Bilanz: zur Bedeutung von Psalm 78
  • 6.2 Entstehungs- und Verwendungszeit(en)
  • 6.2.1 Vorüberlegungen
  • 6.2.2 Von der Oberflächenstruktur (Frühzeit) über den Parabel- und Rätselcharakter zur Tiefenbedeutung (Untergang des Nordreichs)
  • 6.3 Textpragmatik und Entstehungsmilieu
  • 6.3.1 An den Norden: Adressierung und Textpragmatik des Psalms
  • 6.3.2 Vom Norden in den Süden: die levitische Herkunft des Psalms
  • 6.3.3 Von Psalm 77 zu 78: die asaphitische Verarbeitung des Nordreich-Untergangs
  • I.4Psalm 81: Auf Jhwh hören!
  • 1. Vorbemerkungen
  • 2. Psalm 81: Übersetzung und poetische Struktur
  • 2.1 Text und Übersetzung
  • 2.2 Notizen zu Kolometrie und Struktur
  • 2.2.1 Die Beurteilung von 6c und 11c als strukturierende Monokola
  • 2.2.2 Die Gesamtanlage des Psalms
  • 3. Kommunikationsanalytische Untersuchung
  • 3.1 Tabellarische Zusammenstellung
  • 3.2 Sprecher
  • 3.3 Angesprochene Personen
  • 4. Die Gottesrede
  • 4.1 Die Rede-Wahrnehmung (6c)
  • 4.2 Das Leitmotiv des Hörens und die Hörverweigerung
  • 4.3 Monokola (6c und 11c), Mehrdeutigkeit und ein Prophet wie Mose
  • 4.4 Zu weiteren Aspekten
  • 4.4.1 Strophe C (6c–8)
  • 4.4.2 Strophe D (9–11b)
  • 4.4.3 Strophe E (11c–14)
  • 4.4.4 Strophe F (15–17)
  • 5. Der Festzusammenhang
  • 5.1 Die Aufrufe zur musikalischen Intonation (2–3)
  • 5.2 Der Hornstoss und die rechtliche Verankerung des Festes (4–6b)
  • 6. Ertrag
  • 7. Erwägungen zu Herkunft und Situierung des Psalms
  • 7.1 Zu Gattung und Aufführung
  • 7.2 Zum Kompositions- und Trägerkreis
  • 7.3 Zu Herkunft und Entstehung des Psalms
  • 8. Nachtrag: Papyrus Amherst 63 und Psalm 81
  • 8.1 Zum Papyrus Amherst 63 und seiner Erforschung
  • 8.2 Zu den „Jhw/Jaho-Psalmen“ und deren Hintergrund
  • 8.3 Ein Vergleich von Papyrus Amherst 63 XIII,1–10 und Psalm 81
  • 8.4 Vorläufiges Fazit
  • II. Charakteristika der Asaph-Psalmen
  • II.1Asaph – ein Name, seine Träger und ihre Bedeutung in biblischen Zeiten
  • 1. Asaph: Name und Namensträger
  • 1.1 Der Name
  • 1.2 Die Namensträger
  • 1.2.1 Inschriften
  • 1.2.2 Altes Testament
  • 2. Asaph und die Asaphiten in Esra-Nehemia
  • 3. Asaph und die Asaphiten in der Chronik
  • 3.1 Asaph
  • 3.2 Asaphs Nachfahren
  • 4. Asaph im Psalter
  • 4.1 Asaph in den Präskripten der Psalmen 50 und 73–83
  • 4.2 Gestalt und Gehalt der Asaph-Psalmen
  • 4.2.1 Form- und adressatenspezifische Charakteristika
  • 4.2.2 Traditionsgeschichtliche und thematische Charakteristika
  • 4.2.3 Linguistische und poetologische Charakteristika
  • 4.2.4 Gruppenkompositionelle Charakteristika
  • 5. Asaph(-Psalmen) in Qumran und im Neuen Testament
  • 6. Asaph und die Asaphiten im biblischen Gesamtbild und geschichtlichen Kontext
  • 6.1 Geschichte und Bedeutung der Asaphiten in nachexilischer Zeit anhand Esra-Nehemia und Chronik
  • 6.2 Verhältnisbestimmung zwischen den Asaph-Psalmen und den Schilderungen in Esra-Nehemia und Chronik
  • 7. Zur Wirkungsgeschichte
  • Abbildungsverzeichnis
  • II.2Akrostichische Muster in den Asaph-Psalmen
  • 1. Vorüberlegungen
  • 2. Zusammenstellung akrostichischer Muster in den Asaph-Psalmen
  • 2.1 Psalm 50
  • 2.2 Psalm 73
  • 2.3 Psalm 74
  • 2.4 Psalm 75
  • 2.5 Psalm 76
  • 2.6 Psalm 77
  • 2.7 Psalm 78
  • 2.8 Psalm 79
  • 2.9 Psalm 80
  • 2.10 Psalm 81
  • 2.11 Psalm 82
  • 2.12 Psalm 83
  • 3. Auswertung
  • 3.1 Zu Wirkung und Funktion von akrostichischen Mustern
  • 3.2 Die Auswertung der Akrostichie im Blick auf die Asaph-Psalmen
  • II.3Gottesrede in „Asaph-Texten“
  • 1. Einleitung
  • 2. Prophetie in „Asaph-Texten“ im Überblick
  • 3. Diskussion der Belege im Einzelnen
  • 3.1 Gottesrede/Prophetie in den Asaph-Psalmen
  • 3.2 Gottesrede/Prophetie in „deutero-asaphitischen“ Psalmen
  • 3.3 Gottesrede/Prophetie in Esra-Nehemia
  • 3.4 Gottesrede/Prophetie in der Chronik
  • 4. Bilanz
  • III. Verbindungen der Asaph-Psalmen
  • III.1Verbindungslinien von den Psalmen Asaphs (Ps 50; 73–83) zu den Psalmen des Psalterteilbuchs IV (Ps 90–106)
  • 1. Prolegomena: Definitionen, Methoden, Kriterien, Vorgehensweise
  • 2. Die Asaph-Psalmen (Ps 50; 73–83) und ihr Trägerkreis
  • 3. Asaphitische Einflüsse im Psalterteilbuch IV (Ps 90–106)
  • 3.1 Vorbemerkungen und Versuchsanlage
  • 3.2 Die Erhebung asaphitischer Prägung in den Psalmen aus Teilbuch IV (Tabelle)
  • 3.2.1 Psalm 90
  • 3.2.2 Psalm 91
  • 3.2.3 Psalm 92
  • 3.2.4 Psalm 93
  • 3.2.5 Psalm 94
  • 3.2.6 Psalm 95
  • 3.2.7 Psalm 96
  • 3.2.8 Psalm 97
  • 3.2.9 Psalm 98
  • 3.2.10 Psalm 99
  • 3.2.11 Psalm 100
  • 3.2.12 Psalm 101
  • 3.2.13 Psalm 102
  • 3.2.14 Psalm 103
  • 3.2.15 Psalm 104
  • 3.2.16 Psalm 105
  • 3.2.17 Psalm 106
  • 3.3 Die Listung der „Schnittstellen“, sortiert anhand der Asaph-Psalmen
  • 4. Auswertung, offene Fragen und Forschungsdesiderata
  • 4.1 Tabellarische Zusammenstellung der Asaphizität
  • 4.2 Auswertung
  • 4.2.1 Zu Methodologie und Fehlertoleranz
  • 4.2.2 Der tabellarische Befund im Überblick
  • 4.2.3 Abhängigkeitslage
  • 4.2.4 Differenzierungen hinsichtlich der Asaphizität
  • 4.2.5 Einsichten mit Blick auf das Teilbuch IV
  • III.2Mose-Lied (Dtn 32,1–43) und Asaph-Psalmen (Ps 50; 73–83). Untersuchungen zu ihrem Verhältnis
  • 1. Vorbemerkungen
  • 1.1 Anlass und Hintergrund der Studie
  • 1.2 Voraussetzungen und Vorgehensweise
  • 1.3 Aufbau
  • 2. Das Mose-Lied
  • 2.1 Die Struktur von Deuteronomium 32,1–43
  • 2.2 Die Textspur
  • 3. Der Gruppenhorizont der Asaph-Psalmen und das Mose-Lied
  • 3.1 Das Gottesvolk, seine Geschichte und die Bedeutung der Anamnese
  • 3.2 Gottesrede, Gottesgericht und weisheitlich-paränetische Momente
  • 4. Verbindungen zwischen dem Mose-Lied und den zwölf Asaph-Psalmen im Überblick
  • 5. Detaillierte Textvergleiche zwischen dem Mose-Lied und einzelnen Asaph-Psalmen
  • 5.1 Das Mose-Lied und Psalm 50
  • 5.2 Das Mose-Lied und Psalm 74
  • 5.3 Das Mose-Lied und Psalm 77
  • 5.4 Das Mose-Lied und Psalm 78
  • 5.5 Das Mose-Lied und Psalm 79
  • 5.6 Das Mose-Lied und Psalm 81
  • 6. Bilanz und weiterführende Überlegungen
  • 6.1 Die Asaph-Psalmen kennen das Mose-Lied und sind von ihm mitbestimmt
  • 6.2 Nicht nur Genese, auch Geltung – kanonhermeneutische Überlegungen
  • 7. Anhang: Text, Struktur und Übersetzung des Mose-Lieds
  • III.3„Asaph Meets Hosea“. Verbindungen zwischen Hosea-Schrift und Asaph-Psalmen, ausgehend von „Kriegsbogen“-Formulierungen
  • 1. Vorbemerkungen
  • 1.1 Nennen wir es einmal „Intertextualität“
  • 1.2 Hosea und die Asaph-Psalmen: zur Anlage dieser Studie
  • 2. Präliminarische Zusammenstellung möglicher Textbezüge zwischen Hosea und den Asaph-Psalmen
  • 3. Aussagen zum Kriegsbogen in Hosea und den Asaph-Psalmen
  • 3.1 Der zerbrochene Bogen: Gott als Kriegszerstörer
  • 3.2 Ein schlaffer Bogen: Israels Versagen
  • 4. „Asaph Meets Hosea“ und der Fortgang Israels
  • 4.1 Levitische Verbindungen?
  • 4.2 Ephraim ist nicht einfach tot, Israel lebt und ist mehr als Juda!
  • 5. Schluss
  • III.4„Asaph“ und „Jesaja“. Eine komparatistische Studie zur These von Tempelsängern als für Jesaja 40–66 verantwortlichem Trägerkreis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Zu den genuinen Asaph-Psalmen (Ps 50; 73–83) und zum Psalterteilbuch III (Ps 73–89)
  • 1.2 Zu den Deuteroasaph-Psalmen (Ps 96; 105–106) und Psalterteilbuch IV (Ps 90–106)
  • 2. Exodus-Rezeption und -Transformation: Psalm 77 und Jesaja 40–55
  • 3. Katastrophenverarbeitung: Psalm 77–79 (sowie Psalm 106) und Jesaja 63,7–64,11
  • 3.1 Canto I (Jes 63,7–10 | 11–14)
  • 3.2 Canto II und III (Jes 63,15–19b | 19c–64,4c || 4d–7 | 8–11)
  • 4. „Ein neues Lied“: Jesaja 42,10–23 (mit weiteren Hymnen) und Psalm 96/98
  • 5. Auswertung und Fazit
  • 6. Anhang: Text, Übersetzung und Struktur von Jesaja 63,7–64,11
  • III.5Asaph im Psalter und in der Chronik. Erwägungen zu „Schnittstellen“, Trägerkreisen und Redaktionsprozessen
  • 1. Einleitung
  • 2. Aspekte der Buchgestalten von Psalter und Chronik im Vergleich
  • 3. Sichtung und Sortierung der „Asaph“-Belege
  • 3.1 Asaph im Psalter
  • 3.2 Auswertung
  • 4. Asaphitische Gottesrede im Psalter und in der Chronik
  • 5. Asaphitische Gottespräsenz: Lade, Keruben, Namen
  • 6. Konturen des asaphitischen Trägerkreises – ein Versuch
  • 6.1 Israels zehn Stämme
  • 6.2 Hiskias Integrationsbemühungen und der asaphitische Beitrag dazu
  • 6.3 Die Asaphiten auf dem Weg von Hiskia in die Entstehungszeit der Chronik
  • 6.4 Fazit: der asaphitische Trägerkreis und seine Textüberlieferung
  • Veröffentlichungen des Verfassers zu den Asaph-Psalmen

