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Eine kontrafaktische Lektüre von Juli Zehs Roman «Über Menschen»

Gesellschaft, Politik und Ethik

by Alexandra Juster (Author)
©2023 Monographs 170 Pages

Summary

Juli Zehs Roman Über Menschen spricht die großen gesellschaftlichen Themen an, die zur Debatte stehen: Klimakrise, Coronaepidemie, Rechtsradikalismus. Zahlreiche reale Fakten aus zeitgenössischer Politik und Gesellschaft werden in der Diegese kontrafaktisch variiert und wurden in der vorliegenden Studie der Wirklichkeit perspektivisch gegenübergestellt. Das Dorf erscheint als Zufluchtsort und Lösung aller Probleme vor einem idyllischen, vogelzwitschernden Hintergrund. Die starke Polarisierung zwischen Stadt und Land, die Überforderung des Menschen im digitalen Zeitalter sowie der Umgang mit der Coronaepidemie werden narrativ durch gezielte Semantik verdeutlicht. Wie ein roter Faden zieht sich durch den Roman die ethisch-moralische Frage des Umgangs mit Rechtsradikalismus: „Trotzdem da sein, trotzdem Hilfe leisten, trotzdem weitermachen, wenn es um einen Menschen geht, egal wie er denkt, egal was er in der Vergangenheit getan hat, egal wie ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ er ist?"

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Kontrafaktisches Schreiben
  • 2. Der Roman
  • 2.1. Über Menschen vor dem Hintergrund der aktuellen Coronapandemie
  • 2.2. Digitale Zeiten
  • 2.3. Überforderung
  • 2.4. Polarisierung zwischen Stadt und Land
  • 3. Zur Sprache
  • 3.1. Wortspiele, Neologismen und Metaphorik
  • 3.2. Sprache und Leben im ländlichen Dorf
  • 3.3. Sprache und Coronaepidemie
  • 3.4. Anglizismen als Modernitätsindikator
  • 4. Zwischen Fiktion und Realität: Kontrafaktische Untersuchung
  • 4.1. Angela Merkels Coronapolitik
  • 4.2. Björn Höcke, Trump und Brexit
  • 4.2.1. Björn Höcke
  • 4.2.2. In der Ära Donald Trump
  • 4.2.6. Brexit
  • 4.3. Diverse kontrafaktische Verweise auf weitere aktuelle Themen
  • 4.3.1. Klimakrise
  • 4.3.2. Rassismus/Immigration
  • 4.3.3. Frauen in der Bundeswehr und Homoehe
  • 4.3.4. Nachrichtenportal
  • 5. Zur ethischen Wertung von Gut und Böse in Über Menschen
  • 5.1. Literarische Verhandlung von Moral und Ethik in Über Menschen mit Blick auf Kant, Rousseau und Arendt
  • Schlusswort
  • 6. Bibliografie
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Juli Zehs Roman Über Menschen (2021)1 wird in zahlreichen Kommentaren als einer der ersten „(echten) Coronaromane“2 verhandelt, der entstand, während die Covid-19-Krise im vollen Gange war und die deutsche Politik stark in Anspruch nahm. Wenn auch gewiss das Pandemiegeschehen in Zehs Werk eine Rolle spielt, so darf dieses jedoch nicht als vordergründig und hauptsächlich angesehen werden.3 Vielmehr evoziert Über Menschen Zehs Mitstenographieren von Geschehnissen im aktuellen Hier und Jetzt, die sie gerade persönlich stark bewegen und die sie deshalb, im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zu Papier bringt.4 Vor der Kulisse der politischen Gegenwart versucht sich Zeh an einem ethisch-moralisch fraglichen Experiment der zwischenmenschlichen Beziehungen nach der Devise, es gehe „nicht darum, Widersprüche aufzulösen, […] sondern sie auszuhalten“.5

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Im gleichen Jahr wie Juli Zehs Roman Über Menschen (2021) erschien der Band Kontrafaktik der Gegenwart (2021) von Michael Navratil,6 in dem sich der Autor ausführlich mit der Theorie der Kontrafaktik zwecks „Erhellung und Deutung literarischer Texte“7 befasst. Insbesondere wird es mit Bezug auf Über Menschen darum gehen zu zeigen, wie politisches Schreiben im Grenzbereich zwischen Realität und Fiktionalität stattfindet.