I.1 „Unser Gott kommt …!“ (Ps 50,3). Psalm 50 und sein Setting im Lichte aufgenommener Überlieferungen*

Gemeinsam mit Benjamin Kilchör

Abstract: This study combines an analysis of the discourse structure in Ps 50 with an investigation into the underlying (Pentateuchal) traditions invoked in the Psalm. The Asaphite Psalm 50 contains three divine speeches with different addressees: v. 5 (heaven and earth), vv. 7–15 (the people as a whole) and vv. 16b–23 (the wicked). A liturgical setting in the context of a renewal of the covenant seems likely, as textual relationships (cf. Deut 30–33; Josh 22; 24 inter alia) indicate. Deuteronomic traditions and texts and Levitical imprinting are found in the background of the Psalm. It contains a North-Israelite flavour but might have its setting in Jerusalem (Zion, v. 2). A dating after the fall of the Northern Kingdom (722 B.C.), probably in the reign of King Hezekiah, can be assumed. This makes it possible to group Ps 50 with other Asaph psalms. In relation to the two other “feast-psalms”, it might be dated later than the Asaphite Ps 81 (probably from the Northern Kingdom and before 722 B.C.), but is evidently significantly older than Ps 95.

1. Einleitung

In Psalm 50 verbinden sich in recht eigentümlicher Weise psalmentheologische, prophetische und deuteronomische (oder: deuteronomistische) Momente.1 Dass die sogenannten asaphitischen „Festpsalmen“ (Ps 50; 81, vgl. auch den „deutero- asaphitischen“ Ps 95) Schnittstellen zu Strata des Pentateuchs, namentlich des Dtn und von ihm herkommender Literatur, aufweisen, wird häufig erwähnt.2

Der Anlass, Ps 50 von unterschiedlichen Perspektiven und Einsichten aus neu zu untersuchen, waren die jeweiligen Forschungsschwerpunkte im Pentateuch (Kilchör) und in den Psalmen (Weber).3 Im Vordergrund dieses Beitrags stehen die Erarbeitung des Settings (Kommunikationssituation) und v.a. die Erkundung von literarischen Gemeinsamkeiten (und darin auch Differenzierungen) zwischen Ps 50 und anderen Texten, vornehmlich solchen aus dem Pentateuch. Daraus ergeben sich einige sozio- und literarhistorische Überlegungen sowie Erwägungen zu traditionsgeschichtlichen Hintergründen und Milieubezügen.