Juli Zeh betont denn in einer Videobotschaft vom 19. Juli 2021, dass sie Über Menschen als Gesellschaftsroman sehe, der sich mit den zwischenmenschlichen Spannungen der aktuellen Gesellschaft befasst und mögliche Wege des menschlichen Miteinanders in seiner Komplexität aufzuzeigen versucht.8

Schon die im Roman behandelten Themen – Klimakrise, Coronapandemie, Überforderung des Menschen, Polarisierung zwischen Stadt und Land, rechte und linke Strömungen, – deren Aktualität sich im Hier und Jetzt verorten lässt, sowie die damit assoziierte Sprache und Wortanwendung verweisen auf einen stark kontrafaktischen Charakter des Werkes, der im Laufe des Romangeschehens durch deutliche Anspielungen ständig bestätigt wird. So sind Verweise auf Angela Merkels Coronapolitik, auf den Rechtsradikalen Politiker Björn Höcke, auf Donald Trumps Präsidentschaft, auf das britische Brexit, auf die Klima- und Immigrantenkrise, auf die Debatten zur Homoehe und zur Aufnahme von Frauen in der deutschen Armee deutliche Indikatoren kontrafaktischen Schreibens, das vorab näher erklärt werden soll, unter Hinzuziehen der exzellenten Forschungsarbeit von Michael Navratil.

Auf den kontrafaktischen Kommentar zu Über Menschen wird eine Auseinandersetzung mit der Ethik von Gut und Böse folgen, die eine zentrale Rolle im Roman einnimmt mit der Frage, ob die alleinige Tatsache, ein Mensch zu sein, ethisch als schlecht zu wertende Handlungen auszulöschen vermag, wie dies Dora vermuten lässt als sie Gote nach seinem Autounfall ←8 | 9→lebend vorfindet: „Versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung. Mit einem Mal spielt das keine Rolle mehr. Hier liegt ein Mensch […].9

Dieses fragwürdige Postulat, nämlich dass die Ontologie des „Menschseins“ ethisch-moralische Bedenken zu rechtsradikalen, gewalttätigen und menschenverachtenden Gesinnungen zu überbrücken vermag und jeden Menschen ipso facto, unabhängig von der Art seines Denkens oder Tuns, gesellschaftsfähig mache, soll in Anlehnung an Immanuel Kants, Jean-Jacques Rousseaus und Hannah Arendts Theorien zu Ethik und Moral, untersucht werden.

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1 Zeh, J. (2021b). Über Menschen. München. Luchterhand Literaturverlag.

2 Siehe dazu:

Braun, Michael. (3021). „Juli Zeh ‚Über Menschen‘ ist ein Corona-Roman ohne Trost und ohne Rezept“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 23.03.2021.

Magenau, J. (2021a). „Juli Zeh: ‚Über Menschen‘-Der erste echte Corona-Roman“ in: Deutschlandfunk Kultur, 20.03.2021.

Jaiser, I. (2021). „Neue Challenge, neuer Chill: Roman|Juli Zeh: Über Menschen“, in: Titel Kulturmagazin, 04.04.2021.

3 Diesen Standpunkt teilen mit der Autorin mehrere Rezensenten des Buches. Siehe dazu:

Buchfink, R. „Ein Coronaroman? Juli Zeh – Über Menschen“, in: Denklatenz-Das Magazin, 29.07.2021.

Weise, K. (2021). „‚Über Menschen‘ von Juli Zeh: Wankende Weltbilder“, in: NDR Kultur, 16.04.2021.

Fritsch, A. (2021). „Juli Zeh: Der neue Roman ‚Über Menschen‘“, in: Münchner Feuilleton: Kultur, Kritik, Kontroversen, 17.05.2021.

Motter, M. (2021). „Bis es einen niederbrackt: Juli Zehs Roman ‚Über Menschen‘“, in: OKFM4, 22.03.2021.

4 Vgl. Zeh, J. (2008a). Alles auf dem Rasen: kein Roman. München. Btb Verlag, S. 203.

5 Zeh, 2021b: S. 162.

6 Navratil, M. (2021). Kontrafaktik der Gegenwart. Berlin. De Gruyter.

7 Ibidem: S. 84.

8 Zeh, J. (2021c). „Videobotschaft Juli Zeh: Über Menschen / Media Control Award 1. Halbjahr 2021“, 19.07.2021.

https://www.youtube.com/watch?v=TvVEUPtxR9o (aufgerufen am 22.09.2022).

9 Zeh, 2021b: S. 256.

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1. Kontrafaktisches Schreiben

Michael Navratil hat sich in einer umfangreichen Arbeit zum Thema der literarischen Kontrafaktik in Gegenwartsromanen ausführlich mit theoretischen Betrachtungen zum kontrafaktischen Schreiben beschäftigt. Es soll hier deshalb, mit Blick auf den Roman Über Menschen, auf wesentliche theoretische Grundzüge der Kontrafaktik eingegangen und zur Vertiefung auf das hervorragende Referenzwerk von Navratil verwiesen werden.