2. Text, Übersetzung und Kommunikationsstrukturen von Psalm 50

2.1 Text und Übersetzung

1 מִזְמ֗וֹר לְאָסָף Ein Psalm – zugehörig Asaph.
I A 1 a אֵל אֱֽלֹהִים יְֽהוָ֗ה „El, Elohim, Jhwh!“
b דִּבֶּר וַיִּקְרָא־אָ֑רֶץ Geredet hat er, [auf]gerufen [die] Erde:
c מִמִּזְרַח־שֶׁ֗מֶשׁ עַד־מְבֹאֽוֹ׃ vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.
2 a מִצִּיּוֹן מִכְלַל־יֹ֗פִי Vom Zion her, der vollkommenen Schönheit,
b אֱלֹהִים הוֹפִֽיעַ׃ ist Elohim aufgestrahlt:
3 a יָבֹא אֱלֹהֵ֗ינוּ וְֽאַל־יֶחֱרַשׁ „Es kommt unser Elohim, und (er) schweigt nicht!“
b אֵשׁ־לְפָנָיו תֹּאכֵ֑ל Feuer vor seinem Angesicht her, es frass (immer neu),
c וּסְבִיבָ֗יו נִשְׂעֲרָה מְאֹֽד׃ und rings um ihn stürmte es gewaltig.
B 4 a יִקְרָא אֶל־הַשָּׁמַיִם מֵעָ֑ל Er rief (wiederholt) zu den Himmeln von oben her
b וְאֶל־הָאָ֗רֶץ לָדִין עַמּֽוֹ׃ und zur Erde, um zu richten sein Volk:
5 a אִסְפוּ־לִי חֲסִידָ֑י „Versammelt mir meine Begnadeten,
b כֹּרְתֵי בְרִיתִי עֲלֵי־זָֽבַח׃ die schliessen meinen Bund über dem Schlachtopfer!“
6 a וַיַּגִּידוּ שָׁמַיִם צִדְק֑וֹ Es verkündeten die Himmel seine Gerechtigkeit:
b כִּֽי־אֱלֹהִים שֹׁפֵט הוּא סֶֽלָה׃ „Fürwahr, Elohim: Richter ist er!“ – Sela.
II C 7 a שִׁמְעָה עַמִּי וַאֲדַבֵּ֗רָה „Höre bitte, mein Volk, so will ich reden,
b יִשְׂרָאֵל וְאָעִידָה בָּ֑ךְ Israel, so will ich zeugen gegen dich:
c אֱלֹהִים אֱלֹהֶיךָ אָנֹֽכִי׃ Elohim, dein Elohim, bin ich!
8 a לֹא עַל־זְבָחֶיךָ אוֹכִיחֶ֑ךָ Nicht wegen deiner Schlachtopfer rüge ich dich,
b וְעוֹלֹתֶיךָ לְנֶגְדִּי תָמִֽיד׃ und deiner Brandopfer, die vor mir sind ständig.
9 a לֹא־אֶקַּח מִבֵּיתְךָ פָ֑ר Nicht nehme ich von deinem Haus den Jungstier,
b מִמִּכְלְאֹתֶ֗יךָ עַתּוּדִֽים׃ aus deinen Pferchen die Böcke.
D 10 a כִּי־לִי כָל־חַיְתוֹ־יָ֑עַר Denn mein ist alles Getier des Waldes,
b בְּהֵמ֗וֹת בְּהַרְרֵי־אָֽלֶף׃ Vieh auf tausend Bergen.
11 a יָדַעְתִּי כָּל־עוֹף הָרִ֑ים Ich kenne alle Vögel der Berge,
b וְזִיז שָׂדַ֗י עִמָּדִֽי׃ und die Grille des Feldes ist bei mir.
E 12 a אִם־אֶרְעַב לֹא־אֹמַר לָ֑ךְ Wenn ich hungerte, müsste ich es nicht sagen dir,
b כִּי־לִי תֵבֵ֗ל וּמְלֹאָֽהּ׃ denn mein ist der Erdkreis und was ihn füllt.
13 a הַֽאוֹכַל בְּשַׂר אַבִּירִ֑ים Sollte ich etwa essen das Fleisch von Stieren
b וְדַם עַתּוּדִים אֶשְׁתֶּֽה׃ und das Blut von Böcken trinken?!
F 14 a זְבַח לֵאלֹהִים תּוֹדָ֑ה Opfere Elohim Lobdank(opfer)
b וְשַׁלֵּם לְעֶלְיוֹן נְדָרֶֽיךָ׃ und erstatte Eljon deine Gelübde!
15 a וּקְרָאֵנִי בְּיוֹם צָרָ֑ה Ja, rufe an mich am Tag der Bedrängnis!
b אֲחַלֶּצְךָ֗ וּֽתְכַבְּדֵֽנִי׃ Ich werde dich retten, und du wirst mich ehren.“
III G 16 a וְלָרָשָׁע אָמַר אֱלֹהִ֗ים Aber dem Frevler sagt Elohim hiermit:
b מַה־לְּךָ לְסַפֵּר חֻקָּ֑י „Was [erlaubst du] dir, aufzuzählen meine Satzungen,
c וַתִּשָּׂא בְרִיתִי עֲלֵי־פִֽיךָ׃ und nahmst meinen Bund in deinen Mund?!
17 a וְאַתָּה שָׂנֵאתָ מוּסָ֑ר Doch du, du hassest Zucht,
b וַתַּשְׁלֵךְ דְּבָרַי אַחֲרֶֽיךָ׃ warfst meine Worte hinter dich.
18 a אִם־רָאִיתָ גַנָּב וַתִּרֶץ עִמּ֑וֹ Wenn du sahst einen Dieb, befreundetest du dich mit ihm,
b וְעִם מְנָאֲפִים חֶלְקֶֽךָ׃ und mit Ehebrechern war dein Teil.
H 19 a פִּיךָ שָׁלַחְתָּ בְרָעָ֑ה Deinen Mund sandtest du mit Bösem,
b וּלְשׁוֹנְךָ֗ תַּצְמִיד מִרְמָֽה׃ und deine Zunge flocht wiederholt Trug.
20 a תֵּשֵׁב בְּאָחִיךָ תְדַבֵּ֑ר Jedesmal wenn du dich hinsetzt: gegen deinen Bruder redetest du,
b בְּבֶֽן־אִמְּךָ֗ תִּתֶּן־דֹּֽפִי׃ an den Sohn deiner Mutter heftetest du Makel.
21 a אֵלֶּה עָשִׂיתָ וְֽהֶחֱרַ֗שְׁתִּי Solches hast du getan – und ich sollte schweigen?
b דִּמִּ֗יתָ הֱֽיוֹת־אֶֽהְיֶ֥ה כָמ֑וֹךָ Hast du dir eingebildet, ich sei ganz wie du?
c אוֹכִיחֲךָ וְאֶֽעֶרְכָה לְעֵינֶֽיךָ׃ Ich muss dich rügen und [die (Rechts-)Sache] vor deine Augen stellen!
I 22 a בִּֽינוּ־נָא זֹאת שֹׁכְחֵי אֱל֑וֹהַּ Erkennt doch dies, ihr Eloah-Vergessende,
b פֶּן־אֶטְרֹ֗ף וְאֵין מַצִּֽיל׃ damit ich nicht zerreisse, und es gibt keinen Retter.
23 a זֹבֵחַ תּוֹדָ֗ה יְֽכַבְּדָנְנִי Wer opfert Lobdank(opfer), ehrt mich,
b וְשָׂם דֶּ֑רֶךְ אַרְאֶ֗נּוּ בְּיֵשַׁע אֱלֹהִֽים׃ und wer den Weg bahnt, den lasse ich ansehen das Heil Elohims!“

2.2 Strukturen und Kommunikationsweisen

Knappe Hinweise zu Kolometrie und Strophik müssen an dieser Stelle genügen. Die Hauptzäsuren nach V. 6 und V. 15 sind durch Inhalt, Redewechsel und Refrain-ähnlichen Schluss mit Toda-Bezug der beiden Hauptstanzen (vgl. V. 14–15 mit V. 23) leicht ersichtlich und weithin anerkannt.4 Über die drei Stanzen (nach anderer Terminologie: Cantos) 1a–6 (I), 7–15 (II) und 16–23 (III) hinaus untergliedert sich der Psalm in neun Strophen (A–I), 23 Verse (4 Trikola, der Rest Bikola) und 51 Verszeilen (Kola).5

Etwas längere Ausführungen verdient die Kommunikationsstruktur dieses Psalms, ist diese doch so komplex wie beachtenswert.6 Der dominante Modus der (prophetisch vermittelten) Gottesreden7 ist vorab zu nennen.8 Die Anfänge der beiden längeren Gottesreden in den Stanzen II und III sind deutlich, deren Ende weniger. Sicher verläuft die Gottesrede von V. 7–13 und (an andere Adressaten, vgl. 16a) von V. 16b–21. Am Ende der beiden Stanzen II und III (Strophen F und I) fällt auf, dass von Gott in der dritten Person gesprochen wird (14.22–23). Ein zweimaliger Wechsel zu einem menschlichen Sprecher ist unwahrscheinlich;9 vielmehr ist von einer Selbstbezeichnung Gottes auszugehen (Illeismus).10 Jedenfalls wird mit den Wechseln 13 → 14 und 21 → 22 zur direkt adressierenden bzw. auffordernden Rede je ein abschliessender Akzent gesetzt.11

Mit der Gottesrede als Psalmenrede liegt eine im Psalter eher unübliche Redeweise vor.12 Die Worte ergehen mit hoher Autorisierung. Dass dabei auch die Vermittler der Gottesreden einen autoritativen Status einnehmen bzw. beanspruchen, machen die Redekonstellationen in der Eröffnungsstanze deutlich. So findet sich neben der Gottesrede von V. 5 eine invocatio Dei mit auffälliger Triplette in 1a.13 Dazu gehört weiter die menschliche, für ein Kollektiv sich äussernde Stimme in 3a sowie das ungewöhnliche Verweiswort „der Himmel“ in 6a (vgl. dazu auch Ps 82), das ebenfalls einen starken, Gewicht verleihenden Impetus enthält. In der nachfolgenden Textanalyse wird auf diese Phänomene weiter einzugehen sein.

3. Erläuterungen zu Psalm 50,1–6 (Stanze I)

3.1 Zum kommunikativen Setting

Die eröffnende Stanze (I: 1a–6) weist ein in den Rahmen, innerhalb dessen die beiden längeren Gottesreden in den Stanzen II und III zu verstehen sind. Gottes (vermeintliche) Absenz bzw. seine Präsenz ist der sich abzeichnende Hintergrund einer konflikthaften Konstellation. Sie kommt in der zwei-strophigen Erststanze zum Tragen, deutet sich aber auch in der inhaltlichen Entfaltung der Folgestanzen da und dort an (vgl. 7abc, 21a, 22b). Mit anderen Worten: Es geht um die Interaktion zwischen dem Gott Israels und „seinem Volk“ als Gegenüber (vgl. 7), insbesondere um Jhwhs Erscheinen, Reden und Handeln, das sein Bundesvolk nicht wahrnimmt, verbunden mit dem reaktiven Reden und Handeln seines Volkes (vgl. 5). Damit wird deutlich, dass „Kommunikation“ – in weitem Sinne gefasst – nicht erst in den Gottesreden sich inhaltlich vollzieht, sondern das eigentliche Problem darstellt. Dies zeigt sich in Stanze I daran, dass der „Anfechtung“ durch Gottes Untätigkeit (Abwesenheit, Schweigen) angesichts von Unrecht die Evidenz seines Kommens (Theophanie) gegenübergestellt wird. Dabei kommen verschiedene Kommunikationsebenen zum Tragen.

Wenn wir recht sehen, sind in den Duktus der schildernden Psalmrede in Stanze I mehrfach zitatartig Reden aufgenommen. Dies beginnt mit der Gottesanrufung in 1a (ungenannt: Mensch[en] → Gott = invocatio Dei) und setzt sich in 3a fort mit einer Aussage der Zuversicht, welche ein Kollektiv spricht (Menschen → ungenannt: Mitmenschen, allenfalls Selbstvergewisserung). Der Aufruf in 5ab ergeht erstmals in der Gestalt einer Gottesrede (Gott → ungenannt: Himmel und Erde). Der Abschnitt schliesst mit einer Vergewisserungsaussage in 6a, die von den Himmeln als Zeugeninstanz ergeht und Gott als Herrscher bzw. Richter beglaubigt (Himmel → ungenannt: Menschen).

Der Sachverhalt soll kurz in einem Schaubild dargestellt und in seiner Bedeutung evaluiert werden.

  1. Strophe A (1a–3):
    1. 1a Menschenrede (an Gott): Gott wird an- bzw. aufgerufen (invocatio Deievocatio Dei).
    2. 3a Menschenrede (an Menschen): Unser (angerufener) Gott kommt und redet.
  2. Strophe B (4–6):
    1. 5ab Gottesrede (an Himmel und Erde): Versammlungsaufruf (betreffend das Volk).
    2. 6b Himmelsrede (an Menschen): Erweis des Richterseins Gottes.