In seiner Minimaldefinition erklärt Navratil Kontrafaktik als „[…] signifikante Variationen realweltlichen Faktenmaterials innerhalb fiktionaler Medien“.10

Ein fiktionaler Text sei, nach Tilmann Köppe, ein Werk, dessen Sätze vom Leser, gemäß fiktionskonformen Konventionen als für nicht „wahr“ wahrgenommen werden.11 Auf pragmatischer Ebene verweisen, nach Marc Chinca, beispielsweise die Verwendung des epischen Präteritums oder auch die Schilderung in der dritten Person Singular auf tendenziell fiktionales Schreiben.12 Beide Phänomene sind stark in Über Menschen vertreten und kommen im Kapitel 3 ausführlicher zur Sprache. Dass jedoch die Grenze zwischen Fiktionalität und Realität mitunter schwierig zu ziehen sei, bestätigt Lutz Danneberg: „Eine aufgrund eines bestimmten Wissens als nichtfiktional klassifizierte Darstellung lasst sich grundsätzlich […] auch wie eine fiktionale behandeln – und umgekehrt“.13 Diese Problematik der Abgrenzung zwischen fiktional und real dürfte auf Über Menschen voll zutreffen: Oftmals ist die Bezugnahme im Roman nicht nur ←11 | 12→auf reale, sondern sogar hochaktuelle Begebenheiten so dominant, dass der Leser nach der Demarkationslinie zwischen fiktionaler und realer Darstellung fragen muss.

Im Interesse einer dem historischen und temporären Kontext angepassten Trennung zwischen fiktionalen und faktualen Äußerungen schlägt Navratil vor, einer pragmatisch-institutionellen Annäherung, die über die textuellen Eigenschaften hinausgeht, den Vorrang einzuräumen, denn, laut Marc Chinca, definieren pragmatische Ansätze „[…] die Fiktionalität von ihrem ‚Sitz im Leben her‘, als Funktion der Relation zwischen dem Sprechakt und seiner Gebrauchssituation. Diese Situation, und nicht etwa linguistische Merkmale des Textes, sind letzten Endes entscheidend“.14 Überdies sei, nach Navratil, eine solche Annäherung besonders geeignet für Texte, die, wie dies in Über Menschen besonders der Fall ist, die „Fiktionalität mit einem deutlichen Weltbezug kombinieren. […] Diese Notwendigkeit des Weltbezugs besteht natürlich a fortiori bei Beispielen politischer Realitätsvariationen, […] also bei Kombinationen von Kontrafaktik und politischem Schreiben“.15 Hier liegt denn auch der Brennpunkt der vorliegenden Studie des Romans Über Menschen, dem ein politischer Charakter wohl kaum abgesprochen werden kann und der ständig zwischen fiktionaler Diegese und realen Bezügen zur aktuellen Welt variiert.

Eine kontrafaktische Untersuchung beschäftigt sich, wie schon eingangs definiert, mit realweltlichem Faktenmaterial, dessen Wahrheitsgehalt es zu bestimmen gilt. Jedoch könne, laut Navratil, der Wahrheitsgehalt kontrafaktischen Schreibens nicht abstrakt vom Allgemeinen ableitend, sondern „nur induktiv, für einzelne Untergruppen von Texten, wenn nicht gar nur für Einzeltexte“16 sinngemäß erörtert werden. Diese Feststellung führt zur vorliegenden Betrachtung von Über Menschen als Einzelphänomen, in der versucht werden soll, realweltliche Wahrheit von schriftstellerischer Fiktion zu distinguieren, wodurch die Art und Weise der Verwendung der realen Fakten im fiktionalen Erzählrahmen aufgezeigt werden soll. Navratil bemerkt dazu, dass beim fiktionalen Erzählen „[…] realweltliche Fakten ←12 | 13→auf ganz bestimmte Weise im Rahmen eines fiktionalen Mediums verwendet werden […], um ästhetische, affektive oder normative Effekte zu erzielen“,17 d.h. dass der reale Sachverhalt auf „signifikant variierte Weise“ erscheint“.18 Um feststellen zu können, ob es sich um kontrafaktisch variierte Fakten der realen Welt handelt, schlägt Lutz Danneberg die Technik des multivialen Zugangs vor: Reale Fakten können aus mehreren, unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und interpretiert werden, wohingegen fiktionale Welten sich nur durch den Text selbst erschließen lassen.19

Für eine kontrafaktische Untersuchung eines Textes ist jedoch nicht nur die Unterscheidung zwischen „wahr“ und „fiktiv“ relevant, sondern vielmehr muss berücksichtigt werden, dass es sich stets um eine Variation realer Fakten in der fiktionalen Diegese handelt, wodurch sich, wie Navratil betont, die Untersuchung einer Doppelreferenz aufdrängt:

Details

Pages
170
Publication Year
2023
ISBN (PDF)
9783631895474
ISBN (ePUB)
9783631895481
ISBN (Hardcover)
9783631895467
DOI
10.3726/b20508
Language
German
Publication date
2023 (January)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 170 S., 1 S/W-Abb.

Biographical notes

Alexandra Juster (Author)

Alexandra Juster ist seit 1997 in Frankreich und Italien zugelassene Rechtsanwältin. 2022 promovierte sie an der Universität Salamanca in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und ist seit 2018 als Dozentin für Deutsch und deutsche Literatur, Französisch, Italienisch und Spanisch tätig.

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