Die grammatikalisch-syntaktische Struktur führt – ausgenommen die Gottesrede in V. 5 – freilich nicht zwingend dazu, mit den vier angeführten Rede-Einspielungen (1a, 3a, 5ab, 6b) zu rechnen. Entsprechend wird – insofern dies aus der jeweiligen Auslegung hervorgeht – unterschiedlich übersetzt und ein Teil der erwähnten Passagen nicht als direkte Rede aufgefasst.14 Die hier vorgelegte Einschätzung der Kommunikationsformen ist zum Teil neu und muss entsprechend begründet werden.15

Zu 1a(bc): Entweder versteht man die dreifache Gottesnennung in 1a als explizites, gestaffeltes (koordiniertes) Subjekt (bzw. mit den hinteren Gliedern als Apposition16) zu den Verben von 1b, oder aber die Verben haben Gott als implizites Subjekt17 und die Eingangszeile ist vokativisch als vorangestellte Gottesanrufung zu verstehen. Für die hier vertretene Auffassung lassen sich folgende Punkte anführen: 1. die Triplette spricht eher für eine feierliche wie emphatische Anrufung der Gottheit unter drei Bezeichnungen als für ein (gedehntes) Subjekt; 2. die engste Parallele in Jos 22,22(–23) lässt im Zusammenhang mit einem abgegebenen Schwur ebenfalls an eine Anrufung der Gottesnamen denken; 3. die Anrufung Gottes fügt sich in den Kontext sowohl von Ps 50 wie asaphitischer Präsenz- bzw. Namenstheologie generell.18 Diese Einschätzung passt zum Wechsel zwischen abgeschlossenen und präsentisch-futurischen Aussagen19 in Stanze I: Die eröffnende Anrufung Jhwhs evoziert seine gegenwärtige Präsenz (1a), und diese ist verbunden mit seinem vergangenen Reden zur Erde (bewohnte Welt), fortschreitend von Tag zu Tag (1bc). Die Anrufung und der Verweis auf Gottes stetiges Reden bereiten sein Kommen (Theophanie) und Reden vor.

Zu (2ab)3a: Ähnlich wie beim ersten Trikolon ist auch beim zweiten eine Verbindung von Rückblick (2ab qtl) und Ausblick (3a jqtl) festzustellen. Letzterer geschieht in Form einer direkten Rede. Die Erfahrung der Sonnen- bzw. Lichttheophanie wird in die Gewissheit gefasst, dass Gott fernerhin erscheint und spricht. Die beiden Trikola 1abc und 2ab3a sind mit Blick auf die Abfolge von direkter Rede und Schilderung spiegelsymmetrisch angeordnet, mit den Redeteilen (a/a’) als Inclusio (abb|b’b’a’). Das angesagte Erscheinen Gottes in 3a wird in 3bc (die Strophe abschliessendes Bikolon) als realisierte (qtl) Gewittertheophanie (Blitz, Sturm) geschildert.

Zu 5ab: Es ist unbestritten, dass direkte Rede vorliegt und Gott der Sprechende ist. Die Gerichtsszenerie von V. 4–6 führt zunächst zur Aufbietung von Himmel und Erde als Zeugen (vgl. Dtn 4,26; 30,19; 32,1, ferner 17,6–7; 19,15).20 In 6 wird von einem der beiden Zeugen (Himmel) Gott als Richter vorgestellt (bevor ab 7 dessen Rede einsetzt). Das Volk als Adressat der göttlichen Gerichtsrede (vgl. 4b) wird in 5 zusammengerufen, bevor die Gottesrede mit dem Höraufruf beginnt (7). Die Adressaten der in 5ab von Gott angeordneten Versammlung bleiben ungenannt.21 Vom Kontext her rücken Himmel und Erde (allenfalls nur die Himmel, vgl. 6a) in den Vordergrund. Mit Blick auf die Aufgabe, eine (gottesdienstliche) Versammlung zusammenzurufen,22 liegt es freilich näher, an Kultpersonal zu denken.23 Da aber in Stanze I durchwegs „kosmische“ Grössen angesprochen sind oder handeln, wird man trotz der ungewöhnlichen Vorstellung wohl an Himmel und Erde als Angesprochene zu denken haben. Sie bzw. der Himmel allein hätten dann eine dreifache Funktion: zu zeugen (4), die Gemeinde zusammenzurufen (5) sowie Gottes Gerechtigkeit zu verkünden und Gott als Richter zu proklamieren (6).

Zu 6(a)b: Die Einschätzung von 6b als direkter Rede hängt an der Bestimmung des כי: Fasst man es als Konjunktion („dass“ oder „denn“), führt es den Satz aus 6a weiter; wird es hingegen als emphatische Partikel verstanden, wird die Verkündigung des Himmels bekräftigend in eine direkte Rede überführt. Syntaktisch ist beides möglich, inhaltlich ist die Differenz gering. Aufgrund der „liturgischen“ Kommunikation und der Emphase am Stanzenende (bevor Gott unmittelbar danach selbst das Wort ergreift) ziehen wir die emphatische Lesart vor. Himmel (und Erde), die eine Volksgemeinde zusammenrufen (V. 5) und Gottes Richtersein verkünden (6) – beides ist als metaphorisch (Personifizierung) und, anders als bei der Zeugenschaft (4), als ungewöhnlich zu beurteilen.

Ist Strophe A (1b–3) durch die Sonnen- und Gewittertheophanie sowie die Anrufung der Erde (1bc qtl) bestimmt, so findet sich in Strophe B (4–6) insofern eine Steigerung, als nun Himmel und Erde angerufen werden (4ab jqtl).24 In der B-Strophe steht das Gotteswort im Zentrum (5ab), umklammert von „Himmels“-Aussagen (4ab und 6ab). Der Himmel wird zu einer Art Zeugen- bzw. Mittlerinstanz: Gott ruft zum Himmel (4a) und tut ihm (und der Erde) seine Gerichtsabsicht kund (4ab); dieser wiederum verkündet Gott als gerechten Richter (6ab). Die Verkündigung der Himmel in 6a (wjjqtl) könnte als Progress zur geschehenen Adressierung der Erde in 1bc (qtl) aufgefasst werden (die Doppelung von Himmel/Erde aus 4ab aufnehmend und eine Stanzen-inclusio bildend). Die Theophanie aus Strophe A wird in B jedenfalls konkretisiert als Kommen zum Gericht.25

Trifft die aufgewiesene kommunikationsanalytische Einschätzung zu, dann ruft diese nach Überlegungen zu den Sprechvorgängen, ihren Ausführenden und damit dem Setting des sprachlichen Ensembles von Stanze I (und darüber hinaus).26 Der Sitz im Leben in einer gottesdienstlichen (Fest-)Begehung in nationalem Horizont an einem Heiligtum legt sich bereits aufgrund der ersten Stanze nahe (und bestätigt sich durch Beobachtungen zu Opfer- und Gebotsausführungen in den nachfolgenden Stanzen sowie im verwandten Ps 81). Die dialogische Struktur und die zitatartigen Einspielungen machen das Auftreten unterschiedlicher Stimmen wahrscheinlich. Es ist anzunehmen, dass Sprecher und/oder Sprechgruppen (mit unterschiedlichen Funktionen) Ps 50 im Wechsel vortrugen. Namentlich die schildernden Passagen einerseits und die in dieser Rede eingelegten „Zitate“ andererseits lassen an unterschiedliche Vortragende (Einzelpersonen oder Kollektive) denken, denen vermittelnde oder repräsentierende Funktionen oblagen (vgl. etwa das inkludierende „unser Elohim“ in 3a).27 Namentlich bei der Vermittlung der Gottesrede sind hohe Funktionäre am Heiligtum beteiligt. Soweit uns die Verhältnisse im Alten Israel bekannt sind, stehen Kultpropheten28 oder Leviten(priester)29 im Vordergrund. Auch eine Verbindung beider Funktionen ist denkbar.

3.2 Zu Intertextualität und Traditionsmilieus

Die den Psalm eröffnende Dreifachanrufung „El, Elohim, Jhwh!“ (1a) findet sich lediglich noch in Jos 22,22. Dort erscheint sie im Zusammenhang eines Schwurs der ostjordanischen Stämme, dass ihr Altarbau nicht zur frevelhaften Opferdarbringung, sondern als „Zeuge“ (עד Jos 22,27–28.34) für die Nachkommen dienen soll. Gegenüber der vermeintlichen Abwendung von Gott zeigt die doppelte Dreifachanrufung der Ostjordanstämme am Anfang ihrer Legitimationsrede, dass sie im Verbund der Stämme Israels Jhwh bleibend die Treue halten wollen. Mag der Vergleich der beiden Passagen auf den ersten Blick nicht ergiebig sein, so zeigt sich bei näherem Zusehen, dass weitere Gemeinsamkeiten vorliegen: 1. findet eine Versammlung Israels an einem Heiligtum statt (vgl. Ps 50,2 [Zion] mit Jos 22,9.12 [Schilo]); 2. werden Fragen des rechten Opferns thematisiert („Schlachtopfer/Brandopfer“: Ps 50,5.8; Jos 22,23.26–27.29);30 3. wird eine Zeugenschaft wider das Gott-Vergessen angesprochen (vom Altar als עד „Zeuge“ für die Bundesbeziehung: Jos 22,27–28.34; vom עוד „Zeugen“ Gottes gegen Israel: Ps 50,7 [mit 81,9 als naher Parallele]). In Ps 50 lautet das Selbstzeugnis Gottes: „Elohim (in Vertretung für: Jhwh), dein Elohim, bin ich!“ Am Schluss der Jos-Passage heisst es: „Denn Zeuge ist er (gemeint: der Altar) zwischen uns, dass Jhwh Elohim ist.“ (Jos 22,34). Der letzte Punkt erhält unter Einbezug dtn Belege zusätzliches Gewicht, wenn man das Moment der Zeugenschaft in Stanze I weiter bedenkt. Gottes „(sich selbst be)zeugen“ in V. 7 hat in der An- bzw. Aufrufung von Himmel und Erde (1bc, 4ab, vgl. 6a) gleichsam einen Vorbau. Dies hat Ps 50 mit dtn Aussagen (Dtn 4,26; 30,19; 31,28, vgl. 8,19; 31,19.21.24.26; 32,1 [mit Blick auf Nachkommen wie in Jos 22!]) gemeinsam, zumal diese (auch) einen Haftpunkt am Sinai haben (vgl. Ex 19,21.23).31

Nachzutragen bleibt der Hinweis auf den Landtag der Stämme zu Sichem in Jos 24, der im Duktus von Jos nach dem Altarbau der Ostjordanstämme stattfand. Dort wird zunächst das Volk zu „Zeugen“ gegen sich selbst (Jos 24,22); zum Schluss wird (vergleichbar mit dem Altar zum Gedenken am Jordan in Jos 22) am Heiligtum ein Stein als „Zeugnis“ (עדה) des Gedenkens aufgerichtet (Jos 24,27). Ps 50 weist mit Jos 24 auch insofern Berührungen auf, als (wie in Ps 50,5) vom „Schliessen eines Bundes“ (כרת ברית) in Sichem die Rede ist (Jos 24,25), wohl als Bestätigung des Horeb/Sinai-Bundes (vgl. Ex 24,8; 34,10.2732; Dtn 5,2–3), aktualisiert in Moab (vgl. Dtn 1,4–6; 28,69). Die Anrufung von Himmel und Erde als Zeugen in Dtn 30,19 (ähnlich 31,28 und v.a. 32,1) hat eine enge Übereinstimmung mit Ps 50,4.7.

Dieser Sondierungsgang lässt als Sitz im Leben eine Bundes(schluss)erneuerung an einem Heiligtum denken. Dass altes Stämmekolorit und nordisraelitische Verhältnisse (Sichem, Schilo33) zum Tragen kommen, ist anzunehmen (vgl. den verwandten Festpsalm 81). Ähnlich führt Ps 83, der eine Reihe von Berührungen mit Ps 50 aufweist, in nordisraelitische wie ostjordanische Gebiete (vgl. v.a. V. 9, ferner zum Schweigemotiv Ps 50,3.21; 83,2, zum Sturm 50,3; 83,14–16, zum Bundesschluss 50,5.16; 83,6).34 Dass das Deuteronomium im Ostjordanland nach der Eroberung ostjordanischer Gebiete lokalisiert ist (Dtn 1,4–5 – mit Rückbezug auf Gottes Reden am Sinai/Horeb, Dtn 1,6), stimmt überein mit dem gleich zu Beginn (1a) aufgrund von Jos 22 und 24 vermuteten Verweis auf frühe Haftpunkte im Ostjordanland (und Sichem/Schilo). Im Vergleich zum Bericht in Num (21,21–35, vgl. 32,33) ist zudem die dtn Schilderung von der Eroberung und Zuteilung dieser Gebiete ungleich ausführlicher (vgl. Dtn 2,24–3,22), was mit ein Indiz für das nordisraelitische Kolorit des Dtn ist.35 Auch die Erwähnung des Zions (2a) widerrät nicht zwingend einer diesbezüglichen Verortung, wie ein Blick auf Ps 68 zeigt.36 Wenn auch in anderer Diktion als im Dtn ergibt sich dort eine Verbindung des Gottes vom Sinai mit dem eroberten Ostjordangebiet (Gottesberg in Baschan, vgl. V. 8–9 mit 16–18). Zugleich ist, ähnlich wie in Ps 50 vom (Berg) Zion, in Ps 68 vom Tempel in Jerusalem die Rede (V. 30). Gegenüber einer von Dtn 33,2 (dazu s.u.) her in Ps 50 zu vermutenden Transponierung der Gottespräsenz vom Sinai zum Zion zeigt Ps 68 eine solche gleichzeitig auf beiden Bergen und darüber hinaus im ostjordanischen Baschan-Gebirge. In Ps 68 wie Ps 50 zeigt die Präposition מן an, dass ein Machterweis Jhwhs von Jerusalem/Zion (Lade-Bezug?) her erging bzw. neu erbeten wird (Ps 50,2; 68,30).

Neben den Gottesreden ist die Theophanie ein zweites Charakteristikum von Ps 50.37 Im Falle von Ps 50 hat man von zwei Theophanieformen zu sprechen: einerseits von Gottes Erscheinen im Sonnenlicht (2ab3a), andererseits von seinem Kommen in den Gewitterphänomenen von Blitz und Sturmwind (3bc).38 Als Hauptbeleg für eine Sonnentheophanie gilt Dtn 33,2. Indiz ist das seltene Verb יפע hi „aufstrahlen“ (2b), das in der Funktion, eine Theophanie anzuzeigen (mit Gott als Subjekt), auf Dtn 33,2 als Erstkontext verweist. Ansonsten kommt es nur noch im Asaph-Psalm 80 (2, Verbindung mit Gott als Kerubenthroner, Höraufruf wie Ps 50,7) sowie im asaphitisch geprägten Anfang von Ps 94 (1) vor. Die Bezugnahme von Ps 50 auf Dtn 33,2 wird noch verstärkt, da weitere Begrifflichkeit von dort im Psalm erscheint (vgl. die Ableitungen von זרח und בוא in 1c und 3a; zum „Versammeln“ des Volkes vor Gott vgl. ferner 5a mit Dtn 33,5). Dtn 33,2 gibt als Herkunft der Gotteserscheinung den Süden an (Sinai, Seïr, Paran), so auch andere alte Belege wie Ri 5,4–5 und Ps 68,8–9. Freilich erscheint Jhwh im Süden bzw. am Sinai in der Regel als Wetter- und nicht als Sonnengott (vgl. auch Ex 19,16–19; 20,18; 24,17). Ob man die beiden Gottesvorstellungen entwicklungsgeschichtlich versteht und die Solarisierung Jhwhs erst mit königszeitlichen Jerusalemer Vorstellungen in Verbindung zu bringen hat,39 ist zu überlegen – der Zion-Hinweis in Ps 50,2 könnte dazu passen (vgl. auch Am 1,2). Nun erscheint Jhwh aber nicht nur in Dtn 33,2 sonnentheophan, sondern auch in Hab 3,3–4. In Hab 3 sind überdies, wie in Ps 50, Sonnen- und Gewittertheophanie vereint und zugleich verbunden mit Gericht (Hab 3: Fremdvölker, Ps 50: Israel). Für die Verbindung von Sonnentheophanie und Rechtsdurchsetzung wie in Ps 50, aber ohne Zionsbezug, ist zudem auf Hos 6,3–5 zu verweisen. Der Beleg ist auch insofern erwähnenswert, als nachfolgend weitere Parallelen mit Ps 50 zu beobachten sind („Schlachtopfer/Brandopfer“ Hos 6,6, „Bund“ Hos 6,7, dazu s.u.). Anzufügen ist, dass Sonnen- und v.a. Gewittertheophanien, verbunden mit Gerichtskontexten, für die Asaph-Psalmen typisch sind (vgl. Ps 50,1–4; 75,3–8; 76,9–10; 77,17–20; 80,2–3; 83,14–19). Für das Motiv von Gott als „fressendes Feuer“ ist neben Ex 24,17 (Sinai) namentlich auf Dtn 4,24 (vgl. auch 9,3; 32,22) zu verweisen. Dies deshalb, weil alle drei Gottbezeichnungen von 1a dort ebenfalls erscheinen und in Dtn 4 weitere Affinitäten zu Ps 50 vorliegen (Versammlungsaufruf 4,10, Feuer [am Horeb] 4,11.33, Verweis auf Gottesrede 4,12.33.36).

Zuletzt und in Überleitung zu den folgenden Stanzen: Wie gesehen haben die drei Gottesreden unterschiedliche Adressaten (5: Himmel und Erde, 7–15: Volk insgesamt, 16b–23: Frevler40).41 Bei der Gottesrede V. 5 können weder die Angeredeten (Himmel und Erde) noch die zu Versammelnden (Volk) mit hinreichender Deutlichkeit als levitische Priester identifiziert werden (s.o.). Gleichwohl lassen einige Indizien vermuten, dass diese im Zusammenhang mit den im Psalm sich abbildenden Vorgängen eine Rolle spielen. Die Bezeichnung von 5b („die schliessen meinen Bund über dem Schlachtopfer“) wie auch die mit 7 einsetzende Opferthematik ist kaum ohne einen wie auch immer gearteten Einbezug von ihnen (als „Fachleuten“) denkbar.42 Und wenn die zu Versammelnden von Gott als „meine Begnadeten“ bezeichnet werden, so darf man vielleicht an den Segen für Levi (Dtn 33,8–11) denken, wo dieser als „Mann deiner חסיד“43 bezeichnet wird (einziger Beleg im Pentateuch!), zumal dort auch der Hinweis auf den „Bund“ erscheint (Ps 50: „schliessen“, Dtn 33: „bewahren“). Zu erwähnen ist ferner, dass den Kultvertretern die Unterweisung in Rechtssachen anvertraut ist (vgl. Dtn 17,8–13). Zum dtn Milieu, das Ps 50 prägt, fügt sich ferner, dass die nachher einsetzende, ermahnende Gottesrede durch einen menschlichen Sprecher geschieht – so wie Mose am Sinai/Horeb (vgl. Dtn 4,10) und im dtn Gesetz die Worte Gottes dem Volk vermittelt (vgl. Dtn 17,8–13 mit dem Schluss, dass das „ganze Volk hören soll“, mit Ps 50,7–15, dazu auch Dtn 16,18). Bestätigend wirken als Seitenreferenzen die verwandten Festpsalmen und dort die Hinweise auf „Massa/Meriba“ (vgl. Dtn 33,8 mit Ps 81,8; 95,8). Tora- wie Lied-Vortrag44 am Herbstfest, wie es Dtn 31,9–13.19–23 (vgl. Neh 8–10) als Aufgabe der Leviten beschreibt (im Rahmen einer Erneuerung des Bundesschlusses am Sinai [Ex 24,3–8]?), gibt ein vergleichbares Setting für das Vortragen von Ps 50 (wie auch Ps 81) ab.45

4. Erläuterungen zu Psalm 50,7–15 (Stanze II)

Die zweite Gottesrede richtet sich an das Volk (V. 7: שׁמעה עמי): Gott redet als Richter zu seinem Volk, und als solcher zeugt (עוד) er gegen Israel. Die Selbstbezeugung, die V. 7 beschliesst, zieht sich durch den ganzen pentateuchischen Bundesschluss, am prominentesten in der Präambel des Dekalogs (Ex 20,2; Dtn 5,6).

Die für Ps 50,1–6 bereits herausgearbeitete Nähe zu Jos 22; 24 und Dtn 30–33, die als Sitz im Leben ein nationales Bundeserneuerungsfest an einem Heiligtum vermuten lassen, bildet den Rahmen für die folgenden Überlegungen. Wenn Gott als Richter vor sein Volk tritt und analog zu Dtn 30,19; 31,28 und 32,1 Himmel und Erde als Zeugen aufruft, dann ist der Inhalt des Bundes, über dessen Einhaltung Gott richtet, die Tora,46 oder, um es noch präziser zu fassen, die חקים und משׁפטים der Tora (vgl. Dtn 31,11–13 und Jos 24,25–26). Im Deuteronomium reichen diese von Dtn 12,1 bis 26,16.47 In Anschluss an Levin und Rüterswörden48 ist eine Zweiteilung des dtn Gesetzes in Kultgesetz (Dtn 12–18 mit die Kultzentralisation betreffenden Geboten) und Rechtsordnung (Dtn 19–25) diesen beiden Termini zuzuordnen: Die חקים meinen die auf die Kultzentralisation zielenden Anweisungen, die משׁפטים die Rechtsordnung.49 Die beiden Gottesreden in Ps 50,7–15 und 16–23 entsprechen exakt dieser Zweiteilung.

Ps 50,8–15 betreffen also kultische Anweisungen und beginnen ganz vorne im dtn Gesetz: bei den זבחים und עולת. Diese beiden Opferbegriffe stehen in Dtn 12 in den Listen dessen, was am Zentralheiligtum darzubringen ist, jeweils am Anfang (Dtn 12,6.11.14.17.26–27). עלה und זבח bezeichnen die Blutopfer insgesamt, wobei עלה das Ganzopfer meint, bei dem das ganze Tier samt Blut und Fleisch geopfert wird, während זבח Sammelbegriff für alle Opfer ist, die nur teilweise verbrannt werden (vgl. Dtn 12,27).50 Ps 50,8 zufolge erhält Gott solche Blutopfer zur Genüge, doch laut V. 9 nimmt er sie vom Haus Israel nicht an. Die beiden in V. 9 genannten Opfertiere פר (Jungstier) und עתודים (Widder) sind auffällig: Der פר wird in den Opfergesetzen in Lev 1–7 nur für das Sündopfer (חטאת) genannt (Lev 4,3–21, vgl. zudem Ex 29,14; Lev 8,2; 16,6; Num 7,87) und kommt im Deuteronomium gar nicht vor; die עתודים finden in den Opfergesetzen in Lev 1–7 keine Erwähnung und erscheinen im Kontext von Opfern im gesamten Pentateuch nur in Num 7 (in Num 7,17–88 insgesamt 13mal; darüber hinaus im Pentateuch nur in Gen 31,10.12 und Dtn 32,14(!), im übrigen AT 13mal). Dtn 12 benutzt dagegen die allgemeineren Bezeichnungen בקר (Rindvieh) und צאן (Kleinvieh), vgl. Dtn 12,6.17.21. Bemerkenswert ist, dass ein פר (und, was Num 7 betrifft, auch die עתודים) für besondere Opfer gebraucht wird.51 Kurzum: Ein Jungstier ist gewissermassen das Opfertier für hochheilige Opfer. Ein Blick auf die ganze Gottesrede kann vielleicht erhellen, weshalb Gott ausgerechnet dieses Opfer aus dem Haus Israel zurückweist. Die Begründung, weshalb Gott nach Ps 50,9 nicht an den Jungstieren und Widdern interessiert ist, ist eine doppelte: Erstens hat er bereits genug Fleisch (10–12), zweitens zieht er Dankopfer den Sündopfern vor (14).

Nachdem Ps 50,8 im Rahmen der These eines Bundeserneuerungsfestes mit Toraverlesung an Dtn 12 anknüpft, kann man in V. 10–12 einen Anschluss an Dtn 14 (par. Lev 11) sehen, wo geregelt wird, welche Tiere gegessen werden dürfen und welche nicht. Ps 50,10 nennt die grösseren Tiere des Waldes und der Berge. Dies entspricht Dtn 14,4–5 / Lev 11,2–8. Ps 50,11a nennt die Vögel, was eine Entsprechung in Dtn 14,11–18 / Lev 11,13–19 hat. Ps 50,11b schliesslich nennt den „Schwarm des Feldes“ (זיז שׂדי), womit Heuschrecken und Grillen gemeint sein dürften (vgl. darüber hinaus nur noch den asaphitischen Beleg Ps 80,14), was Dtn 14,19 / Lev 11,20–23 entspricht. Ps 50,10–12 zählt die Kategorien also in derselben Reihenfolge auf, in der sie in den Reinheitsgesetzen der Tora stehen. In Ps 50 fehlen freilich die Wassertiere, die in Dtn 14,9–10 / Lev 11,9–10 (allerdings nur knapp) erwähnt sind. Dtn 14,3–20 ist auf Dtn 12 bezogen: Die Einführung der profanen Schlachtung in Dtn 12,15.21–22 erfordert eine Klärung, welche Tiere nebst dem Opferfleisch zum Verzehr erlaubt sind. Dieselbe Logik liegt Ps 50,8–12 zugrunde: Gott ist nicht auf die Blutopfer angewiesen, da ihm der ganze Erdkreis mit all den reinen, essbaren Tieren gehört.

Wenn also in der Gottesrede Ps 50,7–15 die Bundeserneuerung den Blick auf Dtn 12 und 14 richtet, so lohnt sich ein Seitenblick auf einen weiteren Asaph-Psalm, nämlich Ps 81. Die engste Parallele zu Ps 50,7 im AT überhaupt findet sich in Ps 81,9:

Ps 50,7a ואעידה בך שׂמעה עמי ואדברה ישׂראל
Ps 81,9 ואעידה בך ישׂראל אם תשׁמע לי שׂמע עמי

In Ps 81,10 folgt die Verpflichtung Israels auf das Fremdgötterverbot. Im dtn Gesetz entspricht dies exakt Dtn 13, wo die Strafe für Verleitung zum Dienst an anderen Göttern durch drei mögliche Personenkreise angeordnet wird (Dtn 13,3.7.14). Ps 81,11 begründet das Fremdgötterverbot durch die Selbstbezeugung Jhwh Elohims, der Israel aus Ägypten hinaufgeführt hat.52 Diese Formel ist auch in Dtn 13 Grundlage des Fremdgötterverbotes (Dtn 13,6.11). Die parallel eingeleiteten Gottesreden in Ps 50,7–15 und 81,9–11 sind in diesem Sinne komplementär: Zusammen decken sie Dtn 12; 13 und 14 und damit die komplette erste Hälfte der dtn Kultgesetzgebung ab.

Nachdem Gott sein Desinteresse an den Blutopfern bekundet hat, lautet die Alternative nicht Opferverzicht, sondern תודה (Dankopfer) und Einlösung der Gelübde. Das Dankopfer ist in Lev 7,11–15 beschrieben. Auch dort ist es mit dem Gelübde verbunden, und zwar dahingehend, dass das Dankopfer ein Gelübde sein kann und dann etwas anderen Bedingungen unterliegt (Lev 7,16). Als Charakteristikum, welches die Dankopfer und Gelübde von Schlacht- und Brandopfern unterscheidet, ist zuerst die Motivation zu nennen: Der Fokus liegt auf dem Dank und nicht auf der Schuldbeseitigung.53 In diesem Sinne besteht eine bemerkenswerte Nähe von Ps 50,7–15 zu Jes 1,11–17,54 wo Jhwh ebenfalls die Opfer kritisiert, die der Schuldbeseitigung dienen, und vom Volk stattdessen einen guten und gerechten Lebenswandel einfordert. Und natürlich steht im Hintergrund auch 1. Sam 15,22, das grosse Wort „Samuels […], des Vaters der Psalmenpoesie“55. Ps 50,15 zielt darauf ab, dass Gott an Opfergaben interessiert ist, mit denen ihm für Rettung aus der Not gedankt wird, nicht an solchen, mit denen man begangene Schuld begleichen will. Die Rettung „am Tag der Bedrängnis“ (ביום צרה) ist eine Formulierung (vgl. auch die asaphitischen Belege Ps 77,356 und 81,8), die im Pentateuch im Zusammenhang mit Bethel steht (Gen 35,3): Der Altarbau geschieht bei der Rückkehr Jakobs nach seiner Flucht. Die Trennung seiner Familie von den fremden Göttern gehört dazu (Gen 35,2), und das Opfer dient nicht der Schuldbeseitigung, sondern dem Dank und dem Gedenken – es ist ein Trankopfer. Ein zweites Charakteristikum ist, dass bei Dankopfern und Gelübden im Unterschied zu Schlacht- und Brandopfern nicht das Fleisch im Vordergrund steht. Vielmehr wird ein זבח dadurch zu einer תודה, dass dem Schlachtopfer Brot und Kuchen beigefügt werden, die dann dem Priester zur Nahrung dienen (Lev 7,14).

Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so ergeben sich folgende möglichen Motive und Hintergründe für diese Gottesrede: 1. am Eindeutigsten ist die theologische Motivation: Der Kult soll nicht dazu dienen, ein unmoralisches Leben zu rechtfertigen. Gott zieht ein gutes Leben den Opfern zur Schuldbegleichung vor. Dagegen erfreut er sich an Dankopfern; 2. die Zurückweisung von Opfertieren aus dem Haus Israel (Ps 50,9), die in der Tora stets in Verbindung mit hochliturgischen Opfern stehen, zugunsten von Dankopfern und Gelübden, die keine sühnende Funktion haben, könnte – im Rahmen der Bundeserneuerung durchaus auch im Sinne der Kultzentralisation57 – auf eine stärkere Differenzierung zwischen Klerus und Volk abzielen: Die rituellen, hochheiligen Opfer sind nicht Sache des Volkes, sondern der Priesterschaft. Gott erhält sie „kontinuierlich“ (תמיד Ps 50,8, vgl. Ex 29,42; Num 28–29). Vom Volk dagegen wünscht sich Gott nicht die Opfer des regelmässigen Kultes, sondern Opfer der Dankbarkeit für Gottes Hilfe in schwierigen Situationen.58 Dazu passt wiederum die zu Ps 50,1–6 aufgezeigte Nähe zu Jos 22; 3. vielleicht spielt über die theologischen Motive hinaus auch ein praktisches Moment eine Rolle: Die Priester haben genügend Fleisch, doch ihnen fehlen die „Beilagen“, nämlich Getreide, Brot und Kuchen, da sie ja kein eigenes Land haben. Neben dem Opferfleisch, von dem sie konsumieren können, stehen ihnen zum Fleischkonsum alle reinen Tiere des Landes zur Verfügung.59

5. Erläuterungen zu Psalm 50,16–23 (Stanze III)

Die dritte Gottesrede richtet sich an den Frevler (רשׁע), typisiert im Sinne eines Kollektivs (vgl. den Plural in V. 22). Oben haben wir vorgeschlagen, die vorangegangenen Gottesreden im Rahmen einer Bundeserneuerung mit Tora-Verlesung zu deuten. Dabei entspricht die zweite Rede der Kultgesetzgebung (חקים), die dritte der Rechtsordnung (משׁפטים). Der רשׁע ist in den Pentateuchgesetzen60 derjenige, der gegen die Rechtsordnung verstösst (vgl. besonders Dtn 25,1–2, wo der רשׁע der die משׁפטים Übertretende ist, aber auch Ex 23,1–9 und Num 35,31).61 Nach Ps 50,16 zählt der Frevler die Satzungen (חקים) auf und führt den Bund (ברית) in seinem Mund. Letzteres knüpft an V. 5 an. Verbunden mit der oben begründeten Annahme, dass im Hintergrund eine Bundeserneuerung mit Tora-Verlesung steht, liegt es nahe, in den חקים nicht einfach die ganze Tora zu sehen, sondern die hauptsächlich kultischen Anweisungen neben der Rechtsordnung. Dann beruft sich der Frevler z.B. auf eine korrekte Opferpraxis, die Gott in Ps 50,8 dem Volk ja durchaus einräumt. Die Verbindung von ברית und חקים führt auf der Suche nach Vorlagen zu Lev 26,1562 und Jos 24,25. In beiden Stellen besteht der Bund nicht nur aus den חקים, sondern auch aus den משׁפטים. Indem Ps 50,16 an diese beiden zentralen Texte, die Israel auf den Bundesschluss verpflichten, anknüpft, dabei aber die משׁפטים weglässt, wird deutlich, dass der Frevler zwar חקים aufzählt und womöglich formal auch einhält, dass er aber die משׁפטים missachtet. In der Tat wird ihm genau dies in Ps 50,17–20 vorgeworfen.

Ps 50,17 ist allgemein gehalten: Der Frevler hasst Zucht (מוסר)63 und wirft die Worte Gottes hinter sich. מוסר kommt als Substantiv im Pentateuch nur in Dtn 11,2 vor, als Verb (יסר) darüber hinaus in Dtn 4,36; 8,5; 21,18 und 22,18. Die Verse Ps 50,18–20 zählen dann Vergehen des Frevlers gegen Gebote des Dekalogs auf. Die Verbindung zu den deuteronomischen משׁפטים besteht dabei insofern, als das dtn Gesetz selbst dekalogisch strukturiert ist.64 So unterschiedlich die verschiedenen Modelle einer am Dekalog orientierten Strukturierung des dtn Gesetzes auch sind, so besteht doch eine bemerkenswerte Übereinstimmung darin, dass Dtn 19–25 als Rechtsordnung den Dekaloggeboten aus Dtn 5,17–21 entspricht.65 Wenn also Ps 50,18–20 verschiedene Dekaloggebote aus Dtn 5,17–21 (par. Ex 20,13–17) aufgreift und dem Frevler vorwirft, diese zu brechen, so darf man dies wohl pars pro toto als Verstoss gegen die משׁפטים der Tora insgesamt verstehen. Dies bestätigt sich bei einem genaueren Blick auf die Aussagen in Ps 50,18–20.

In 18a wird dem Frevler nicht vorgeworfen, selbst ein Dieb zu sein, sondern sich mit einem Dieb, wenn er ihn sieht, anzufreunden. Dies entspricht exakt der Auslegung, die das dekalogische Diebstahlverbot in den משׁפטים des Bundesbuches (vgl. Ex 21,1) und des dtn Gesetzes erfährt, wo גנב als Substantiv viermal vorkommt (Ex 22,1.6.7; Dtn 24,7) und zwar stets im Zusammenhang, dass ein Dieb entdeckt wird. Der jeweiligen (leicht variierenden) Rechtssatzeinleitung אם ימצא הגנב („wenn der Dieb entdeckt wird“)66 entspricht in Ps 50,18a אם רעית גנב („wenn du einen Dieb siehst“). Während also die משׁפטים regeln, was zu tun ist, wenn ein Dieb erwischt wird, schliesst nach Ps 50,18a der Frevler mit dem Dieb, wenn er ihn sieht, Freundschaft.

Diese Vergemeinschaftung wird auch nachfolgend angeprangert: Gemäss 18b hat der Frevler Anteil an den Ehebrechern (מנאפים). נאף ist das Verb, das im Ehebruchverbot des Dekalogs verwendet wird (Ex 20,14; Dtn 5,18). In den Pentateuchgesetzen wird es zudem in Lev 20,10 gebraucht. Wie einer der beiden Verfasser anderswo67 argumentiert, ist Dtn 22,22 von Lev 20,10 abhängig. Da Dtn 22,22 freilich in einer Reihe von Bestimmungen steht, wo es nicht nur um Ehebruch, sondern auch um vorehelichen Geschlechtsverkehr geht (Dtn 22,13–29), ersetzt Dtn 22,22 das Verb נאף wegen der Einheitlichkeit durch שׁכב עם („schlafen mit“). Obwohl Dtn 22,22 das in Ps 50,18b verwendete Verb nicht benutzt, ist auffällig, dass der Rechtssatz in Dtn 22,22 mit den Worten כי ימצא אישׁ שׁכב עם אשׁה, analog also zum Diebstahlgebot in Dtn 24,7 (כי ימצא אישׁ גנב), formuliert ist. Wenn Ps 50,18a mit אם רעית גנב an Dtn 24,7 anknüpft, so liegt es nahe, dass die Verbindung von Ps 50,18a+b in Dtn 24,7 und 22,22 vorgegeben ist: Auch hier wird der Frevler nicht als einer beschrieben, der selbst gegen dekalogische Gebote verstösst, sondern als einer, der mit denen, die gegen dekalogische Gebote verstossen, Freundschaft schliesst (wenn er sie entdeckt). Der Frevler hält sich somit wiederum nicht an die Rechtsordnung der Tora, die für den Fall, dass jemand beim Ehebruch entdeckt wird, die Todesstrafe fordert (Dtn 22,22).

Wenn Ps 50,18a an Dtn 24,7 anknüpft und 18b assoziativ an den parallel zu Dtn 24,7 formulierten Rechtssatz in Dtn 22,22, dann macht es Sinn, auch 19a als durch Dtn 24,7 inspiriert zu verstehen. Dtn 24,7b fordert nämlich Israel auf, das Böse (רע) aus seiner Mitte wegzuschaffen, und Ps 50,19a beschreibt den Frevler als den, der seinen Mund zum Bösen (רעה) schickt. Bedenkt man, dass das Dekaloggebot, falsches Zeugnis zu geben, so formuliert ist, dass man gegen seinen Nächsten (ebenfalls רע!) nicht mit einem Lügenzeugnis antworten solle (Ex 20,16; Dtn 5,20), dann ist auch hier eine Anspielung auf den Dekalog zu sehen. Ps 50,19b ist anschliessend sprachlich und sachlich parallel zu 19a formuliert. Wörtliche Anklänge an Gesetze aus dem Pentateuch oder gar an den Dekalog sind nicht gegeben, doch dass die Zunge sich mit Trug „verbindet“, erinnert an die Bindung an Baal-Peor. Das Verb צמד kommt im AT nur fünfmal vor, dreimal davon explizit für die Bindung an Baal-Peor (Num 25,3.5; Ps 106,28).68

Nach Ps 50,20 heftet der Frevler einen Makel (דפי, hap. leg.) an den Bruder. Ist Dtn 24,7 als Referenztext für Ps 50,18–19 ertragreich, so auch für diesen Vers. Unmittelbar auf Dtn 24,7 folgt nämlich ein das Auftreten von Aussatz betreffendes Gebot mit der mahnenden Erinnerung an Mirjam (Dtn 24,9), die aussätzig wurde, weil sie gegen ihren Bruder Mose redete.

Der Frevler zählt also die חקים auf und führt den Bund in seinem Munde, missachtet aber die משׁפטים. In V. 22 redet Gott die Frevler als שׁכחי אלוה („Eloah- Vergessende“) an. Das Motiv, Gott zu vergessen, findet sich auch in Dtn 8,11 – auch dort im Zusammenhang mit der Aufforderung, die Rechtsbestimmungen und Satzungen einzuhalten – und in Dtn 32,18. V. 23 führt in Parallele zu 14–15 wieder zum Hauptgedanken zurück: Opfer zur Schuldbeseitigung. Solange die Frevler Gott vergessen, indem sie die Rechtsbestimmungen missachten, werden diese von Gott nicht angenommen. Stattdessen hat er Gefallen an Dankopfern.

Neben diesen Verbindungen der dritten Gottesrede zum Dekalog und den משׁפטים von Bundesbuch und Deuteronomium ist die Parallele eines weiteren Textes zu Ps 50 sehr auffällig: Hos 4–6. Analog zu Ps 50,7 beginnt auch Hos 4 mit einem Höraufruf an Israel, wobei Jhwh in Hos 4,1 einen Rechtsstreit (ריב) mit Israel führen will. Doch nimmt Jhwh in Hos 4,4 das Volk in Schutz und richtet sich gegen die Priesterschaft. Der Vorwurf: Sie ernähren sich von den Sündopfern des Volkes und richten gleichzeitig das Volk zur Sünde hin aus (Hos 4,8). Die konkreten Vergehen, die aufgezählt werden, entsprechen wie Ps 50,18–20 Geboten der zweiten Hälfte des Dekalogs (Hos 4,2), umfassen aber auch kultische Verirrungen (Hos 4,12–15). Hos 5,2 kündigt Strafe (מוסר, vgl. Ps 50,17!) an. Israel und Juda werden Jhwh mit Schafen und Rindern suchen, ihn aber nicht finden (Hos 5,6). Besonders bemerkenswert ist die Formulierung in Ps 50,22b, „dass ich nicht zerreisse, und es gibt keinen Retter“ (פן אטרף ואין מציל), die eine deutliche Parallele in Hos 5,14 hat (vgl. auch Dtn 32,39). Dort stellt sich Jhwh als Löwe dar, der Ephraim und Juda „zerreisst … und es gibt keine Rettung“ (אטרף … ואין מציל). In ihrer Not (בצר, vgl. Ps 50,15: ביום צרה) werden sie Jhwh dann suchen (Hos 5,15), und er wird aufgehen wie die Morgenröte (Hos 6,3, vgl. Ps 50,2, dazu s.o. [Theophanie]). Alles gipfelt im bekannten Satz: „Denn ich habe Gefallen an Liebe und nicht an Schlachtopfer, an Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern“ (Hos 6,6, vgl. Ps 50,8–9). Auch hier bekundet Gott also sein Desinteresse an Brandopfern und Schlachtopfern. Gefallen hat er stattdessen an Liebe, was in der dritten Jhwh-Rede Ps 50,16–21 zum Ausdruck kommt, sowie an Erkenntnis Gottes, die – wenn auch nicht explizit – in der zweiten Jhwh-Rede Ps 50,7–13, bemängelt wird (vgl. besonders die Selbstvorstellung in 7c). In Hos 6,7 wird dann auch das Motiv des Bundesbruches aufgegriffen.

Somit ist der Rahmen von Ps 50 durch Dtn 30–33; Jos 22 und Jos 24 deutlich vorgegeben: Es geht um Erneuerung des Bundes, wobei Gott selbst Richter ist und dem Volk die Vernachlässigung der Tora vorwirft. Im liturgischen Setting von Ps 50 kommt es freilich nicht zu einem Richterspruch, sondern zu Ermahnung und Verheissung. In der engen inhaltlichen Verbindung zu Hos 4–6 (aber auch Jes 1) wird eine prophetische Stossrichtung dieses Psalms sichtbar,69 die auf die Kritik an Opfern zur Beseitigung der Schuld, verbunden mit einem unethischen Lebenswandel, abzielt. Diese prophetische Kritik gehört in den Rahmen der Bundeserneuerung. Die refrainartige Aufforderung zu Dankopfern (Ps 50,14–15 und 23) verklammert die beiden Reden 7–15 und 16b–22 und streicht so die Hauptbotschaft heraus: Dankopfer sind besser als eine korrekte Opferpraxis zur Tilgung der Schuld. Die Opfer zur Beseitigung der Schuld werden allzu schnell zu einer billigen Rechtfertigung eines frevelhaften Lebenswandels (vgl. 1. Sam 15,22–23). Die Bundeserneuerung zielt aber nicht auf Schuld und Sühne, sondern auf Tora-Treue, welche die Verheissung des Segens in sich trägt und so nicht zu Schuld- sondern zu Dankopfern Anlass gibt.

6. Ergebnis und Auswertung

Psalm 50 wird mehrheitlich als prophetische Nachahmung bzw. levitische Predigt bestimmt, dabei wird mit dtn/dtr (und prophetischer) Beeinflussung gerechnet und eine (früh)nachexilische Datierung vertreten.70

Wir kommen teils zu einer anderen Sichtweise. Die erarbeitete vielschichtige kommunikative Situation, die deutlichen Anklänge an Tora-Verlesung mit Bundeserneuerung (vgl. Dtn 30–33; Jos 22; 24) und Parallelen mit anderen Asaph-Psalmen, insbesondere Ps 81,71 lassen uns einen Verstehenshintergrund von Ps 50 innerhalb eines liturgischen Settings favorisieren.72 Bei der anzunehmenden gottesdienstlichen Volksversammlung wurde, vermutlich nach der Verlesung von „Tora“ (in einer Gestalt, die dem heutigen Dtn nahesteht), dieser Psalm vorgetragen. In prophetischer Weise wird das Vorgegebene damit aktualisierend angewandt. Ps 50 wurde als literarisches Zeugnis dieses Geschehens und darin namentlich der Gottesworte sowie zur weiteren Verwendung komponiert und weiterüberliefert. Obwohl der Psalm ein genuin-kultisches Geschehen festhält, lässt sich nicht eruieren, wie dieses im Psalm genau abgebildet ist. Dies auch deshalb, weil über seine Verwendung (inklusive der genaueren Identität der am Geschehen Partizipierenden) nichts mitüberliefert ist und ein Sitz im Leben weithin anhand der Angaben im Psalm selbst erschlossen werden muss.

Details

Seiten
460
ISBN (PDF)
9783631896518
ISBN (ePUB)
9783631896525
ISBN (Hardcover)
9783631896501
DOI
10.3726/b20536
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Mai)
Schlagworte
Psalmen Altes Testament Asaph Moselied
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 460 S.

Biographische Angaben

Beat Weber (Autor:in)

Beat Weber, Dr. theol., Jahrgang 1955, war evangelisch-reformierter Pfarrer und Mitglied des Care Teams im Kanton Bern (Schweiz). Zudem unterrichtete er Altes Testament im Master-Studienprogramm an zwei Seminaren in Liestal und Aarau. Er wohnt in Basel und ist Research Associate am Department of Ancient and Modern Languages and Cultures an der Universität Pretoria (Südafrika). Die Psalmen sind sein hauptsächliches Forschungsgebiet.

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Titel: „Neigt euer Ohr zu den Worten meines Mundes!“ (Ps 78,1)